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Wenn der Glaube zum Konflikt wird - seminare-ps.net

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Samuel Pfeifer<strong>Wenn</strong> <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> <strong>zum</strong> <strong>Konflikt</strong> <strong>wird</strong>


Der AutorDr. med. Samuel Pfeifer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapiesowie Chefarzt <strong>der</strong> Psychiatrischen Klinik Sonnenhalde in Riehen beiBasel. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und machtenihn international bekannt. Dazu gehçren u. a. «Die Schwachen tragen»und «Gesundheit um jeden Preis?».Samuel Pfeifer<strong>Wenn</strong> <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong><strong>zum</strong> <strong>Konflikt</strong> <strong>wird</strong>Wege zurinneren Heilung


5InhaltBibliografische Information <strong>der</strong> Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeich<strong>net</strong> diese Publikation in <strong>der</strong> DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Inter<strong>net</strong>über http://dnb.ddb.de abrufbar.Die Bibelstellen sind <strong>der</strong> Luther-Bibel(1999, mit neuer deutscher Rechtschreibung) entnommen.1. Macht <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> krank? .............................................. 72. «Ekklesiogene Neurose» – ein fragwürdiger Begriff ......... 233. Sieben Thesen .............................................................. 374. Der neurotische Mensch und sein Erleben ..................... 495. Die sensible Persçnlichkeit und die Formen <strong>der</strong>Neurosen ..................................................................... 616. <strong>Glaube</strong> – Was ist das eigentlich? .................................... 757. Frçmmigkeit und Neurose ............................................ 878. Sieben Ursachen von religiçs-neurotischen Spannungen . 999. Neurose, Sexualität und <strong>Glaube</strong>..................................... 11110. Neurotische Verzerrungen des Gottesbildes.................... 12911. Mçglichkeiten und Grenzen <strong>der</strong> Therapie ...................... 14312. Konsequenzen für Verkündigung und Seelsorge ............. 157 2009 by Brunnen Verlag BaselUmschlag: Samuel Pfeifer, RiehenFotos Umschlag: Samuel Pfeifer und photos.comSatz: Bertschi & Messmer AG, BaselDruck: Bercker Graphische Betriebe, KevelaerPrinted in GermanyAnhang: Der religiçse Wahn – wie kçnnen wir ihn verstehen? 175Literaturverzeichnis ............................................................. 185ISBN 978-3-7655-1437-1


8Beweisen für die These <strong>der</strong> durch den <strong>Glaube</strong>n o<strong>der</strong> die Kirche verursachten<strong>ps</strong>ychischen Stçrungen?In meinen Gesprächen mit Patienten und Gesunden, mit ¾rzten,Seelsorgern und «Laien» versuchte ich herauszufinden, wie sie dieBeziehung zwischen <strong>Glaube</strong> und Krankheit sahen. Was meinen diejenigeneigentlich, die sagen: «Der <strong>Glaube</strong> macht mich krank»? Anmeinem inneren Auge ziehen vielfältige Begegnungen vorüber, dieimmer wie<strong>der</strong> in den Worten gipfelten: «Der <strong>Glaube</strong> macht michkrank!»Die 19-jährige Sekretärin mit den traurig-resignierten Augen, diemir drei Jahre nach dem frühen Tod ihrer geliebten Mutter sagt:«Mag sein, dass an<strong>der</strong>e Gott spüren. Ich habe ihn nicht erlebt. Früherhabe ich an ihn geglaubt; habe die Bibel gelesen und gebetet. Ichhabe gedacht, dass er über mir wacht und mich liebt. Aber warumhat er meine Gebete am Krankenbett meiner Mutter nicht gehçrt?Warum hat er die Not meines Vaters nicht gesehen? <strong>Wenn</strong> es Gottüberhaupt gibt, dann hat er geschlafen! Ich kann nichts mehr mitihm anfangen! Ich will nichts mehr von Gott hçren. Es <strong>wird</strong> mir fastschlecht dabei!»Der 28-jährige Lehrer, <strong>der</strong> zunehmend unter ¾ngsten litt undschließlich seinen Beruf aufgeben musste. Schon von klein auf warer ein sensibles Kind gewesen, ein Einzelgänger, <strong>der</strong> von an<strong>der</strong>n gehänseltwurde. Sein Vater war Vizedirektor einer Versicherung; einMann, <strong>der</strong> sich wenig Zeit für seine Familie nahm. Seine beidenGeschwister konnten die Erwartungen <strong>der</strong> Eltern erfüllen, er nicht.In seinem Elternhaus zählten Leistung und Erfolg; Religion war etwasfür die Schwachen. Erst später, an <strong>der</strong> Uni, kam er <strong>zum</strong> <strong>Glaube</strong>n.Doch die Angst ging nicht weg. Jetzt hatte er nicht nur Angst vorden Prüfungen, die Angst überschattete auch sein Christsein. «Icherlebe Gott wie ein riesiges bedrohliches Überwesen, dem ichschutz- und hilflos ausgeliefert bin. Er for<strong>der</strong>t von mir Hingabe,Heiligung und Einsatz für ihn, aber ich fühle mich wie ein verschnürtesBündel ohne Arme und Beine! Der <strong>Glaube</strong> macht michkrank.»Eine 35-jährige ledige Frau, die in einer streng katholischen Familieaufgewachsen, später aber <strong>zum</strong> evangelischen <strong>Glaube</strong>n übergetretenwar. Schon während ihrer Ausbildung zur Krankenschwesterwar sie sehr sensibel gewesen und hatte immer Mühe mit demSchlaf. Oft schleppt sie sich mit letzter Kraft zur Arbeit. Als vorkurzem ihr Vater starb, fiel sie in eine tiefe Depression. Immer stärkerkreisten ihre Gedanken um ihren <strong>Glaube</strong>n. War es richtig gewesen,die Konfession zu wechseln? Hatte sie damit nicht ihren Vatergekränkt? War sie dadurch nicht zur Außenseiterin in ihrer Familiegeworden? «Die Gedanken drehen Tag und Nacht. Ich kann sie nichtabschalten. Jedes Bibelwort wirft neue Zweifel auf; Predigten kannich keine mehr hçren. Der <strong>Glaube</strong> macht mich krank!»Manche Leser mçgen einwenden, dass die Beispiele gar nichtwirklich «ekklesiogen», also kirchlich bedingt seien. Es handle sichvielleicht um <strong>Glaube</strong>nszweifel, um Projektionen o<strong>der</strong> schlichtwegum Erfahrungen, die nur entfernt mit einem wirklich religiçsen Lebenzu tun hätten. Doch die Menschen, die uns ihre Schwierigkeitenklagen, denken an<strong>der</strong>s. Sie analysieren ihre Situation nicht aus einerdistanzierten Perspektive. Sie erleben eine tiefe innere Zerrissenheitund Not, die auch mit ihrem <strong>Glaube</strong>n zu tun hat. Und dann sagensie uns eben: «Der <strong>Glaube</strong> macht mich krank!» Dies gilt es zuersteinmal anzunehmen, bevor wir dann in einem weiteren Schritt genauerhinterfragen wollen, was denn da wirklich krank gemacht hat.Wi<strong>der</strong>sprücheEs sind diese und viele an<strong>der</strong>e Beispiele, die so manchen Arzt undPsychotherapeuten dazu gebracht haben, vom «krankmachenden<strong>Glaube</strong>n» zu sprechen und zu schreiben. Schlagwçrter entstehennicht durch sorgfältiges Nachdenken und Analysieren, son<strong>der</strong>ndurch innere Betroffenheit. Dabei darf man nicht vergessen, dassdie Deutung religiçser Inhalte bei <strong>ps</strong>ychisch leidenden Menschenentscheidend von <strong>der</strong> persçnlichen Haltung geprägt <strong>wird</strong>, die Therapeutengegenüber dem <strong>Glaube</strong>n haben. 5 Dennoch: Die obigen Beispielemachen in <strong>der</strong> Tat betroffen. Stimmt es also doch, dass <strong>der</strong><strong>Glaube</strong> krank macht? Diese Frage lässt sich aufgrund <strong>der</strong> knappenBeispiele, die ich gegeben habe, noch nicht schlüssig beantworten.Sie geben nur das wie<strong>der</strong>, was in den knappen Skizzen Platz hat,setzen Schwerpunkte nur dort, wo sie etwas herausstreichen sollen.Denn gleichermaßen ließen sich auch Beispiele anführen vonübersensiblen Menschen, denen <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> entscheidenden Haltgibt; die durch den <strong>Glaube</strong>n in ihrer Schwachheit, in ihren ¾ngstenund in ihrer Depression davor bewahrt werden, vçllig in Hoffnungs-9


10losigkeit zu versinken. Es kçnnten Beispiele von <strong>der</strong> positiven Unterstützungdurch die christliche Gemeinschaft gegeben werden, von<strong>der</strong> Annahme behin<strong>der</strong>ter und leiden<strong>der</strong> Menschen in kirchlichenJugendgruppen und Hauskreisen. Schon die Psalmen geben uns einentiefen Einblick in die tragende Kraft <strong>der</strong> Gottesbeziehung, auchin Zeiten <strong>ps</strong>ychischer und kçrperlicher Not, «wenn Leib und Seeleverschmachten». Und ich begegne tagtäglich gläubigen Menschen,die in gleicher Weise Halt finden in ihrem <strong>Glaube</strong>n an Gott.Es muss also noch einen an<strong>der</strong>en Faktor geben, <strong>der</strong> es übersensiblenMenschen schwer macht, sich am <strong>Glaube</strong>n zu halten und die Beziehungzu Gott als positiv zu empfinden. Wie erleben Menschen sichselbst und ihre Familie? Wie belastungsfähig sind sie in den vielfältigenEnttäuschungen, die <strong>zum</strong> Leben gehçren? Wie kçnnen sie umgehenmit den Spannungsfel<strong>der</strong>n zwischen ihren inneren Wünschen undTrieben und den Grenzen, die ihnen von außen gesetzt werden? WelcheIdealvorstellungen haben sie von Gott, vom <strong>Glaube</strong>n und vongläubigen Menschen? Mit welcher Grundhaltung gehen sie durchsLeben – mit Angst, Schuld- und Min<strong>der</strong>wertigkeitsgefühlen o<strong>der</strong> mitZuversicht, Vertrauen und einer guten Portion Durchsetzungsvermçgen?Welchen Einfluss haben die Eltern auf sie? Und wie ist es mçglich,dass in ein und <strong>der</strong>selben Familie nur ein Kind die Erziehung alsbedrückend erlebt, während die an<strong>der</strong>n ihren Weg mit den Eltern finden,ohne sich ständig an ihren Erziehungsmustern zu reiben? Welchessind die Unterschiede im Lebensstil <strong>der</strong>jenigen Menschen, die am<strong>Glaube</strong>n leiden, und <strong>der</strong>jenigen, die den <strong>Glaube</strong>n als Stütze empfinden?Um es auf den Punkt zu bringen: Ist es wirklich <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong>, <strong>der</strong>ansonsten gesunde, belastungsfähige und zuversichtliche Menschenkrank macht? O<strong>der</strong> sind es kranke, übersensible, «neurotische» Menschen,die an sich selbst, an ihrer Familie und an ihrem <strong>Glaube</strong>n leiden?6 O<strong>der</strong> spielt beides zusammen?Forschung o<strong>der</strong> Betroffenheit?Alle diese Fragen werden selten gestellt in den Büchern und Fachartikeln,die sich mit <strong>der</strong> Frage nach dem «krankmachenden <strong>Glaube</strong>n» beschäftigen.Vielmehr erwecken sie den Anschein wissenschaftlicher Seriosität.Der Begriff <strong>der</strong> «ekklesiogenen Neurose» hat seinen festenPlatz im Vokabular von Therapeuten und Theologen, ohne dass <strong>der</strong>Begriff wissenschaftlich hinterfragt <strong>wird</strong>. So machte ich mich daran,die vorliegende Literatur einmal gründlich durchzusehen.Die Ergebnisse meiner Recherchen haben mich ernüchtert. Hatteich zu Beginn noch geglaubt, die Behauptungen vom «krankmachenden»<strong>Glaube</strong>n stünden <strong>zum</strong>indest in <strong>der</strong> Fachliteratur auf festemwissenschaftlichem Grund, so wurde ich enttäuscht. Vielmehr<strong>wird</strong> man hineingeführt in die Nie<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> menschlichen Neigung,für jedes schwer erklärbare Phänomen eine einfache Erklärungzu finden. Immer wie<strong>der</strong> trifft man auf ein verkürztes «Weil-Darum»-Denken,o<strong>der</strong> um es fachlich auszudrücken, eine Neigung <strong>zum</strong>angelhaft fundierten und verengten Kausalattributionen. In vielenVerçffentlichungen <strong>zum</strong> Thema spürte man das persçnliche Ringendes Autors mit seiner eigenen seelischen Not. Oft wurde die Auseinan<strong>der</strong>setzungmit Eltern und Kirche, ja letztlich mit den Wi<strong>der</strong>sprüchenin sich selbst spürbar. Doch solche Betroffenheit trägt insich die Gefahr, zu verallgemeinern und die Perspektive zu verlieren.Die wissenschaftliche Literatur lässt sich unterteilen in «Betroffenheitsliteratur»und in «Forschungsliteratur». Die Betroffenheitsliteraturgeht von Beispielen aus und verzichtet weitgehend aufkontrollierte Vergleiche mit an<strong>der</strong>en Patienten und Problemkonstellationen.Die Forschungsliteratur hingegen versucht mit klar definiertenInstrumenten (Diagnostik, Fragebogen) eine grçßereGruppe von Versuchspersonen bzw. Patienten zu untersuchen unddaraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Während in <strong>der</strong> Betroffenheitsliteraturnur die Probleme <strong>der</strong> Menschen ausführlich dargestelltwerden, die an ihrem <strong>Glaube</strong>n leiden, versucht die Forschungsliteraturauch mit denjenigen zu sprechen, die zwar ein ähnliches Problemhaben (<strong>zum</strong> Beispiel eine neurotische Depression o<strong>der</strong> einAngstsyndrom), aber nicht in <strong>Konflikt</strong> mit ihrem <strong>Glaube</strong>n kommen.Sie versucht, unvoreingenommen die Beziehung zwischen <strong>Glaube</strong>und Lebensbewältigung, zwischen Religiosität und <strong>ps</strong>ychischer Gesundheitzu untersuchen.Positive Auswirkungen des <strong>Glaube</strong>nsAls Beispiel für eine seriçse wissenschaftliche Forschung sei eineStudie zitiert, die alle Artikel untersuchte, die während 12 Jahren inzwei <strong>der</strong> wichtigsten <strong>ps</strong>ychiatrischen Fachzeitschriften verçffentlicht11


