Juni 2010 - Niederlenz
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In eigener Sache<br />
Dorfgeistgedanken<br />
Es war ein guter Morgen für den <strong>Niederlenz</strong>er<br />
Dorfgeist. Ein richtiger Lichtblick.<br />
Der dreizehnte März Zweitausendundzehn.<br />
Diese Zahl hat es ja seit mehr als zehn<br />
Jahren in sich: <strong>2010</strong>. Das war mal Vision,<br />
und noch bevor das ominöse Jahr da war,<br />
waren die meisten Ziele erreicht. Umso<br />
überraschender für den Dorfgeist, dass nicht<br />
ganz alle sich auf die faule Haut legen und<br />
das Erreichte geniessen. Im Gegenteil: Der<br />
Gemeinderat fragte nach neuen Visionen.<br />
Mich, den Dorfgeist, faszinierte an diesem<br />
Morgen aber etwas anderes noch viel mehr:<br />
Die Gespräche zum Thema Heimat, die<br />
an den verschiedenen Kaffeehaustischen<br />
geführt wurden.<br />
Was ist Heimat, was lässt mich spüren, dass<br />
ich an einem Ort zu Hause bin?<br />
Es scheint für euch Menschen gar nicht<br />
so einfach zu sein, solch grundlegende<br />
Fragen zu beantworten. Ihr steckt mitten<br />
drin und wisst oft gar nicht, was den Ausschlag<br />
für dies oder jenes Gefühl gibt. Ja,<br />
das war spannend, euch so um Antworten<br />
und Erklärungen ringend zuzuschauen und<br />
zuzuhören. „Was macht, dass ich mich in<br />
<strong>Niederlenz</strong> daheim fühle?“ habt ihr euch<br />
gefragt.<br />
Ich sah eure Gedanken wandern. In euer<br />
Wohnzimmer, in dem ihr euch entspannen<br />
könnt, geschützter seid als draussen auf der<br />
Strasse; ein Ort, an dem auch Auseinandersetzungen<br />
stattfinden, Liebe, Streit, Verlassenheitsgefühle,<br />
gute Begegnungen mit<br />
nahen Freunden; in den Garten, das Stück<br />
Erde, das ihr pflegt, oder zu den Blumentöpfen<br />
auf dem Balkon, in die ihr Petersilie und<br />
Kapuziner pflanzt. Ich sah euch innerlich<br />
ans Fenster treten, am Nachthimmel Ausschau<br />
halten nach dem oder jenem Stern,<br />
von dem ihr wisst, wo er sich an einem<br />
späten Winterabend befindet. Da waren<br />
die Nachbarn, mit denen man schon Feste<br />
gefeiert hat, ihnen in einer Notsituation<br />
geholfen hat oder sich von ihnen hat helfen<br />
lassen, sich aber auch manchmal bedrängt<br />
oder vernachlässigt fühlte, alles dann und<br />
wann ... Es war schön zu sehen, wie eure<br />
Gedanken immer weitere Kreise zogen,<br />
ins Dorfzentrum, zu Schulhäusern und<br />
Kirche, wo ihr schon so viele verschiedene<br />
Erlebnisse und Begegnungen hattet, die<br />
euch das Gefühl geben, an einem Ort mehr<br />
oder weniger verwurzelt zu sein. Gesichter,<br />
positive und auch abwehrende Reaktionen:<br />
Menschen, die zum Alltag gehören. Aber an<br />
der Gemeindegrenze machten eure Gedanken<br />
nicht Halt: Weiter und höher schwang<br />
sich der innere Blick, über die Wälder, die<br />
das Dorf umgeben, dem Lauf der Bäche folgend<br />
zum Fluss, hinauf zu den Schlössern,<br />
dem Bahnhof, dem Autobahnzubringer, von<br />
den Nachbargemeinden über den zwischen<br />
den Hügelzügen eingebetteten Aargau, die<br />
mit ihren weissen Bergspitzen und blauen<br />
Seenaugen so liebliche Schweiz. Heimat.<br />
Manche hatten schon mal ernsthaft erwogen,<br />
wegzuziehen. Gründe gab es viele.<br />
Am Schluss hielten die Freundeskreise der<br />
Kinder, der Schul- oder Arbeitsweg, das<br />
vertraute Haus oder die angenehme Wohnung,<br />
die gute Nachbarschaft, das feine<br />
Netzwerk der kleinen, oft unbeachteten<br />
Verbindungen und Gepflogenheiten euch<br />
davon ab, weiterzuziehen.<br />
Ich verstand, dass es nicht leicht ist für<br />