12wurden. 7 Unter den Tausenden von Fachartikeln fanden sich gerade35 Arbeiten, die in irgendeiner Weise eine Beziehung zwischen Religiositätund <strong>ps</strong>ychischer Gesundheit untersuchten.Insgesamt wurden in den 35 Arbeiten 139 wissenschaftliche Beschreibungenvon Religiosität angewendet, jedoch nur in 50 Messungenkonsequent untersucht. Erwartet hatten die Autoren häufigkeinen o<strong>der</strong> einen negativen Einfluss <strong>der</strong> Religiosität auf die <strong>ps</strong>ychischeGesundheit. Doch die Resultate ergaben 36-mal eine positiveBeziehung zwischen <strong>Glaube</strong> und seelischer Gesundheit, achtmaleine negative Korrelation und sechsmal keine Auswirkung auf dieseelische Gesundheit.Vereinfacht lässt sich also sagen: Dort, wo <strong>der</strong> Einfluss des <strong>Glaube</strong>nsauf die <strong>ps</strong>ychische Gesundheit seriçs wissenschaftlich untersuchtwurde, ergab sich viermal häufiger eine positive Beziehungals eine negative.Einen negativen Bezug zwischen <strong>Glaube</strong> und <strong>ps</strong>ychischem Zustandzeigten am ehesten Menschen, die mit <strong>der</strong> Frage nach demLebenssinn und nach ihren ethischen Leitlinien rangen (also im Bereich<strong>der</strong> Sinnfragen). Wie lässt sich das erklären? Während einer<strong>ps</strong>ychischen Krise kann die Frage nach dem Sinn oft quälend werden.Dies ist insbeson<strong>der</strong>e bei denjenigen Menschen <strong>der</strong> Fall, dieäußerlich (extrinsisch) zwar an christlich-ethische Leitlinien glauben,aber nicht mit Überzeugung nach diesen leben und nicht ineine Gemeinschaft eingebettet sind.Die Studie steht im Einklang mit früheren Übersichtsstudien 8 , dieebenfalls ein deutliches Überwiegen positiver Befunde feststellten,wenn es darum ging, den Einfluss <strong>der</strong> Religiosität auf die Gesundheitzu messen. Dabei wurde eine interessante Beobachtung gemacht:Es besteht ein Unterschied zwischen «gesunden» Versuchspersonenund wirklich kranken und leidenden Menschen. 9 Diesogenannten «Gesunden» (oftmals jüngere Universitätsstudenten)litten vielleicht an leichteren ¾ngsten und kurz andauernden depressivenVerstimmungen und neigten eher dazu, Sinn- und <strong>Glaube</strong>nsfragenkonflikthaft zu verarbeiten. Diese Spannung kann manbei einer weiten Begriffsfassung als «neurotisch» bezeichnen. Dochinsgesamt funktionierten sie gut und waren in <strong>der</strong> Lage, ein anspruchsvollesStudium zu meistern. Für viele religiçse Studenten ist<strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> ein äußerlich bejahter <strong>Glaube</strong>, <strong>der</strong> aber den Härtetestpersçnlicher Krisen noch kaum zu bestehen hatte.An<strong>der</strong>s bei klinisch kranken «neurotischen» Menschen, die anausgeprägten Depressionen und ¾ngsten litten, die eine Therapieo<strong>der</strong> sogar eine Hospitalisation nçtig machten. Diese Menschen hattensich mit den Nçten von Verzweiflung, seelischem Dunkel, tieferAngst und invalidisieren<strong>der</strong> Schwachheit existenziell auseinan<strong>der</strong>zusetzen.Für sie war <strong>Glaube</strong> nicht einfach ein äußeres Für-wahr-Halten. Sie konnten ihre Not wie<strong>der</strong>finden in den Psalmen Davidsund in den Klagelie<strong>der</strong>n Jeremias. 10 Sie fanden Trost in kirchlichenLie<strong>der</strong>n und in <strong>der</strong> persçnlichen Seelsorge. Sie wussten den Wertchristlicher Gemeinschaft zu schätzen und schçpften daraus immerneue Hoffnung und neue Kraft, auch in ihren Grenzen.Somit ergaben sich folgende Tendenzen:&&&Menschen mit schweren seelischen Nçten machten eher positiveErfahrungen mit dem <strong>Glaube</strong>n.Versuchspersonen, die an leichteren Stçrungen litten, zeigteneher mehr <strong>Konflikt</strong>e mit dem <strong>Glaube</strong>n.Einzelfälle ergeben ein negativeres Bild als ein Gesamtüberblick.Wie kommt es denn nun zu dem offensichtlichen Auseinan<strong>der</strong>klaffenzwischen diesen wissenschaftlichen Befunden und den Aussageneinzelner Patienten und ihrer Psychotherapeuten? Warum <strong>wird</strong> sooft vom «krankmachenden <strong>Glaube</strong>n» geredet, von <strong>der</strong> Einengungdurch Kirchen und religiçse Gemeinschaften?Hier einige erste Hinweise: <strong>Wenn</strong> ¾rzte und Therapeuten mitden Nçten gläubiger Menschen in Berührung kommen, so hçrensie in ihrer Sprechstunde so manches schwere Lebensschicksal.Nicht immer ist es dem gläubigen Menschen gelungen, sein Lebenso zu gestalten, wie er es sich erhofft hätte o<strong>der</strong> wie es den Idealenseiner Gemeinde entsprechen würde. Therapeuten hçren oft auchschwere Erlebnisse aus <strong>der</strong> Kindheit und Jugend. Auch da gilt:Nicht immer ist es gläubigen Eltern gelungen, ihren <strong>Glaube</strong>n in<strong>der</strong> Erziehung so umzusetzen, wie es den Bedürfnissen ihres Kindesentsprochen hätte.Die Menschen, die uns ihre ¾ngste, Zwänge und Depressionenanvertrauen; die uns als schwermütige und skrupulçse Christen erscheinen;die leiden an sich selbst und ihren Hemmungen – dieseMenschen sind nicht nur Betroffene, son<strong>der</strong>n sie sind auch Eltern13


16Kontakt zu einem Mädchen suchte: «Letzthin lud ich eine Arbeitskollegin<strong>zum</strong> Essen ein. Es war ein <strong>net</strong>ter Abend. Eigentlich hätte ichLust gehabt, mit ihr zu schlafen. Doch als ich sie aufs Zimmer nehmenwollte, sagte sie, sie wolle nichts mit mir haben; ich solle sienach Hause fahren. Nicht mal einen Kuss wollte sie mir geben! Ichhabe mich so geärgert! Am liebsten wäre ich in eine Disko gegangenund hätte mich an irgendeine an<strong>der</strong>e rangemacht. Aber dann hatteich ein schlechtes Gewissen. Ich bin in einer christlichen Familieaufgewachsen und mçchte ja Christ sein. Aber so macht mich <strong>der</strong><strong>Glaube</strong> krank!»Spannungen dieser Art kçnnen auch ganz ohne <strong>Glaube</strong>n auftreten,wo ein junger Mann die Freiheit eines Mädchens zu respektierenhat. Hier verursachte nicht <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> «krankhafte» Spannung,son<strong>der</strong>n die Unreife im Umgang mit seiner Sexualität. Hier zeigtsich auch, dass das Gewissen, so unangenehm es in seinem «Verbieten»ist, einen Menschen davor bewahren kann, etwas zu tun, was erspäter bereuen würde. Je<strong>der</strong> Mensch, ob er nun religiçs ist o<strong>der</strong>nicht, <strong>wird</strong> in manchen Situationen in ein Spannungsfeld zu seinemGewissen kommen. Je sensibler er ist, desto stärker <strong>wird</strong> er darunterleiden.Verkündigung ist nicht immer hilfreichDie Verkündigung in christlichen Gemeinden ist allerdings nichtimmer hilfreich und kann übersensible Menschen zusätzlich beschweren.Gerade dort, wo ernsthaft leidenden Menschen nicht dasnçtige Verständnis entgegengebracht <strong>wird</strong>, kann die Verkündigunglieblos, ja erschwerend für die Bewältigung ihrer Nçte werden. ZweiBeispiele sollen dies verdeutlichen:Ein bekannter charismatischer Prediger behauptet, Depressionenseien «ein direktes Werk dämonischer Kräfte» 11 . Der Kranke seiselbst verantwortlich für sein «Leben voll von Stolz und Selbstmitleidund latenten Beherrschungswünschen» (hier <strong>wird</strong> trotz des biblischenMantels ein <strong>ps</strong>ychoanalytischer Ansatz spürbar) und müssesich willentlich davon lçsen. Diese Lehre <strong>wird</strong> denn auch in manchenGemeinden konsequent auf die «Seelsorge» angewendet. Mirsind mehrere Fälle von depressiven Menschen bekannt, die durchdie daraus folgenden «Gebete um Befreiung» zusätzlich unter Druckkamen. Hier <strong>wird</strong> «befreiende» Seelsorge zur belastenden Seelsorge.Sie führt bei Betroffenen zu einer unnçtigen Fixierung auf dämonischeKräfte, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlen. Gerade wenneine Freibetung nicht den erwünschten Erfolg gebracht hat, quälensich die Betroffenen mit zusätzlichen geistlichen Selbstvorwürfenund kçnnen umso mehr am <strong>Glaube</strong>n verzweifeln. 12 Dennoch mussum <strong>der</strong> wissenschaftlichen Redlichkeit willen wie<strong>der</strong> unterschiedenwerden zwischen <strong>der</strong> Ursache <strong>der</strong> Depression, die nicht im religiçsenBereich liegt 13 , und <strong>der</strong> religiçsen Verstärkung <strong>der</strong> Stçrungdurch eine unsachgemäße Seelsorge.Das zweite Beispiel zeigt, wie die Suche nach Sinn in einer Krisezu seelischen Spannungen führen kann. Es hat nicht direkt mit Verkündigungvon <strong>der</strong> Kanzel zu tun, sehr wohl aber mit einem engenGemeindeverständnis. Eine Frau in mittleren Jahren besucht einenüberkonfessionellen Hauskreis und verletzt dadurch die ungeschriebenenRegeln ihrer Gemeinschaft. Eines Tages stirbt ihr 16-jährigerSohn nach kurzer Krankheitszeit an Leukämie. Eine schwere Depressionist die Folge. Im Bemühen, einen geistlichen Sinn zu finden,stellt ihr eine an<strong>der</strong>e Frau die Frage: «Kçnnte dies nicht eineMahnung Gottes sein, weil du nicht mehr treu und ungeteilt in dieStunden gekommen bist?» In <strong>der</strong> Folge fühlt sie sich noch weiterabgelehnt und grübelt ständig über ihre mçgliche Schuld am Todihres Sohnes nach. Erst mit <strong>der</strong> Aufhellung <strong>der</strong> Depression konntesie wie<strong>der</strong> klarer erkennen, dass die Unfassbarkeit des menschlichenLeidens, aber auch die Liebe Gottes nicht davon abhängig war, welchenHauskreis sie besuchte.In diesen Beispielen hat eine triumphalistische Heilungsdoktrin(Beispiel 1) bzw. eine gesetzliche Frçmmigkeit (Beispiel 2) eine bestehendeDepression noch kompliziert. ¾hnliche Beispiele kçnntenaus vielen Gemeinden berichtet werden, die durch eine enge Verkündigungo<strong>der</strong> Tradition geprägt werden.Oftmals sind es noch subtilere ¾ngste, die den Sensiblen das Lebenschwermachen: die Angst, bei <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>kunft Jesu zurückzubleiben,weil man vielleicht einen schlechten Gedanken nicht sofortbekannt hatte; die Angst, von Gott gestraft zu werden, weil manEmpfängnisverhütung betreibt; o<strong>der</strong> das Leiden daran, dass mannicht wie an<strong>der</strong>e eine heile, «christliche» Familie hat, wie sie in <strong>der</strong>Gemeinde gepredigt <strong>wird</strong>.17


18Neurose und ReligiositätNun gibt es aber auch gläubige Menschen, die an seelischen undvegetativen Problemen leiden, die primär nichts mit ihrem <strong>Glaube</strong>nzu tun haben. Erst <strong>der</strong> Versuch, sie aus biblischer Sicht zu verstehen,führt zu einer christlichen Prägung in <strong>der</strong> Verarbeitung. «Was willmir Gott durch meine Magenkrämpfe sagen?» – «Welche Schuld <strong>der</strong>Vorfahren lässt mich schlaflos werden?» – «Bin ich sexuell deshalb soverkrampft, weil ich vor <strong>der</strong> Ehe schon einmal mit einem Freundgeschlafen habe?»Dennoch ziehen manche Therapeuten den Schluss: Weil einMensch in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen ist, darumist er seelisch erkrankt. Weil er die Regeln und die Enge seiner Gemeindenicht ertragen konnte, darum leidet er an ¾ngsten undHemmungen. Diesem vereinfachten «Weil-Darum»-Denken vonBetroffenen und Therapeuten muss ich aus <strong>der</strong> klinischen Erfahrungdeutlich wi<strong>der</strong>sprechen.Als Beispiel mçchte ich das Erleben einer Frau aus jüdisch-orthodoxerTradition anführen. In einer Zeit <strong>der</strong> Depression empfand siedie vielen Regeln zur Einhaltung <strong>der</strong> Speisegebote und des Sabbatsals zunehmende Belastung. Es wäre einfach gewesen zu sagen: «WerfenSie doch alle ihre Gesetze über Bord und leben Sie ein befreitesLeben! Ihre Probleme kommen von <strong>der</strong> Gesetzlichkeit <strong>der</strong> jüdischenLehre!» Doch als sie sich wie<strong>der</strong> erholt hatte, sagte sie mir: «Jetztkann ich mich wie<strong>der</strong> auf das Laubhüttenfest freuen. Ich habe wie<strong>der</strong>die Kraft, alle Vorbereitungen zu treffen. Ich freue mich auf dieGäste, die mit uns feiern werden, und darauf, meinen Kin<strong>der</strong>n etwasvon <strong>der</strong> Schçnheit und Freude unseres jüdischen <strong>Glaube</strong>ns weiterzugeben.»In ihrem Fall war es also nicht die Gesetzlichkeit, son<strong>der</strong>ndie Erschçpfung in <strong>der</strong> Depression, die ihr das Einhalten <strong>der</strong> Gesetzezur Bürde machte.Schon aus diesen wenigen Beispielen <strong>wird</strong> klar: Die Depression,¾ngste und Zweifel sensibler (o<strong>der</strong> neurotischer) Menschen bleibennicht ohne Auswirkungen auf ihr <strong>Glaube</strong>nsleben, doch gilt es dieHintergründe näher auszuleuchten.<strong>Wenn</strong> ich im Folgenden die Begriffe «Neurose» und «Religiosität»verwende, so bedürfen diese einer Erläuterung. Denn beide Begriffesind nicht unumstritten. Beide beschreiben wichtige Bereichemenschlichen Erlebens und Verhaltens, im innerseelischen und imzwischenmenschlichen Bereich. Und <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Religiosität gehtnoch darüber hinaus: Er beschreibt auch eine geistliche Dimensiondes menschlichen Daseins.Auf den folgenden Seiten habe ich es mir nun zur Aufgabe gestellt,ClichØs zu hinterfragen und Begriffe zu klären. Ich mçchteversuchen, die Komplexität <strong>der</strong> Problematik didaktisch aufzuglie<strong>der</strong>nund den Leser anzuregen zu einem multidimensionalen Denken.Und schließlich soll auch <strong>der</strong> Versuch unternommen werden,Hinweise zur Begleitung und Therapie von Menschen zu geben, <strong>der</strong>enPersçnlichkeitsproblematik sich im <strong>Glaube</strong>nsbereich ausdrückt.Ich habe bewusst versucht, verständlich zu schreiben. Naturgemäßwerden manche Kapitel aber etwas anspruchsvoller sein. Insbeson<strong>der</strong>ebei <strong>der</strong> Übersicht über die Literatur zur Thematik ist einewissenschaftliche Bearbeitung unerlässlich.Eine StreitschriftIch verstehe dieses Buch aber auch als eine Streitschrift und entschuldigemich nicht dafür. Denn das unqualifizierte Reden von<strong>der</strong> «ekklesiogenen Neurose» hat vielen Menschen in ihrer Not Unrechtgetan, die Ursachenzuschreibung verlagert und umfassendeHilfe verhin<strong>der</strong>t. Ich erhebe meine Stimme für diejenigen, die sichselbst nicht zu wehren wagen:&&&&für die ungezählten neurotischen Menschen, die ihre Nçte zuTherapeuten gebracht haben und sich von diesen in ihrem <strong>Glaube</strong>nnicht verstanden fühlten, ja abgelehnt wurden.für diejenigen, denen man Steine statt Brot gab, humanistischeTherapiekonzepte <strong>der</strong> Selbstverwirklichung ohne Bezug zu ihrem<strong>Glaube</strong>n; für diejenigen, die durch diese Gespräche tiefer hineingerietenin ihre Zweifel und fixiert wurden auf vermeintliche religiçseUrsachen ihrer ¾ngste und Depressionen.für diejenigen, denen Seelsorger rasche und vorschnelle Antwortenaus ihrem reichen Bibelzitatenschatz gaben, ohne sie in ihremLeiden ernst zu nehmen; die einseitige Seelsorgestrategien anwendeten,ohne praktische Hilfe zu geben.für diejenigen, die beschwert sind von den gesetzlichen Regelnund Auflagen, die ihnen in ihren Gemeinden gemacht werden.19