euch, in diesem Punkt klar zu sehen. Heimat<br />
ist ein vielschichtiges Zusammenspiel, in<br />
dem so vieles funktioniert, dass man sich<br />
darüber normalerweise keine Gedanken<br />
zu machen braucht. Aber viele unter euch<br />
sind Wanderer, haben ihre Wurzeln immer<br />
wieder ausgegraben oder gar nicht erst tief<br />
versenkt. Das hat mich alten, treuen und<br />
doch so beweglichen Dorfgeist interessiert:<br />
Diejenigen mit Luftwurzeln, die sie überallhin<br />
mitnehmen und die ihnen an jedem<br />
Ort der Erde das Gefühl geben, angekommen<br />
zu sein. Oft sind es gerade diese unter<br />
euch, die sich an einem Ort engagieren. Da<br />
sein, aber auch weitergehen können. Sich<br />
aufgenommen fühlen und einbringen genau<br />
da, wo man ist. Auf der Erde, die euch trägt.<br />
Beschützt von all den Sternen, die immer<br />
über euch sind.<br />
Einige von euch hängen stark an einem ganz<br />
bestimmten Bild von Heimat. Dass dieses<br />
sich aus ganz viel Fremdem zusammensetzt,<br />
an das ihr euch einfach längst gewöhnt habt,<br />
sollte euch doch etwas stutzig machen.<br />
Skeptisch? Dazu fällt mir jene Karte ein,<br />
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die seit Jahren am Kühlschrank eines Redaktionsmitgliedes<br />
hängt. Sie sagt besser,<br />
was ich meine:<br />
Dein Christus ein Jude<br />
Dein Auto ein Japaner<br />
Deine Pizza italienisch<br />
Deine Demokratie griechisch<br />
Dein Kaffee brasilianisch<br />
Dein Urlaub türkisch<br />
Deine Zahlen arabisch<br />
Deine Schrift lateinisch<br />
Und Dein Nachbar nur ein Ausländer<br />
Die Neuzuzüger unter euch wissen es am<br />
besten: Man lernt ein Dorf langsam kennen,<br />
macht es sich allmählich vertraut. Der kleine<br />
Prinz aus jener Geschichte, die viele von<br />
euch sehr mögen, war darin ein Meister.<br />
Mir stieg, als ich euch so diskutieren sah,<br />
eine Frage auf:<br />
Ob euer Heimatgefühl etwas damit zu tun<br />
hat, wie stark euer Grundvertrauen ist?<br />
Wenn Heimat nur das ist, woran ihr euch<br />
gewöhnt habt, dann behält der ganze Rest<br />
der Welt etwas Bedrohliches. Und es macht<br />
Angst, weil ihr nur eure Wohnung, euer<br />
Fernsehprogramm, euren Arbeitsweg, aber<br />
nicht euch selber kennt. Unbekannt wie<br />
das pulsierende Herz der Wüste oder das<br />
smaragdgrüne Licht des Dschungels sind<br />
für euch eure Motivationen, Bedürfnisse,<br />
Befürchtungen. Euer Wert. Eure Fähigkeit,<br />
zu lieben, nicht nur das Bekannte, sondern<br />
auch das Neue, Ungekannte.<br />
Die Welt in euch drin ist in der Tat genauso<br />
weitläufig wie die um euch herum.<br />
Um Abenteuerfahrten kommt ihr früher<br />
oder später nicht herum. Besser, man geht<br />
freiwillig, als man wird geschickt und geht<br />
wider Willen. Umso wichtiger ist es für<br />
euch, dass ihr euch irgendwo zu Hause<br />
fühlt. Daheim. Für einige liegt dieser Ort in<br />
euch drin, manche bezeichnen das Herz als<br />
dessen Zentrum. Aber zugleich ist er auch<br />
als ein bestimmter Punkt auf der Landkarte<br />
zu finden.<br />
Ich habe mich sehr gefreut, zu sehen, dass so<br />
viele ein Stück Heimat irgendwo in <strong>Niederlenz</strong><br />
gefunden haben, ob sie nun da geboren<br />
wurden oder erst seit kurzem hier leben. Im<br />
Dorf der Mitte des Kantons, das vielleicht<br />
gerade deshalb, weil es im Schwerpunkt<br />
liegt, sich so öffnen und immer wieder<br />
Fragen stellen kann. Nun, es hat ja auch<br />
einen besonderen Schutzgeist, der seine<br />
Bewohner nicht einschlafen lässt.<br />
Empfangt die herzlichsten und respektvollen<br />
Grüsse von ihm,<br />
dem neugierigen Dorfgeist R