20&&für diejenigen, die Mühe haben, ihre Grenzen und ihre Schwachheitanzunehmen, die immer wie<strong>der</strong> sich selbst die Schuld gebeno<strong>der</strong> die Ursachen suchen bei ihren Eltern, bei ihrem <strong>Glaube</strong>nund bei ihrer Kirche o<strong>der</strong> Gemeinde.aber auch für diejenigen, die allzu leicht dazu neigen, die Verantwortungfür ihr Denken und Handeln auf ihre christliche Erziehungzurückzuführen o<strong>der</strong> ihre eigenen Schwierigkeiten auf Gottzu projizieren.Kein SchemaAus meiner ärztlichen Erfahrung in Klinik und Praxis kann ich densimplen Satz: «Religion macht krank», so nicht bestätigen. In <strong>der</strong>Sprechstunde sehe ich sowohl gläubige als auch säkular geprägteMenschen, die mir ihre ¾ngste, Zwänge und Depressionen anvertrauen.Und immer wie<strong>der</strong> <strong>wird</strong> ein existenzielles Leiden spürbar,das man nicht in ein einfaches Schema pressen kann. SchmerzlicheErfahrungen in Kindheit und Jugend, unerfüllte Wünsche undSehnsüchte, harte Schicksalsschläge, schwierige Beziehungen undEnttäuschungen durch an<strong>der</strong>e Menschen, kçrperliche Krankheito<strong>der</strong> eine schwache Konstitution – all das kann schließlich bei übersensiblenMenschen zu einer seelischen Krise, zu einem <strong>ps</strong>ychosomatischenZusammenbruch o<strong>der</strong> eben zu einer länger andauerndenNeurose führen. Der <strong>Glaube</strong> kann, muss aber nicht eine Rollespielen. In jedem Fall ist er nicht <strong>der</strong> einzige Faktor, son<strong>der</strong>n Teil ineinem komplexen Wechselspiel innerseelischer und zwischenmenschlicherVorgänge.<strong>Glaube</strong>n und eine erweiterte Sicht des menschlichen Daseins in einerunvollkommenen Welt.Anmerkungen zu Kapitel 11. Moser 19762. Schaetzing 19553. Arterburn und Felton 19914. Ringel 19855. Die Problematik <strong>wird</strong> diskutiert bei Houts und Graham 1986 und beiWorthington 1988.6. vgl. dazu Meissner 1991 und Hark 19827. Larson et al. 19928. Bergin 1983, Spilka 1989, Gartner et al. 19919. Gartner et al. 199110. vgl. Mumford 199211. Margies 1988, S. 177, 21812. vgl. S. Pfeifer 198713. vgl. S. Pfeifer 1988, S. 95–12721Ich bin mir bewusst, dass manche Aussagen nicht nur nachdenklichstimmen, son<strong>der</strong>n auch provozierend wirken kçnnen. Insbeson<strong>der</strong>ekann das persçnliche Erleben eines Menschen im Spannungsfeldvon Neurose und <strong>Glaube</strong> so intensiv sein, dass es ihm schwerfällt,seine Erfahrungen und seine Erklärungsmuster kritisch zu hinterfragen.Ich mçchte Sie ermutigen, das Buch dennoch nicht aus <strong>der</strong> Handzu legen, son<strong>der</strong>n sich den anstehenden Fragen zu stellen. Es istmeine Hoffnung, dass Sie dadurch eine differenzierte Sicht entwickelnkçnnen, die beides ermçglicht: einen reifen persçnlichen


24latio praecox 2 bis zur totalen Impotenz mehr o<strong>der</strong> weniger vollkommen.»Man spürt Schaetzing das Ringen ab, einen seelsorglich-<strong>ps</strong>ychologischenMittelweg zu finden. «Ich habe nicht das Geringstegegen eine echt christliche, nämlich natürliche Dogmatik einzuwenden,die uns Menschen feste Leitlinien vermittelt und anstrebenswerteIdeale preist. Ich habe aber sehr viel gegen einen amrealen Leben vorbeisehenden Dogmatismus wie gegen jeden übertriebenen‹...ismus› überhaupt, <strong>der</strong> ja nicht mehr die notwendigenMittel <strong>zum</strong> guten Zweck liefert, son<strong>der</strong>n sich selbst <strong>zum</strong> Selbstzweckaufbläht.»Leiden an <strong>der</strong> SexualitätLei<strong>der</strong> gelang es Schaetzing nicht, klare Zusammenhänge zwischenreligiçser Ursache und neurotischer Stçrung herauszuarbeiten. Vielmehrbleibt <strong>der</strong> Eindruck einer sehr einseitigen Sicht <strong>der</strong> Entstehungsexueller Stçrungen. Es scheint, als hätte Schaetzing in seinem Leidenan Einzelschicksalen vollends die Brille <strong>der</strong> neurotischen Patientenund Patientinnen übernommen, <strong>der</strong>en Unreife und <strong>der</strong>en Verdrängeneigener Verantwortung in <strong>der</strong> sexuellen Entwicklung. Denwilden Rundumschlag gegen das von ihm hochstilisierte Sittendramaim Nachkriegs-Berlin bezeich<strong>net</strong> er selbst als «bewusst scharfformulierte Abrechnung mit dem wohl niemals ganz aussterbendenpharisäischen Muckertum» (S. 105).Erst gegen Schluss seines Artikels findet er wie<strong>der</strong> zu einer grçßerenDistanz, enttäuscht aber all diejenigen, die nun endlich auf einefrauenärztliche Lçsung <strong>der</strong> «ekklesiogenen» Probleme gehofft hatten:«Freilich gehçrt hierzu eine gewisse Lebenserfahrung. Auch gibtes kein <strong>ps</strong>ychologisches o<strong>der</strong> sonstiges Kuchenrezept, wie die Jugenddie genannte Kluft zwischen Sexus und Gesellschaft überspringenkann, son<strong>der</strong>n jede Generation muss sich zur Läuterung und zurErkenntnis des echten Christentums hindurchleben» (S. 107). Hierinkçnnen wir ihm nur zustimmen.Noch im gleichen Jahr mahnte <strong>der</strong> bekannte Pastoral<strong>ps</strong>ychologeund Eheberater seiner Zeit, Dr. Theodor Bovet 3 , zur Vorsicht, sexuelleStçrungen unreflektiert auf die Religiosität eines Menschen zurückzuführen.Er wies insbeson<strong>der</strong>e darauf hin, dass die für sexuelleStçrungen maßgebenden Faktoren von <strong>der</strong> herrschenden Moralweitgehend unabhängig seien. In jedem Fall sei auch die bestehendeneurotische Disposition zu berücksichtigen. Dabei gebe es durchausdie Mçglichkeit, dass eine engherzige moralisierende Erziehung beineurotisch disponierten Menschen eher zu einer manifesten Neuroseführe als in einem gesunden Milieu.Leiden fast alle Pfarrer an einer Neurose?Der Begriff <strong>der</strong> «ekklesiogenen Neurose» wurde weiterentwickeltvon dem Berliner Arzt und Theologen Dr. Klaus Thomas. Geprägtwurde dieser von zwei Strçmungen, nämlich vom autogenen Trainingseines Lehrers J. H. Schultz und von <strong>der</strong> orthodoxen Psychoanalyse,wobei er eine eigene Sichtweise <strong>der</strong> Zusammenhänge zwischenseelischen Stçrungen und Sexualität entwickelte.Thomas begründete die «¾rztliche Lebensmüden-Betreuung»,eine kirchliche Krisen-Beratungsstelle, <strong>der</strong>en Angebote beson<strong>der</strong>shäufig von Menschen wahrgenommen wurden, die selbst im kirchlichenDienst standen und sich ein besseres Verständnis ihrer <strong>ps</strong>ychischenStçrungen auf dem Hintergrund von <strong>Glaube</strong> und Psychologieerhofften.Seine Erfahrungen hat Thomas in einem großen Handbuch <strong>der</strong>Selbstmordverhütung 4 nie<strong>der</strong>geschrieben. In einem speziellen Kapitel5 beschäftigte er sich mit den sogenannten «ekklesiogenen» Neurosen.Illustriert werden diese nicht nur durch viele Beispiele, son<strong>der</strong>nauch durch vor<strong>der</strong>gründig eindrückliche Statistiken.Eine genauere Untersuchung wirft allerdings ernste Fragezeichenin Bezug auf die Verwendung des Begriffes auf. So berichtet Thomas,er habe auf seinen Vortragsreisen in über einhun<strong>der</strong>t Pfarrhäuserngewohnt. Seine Einschätzung <strong>der</strong> Gastgeber: «In 90 Prozent herrschtenschwere <strong>Konflikt</strong>situationen, in 75 Prozent ‹ekklesiogene› Neurosen.»6 Eine <strong>der</strong>art hohe Rate einer spezifischen Stçrung wirft dochdie Frage auf, ob hier nicht gewçhnliche Alltagsschwierigkeiten allzuschnell als krankhaft bezeich<strong>net</strong> werden.Die Ursachen «ekklesiogener» Neurosen ortet er (wie sein KollegeSchaetzing) in einer «engen, gesetzlichen und leibfeindlichen Erziehung,die beson<strong>der</strong>s in den Fragen <strong>der</strong> Geschlechtlichkeit von demGrundsatz des Tabuisierens ausgeht». Und er fährt fort: «Eine <strong>der</strong>25


26vielfältigsten Mçglichkeiten <strong>der</strong> Ursachen <strong>der</strong> ‹ekklesiogenen› Neuroseliegt in dem ‹Tabu› <strong>der</strong> Unwissenheit, die mit gewaltsamemVerschweigen und Verbieten gezüchtet und gefçr<strong>der</strong>t <strong>wird</strong>.»In den Beispielen konzentriert sich Thomas meist auf die beruflicheFunktion («kirchliche Amtsträger»), den religiçsen Hintergrund<strong>der</strong> Eltern («Pietisten», «Pfarrer») und auf die sexuelle Funktion<strong>der</strong> Betroffenen.Hingegen vermisst man eine umfassende Beschreibung <strong>der</strong> allgemeinenLebenssituation und <strong>der</strong> aktuellen Stressfaktoren, die andem Krisengeschehen beteiligt sind. Thomas scheint zwischen zweiWelten hin- und herzuschwanken: Einerseits spürt man eine aufrichtigeWertschätzung des Einzelnen und des <strong>Glaube</strong>ns als tragendeGrundhaltung. 7 An<strong>der</strong>erseits bedient er sich einer verkürzten Etikettierungvieler <strong>ps</strong>ychischer Krisen und fast je<strong>der</strong> Sexualstçrung beireligiçsen Menschen als «ekklesiogene» (von <strong>der</strong> Kirche o<strong>der</strong> dem<strong>Glaube</strong>n verursachte) Stçrung.Während <strong>der</strong> Text immer wie<strong>der</strong> eine mitmenschliche und einfühlsameGrundhaltung durchscheinen lässt, bleiben dem Leser vorallem die pauschalisierenden Formulierungen und die einseitigen<strong>ps</strong>ychoanalytischen Beschreibungen von komplexen Lebensschicksalen.Sein Neurosenbegriff lässt sich mit <strong>der</strong> heutigen Diagnostiknicht in Einklang bringen, vermischt er doch reaktive Stçrungenkurzer Dauer, Persçnlichkeitsstçrungen, Sexualprobleme undschwere Erkrankungen. Immer wie<strong>der</strong> <strong>wird</strong> das sehr selektive Patientengutdeutlich. So «waren fast neunzig Prozent <strong>der</strong> Perversenkirchliche Amtsträger, grçßtenteils Pfarrer».Es muss hier bei aller Kritik aber auch angemerkt werden, dassThomas nicht nur klassifizierte, son<strong>der</strong>n gleichzeitig auch eine tiefeWertschätzung für diejenigen Pfarrer aussprach, die an neurotischenStçrungen leiden. So schreibt er: «Diese Pfarrer sind für ihren Berufbeson<strong>der</strong>s geeig<strong>net</strong> durch die Tiefe und Echtheit ihres <strong>Glaube</strong>nslebens,sowie durch die vielen Leiden und Kämpfe im Zusammenhangmit ihrer Krankheit. Neurotiker und Lebensmüde sind wegenihrer feinen Empfindsamkeit meist überdurchschnittlich begabteund beson<strong>der</strong>s wertvolle Menschen, nicht aber, wie vielfach irrigangenommen <strong>wird</strong>, relativ min<strong>der</strong>wertige o<strong>der</strong> für Leben undDienst untaugliche Menschen.» 8Psychopathia sexualis – ekklesiogen?Beson<strong>der</strong>s beeindruckt ist Thomas von den Extrembeispielen sexuellerAbartigkeit, die ihm in <strong>der</strong> Beratung begeg<strong>net</strong>en. Da die Betroffenenoft einen kirchlichen Beruf ausübten, erlebten sie und ihreAngehçrigen die Problematik beson<strong>der</strong>s notvoll. Gleichzeitig sindähnliche Fälle bei säkularen Patienten sattsam bekannt. Die geschil<strong>der</strong>tenBeispiele sind ein Gruselkabi<strong>net</strong>t <strong>der</strong> «Psychopathia sexualis»9 . Dabei handelt es sich um tragische Einzelschicksale, die sicherauch <strong>zum</strong> Teil lebensgeschichtliche Zusammenhänge aufweisen. In<strong>der</strong> gerafften Darstellungsform lassen sie aber nicht monokausal aufeine «ekklesiogene» Entstehung rückschließen.Die Tatsache, dass ein Mensch Theologie studiert hat und seinenBeruf als Pfarrer ausübt, reicht nicht zur Erklärung seiner Persçnlichkeitsproblematik.Während die einen religiçse Erziehung genossenhaben und religiçse Argumente für ihre Probleme einbringen,finden sich (auch in den Beispielen von Thomas) in vielfältigsterForm allgemein menschliche (o<strong>der</strong> unmenschliche) Motive für dieverschiedensten neurotischen Gefühle o<strong>der</strong> sadomasochistischenHandlungen und For<strong>der</strong>ungen. Die Beispiele kçnnten ebenso gutvon Lehrern o<strong>der</strong> Büroangestellten stammen.Auch ein Zusammenhang zwischen Religiosität und sexuellerLustlosigkeit ist nicht zwingend, insbeson<strong>der</strong>e nicht in den Situationen,die Thomas in manchen Fallbeispielen beschreibt: <strong>Wenn</strong> einPfarrer seine Ehefrau ständig drangsaliert und sogar mit <strong>der</strong> Ermordung<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> droht, so scheint es durchaus nachvollziehbar,dass die Frau unter Angst leidet und beim sexuellen Zusammenseinkeine Gefühle mehr hat (S. 308). Diese Angst und Frigidität als«ekklesiogene» Neurose zu bezeichnen, geht am eigentlichen Problemvorbei.Fragwürdige StatistikenAuch die neueren Verçffentlichungen von Thomas stellen sexuelleProbleme in einen direkten Zusammenhang mit einer «krankmachenden»Religiosität. Die Zahlen, die dabei genannt werden, scheinenauf den ersten Blick sehr eindrücklich. So will er eine «ekklesiogeneNeurose» bei 97 Prozent aller «Onanieskrupulanten», 9427


28Prozent <strong>der</strong> Homosexuellen (!), 80 Prozent <strong>der</strong> «sexuell Devianten»,bei 90 Prozent <strong>der</strong> frigiden Frauen und bei 65 Prozent <strong>der</strong> impotentenMänner festgestellt haben, die seine «¾rztliche Lebensmüden-Betreuung» in Berlin aufsuchten. 10 Auch spezifische <strong>ps</strong>ychiatrischeKrankheitsbil<strong>der</strong> seien ekklesiogen verursacht: etwa 90 Prozent allerZwangsneurosen, 90 Prozent <strong>der</strong> Anorexien und 90 Prozent <strong>der</strong>neurotischen Depressionen.Derartige Statistiken muten auf dem Gesamthintergrund <strong>der</strong> <strong>ps</strong>ychiatrischenund <strong>ps</strong>ychotherapeutischen Literatur geradezu naiv an.Wären diese Menschen nicht «durch unmittelbaren o<strong>der</strong> mittelbarenkirchlichen Einfluss erkrankt», sie hätten keine neurotischenProbleme gehabt, so <strong>der</strong> Tenor.Betrachtet man jedoch die Berichte näher, mit denen so weitgehendeBehauptungen unterstrichen werden, so lässt sich <strong>der</strong>Eindruck nicht von <strong>der</strong> Hand weisen, dass Sexualität losgelçst<strong>wird</strong> von einer allgemeinen menschlichen <strong>Konflikt</strong>situation. «Wirwurden mehrfach dessen Zeuge», so Thomas in einem Kongress-Bericht, «wie ein Pfarrer die von ihm geliebte Frau um <strong>der</strong> nichtgeliebten Ehefrau willen verlassen mußte und in schwerste Verzweiflunggeriet.» 11 Es ist eigenartig, dass hier nur von religiçserEinengung, mit keinem Wort aber von Beziehungsdynamik undvon dem Spannungsfeld zwischen Ideal und Realität die Rede ist.Dabei kennt je<strong>der</strong> Psychotherapeut religiçs ungebundene Männer,die ebenfalls am <strong>Konflikt</strong> zwischen Ehefrau und Geliebter in einemMaße leiden, das durchaus neurotische Dimensionen annehmenkann.An<strong>der</strong>erseits scheint sich Thomas <strong>der</strong> mçglichen Missverständnissebewusst: «Wer aus solchen Arbeiten einen Angriff gegen dieKirche(n) herauslesen o<strong>der</strong> gar sie zu Sensationsmitteilungen verzerrenwollte, <strong>der</strong> würde nicht nur dem ersten Teil von dem heilendenWirken <strong>der</strong> Kirche Hohn sprechen, son<strong>der</strong>n dem offenbarenärztlichen Grundanliegen <strong>der</strong> Arbeit zuwi<strong>der</strong>handeln, nämlich Verständniswecken, vorbeugen und heilen.» 12Lei<strong>der</strong> ist dies Thomas selbst nicht gelungen. Bei seinen Publikationenin säkularen Zeitschriften (<strong>zum</strong> Beispiel in «Sexualmedizin»)werden Zahlen und Zusammenhänge vermittelt, die gerade dazuherausfor<strong>der</strong>n, Sensationsmeldungen zu verçffentlichen.Die «ekklesiogene Beweiskette»Die Argumentationsweise von Thomas <strong>wird</strong> beson<strong>der</strong>s deutlich aneinem Beispiel, wo er auch zusätzliche Informationen liefert:«Ein Pfarrer, Anfang <strong>der</strong> vierziger Jahre, wurde durch die ‹Sittlichkeitsbriefe›des Pfarrer Mehlhase vçllig verängstigt. Als offenbaresErgebnis dieser Angst vor <strong>der</strong> Geschlechtlichkeit ist er zunächstimpotent.» 13 Seine Frau ist deshalb nach mehreren JahrenEhe immer noch Jungfrau. «Auch die Dienstfähigkeit ist erheblichbeeinträchtigt. Die ‹Angst vor dem Verkehr› hat in einer häufigenund naheliegenden Parallele … zu einer agoraphoben Platzangst geführt.Er hat solche Angst vor dem Verkehr, dass er kein çffentlichesVerkehrsmittel mehr benutzen kann. Auch die Versetzung von <strong>der</strong>Stadt auf das Land hat die Zustände nur vorübergehend mil<strong>der</strong>nkçnnen. Er ist fast vçllig an das Haus gefesselt. Auch seine Ehefrauleidet an einer schweren ekklesiogenen Neurose.»Die Beweiskette für die «Ekklesiogenität» <strong>wird</strong> von Thomas wiefolgt geführt:a) Beruf Pfarrer;b) Lesen von «Sittlichkeitsbriefen» mit sexualtabuisierendem Inhalt;c) daraus folgt Impotenz;d) daraus folgt Platzangst und Angst vor Verkehrsmitteln;e) weil seine Frau in einem Spannungsfeld zwischen <strong>Glaube</strong>, Wünschenund Realität im Bereich <strong>der</strong> Sexualität leidet, ist auch sieekklesiogen erkrankt.Auffallend sind die vielen Kausalzusammenhänge, wie sie beson<strong>der</strong>sgerne in <strong>der</strong> analytischen Tiefen<strong>ps</strong>ychologie hergestellt werden. Insbeson<strong>der</strong>ewäre zu fragen, wie die Probleme <strong>der</strong> Ehefrau benanntwürden, wenn sie mit einem Lehrer mit einer Angstneurose verheiratetgewesen wäre.Eine alternative Schil<strong>der</strong>ungDas Fallbeispiel ließe sich auch an<strong>der</strong>s erzählen. Ich habe in die folgendeSchil<strong>der</strong>ung einige Details eingebaut, wie sie bei ähnlichenFällen häufig zu beobachten sind: «Ein sensibler junger Mann, nen-29


30nen wir ihn Matthias, war das zweite von fünf Kin<strong>der</strong>n eines Lehrersund wuchs auf dem Lande auf. Die Eltern waren kirchlich frommeMenschen und lebten ihren <strong>Glaube</strong>n aus, ohne zu Extremen zu neigen.Über Sexualität wurde <strong>der</strong> damaligen Zeit entsprechend nichtviel geredet. Insgesamt verbrachte Matthias eine glückliche Jugend.Die vier Geschwister entwickelten sich normal, heirateten und hattenKin<strong>der</strong>.Matthias fiel schon immer durch eine gewisse Feingliedrigkeit,Unsicherheit, Scheu und übermäßige ¾ngstlichkeit auf. Er hatteAngst vor rauen Spielen seiner Kameraden und vergrub sich hinterseinen Büchern. Jede Warnung vor Krankheiten und Schwierigkeitenführte bei ihm zu tiefsitzenden ¾ngsten, die schon frühzu Vermeidungsverhalten in verschiedenen Bereichen führten. DieSittlichkeitsbriefe von Pfarrer Mehlhase fanden bei ihm beson<strong>der</strong>sfruchtbaren Boden und verstärkten bei ihm seine generelle Angstvor sexueller Betätigung. Seiner Begabung und Neigung entsprechendstudierte er Theologie. Unter den Kommilitonen war er alsEinzelgänger bekannt, <strong>der</strong> sich in Gesellschaft unwohl fühlte.Während des Vikariats lernte er eine junge Frau kennen, einegebildete, feinfühlige und tiefgläubige Tochter eines Pfarrers. Siefühlten sich zueinan<strong>der</strong> hingezogen und heirateten. Der zwanghafteEinzelgänger war nun plçtzlich in enger Wohn- und Lebensgemeinschaftmit einem an<strong>der</strong>en Menschen verbunden, und erspürte die ständige Anspannung, die dies mit sich brachte. Undda war auch die Angst vor dem sexuellen Zusammensein, bei demer zunehmend versagte. Erst allmählich zeigte sich, dass er nichtnur ständig krank und angespannt war, wenn sexuelle Nähe drohte,son<strong>der</strong>n dass er nicht in <strong>der</strong> Lage war, mit seiner Frau Verkehrzu haben.Die junge Frau war frustriert. So hatte sie sich die Ehe nicht vorgestellt.Sie liebte ihren Matthias und wollte ihm auch Verständnisentgegenbringen, doch allmählich entwickelte sich eine tiefe Wutund Auswegslosigkeit. Verzweifelte Szenen wechselten sich ab mitVersçhnung. Beide bestätigten sich ihre Liebe, aber etwas starb allmählichab. Man begeg<strong>net</strong>e sich immer vorsichtiger, um sich nichtzu verletzen. In ihrer Not konnten sie mit niemandem reden. DasGebet war <strong>der</strong> einzige Ausweg, wo sie Gott ihr Schicksal klagenkonnten, doch da schien keine Antwort zu kommen.Mit <strong>der</strong> Zeit kam es zu einer Verschlimmerung seiner ¾ngste.Hatte er früher schon ein Gefühl <strong>der</strong> Enge unter vielen Menschenerlebt, so wagte er es jetzt nicht mehr, in eine Straßenbahn einzusteigen,aus Angst, es kçnnte ihm schlecht werden. Lieber legte er aucheinen Weg von fünf Kilometern quer durch die Stadt zu Fuß zurück,um einen Besuch zu machen. Er kam immer mehr unter Druck, littvermehrt unter <strong>ps</strong>ychosomatischen Beschwerden und wurdeschließlich auf sein Bitten hin aufs Land versetzt. Doch auch hierverspürte er neue ¾ngste. Je<strong>der</strong> Besuch wurde zur bedrohlichen Anstrengung:Er fühlte sich unsicher im Gespräch mit Trauernden,überfor<strong>der</strong>t im Unterricht <strong>der</strong> Konfirmanden, und bekam Atembeschwerden,wenn er an einem Fest mit vielen Leuten teilnehmensollte. Schließlich war er fast vçllig ans Haus gefesselt und wagte sichnur noch frühmorgens zu einem einsamen Spaziergang in den nahegelegenenWald.Damals gab es noch keine Erkenntnisse über die biologischenAnteile bei Angststçrungen, und es gab auch noch keine wirksamenMedikamente. So blieb seinen ¾rzten und Psychotherapeuten nurdie Erklärung, die Ursachen seiner Erkrankung lägen in seiner Erziehung,in seinem <strong>Glaube</strong>n o<strong>der</strong> im Lesen angsterzeugen<strong>der</strong> Literatur.Die Nçte seiner Frau wurden zwar durchaus als Reaktion auf dieSchwierigkeiten ihres Mannes gesehen. Da er aber Pfarrer war undsie eine Pfarrerstochter, nannte man ihre Nçte, die sich in den Jahrentief eingegraben hatten – ekklesiogen.» So weit also eine alternativeSchil<strong>der</strong>ung des gleichen Lebensschicksales.Vertrauensverlust durch EtikettierungZusammenfassend kann gesagt werden: Die von Thomas und seinenMitarbeitern geschil<strong>der</strong>ten Fälle wi<strong>der</strong>spiegeln tragische Einzelschicksaleeiner als notvoll empfundenen Sexualität, die die Betroffenenbis an den Rand <strong>der</strong> Verzweiflung treiben kçnnen. Auchgläubige Menschen sind von solchen Nçten nicht ausgenommen.Nicht immer verhilft ein vertieftes <strong>Glaube</strong>nsleben zu einer erfüllterenSexualität. Diese Menschen gilt es ganzheitlich ernst zu nehmen,ohne ihre Probleme vorschnell auf eine Ursache allein zurückzuführen.Die Etikettierung als «ekklesiogen» ist deshalb aus einerganzheitlichen, systemischen Sichtweise neurotischer Problemenicht seriçs. Mehr noch: Durch die Einengung <strong>der</strong> Kausalität auf31


32Abbildung 2–1: Häufigkeit von Neurosen und Religiosität in <strong>der</strong> Bevçlkerungden religiçs-sexualethischen <strong>Konflikt</strong> kçnnen wertvolle Gelegenheitenzur Entkrampfung und zur Vertrauensbildung in <strong>der</strong> Therapievertan werden.Die Häufigkeit religiçser Neurosen <strong>wird</strong> <strong>zum</strong> Teil stark überschätzt.Abbildung 2–1 zeigt die Berechnungsgrundlagen in grafischer Form:Etwa zehn Prozent <strong>der</strong> Bevçlkerung leidet an Neurosen im engerenSinne. Schließt man die Sexual- und Persçnlichkeitsstçrungen ein,so sind es circa dreißig Prozent. Etwa zehn Prozent <strong>der</strong> Bevçlkerungsind im engeren Sinne religiçs 15 . Geht man davon aus, dass auch einZehntel <strong>der</strong> religiçsen Patienten an einer Neurose leiden, so kommtman schließlich auf eins bis drei Prozent aller Menschen, die gleichzeitigreligiçs und neurotisch sind. 16 In christlichen Beratungsstellenkonzentriert man sich aber nur auf diese Patienten im Überlappungsbereich.Von daher werden viel hçhere Zahlen angegeben, alssie im Gesamtüberblick überhaupt realistisch sind. Mehr noch, manverfällt häufig in die Versuchung, einen ursächlichen Zusammenhangzwischen <strong>Glaube</strong> und Neurose herzustellen.Der Mythos von <strong>der</strong> «ekklesiogenen Neurose» <strong>wird</strong> dort am ehestengepflegt, wo ein selektives Patientengut (religiçse Menschen) miteinem selektiven Fokus (<strong>zum</strong> Beispiel Sexualität) aufgrund einermonokausalen Denkweise betrachtet <strong>wird</strong>. Der Fehler liegt nicht darin,Zusammenhänge zwischen Neurose und Religiosität zu untersuchen,son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Art, wie die Beobachtungen gewichtet werden.Probleme entstehen dort, wo durchaus berechtigte Teilaspekteeines Geschehens zur alleinigen Ursache verfestigt werden.Die hier vorgetragenen Bedenken sind nicht neu. Schon 1975wurde von dem katholischen Pastoraltheologen H. Stenger zu Rechtbemängelt, dass <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> «ekklesiogenen Neurose» bei denbeiden Autoren (Schaetzing und Thomas) bestenfalls als Annahme,aber nicht im engeren Sinne wissenschaftlich gebraucht wurde. «Vorallem seine Anwendung auf Frigidität, Potenzstçrungen und Homosexualitätist wissenschaftlich fraglich. Das Adjektiv ‹ekklesiogen›bezieht sich auf eine schwer fassbare kollektive Grçße. Sein faktischerSinn müsste soziologisch und theologisch sorgfältig reflektiertwerden. Die wissenschaftliche Unzulänglichkeit des Begriffes<strong>der</strong> Ekklesiogenen Neurose sollte aber nicht dazu verleiten, die imweitesten Sinn des Wortes pathogene Wirkung mancher im kirchlichenRaum vorhandenen Einstellungen, die über Andachtsliteraturusw. wirken, gering zu schätzen.» 17Erziehungsstil und <strong>Glaube</strong>nsentwicklungEinen an<strong>der</strong>en Ansatzpunkt haben diejenigen Autoren gewählt, diesich mit <strong>der</strong> Frage auseinan<strong>der</strong>setzen, wie Erziehung die religiçseEntwicklung beeinflusst. So betitelt <strong>der</strong> Wiener Psychiater und Individual<strong>ps</strong>ychologeErwin Ringel sein Buch zur Thematik Religionsverlustdurch religiçse Erziehung 18 . Problematisch sei insbeson<strong>der</strong>ediejenige Religiosität, «früher wohl noch stärker als heute, die mitvielen ¾ngsten und Zwängen, mit Depressionen, Skrupulosität undsystematischer Drosselung <strong>der</strong> Vitalität verbunden ist» (S. 21).Durch den Einfluss <strong>der</strong> Kirche entstünden oft «emotional verarmte,formalistisch denkende, enge, strenge, vielen wichtigen Gebieten gegenüberbefangene Persçnlichkeiten, die dann <strong>zum</strong> Beispiel als Elternihrerseits ein Familienklima formen, welches ihre Kin<strong>der</strong> nurallzu leicht neurotisiert. Dies geschieht nicht zuletzt durch die Er-33


34zeugung eines engen, überstrengen und vor allem starren Gewissens,welches sich im Verlauf des weiteren Lebens nicht mehr entwickelnkann.» Die religionspädagogischen Überlegungen von Ringel undseines Co-Autors Kirchmayr enthalten in Bezug auf die Ursachenreligiçser Neurosen viel von <strong>der</strong> Religionskritik des analytischenModells und beziehen sich beson<strong>der</strong>s auf die Situation im überwiegendkatholischen Österreich.Demgegenüber findet sich in dem Buch des Erziehungswissenschaftlersund Psychotherapeuten Prof. Dr. M. Dieterich und desevangelischen Theologen Pfr. C. D. Stoll 19 , <strong>Wenn</strong> <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> krankmacht, ein Überblick über die neueren religionspädagogischen undentwicklungs<strong>ps</strong>ychologischen Konzepte, die ein umfassen<strong>der</strong>es Bildzeichnen. Sie zeigen die Vielgestaltigkeit religiçsen Ausdrucks aufund betonen die Stufen des <strong>Glaube</strong>ns, wie sie von Fowler 20 und Westerhoff21 entwickelt wurden. Die Auswirkung <strong>der</strong> Depression auf das<strong>Glaube</strong>nsleben <strong>wird</strong> umfassend dargestellt und in die Entstehungeiner gestçrten <strong>Glaube</strong>nshaltung eingebaut. Beson<strong>der</strong>e Betonung<strong>wird</strong> auf das «christliche Elternhaus» gelegt. Wichtige Faktoren füreine Neurotisierung sei eine «extrinsische» religiçse Orientierung 22 ,ein fassadenhafter, unechter <strong>Glaube</strong> und eine angstbetonte, perfektionistischeErziehung. Das Buch enthält eine geglückte Kombinationumfassen<strong>der</strong> wissenschaftlicher Hintergrund-Information mitpraktischen Ratschlägen für Eltern und Erzieher.Krankheit durch Religiosität o<strong>der</strong> Leidenam <strong>Glaube</strong>n?Während sich die obigen Autoren vor allem mit Erziehungsfragenim Rahmen <strong>der</strong> «Alltagspathologie» auseinan<strong>der</strong>setzten, ist es mirals Arzt ein Anliegen, Verständnis zu wecken für diejenigen Menschen,die im engeren Sinne <strong>ps</strong>ychisch krank sind und Schwierigkeitenmit ihrem <strong>Glaube</strong>n haben. Sind sie wirklich durch den negativenEinfluss des <strong>Glaube</strong>ns erkrankt, o<strong>der</strong> leiden sie in ihrerübermäßigen Sensibilität am <strong>Glaube</strong>n? Lässt sich ein differenziertesBild von <strong>der</strong> Beziehung zwischen Neurose und Religiosität zeichnen,zwischen dem seelischen Leiden und dem <strong>Glaube</strong>n eines Menschen?Welche Modelle bieten sich als Alternative zu den Thesen von Schaetzingund Thomas an? Welche Wege kçnnen wir beschreiten, den<strong>Glaube</strong>n in gesun<strong>der</strong> Weise zu vermitteln, ohne uns von denen abzuwenden,die in ihrem neurotischen Leiden Zuflucht in <strong>der</strong> Gemeinschaftvon Christen suchen? Wie lassen sich die beiden Begriffe«Neurose» und «Religiosität» so besetzen, dass keiner <strong>der</strong> beiden<strong>zum</strong> abwertenden Etikett verkommt? Wie kçnnen wir den neurotischenMenschen in seinem Leiden ernst nehmen, ohne ihm unbewussteigennützige Strebungen, vorgeschützte Kçrpersymptome,verkappte Kontrollwünsche o<strong>der</strong> mangelnde Therapiebereitschaftzu unterstellen? Wie kçnnen wir unterscheiden zwischen leichterenund schweren Zustandsbil<strong>der</strong>n mit ihren unterschiedlichen Auswirkungenauf das <strong>Glaube</strong>nsleben? Wie kçnnen wir den diffusen Begriff<strong>der</strong> Religiosität mit einem Inhalt füllen, <strong>der</strong> den eigentlichen Absichtendes Evangeliums entspricht und gleichzeitig das wi<strong>der</strong>spiegelt,was heute in Kirchen und Gemeinden abläuft?Um diese Fragen zu beantworten, mçchte ich Sie mitnehmen aufeinen nicht ganz unbeschwerlichen Weg, <strong>der</strong> die Grundlagen für dasärztlich-seelsorgliche Modell legen soll, das in den späteren Kapitelnentwickelt <strong>wird</strong>.Anmerkungen zu Kapitel 21. Schaetzing 19552. vorzeitiger Samenerguss3. Bovet 19554. Thomas 19645. Kapitel 8: Lebensmüdenbetreuung als Behandlung «ekklesiogener» Neurosen6. Thomas 1964, S. 3007. «Lebensschicksale von erschüttern<strong>der</strong> Tragik, die nur mit einer zutiefstanteilnehmenden Sachlichkeit unter medizinisch-<strong>ps</strong>ychologischer Beurteilung,fern von jedem moralischen Richten, verstanden und im Rahmen <strong>der</strong>heutigen wissenschaftlichen Kenntnis dieser Zustände hilfreich angegangenwerden kçnnen … So bleibt nur die tiefe Tragik, ehrfurchtsvoll, stützendund wegweisend zu betrachten, wenn wir die Gruppe <strong>der</strong> Homosexuellenin schwersten, nicht immer siegreich bestandenen <strong>Konflikt</strong>en undKämpfen sehen, meist in echter, tiefer Frçmmigkeit ringend mit ihremSchicksal, das vielfach als dämonisch erlebt <strong>wird</strong>» (S. 306).8. Thomas 1964, S. 3109. in Anlehnung an das berühmte Buch von Krafft-Ebing 191810. Thomas 1989a/b in <strong>der</strong> Zeitschrift «Sexualmedizin»11. «Medical Tribune Schweiz», 4.9.198735


3612. Thomas 1989a, S. 4713. Thomas 1989b14. Thomas 1964, S. 31015. Ich beziehe mich dabei auf die Zahl von zehn Prozent <strong>der</strong> Bundesbürger,die noch «jeden o<strong>der</strong> fast jeden Sonntag» zur Kirche gehen, vgl. «Der Spiegel»25/1992, S. 3816. In diesem Bereich liegt übrigens auch die Zahl, die von Thomas (1989a/b)genannt <strong>wird</strong>: «Fünfzehn Prozent aller Neurosen haben ekklesiogene Ursachen.»17. Stenger 197518. Ringel und Kirchmayr 198519. Dieterich und Stoll 199120. Fowler 199121. Westerhoff 197622. nach Allport 19503 SiebenThesen1. Psychische Erkrankungen sind eine Realität unseres Daseins,genauso wie kçrperliche Krankheiten. Ihre Entstehung lässtsich nicht auf einen einzigen Faktor zurückführen, son<strong>der</strong>n aufein komplexes Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und Erlebnisverarbeitung.37Menschen mit <strong>ps</strong>ychischen Erkrankungen leiden bisheute unter Vorurteilen. Denn trotz aller Aufklärungüber die Ursachen <strong>ps</strong>ychischer Krankheiten sind¾ngste und Depressionen, Zwänge und hysterischeAusbrüche – abweichendes und unangepasstes Denken und Verhaltenüberhaupt – für die Umwelt viel schwerer verständlich als jedekçrperliche Krankheit.Am liebsten hätten wir einfache Antworten auf unsere Warum-Fragen. Immer wie<strong>der</strong> werde ich von Patienten und ihren Angehçrigengefragt: «Warum habe ich Angst vor dem Fliegen, obwohl ichmeinen Mann gerne auf seiner Geschäftsreise begleiten würde?» –«Warum hat meine Frau Hemmungen im Kontakt mit Nachbarn,obwohl sie sagt, sie fühlt sich einsam?» – «Warum kann ich nichtaufhçren, meine Hände zu waschen, obwohl ich weiß, dass es unsinnigist?» Immer wie<strong>der</strong> ist man versucht, allzu einfache Antwortenzu geben. Doch gerade <strong>ps</strong>ychische Erkrankungen lassen sichnicht auf einen Faktor zurückführen. Bei jedem Menschen beobachtenwir das komplexe Zusammenspiel von Erbanlagen, Wesenszügen,schwierigen Kindheitserfahrungen, inneren und äußerenEntbehrungen, tragischen Lebensschicksalen und eigenen Reaktionsweisen.Diese kçnnen sich schließlich unter Stress in einem ver-


40Probleme betrachtet, seien dies die Eltern, die Schule, <strong>der</strong> Staat o<strong>der</strong>eben die Kirche. Diese innere <strong>Konflikt</strong>haftigkeit entsteht aus ¾ngsten,Zweifeln und Zwängen, die nicht bloß durch die Erziehung undWeltanschauung geprägt werden. Vielmehr wi<strong>der</strong>spiegeln sie einentieferliegenden Persçnlichkeits-Stil o<strong>der</strong> «Charakter». Vieles deutetdarauf hin, dass Persçnlichkeit ge<strong>net</strong>isch mitbedingt, also angeborenist. Eine «gute» Erziehung kann einem Kind helfen, mit seiner Persçnlichkeitbesser durchs Leben zu kommen, kann also im positivenSinne zu einer reifen Verarbeitung von Lebensereignissen führen.Erziehung kann aber durch Einengung, Unverständnis und Drucknegative Persçnlichkeitszüge verstärken und zu einer Verschärfung<strong>der</strong> Probleme führen.Die Persçnlichkeit beeinflusst maßgeblich die Art und Weise, wieein Mensch sich selbst und seine Umwelt erlebt und wie er in Lebensschwierigkeitenreagiert. Dies wirkt sich auch auf den <strong>Glaube</strong>naus. Ein reiches Gefühlsleben <strong>wird</strong> auch im <strong>Glaube</strong>n mehr Gefühlserfahrungenhervorbringen, eine schwermütige Wesensart <strong>wird</strong>auch in <strong>Glaube</strong>nsfragen eher zu einer ernsten und mçglicherweisebedrückenden Verarbeitung christlicher Inhalte führen. Daraus lässtsich aber noch nicht ableiten, dass es <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> ist, <strong>der</strong> schwermütigo<strong>der</strong> «krank» macht. Viel eher lassen sich aus dem <strong>Glaube</strong>nserlebenRückschlüsse auf die Art und Weise ziehen, wie ein Mensch sichund seine Umwelt erlebt.4. Der christliche <strong>Glaube</strong> hat sich in <strong>der</strong> Bewältigung von Lebensschwierigkeitenund Krankheiten als wichtige Stütze erwiesen.Gerade belastete Menschen fühlen sich von dieser Botschaft angesprochen.Menschen in seelischen Krisen fragen oft nach dem Sinndes Lebens und suchen diesen im <strong>Glaube</strong>n, wenn auch in unvollkommenerund durch ihre Not geprägter Form.Vor kurzem sprach ich mit einer Psychologin, die an einer großenschweizerischen Universitätsklinik krebskranke Menschen und ihreAngehçrigen betreut. «Ich bin überrascht, welche Bedeutung <strong>der</strong><strong>Glaube</strong> für Menschen in dieser Situation hat», sagte sie mir. Auf dieFrage, was ihnen in ihrer Krankheit helfe, führten fast alle den <strong>Glaube</strong>nan Gott und an ein Weiterleben nach dem Tode an, die Hälftevon ihnen sogar an erster Stelle. Der <strong>Glaube</strong> ist also eine wichtigeStütze in Krankheit, Not und Lebensbewältigung. Oftmals sind esgerade die <strong>ps</strong>ychischen Nçte, die Menschen neu bewusst machen,dass sie aus eigener Kraft ihr Leben nicht meistern kçnnen. In dieserSituation des äußeren Zerbrechens werden sie offen für den RufJesu: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid,ich will euch erquicken!»Doch die Mühseligen und Beladenen, gerade im <strong>ps</strong>ychischen Bereich,bringen auch ihre seelischen Wunden, ihre depressiven Verzerrungenund ihre übermäßige Sensibilität mit ein, wenn sie sichdem <strong>Glaube</strong>n zuwenden. So ergeben sich zwei paradoxe Folgen:Einerseits werden die Sensiblen von <strong>der</strong> Liebe und <strong>der</strong> Unterstützungin christlichen Gemeinden angezogen. Dies ist <strong>der</strong>Grund, dass sich in christlichen Gemeinden <strong>zum</strong> Teil hçhereProzentzahlen von seelisch und kçrperlich leidenden Menschenfinden. An<strong>der</strong>erseits leiden gerade diese Menschen vermehrt daran,dass <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> nicht alle ihre Erwartungen erfüllt. Die¾ngste bestehen oft weiter, auch wenn sie nun den Trost und denHalt im <strong>Glaube</strong>n haben. Die Neigung zur Selbstabwertung und zuMin<strong>der</strong>wertigkeitsgefühlen kann weiterbestehen, auch wenn siedurch den <strong>Glaube</strong>n wissen, dass Jesus sie annimmt und sie liebt.Durch ein Ernstnehmen des <strong>Glaube</strong>ns sind auch Lebensverän<strong>der</strong>ungengefragt: die Einbindung in eine Gemeinschaft, das Einhaltenvon Regeln, die Teilnahme an Veranstaltungen. Diese kçnnenden Bedürfnissen des Einzelnen zuwi<strong>der</strong>laufen und neue ¾ngsteo<strong>der</strong> «christlichen Stress» wachrufen.<strong>Wenn</strong> sich nun aber mehr beladene Menschen dem <strong>Glaube</strong>n zuwenden,so lässt sich daraus nicht ableiten, dass bekennende Christenvermehrt <strong>ps</strong>ychisch krank werden, und schon gar nicht, dass <strong>der</strong><strong>Glaube</strong> ihre <strong>ps</strong>ychischen Krankheiten verursacht habe. Insgesamtüberwiegt die Tatsache, dass <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> gerade in seelischer undkçrperlicher Krankheit als wesentliche Stütze erlebt <strong>wird</strong>.5. Christliche Erziehung und Verkündigung kann auch inverzerrter und liebloser Weise erfolgen. Bei sensiblen Menschenkçnnen <strong>Konflikt</strong>e und Verletzungen dann religiçs eingefärbtund verarbeitet werden.Christliche Erziehung – was ist das eigentlich? ChristlicheVerkündigung – wo liegt <strong>der</strong> Maßstab? Wer sich intensiver mitdiesen Fragen auseinan<strong>der</strong>setzt, <strong>der</strong> merkt bald, dass sich keine41


42einfachen Antworten geben lassen. Nur dort, wo sich Wahrheit undLiebe ergänzen, wo christliche Wertmaßstäbe und persçnliche Einfühlungund Barmherzigkeit sich paaren, nur da werden die Voraussetzungen<strong>zum</strong> Gedeihen geschaffen. Lei<strong>der</strong> ist dies auch inchristlichen Kreisen nicht immer <strong>der</strong> Fall. Immer wie<strong>der</strong> erfahrenTherapeuten in <strong>der</strong> Sprechstunde von überfor<strong>der</strong>ten Eltern, die dieKin<strong>der</strong> übermäßig schlagen; von engherzigen Vätern, die ihrenKin<strong>der</strong>n keinerlei Freiheit geben; von sensiblen Müttern, die ihreKin<strong>der</strong> durch Klagen, Vorwürfe und kçrperliche Beschwerden ansich binden.Das alles gibt es auch bei an<strong>der</strong>en Menschen, ja noch ganz an<strong>der</strong>eNçte – wenn man nur an die vielen Alkoholiker, die hohen Scheidungsratenin säkularen Familien denkt. Doch beson<strong>der</strong>s tragisch istes, wenn die Bibel dazu herhalten muss, um unangemessene Strafenzu begründen, übermäßige Verbote christlich zu verbrämen undkrankhafte Abhängigkeit durch den Appell an das christliche Pflichtgefühlzu vergeistlichen. Christliche Eltern müssen sich auch bewusstsein, dass ihre Kin<strong>der</strong> aufmerksam darauf achten, ob Sonntags-Wortund Montags-Tat in Einklang miteinan<strong>der</strong> stehen. Kommt es hierzur Dissonanz, so machen sie sich unglaubwürdig und tragen mitdazu bei, dass sie von ihren Kin<strong>der</strong>n in <strong>Glaube</strong>nsfragen nicht mehrernst genommen werden.¾hnliches gilt auch für die Verkündigung. Hier ist es vielleicht nochschwerer, sich in die Predigthçrer mit ihren unterschiedlichen Bedürfnisseneinzufühlen. Und doch gibt es Pfarrer und Prediger, Seelsorgerund Hauskreisleiter, denen es an <strong>der</strong> nçtigen Weisheit und Liebe bei<strong>der</strong> Verkündigung biblischer Wahrheiten fehlt. Gerade dort, wo ethischeo<strong>der</strong> enge geistliche Sichtweisen berührt werden, wo das Verhaltendes Einzelnen mit gçttlicher Strafe verbunden <strong>wird</strong>, kçnnen unnçtigeWunden geschlagen werden. Nicht umsonst hat schon Paulusauf die Nçte <strong>der</strong> «Schwachen im <strong>Glaube</strong>n» hingewiesen, die beson<strong>der</strong>sunter <strong>der</strong> Meinungstreitigkeiten <strong>der</strong> ersten Gemeinden litten. <strong>Wenn</strong>die Verkündigung also Gesetzlichkeit, Heiligungs-Perfektionismuso<strong>der</strong> überschwängliche Gefühle als Grundlage <strong>der</strong> Beziehung zu Gottvermittelt, kann dies bei sensiblen Menschen <strong>Konflikt</strong>e auslçsen. Siekann ¾ngste und Bedrückung wecken, Entmutigung und Zweifel fçr<strong>der</strong>nund schließlich <strong>zum</strong> Gefühl <strong>der</strong> Gottesferne führen, weil manGott nicht so erlebt, wie er verkündigt <strong>wird</strong>.Dabei darf man nie vergessen, dass das verkündigte Wort voneinem Menschen in einer beson<strong>der</strong>en seelischen Verfassung gehçrt<strong>wird</strong>. Die Reaktion des Einzelnen lässt sich deshalb erst dann verstehen,wenn man seinen Lebenskontext kennt.6. Der christliche <strong>Glaube</strong> gibt Richtlinien für die persçnlicheLebensgestaltung und für das Zusammenleben in <strong>der</strong> Gemeinschaft.Diese kçnnen den Bedürfnissen und Trieben des Einzelnenzuwi<strong>der</strong>laufen und zu Spannungsfel<strong>der</strong>n führen.Keine menschliche Gemeinschaft kommt ohne Regeln für das Zusammenlebenaus. Wir brauchen die biblischen Gebote, um wirklicheGemeinschaft zu haben – als Christen, aber auch als Mitmenschen.Die Bibel gibt uns große Freiheit, aber sie setzt auch Grenzen:Die Freiheit des Einzelnen hçrt spätestens dort auf, wo sie die Freiheitdes an<strong>der</strong>en beeinträchtigt, wo sie dem an<strong>der</strong>n Leiden zufügtund an<strong>der</strong>e in die Ecke drängt. In jedem Menschen schlummert dasBçse, <strong>der</strong> Drang, diese Gebote zu durchbrechen und gegen Gott undseine Mitmenschen zu sündigen.Auch in <strong>der</strong> Psychologie wurde erkannt, dass die Menschen sichnicht an die Regeln halten und dadurch die Gemeinschaft gefährden:«Je<strong>der</strong> Einzelne ist virtuell ein Feind <strong>der</strong> Kultur … Die Kultur mussalso gegen den Einzelnen verteidigt werden, und ihre Einrichtungen,Institutionen und Gebote stehen im Dienst dieser Aufgabe … Manhat, meine ich, mit <strong>der</strong> Tatsache zu rechnen, dass bei allen Menschendestruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhandensind …» Dieses <strong>ps</strong>ychologische Bekenntnis zur «Erbsünde»und zur Notwendigkeit von Grenzen und Regeln kommt von keinemGeringeren als Sigmund Freud. 2 Und weiter: «Es ist merkwürdig,dass die Menschen, so wenig sie auch in <strong>der</strong> Vereinzelung existierenkçnnen, doch die Opfer, welche ihnen von <strong>der</strong> Kultur zugemutetwerden, um ein Zusammenleben zu ermçglichen, als schwer drückendempfinden.»Hier liegt die Not des sensiblen Menschen, ob er nun religiçs isto<strong>der</strong> nicht. Für den gläubigen Menschen sind es die Regeln <strong>der</strong> Bibelund seines Umfeldes, die ihm die Grenzen setzen, die ihm Spannungenverursachen. Denn die biblischen Gebote geben Richtlinien fürdas Zusammenleben allgemein, für die Beziehungen zu unseren Eltern,zu unseren Nächsten, für unsere Sexualität und zu den Besitztümern<strong>der</strong> an<strong>der</strong>n.43


44Doch oft ist es nicht die Bibel allein, die Spannungen verursacht.Es sind auch die persçnlichen Ansichten und Bibelauslegungen <strong>der</strong>er,die geistliche Führung geben. Hier entstehen oft noch mehr Fragen:Wie lässt sich Gottes Wille erkennen? Wie nutzt man seine Zeit?Wofür gibt man sein Geld aus? Wie perfekt muss man sein für echteHeiligung? Welchen Einfluss hat das Christsein auf die Beziehungen<strong>zum</strong> an<strong>der</strong>en Geschlecht? Auf die Rolle als Frau? Auf die Rolle alsMann? Was ist erlaubt, und was verboten?Je<strong>der</strong> kennt etwas von <strong>der</strong> Spannung zwischen den christlichenRichtlinien und <strong>der</strong> Wirklichkeit: Wie soll man einem Menschenmit Freundlichkeit begegnen, wenn man verletzt worden ist? Wiesoll man die Eltern ehren, wenn man sich von ihnen falsch erzogenund ungerecht behandelt fühlt? Wie soll man Wi<strong>der</strong>standleisten, wenn die Versuchung unerträgliche innere Spannungenerzeugt? Wie soll man umgehen mit dem Spannungsfeld vonGenuss und Bescheidenheit, von Lust und Verzicht? Wo verletzeich die Nächstenliebe, wenn ich nicht alles tue, was an<strong>der</strong>e vonmir verlangen? Wie gehe ich mit <strong>der</strong> Not um, dass ich zwarvergeben habe, aber das Unrecht, das mir angetan wurde, nichtvergessen kann? Wie soll eine Ehefrau sich verhalten, wenn ihrMann mehr sexuelle Nähe von ihr will, sie sich aber vor kçrperlicherNähe ekelt?Für sensible Menschen kçnnen solche Fragen ernsthafte Krisenund quälende seelische und vegetative Reaktionen auslçsen. Wosie sich auflehnen gegen ihr äußeres Schicksal o<strong>der</strong> die innere<strong>Konflikt</strong>haftigkeit, dort fühlen sie die Bedrückung durch die alseinengend empfundenen Regeln ihres <strong>Glaube</strong>ns in beson<strong>der</strong>emMaße. «Jedes Mal, wenn ich die Musik aus meiner neuen Stereo-Anlage hçren will, frage ich mich wie<strong>der</strong>, ob ich das Geld nicht indie Mission hätte geben sollen! <strong>Wenn</strong> ich nur nicht solche christlichenGebote gelernt hätte! Ich mçchte einfach einmal hemmungslosgenießen kçnnen, ohne ständiges schlechtes Gewissen!Der <strong>Glaube</strong> drückt mich nie<strong>der</strong>!» Die Not des inneren <strong>Konflikt</strong>esist ernst zu nehmen, doch wer den <strong>Glaube</strong>n für solchen Zwiespaltverantwortlich macht, <strong>der</strong> projiziert seine innere Zerrissenheit,sein Leiden am Urkonflikt des Menschen, auf den <strong>Glaube</strong>n. Reifeaber bedeutet etwas an<strong>der</strong>es:7. Seelische und christliche Reife bedeutet, Spannungsfel<strong>der</strong>zwischen Bedürfnissen, unerfüllten Wünschen und Trieben einerseitsund Verantwortung, Regeln und Normen an<strong>der</strong>erseits in sichzu überbrücken und Wege zu einem verantwortlichen Leben zufinden.Haben Sie jemals ein Weizenfeld beim Heranwachsen beobachtet?Wie lange braucht es doch, bis aus den kleinen Kçrnern, die da indie Kälte des Winters gesät werden, feine spitze Triebe sprossen,immer wie<strong>der</strong> zugedeckt von eisigen Schneeschauern. Nach undnach verdichten sie sich zu einem zartgrünen Teppich, strecken sichallmählich, Knoten um Knoten, <strong>der</strong> Sonne entgegen. Der Windwogt darüber, manchmal zärtlich wie ein Streicheln, dann wie<strong>der</strong>furios-gewalttätig, riesige Lçcher nie<strong>der</strong>gedrückter Halme hinterlassend,die sich still ächzend wie<strong>der</strong> aufzurichten suchen. Der Regenpeitscht die aufkeimenden ¾hren, doch gleichzeitig saugen sie dasWasser aus dem Erdreich begierig in sich auf. Die Sonne, die sie amMorgen noch in zartgoldenes Licht taucht, brennt am Mittag auf sienie<strong>der</strong>, und doch gibt sie ihnen auch die Kraft <strong>zum</strong> weiteren Reifen,bis schließlich die Zeit <strong>der</strong> Ernte kommt, wo aus jedem gesätenKeim ein Vielfaches an Kçrnern geworden ist.Reife – das ist kein Instant-Prozess, kein <strong>ps</strong>ychologischer Wochenend-Tripund keine geistliche Sofort-Erfahrung. Reife, das bedeutet,sich selbst besser kennenzulernen, mit seinen Stärken undmit seinen Schwächen. Reifen, das heißt auch, an<strong>der</strong>e Menschenbesser zu verstehen suchen, sie anzunehmen in ihrer Eigenart, ohneimmer gleich einen Angriff auf sich selbst zu vermuten. Reifen bedeutet,sich anzunehmen mit Schwächen und Grenzen, ohne sichdabei min<strong>der</strong>wertig zu fühlen. Reifen bedeutet aber auch, die Bereicheim Leben zu sehen, die sich noch entwickeln kçnnen; die Angstvor dem Versagen und vor <strong>der</strong> Ablehnung zu überwinden und neueSchritte zu wagen.Ein reifer Mensch kann Meinungsverschiedenheiten aushalten,ohne sich dadurch existenziell bedroht zu fühlen. Ja, er kann auchden Menschen mit Freundlichkeit und Anstand begegnen, dienicht gleicher Meinung sind. Er lebt in Bescheidenheit und Zufriedenheitund wi<strong>der</strong>steht bewusst den negativen Tendenzen insich selbst, das Haben vor das Sein zu stellen, die Begehrlichkeitvor die Genügsamkeit.45


46Ein reifer Christ kann sich selbst annehmen in Abhängigkeit vonGott. Sein Selbstwertgefühl gründet entscheidend darauf, ein GeschçpfGottes zu sein, von ihm einzigartig erschaffen, von ihm geliebt.Er bejaht sein Leben in dem Wissen, dass «denen, die Gottlieben, alle Dinge <strong>zum</strong> Besten dienen». Aber er kann auch die an<strong>der</strong>eSeite Gottes annehmen, die wir nicht verstehen. Er lebt in dem Bewusstsein,dass wir hier auf dieser Erde nicht das Paradies haben;dass Krankheit, Not und Tod Teil <strong>der</strong> gefallenen Schçpfung sind. Er<strong>wird</strong> also das Spannungsfeld zwischen seinen unerfüllten Wünschenim Diesseits und den Verheißungen für die neue Welt aushalten,ohne sich von Gott abzuwenden. Ja, er <strong>wird</strong> vielmehr Kraft schçpfenaus Gott, wo menschliche Kraft nicht ausreicht.Er weiß um das Bçse in sich selbst und in den Mitmenschen. Erlebt täglich aus <strong>der</strong> Vergebung und ist bereit, an<strong>der</strong>en Menschen zuvergeben, ohne sie abzuschreiben. Er lässt sich in Versuchungen <strong>zum</strong>Bçsen nicht einfach treiben, son<strong>der</strong>n bittet Gott um Kraft zur Überwindung,ja sogar darum, nicht in Versuchung geführt zu werden,wie wir dies im Vaterunser beten. Und wenn er dennoch versagt, soweiß er, dass er bei Gott nicht abgeschrieben ist.Ein reifer Christ lebt in <strong>der</strong> «Freiheit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> Gottes», ohnedie Verantwortung zu vergessen, die Gott von uns verlangt. Ermacht sich geistlich nicht von an<strong>der</strong>n abhängig, son<strong>der</strong>n versuchtGottes Willen im persçnlichen Bibelstudium, Nachdenken undGebet für seine jetzige Lebenssituation zu erkennen. Er kann Regelnannehmen und sich ihnen freiwillig unterstellen, auch wenner persçnlich eine grçßere Freiheit hätte. Aber er kann auchMenschen achten, die engere Grenzen brauchen, ohne sich vonihnen knechten zu lassen.Der reife Christ kennt zunehmend die Gezeiten seines Lebens, imWissen darum, dass «alles seine Zeit hat», Pflanzen und Ausreißen,Abbrechen und Bauen, Weinen und Lachen (Prediger 3). Dies hilftihm, die Angst vor nçtigen Verän<strong>der</strong>ungen besser annehmen zukçnnen, in dem Wissen, dass Jesus nahe ist, <strong>der</strong> in aller Angst dieserWelt «die Welt überwunden» hat. Er ist sich bewusst, dass nicht jedebiblische Wahrheit sich auf jede Phase seines Lebens anwenden lässt,und kommt so nicht ständig in <strong>Konflikt</strong> mit biblischen Aussagen,die ihm gar nicht gelten. Reife bedeutet nicht, die Hände ergebenin den Schoß zu legen, son<strong>der</strong>n zu erkennen, wann die Zeit für mutigeSchritte gekommen ist, im Kleinen wie im Großen.Solche Reife lässt sich nicht von heute auf morgen erreichen. Sieist ein Prozess, <strong>der</strong> wohl niemals abgeschlossen ist, ein Wachsen wie«ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen». Die Jahresringe sensiblerMenschen werden nicht immer gleichmäßig sein, denn sie spürenin beson<strong>der</strong>em Maße die Dürre <strong>der</strong> Depression und die Überschwemmungdurch die Angst, die eisige Erstarrung ihrer Hemmungenund die Sturmbçen seelischer Erregung.Reife, das ist nicht nur etwas für ausgeglichene und problemfreieMenschen. Es gibt Hoffnung auch für die Sensiblen, für diejenigenMenschen, die wir gemeinhin als neurotisch bezeichnen. Für sie bedeutetReife nicht unbedingt, alle Grenzen zu sprengen, aber zu lernen,sich mit ihrer Schwachheit anzunehmen, Spannungen auszuhaltenund sogar daran zu wachsen.Anmerkungen zu Kapitel 31. Scharfetter 1984, S. 10–182. Freud 1927, S. 140f.47


494Derneurotische Menschund sein ErlebenWas ist das eigentlich – ein neurotischer Mensch? Sindwir nicht alle etwas neurotisch? Haben wir nicht alleunsere Sensibilitäten? Ja und nein. Diese verharmlosendenFeststellungen lassen oft vergessen, dass Neurosenim engeren Sinne echte Krankheiten sind, an denen die Betroffenenaußerordentlich leiden kçnnen. Während die meistenMenschen mit den <strong>Konflikt</strong>en, die uns im Alltag gemeinhin «krankmachen», ganz gut leben kçnnen, leiden Menschen mit Neurosendeutlich stärker. Es gilt deshalb, den Krankheitsbegriff, wie er inunserer Gesellschaft gebraucht <strong>wird</strong>, kritisch zu hinterfragen.Nicht je<strong>der</strong> ist also neurotisch, doch Neurosen sind häufigeStçrungen: Gemäß verschiedenen Studien leidet je<strong>der</strong> zehnteMensch an einer «Neurose». Zählt man noch die leichteren Stçrungen<strong>der</strong> Persçnlichkeit dazu, so kommt man insgesamt aufetwa 25 bis 30 Prozent «<strong>ps</strong>ychogener Stçrungen» in <strong>der</strong> Bevçlkerung.1 Unter diesem Oberbegriff fasst man eine verwirrende Vielfaltproblematischer Erlebnis- und Reaktionsweisen zusammen,von allgemeiner Hemmung bis hin zu sexuellen Schwierigkeiten,von <strong>ps</strong>ychosomatischen Beschwerden bis hin <strong>zum</strong> invalidisierendenAngstsyndrom.Nun mag es überraschen, dass <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> «Neurose» längstnicht mehr so klar ist, wie er in manchen Büchern noch erscheinenmag. Neue Handbücher (so das DSM III 2 und die ICD-10 3 ) gehen soweit, dass sie den Begriff aus ihrem Diagnose-Vokabular streichenund von Persçnlichkeitsstçrungen sowie von Angst-, Zwangs- undan<strong>der</strong>en Syndromen sprechen. <strong>Wenn</strong> ich dennoch von «Neurosen»rede, so tue ich dies wegen <strong>der</strong> traditionellen Bedeutung dieses Be-


50griffs, ohne ihn allzu weit auszudehnen. Schwere Neurosen – daskann nicht genügend unterstrichen werden – sind echte Krankheitenmit klar beschreibbaren Symptomen und mit Verläufen, dieähnlich an<strong>der</strong>en <strong>ps</strong>ychischen Erkrankungen zu erheblichen Behin<strong>der</strong>ungenführen kçnnen.Einsam und resigniertNeurotische Menschen leben oft mit ihren Beschwerden, ohne je zueinem Arzt o<strong>der</strong> Psychotherapeuten zu gehen. Eine Studie 4 ergab:Nur 25 Prozent suchten je einen Psychiater o<strong>der</strong> Therapeuten auf.Nur 5,8 Prozent suchten in den zwçlf Monaten vor <strong>der</strong> Befragungfachärztliche Behandlung. Nur zwei Prozent befanden sich in regelmäßiger<strong>ps</strong>ychotherapeutischer Behandlung. Die meisten werdenvon Hausärzten, Internisten und Frauenärzten betreut o<strong>der</strong> suchenkeinerlei ärztliche Hilfe mehr. 5 Selbst Menschen mit ausgeprägtenneurotischen Depressionen und Angstsyndromen ziehen sich langfristigzurück und bleiben in keiner therapeutischen Behandlung 6 ,weil sie diese als «ausgesprochen unangenehm und nicht hilfreich»empfinden. 7 Menschen mit schweren neurotischen Symptomen sinddaher oft einsam und resigniert, gezwungen, ein Leben mit engenGrenzen zu führen. Dies ist mit ein Grund für dieses Buch: Geradeweil sensible Menschen oft zu keinem Therapeuten und zu keinemArzt mehr gehen, sind es die Seelsorger o<strong>der</strong> die engsten Freundeund Angehçrigen, die mit ihnen zu tun haben und sich oft fragen,wie sie sich die schwierigen Reaktionen erklären sollen.Die Frage nach dem WarumIm Bemühen um ein besseres Verständnis neurotischer Menschengibt es verschiedene Zugangswege, die ich wie folgt umschreibenmçchte:Zwei Betrachtungsweisen des neurotischen MenschenDie erste Betrachtungsweise stellt im Grunde die Frage nach demWarum. Es ist die Betrachtungsweise, die vorwiegend von <strong>der</strong>Tiefen<strong>ps</strong>ychologie gepflegt <strong>wird</strong>. Was ist in <strong>der</strong> frühen Kindheitgeschehen? Welche Erziehungsfehler hat die Mutter gemacht? Welcheunbewussten Motive o<strong>der</strong> Komplexe verursachen die schwierigenReaktionsweisen? Wo bestehen sexuelle Probleme, die <strong>der</strong>maßentabuisiert wurden, dass sie nun ihren Ausdruck inReinlichkeitsritualen o<strong>der</strong> ¾ngsten haben? Was bedeuten die kçrperlichenBeschwerden («Was willst du nicht loslassen, dass du sounter Verstopfung leidest?»)? Was für einen Gewinn bringen die<strong>ps</strong>ychischen Probleme?In dieser Betrachtungsweise liegt die Gefahr, einem MenschenMotive und Deutungen zu unterschieben, die keinen Bezug zu seineraktuellen Lebenssituation haben und insbeson<strong>der</strong>e keine Hilfefür die Bewältigung geben. Gerade dort, wo durch die Deutung auchnoch die stützenden Beziehungen zu den Eltern, Ehepartnern o<strong>der</strong>zu einer <strong>Glaube</strong>nsgemeinschaft in Frage gestellt werden, kann sie dieProbleme noch verschärfen, statt sie zu lçsen.Dies gilt auch für eine tiefen<strong>ps</strong>ychologisch orientierte Seelsorge8 , die primär nach den Ursachen, den sogenannten «Wurzeln»fragt. Die Fragen zielen dann insbeson<strong>der</strong>e auf die vermeintlichengeistlichen Ursachen ab: «Wo liegt die okkulte Belastung? WelcheSünde ist noch nicht bereinigt? Welche unbewusste Verletzung aus<strong>der</strong> Kindheit hat noch Macht über den Patienten?» Die Erfahrungzeigt jedoch auch hier, dass sich <strong>der</strong>artige Warum-Fragen, auch ingeistlichem Gewande, letztlich nicht beantworten lassen. Ja, siekçnnen hineinführen in ein fruchtloses Grübeln über die Vergangenheitund die Bewältigung <strong>der</strong> Gegenwart erschweren. SchonJesus wi<strong>der</strong>sprach seinen Jüngern, die ihn in <strong>der</strong> Begegnung mitdem Blindgeborenen fragten: «Meister, wer hat gesündigt, diesero<strong>der</strong> seine Eltern, dass er blind geboren ist?» 9 Seine We<strong>der</strong>-noch-Antwort zeigte den Weg von <strong>der</strong> Kausalität zur Finalität, von <strong>der</strong>unergiebigen Suche nach Ursachen in <strong>der</strong> Vergangenheit hin zurWirkung Gottes in <strong>der</strong> Gegenwart: «Es hat we<strong>der</strong> dieser gesündigtnoch seine Eltern, son<strong>der</strong>n es sollen die Werke Gottes offenbarwerden an ihm.»51a) analytisch-deutendb) beschreibend-stützend


52Den leidenden Menschen existenziell ernst nehmenDie zweite Betrachtungsweise mag auf den ersten Blick viel banalerund weniger spektakulär erscheinen, doch sie hat ihren eigenen therapeutischenWert, <strong>der</strong> von vielen Patienten als wohltuend erlebt<strong>wird</strong>. Sie beschränkt sich vorerst einmal auf die reine Beschreibung<strong>der</strong> kçrperlichen und <strong>ps</strong>ychischen Symptome. Damit nimmt <strong>der</strong>Arzt den Patienten ernst in seinem ganz persçnlichen Erleben, ohnedieses vorschnell zu deuten. Er fragt nach <strong>der</strong> Qualität des Schlafes,nach den ¾ngsten und ihren Auslçsern, den Verlaufsformen <strong>der</strong> depressivenVerstimmungen, nach den Inhalten <strong>der</strong> Zwänge und versuchtsich eine Vorstellung von <strong>der</strong> zeitlichen Entwicklung im Laufeeines Lebens zu machen. Beson<strong>der</strong>s wichtig sind auch die Auswirkungenauf Befinden und Leistungsfähigkeit in Beruf und Haushalt.Von beson<strong>der</strong>er Bedeutung ist die aktuelle Lebenssituation in ihrenverschiedenen Dimensionen. Dabei <strong>wird</strong> erfragt, ob es außerordentlicheBelastungen (Stress) o<strong>der</strong> konflikthafte Beziehungen gegebenhat, die <strong>zum</strong> gegenwärtigen Problem beigetragen haben. Die beschreibendeBetrachtungsweise verzichtet bewusst auf Kausalzusammenhängeund nimmt die Betroffenen ernst ihrer existenziellenNot, die durch die vegetativen und <strong>ps</strong>ychischen Symptome entsteht.Auch hier besteht eine Gefahr, nämlich dann, wenn sich <strong>der</strong> Arztauf eine reine Symptombeschreibung beschränkt, ohne den Zusammenhangmit <strong>der</strong> Lebensgeschichte und <strong>der</strong> inneren Verarbeitungzu berücksichtigen.Tabelle 4–1: Definition <strong>der</strong> NeurosenNeurosen sind <strong>ps</strong>ychische Stçrungen, die sich in bestimmtenSymptomen (Angst, Zwang, traurige Verstimmung, übermäßigeSensibilität) o<strong>der</strong> in bestimmten Eigenschaften(Hemmung, Selbstunsicherheit, Gefühlsschwankungen, innere<strong>Konflikt</strong>haftigkeit) äußern. Der Wirklichkeitsbezug istim Allgemeinen intakt. Gestçrte Gedanken und Gefühle gehenoft einher mit kçrperlichen Funktionsstçrungen. DasVerhalten verletzt gewçhnlich die Normen <strong>der</strong> Umgebungnicht aktiv, doch kann es die Leistungsfähigkeit herabsetzenund zu Beziehungsstçrungen führen. Im Weiteren gelten folgendeGrundregeln:&&&Die Symptome treten ohne Behandlung anhaltend o<strong>der</strong>phasenweise auf.Die Symptome sind nicht nur eine vorübergehende Reaktionauf eine Belastung.Bei den meisten Neuroseformen lässt sich keine organischeUrsache im engeren Sinne nachweisen, doch gibt es Hinweiseauf ge<strong>net</strong>ische Faktoren und biochemische Stoffwechselstçrungenim Gehirn (<strong>zum</strong> Beispiel bei Zwängenund ¾ngsten).In <strong>der</strong> Seelsorge würden die entsprechenden Grundfragen wie folgtlauten: Wie kann ich diesen Menschen in <strong>der</strong> Liebe Jesu begegnen,ohne ihn o<strong>der</strong> seine Eltern für seine Beschwerden schuldig zu sprechen?Welches sind seine Nçte? Wo sind seine Mçglichkeiten undStützen? Wo kann er selbst durch innere und äußere Verän<strong>der</strong>ungenzur Verbesserung <strong>der</strong> Situation beitragen? Wo sind seine Grenzen,mit denen er leben lernen muss?Aus dieser zweiten Betrachtungsweise heraus wollen wir nunauch herangehen an das Wesen <strong>der</strong> Stçrungen, die gemeinhin als«Neurosen» bezeich<strong>net</strong> werden.Gemeinsame Eigenschaften neurotischer MenschenSo vielfältig die verschiedenen Ausdrucksformen neurotischer Stçrungensind, so beobachten wir doch immer wie<strong>der</strong> Symptome, dieallen sensiblen Menschen gemeinsam 10 sind:Tabelle 4–2: Gemeinsamkeiten neurotischer Menschena) Unsicherheit, innere <strong>Konflikt</strong>haftigkeitb) Hemmungenc) Kontaktstçrungd) Gefühlsverstimmungen, Kränkbarkeite) vermin<strong>der</strong>te Leistungsfähigkeitf) vegetative BeschwerdenDa ist einmal die innere Unsicherheit und <strong>Konflikt</strong>haftigkeit, die siein vielen Situationen verspüren. Selbst beiläufige Begegnungen, all-53


54tägliche Aufgaben und einfache Wünsche und Bedürfnisse werdenendlos hinterfragt und kçnnen im sensiblen Menschen oft Spannungenerzeugen, die kçrperlich fühlbar werden. Es kommt zu einerübermäßigen Zçgerlichkeit, Unschlüssigkeit und ängstlich bedachterAbsicherung, die für Außenstehende schwer verständlich ist. Engdamit verbunden sind ständige Zweifel, ob man von den an<strong>der</strong>nakzeptiert werde (Annahme und Zugehçrigkeit) und ob man etwasrichtig mache (Selbstvertrauen o<strong>der</strong> Angst vor Versagen). Das überempfindlicheGewissen <strong>der</strong> Sensiblen ist schließlich ein ausweglosesLabyrinth <strong>der</strong> Abhängigkeit von Mitmenschen und Leitfiguren, vonRegeln und Idealen, die auch als «Über-Ich» bezeich<strong>net</strong> werden.Diese Unsicherheit führt dann auch zu Hemmungen im Umgangmit sich selbst und an<strong>der</strong>en Menschen. Die Hemmungen sensiblerMenschen gehen weit hinaus über natürliche Scham und gesellschaftlichenAnstand. Banalste Dinge werden zur unüberwindbarenMauer. Der Stadtneurotiker Woody Allen kann nicht mehr ins Kino,wenn er auch nur eine Minute zu spät kommt (und seine Freundinist wütend, weil er ihr die Schuld zuschiebt). An<strong>der</strong>e haben Hemmungenwegen ihrer äußeren Erscheinung: Sie lassen sich nichtgerne fotografieren, sie zeigen sich nicht gerne in <strong>der</strong> Badehose,o<strong>der</strong> sie verfallen (als häufiges Extrem) in eine unsinnige Magersucht,um die vermeintlichen Polster zu verlieren. Viele begabteKomponisten und Wissenschaftler mussten wegen ihrer Hemmungendazu überredet werden, ihre Werke zu verçffentlichen. Und oftsind es die gleichen Hemmungen, die es auch dem durchschnittlichenMenschen schwermachen, sein Bestes zu geben und seine Gabenfür die Gemeinschaft einzubringen.Kontaktstçrung und GefühlsschwankungenEine dritte Gemeinsamkeit neurotisch-sensibler Menschen bestehtin <strong>der</strong> Kontaktstçrung. Es fällt ihnen nicht nur schwer, auf an<strong>der</strong>ezuzugehen. Sie finden auch nicht das richtige Maß, den richtigenTon, die richtige Einfühlung, um eine tiefere Beziehung mit an<strong>der</strong>nMenschen aufzubauen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, warumSie mit den einen Leuten so guten Kontakt haben und zu an<strong>der</strong>neinfach «keinen Draht finden»? Vieles trägt dazu bei, von <strong>der</strong>äußeren Erscheinung bis zu den gemeinsamen Werten, dem gegen-seitigen Interesse, <strong>der</strong> Stimme, dem Lachen, <strong>der</strong> Ernsthaftigkeit,dem Augenaufschlag o<strong>der</strong> den Stirnfalten. Jede Begegnung ist einsubtiler Balanceakt von Nähe und Distanz, den wir mit einem innerenSensorium wahrnehmen. Übersensible Menschen leiden oft aninneren ¾ngsten, Zweifeln und überhçhten Erwartungen, die es ihnenschwermachen, sich unbefangen auf das Gegenüber einzulassenund einen tragenden Kontakt aufzubauen.Ein weiteres gemeinsames Problem sind die häufigen Gefühlsschwankungenund die leichte Kränkbarkeit sensibler Menschen.Ein Windhauch kann sie aus dem emotionalen Gleichgewicht bringen.Je<strong>der</strong> Persçnlichkeitstyp hat seine eigene Gefühlspalette. Nichtimmer haben wir es nur mit gehemmten, zurückgezogenen, depressivenund misstrauischen Menschen zu tun, die still vor sich hinleiden, aber die Umgebung nicht behelligen. Depressiv-unbeholfenerRückzug kann mit distanzloser Anhänglichkeit ohne Rücksichtauf die Grenzen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n einhergehen. Oft ist es kaum verständlich,wie eine ängstlich-gehemmte Frau nicht nur mürrisch-gereizt,son<strong>der</strong>n sogar in verletzen<strong>der</strong> Weise aggressiv gegen ihre Nächstenwerden kann. Die Betroffenen leiden selbst unter diesen Schwankungen.Spricht man mit ihnen über die Gründe, so merkt man,dass sich dahinter aber nicht krude Bçsartigkeit verbirgt, son<strong>der</strong>ndie Angst: «<strong>Wenn</strong> ich mich nicht wehre, dann nimmt man michnicht ernst und überfor<strong>der</strong>t mich! Ich probiere ja so, mich zusammenzureißen,aber ich habe keine Kraft mehr!» Für die Angehçrigenkçnnen solche Verstimmungen aber zur schweren Belastung werden,die oft <strong>zum</strong> Rückzug, ja nicht selten zur Scheidung führen.Die ständige innere Anspannung kostet Kraft und führt zu einervermin<strong>der</strong>ten Leistungsfähigkeit. Die krampfhaften Versuche, sichemotional zu kontrollieren, die ständig wachsame Absicherung gegenVersagen und Ablehnung, das unaufhçrliche Entwirren innerer<strong>Konflikt</strong>knäuel, die angestrengte Abgleichung zwischen den eigenenWünschen und den Gewissens-Skrupeln – all dies nimmt sensiblenMenschen die Kraft <strong>zum</strong> Leben. Ihre <strong>ps</strong>ychischen und vegetativenBeschwerden zwingen sie notgedrungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen.Jede zusätzliche Leistung <strong>wird</strong> zur Last, die sensible Menschenan ihre Grenzen führt. Sie kçnnen sich nicht entspannt aufeine Aufgabe konzentrieren, in klaren Zügen denken und dann gezieltund zügig handeln. Sie werden unflexibel, voller Angst vor je<strong>der</strong>Unvorhergesehenheit. Die Arbeit <strong>wird</strong> zur permanenten Überforde-55


56rung. Häufig führt die Leistungsschwäche <strong>zum</strong> beruflichen Abstieg.Viele Menschen, die an ¾ngsten und Depressionen leiden, brauchenihre Freizeit ausschließlich dafür, sich für den nächsten Arbeitstag zuerholen.Schließlich finden wir als sechstes gemeinsames Symptom übersensiblerMenschen eine Fülle von vegetativen Beschwerden, die oftmalsauch als <strong>ps</strong>ychosomatische Symptome bezeich<strong>net</strong> werden. «Ofthabe ich am Morgen noch gar keine Angst», erzählt eine Frau, «dochmit den ersten Nachrichten kriege ich so eine Verkrampfung in denSchultern, die sich allmählich um meinen ganzen Kopf legt wie einesuperenge Le<strong>der</strong>haut. Meine Fingerspitzen werden ganz kalt, undüber meinem Herzen empfinde ich einen schmerzhaften Druck.Ich fühle mich dann so schwach, dass ich nicht wage, nach draußenzu gehen.»Es gibt kein Organsystem, das nicht mitreagieren kçnnte. Betroffensind alle unwillkürlichen Funktionen, von <strong>der</strong> Produktion <strong>der</strong>Magensäure bis hin <strong>zum</strong> Blutdruck, von <strong>der</strong> Atemmuskulatur biszur Durchblutung <strong>der</strong> Füße. Ganz allgemein stehen Menschen mit¾ngsten und Depressionen unter erhçhtem Stress, <strong>der</strong> sich auch imHormonspiegel messen lässt. Dadurch ist oft auch <strong>der</strong> Schlaf beeinträchtigt.Unsere Sprache ist reich an Bil<strong>der</strong>n für den kçrperlichenAusdruck menschlicher Gefühle: Es kriecht einem etwas über dieLeber, o<strong>der</strong> es liegt einem etwas auf dem Magen. Man zerbrichtsich den Kopf, o<strong>der</strong> etwas schnürt einem die Kehle zu. Man bekommtkalte Füße, o<strong>der</strong> das Blut stockt einem in den A<strong>der</strong>n.Bei sensiblen Menschen entwickelt sich ein Kreislauf von Angstund vegetativen Beschwerden, die sich gegenseitig aufschaukelnkçnnen.Doch gehen wir mit dieser reinen Beschreibung von Symptomennicht zu wenig weit? Muss nicht auch etwas gesagt werden über gemeinsameUrsachen? Gibt es nicht vorgeburtliche Traumen, frühkindlicheVerletzungen, einengende Familienstrukuren, subtile undoffene Gewalt in <strong>der</strong> Schule, sexuellen Missbrauch, mangelnde Liebeund Wertschätzung, die neurotischen Menschen gemeinsam sind?Viele neurotische Menschen erleben ihre Symptome im Zusammenhangmit schmerzlichen Lebenserfahrungen. Wir sind jedochweit davon entfernt, in diesem Bereich einen gemeinsamen Nennerzu finden. Vieles deutet darauf hin, dass sensible Menschen ihreUmgebung schon in <strong>der</strong> Kindheit an<strong>der</strong>s erleben und daraus dieGründe für ihre späteren Schwierigkeiten ableiten.Welche Faktoren begünstigen eine spätereneurotische Erkrankung?Eine sorgfältige und detaillierte Untersuchung neurotischer Stçrungenwurde von Prof. H. Schepank unter dem Titel Verläufe – seelischeGesundheit und <strong>ps</strong>ychogene Erkrankungen heute verçffentlicht. Darinkommt er zu folgen<strong>der</strong> Verteilung <strong>der</strong> Ursachen für neurotische Erkrankungen:1130 Prozent Erbfaktoren25 Prozent Frühkindliche Entwicklung15 Prozent Erfahrungen zwischen fünf bis zwanzig Jahren25 Prozent Spätere Lebenserfahrungen(life events, social support)5 Prozent An<strong>der</strong>esWie sehr die äußeren Lebensumstände mitspielen, zeigte <strong>der</strong> Unterschiedin <strong>der</strong> Entwicklung von neurotischen Stçrungen bei Menschen,die 1935, 1945 und 1955 in Deutschland geboren wurden:So wiesen diejenigen, die gleich nach dem Zweiten Weltkrieg ineine entbehrungsreiche, harte Zeit hineingeboren wurden, einedeutlich erhçhte Sensibilität («Vulnerabilität»), aber keine erhçhteKrankheitsrate auf. Sowohl die 1935 als auch die 1955 Geborenenhatten es in <strong>der</strong> frühen Kindheit offenbar leichter. Dennoch litten siestatistisch gesehen im Erwachsenenalter gleich häufig an neurotischenStçrungen.Schließlich wurde auch untersucht, ob Menschen aus <strong>der</strong> sozialenUnterschicht vermehrt an neurotischen Stçrungen erkranken. Hierergaben sich keine eindeutigen Befunde. Insgesamt geht man abereher davon aus, dass die <strong>ps</strong>ychische Begrenzung oftmals dazu führt,dass ein Mensch sich mit einfacheren Aufgaben zufriedengebenmuss. Schepank führt als Gründe an: «Gemeinsame geringere Frustrationstoleranz,erbliche Intelligenzfaktoren, reduzierte Mçglichkeiten<strong>der</strong> Bewältigung, geringere Angsttoleranz, konstitutionelleFaktoren bei dem Einsatz bestimmter Abwehrmechanismen etc.»57


5859Schweregrad und Verlaufsformen <strong>der</strong> NeurosenNeurotische Stçrungen kçnnen in unterschiedlichen Schweregradenauftreten. Niemals darf man einen Menschen nur aufgrund seinerDiagnose einseitig als «krank» o<strong>der</strong> «unfähig» abschreiben. SelbstMenschen mit ausgeprägten ¾ngsten und Hemmungen haben nebendiesen «dysfunktionalen Anteilen» auch gesunde Seiten. Wirhaben es also mit einem unterschiedlichen Grad an Leiden und sozialerBehin<strong>der</strong>ung zu tun, die es sorgfältig abzuklären gilt. In <strong>der</strong>Therapie <strong>wird</strong> dazu ermutigt, diese gesunden Seiten zu erkennenund zu stärken. Abbildung 4–1 zeigt in schematischer Form denwechselnden Ausprägungsgrad neurotischer Stçrungen.Abbildung 4–1: Der Schweregrad neurotischer Stçrungen&&&Nachuntersuchungen haben ergeben, dass es …bei 20 Prozent zu einer Heilung,bei 60 Prozent zu einer Besserung undbei 20 Prozent zu einer Verfestigung <strong>der</strong> krankhaften Symptomekommt.Die Folge ist bei <strong>der</strong> letztgenannten Gruppe häufig eine Voll-Invalidisierung,da die Betroffenen wegen ihrer Beschwerden nicht mehrin <strong>der</strong> Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen und ihren Lebensunterhaltzu verdienen.Am ausgeprägtesten sind neurotische Stçrungen zwischen zwanzigund vierzig Jahren. Danach beginnt die Symptomatik oft nachzulassen,und <strong>der</strong> Betroffene findet ein besseres Gleichgewicht. Häufigbildet sich dabei ein Restzustand aus – ein Leben in Grenzen, dasaber doch ein erträgliches Dasein ermçglicht. Viele neurotischKranke sind zwar noch arbeitsfähig, mussten jedoch einen beruflichenAbstieg in Kauf nehmen. Oft fehlt es ihnen an Lebensfreudeund Energie. Sie leben zurückgezogen und haben viele ihrer früherenInteressen verloren. So findet <strong>der</strong> neurotische Mensch in seinemallgemeinen Rückzug eine gewisse Entlastung und Beruhigung, dieer aber mit <strong>der</strong> Aufgabe seiner früheren Wünsche, Träume und Beziehungenbezahlen muss.Es sind gerade diese Menschen mit schwerem seelischem und<strong>ps</strong>ychosomatischem Leiden, die im <strong>Glaube</strong>n viel häufiger einenHalt finden und diesen als Unterstützung in ihrem Leiden erfahren.Bevor wir uns jedoch dem <strong>Glaube</strong>n im Einzelnen zuwenden, mçchteich näher auf die verletzliche Persçnlichkeit eingehen, die Menschenso anfällig und sensibel auf Spannungen macht.Der Verlauf <strong>der</strong> Neurosen ist vielfältig: Grundsätzlich handelt essich um länger dauernde Stçrungen, die jedoch phasenhaft stärkero<strong>der</strong> schwächer auftreten kçnnen. Häufig beobachten wir einegrundlegende Persçnlichkeitsstçrung, auf die sich zeitweise eineschwerere Stçrung «aufpfropft». Nicht selten kommt es zu einemSymptomwechsel, d. h. zu Übergängen von einem Symptom <strong>zum</strong>an<strong>der</strong>n. So kann eine anfängliche Angst-Symptomatik später ineine chronische Depression übergehen.Anmerkungen zu Kapitel 41. Dilling et al. 1984; Schepank 1990, S. 182. DSM III-R, Diagnostisches und statistisches Manual <strong>ps</strong>ychischer Stçrungen,1989; ein guter Überblick über die Diskussion um den Neurosebegriff findetsich bei Bayer und Spitzer 1985.3. ICD-10, International Classification of Diseases, 19914. Dilling 19815. Dies ergab sich auch in den Verlaufsuntersuchungen von Wittchen (1988):


60Nur 16 von 46 untersuchten Patienten suchten einen Psychiater o<strong>der</strong> Therapeutenauf, nur 7 davon regelmäßig. Fazit: Nur 14 Prozent gingen innerhalbihrer 15-jährigen Krankheitsgeschichte in eine Therapie im engerenSinne.6. Bronisch 19897. Wittchen 1988, S. 262.8. Ich denke hier beson<strong>der</strong>s an Modelle <strong>der</strong> charismatischen Seelsorge, dieauch unter dem Schlagwort <strong>der</strong> «Inneren Heilung» laufen.9. Johannes 9,1–1210. In <strong>der</strong> Fachliteratur <strong>wird</strong> von einem «general neurotic syndrome» gesprochen,vgl. Andrews et al. 1990.11. Schepank 1990, S. 208–2095Diesensible Persçnlichkeitund die Formen <strong>der</strong>Neurosen61Ich fühle mich wie ein rohes Ei, ohne jede Wi<strong>der</strong>standskraft. Ichhalte keine Spannung aus. Die kleinsten Dinge werfen mich aus<strong>der</strong> Bahn und machen mir Angst!» So und ähnlich beschreibenuns sensible Menschen ihre mangelnde Wi<strong>der</strong>standskraft undBelastungsfähigkeit. In <strong>der</strong> Fachsprache redet man von «Vulnerabilität»,zu Deutsch «Verletzbarkeit». Das Konzept hat in den vergangenenJahren zunehmend an Bedeutung für das Verständnis <strong>ps</strong>ychischerErkrankungen gewonnen.Dabei ist es keineswegs neu. 1 Der bekannte deutsche PsychiaterKretschmer beschrieb «eine außerordentliche Gemütsweichheit,Schwäche und zarte Verwundbarkeit, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite einen gewissenselbstbewussten Ehrgeiz und Eigensinn.» Es handle sich umeine ans Schmerzhafte grenzende erhçhte Eindrucks- und Erlebnisfähigkeit.Vulnerable Menschen litten unter einer gesteigerten <strong>ps</strong>ychischenEmpfindlichkeit, verbunden mit <strong>der</strong> Neigung zu depressivemRückzug. Aus <strong>der</strong> übergroßen Sensibilität erwachsen dannauch die Stacheln, mit denen sie sich zu wehren versuchen gegendie Belastungen und For<strong>der</strong>ungen, die an<strong>der</strong>e an sie herantragen –ein eigentümlich spannungsgeladenes Ungleichgewicht <strong>der</strong> Persçnlichkeit.Entwicklung neurotischer Muster – ein ModellIch mçchte versuchen, in diesem Kapitel eine Einführung in dieneueren Konzepte <strong>der</strong> Entstehung und <strong>der</strong> Dynamik <strong>der</strong> Neurosenzu geben. In dem folgenden Modell <strong>der</strong> Entwicklung neurotischerMuster nimmt die vulnerable o<strong>der</strong> «verletzbare» Persçnlichkeit eine


62Abbildung 5–1: Ein Modell <strong>der</strong> Entstehung neurotischer Musterzentrale Stellung ein. Wie wir schon im letzten Kapitel gesehen haben,entsteht sie aus dem komplexen Zusammenspiel von Vererbung,Erziehung und Lebenserfahrungen.auch diejenigen kçrperlichen Behin<strong>der</strong>ungen, die einem Menschendas Leben erschweren kçnnen. Ich denke da an das Mädchen mitdem Sprachfehler, das in <strong>der</strong> Schule ständig ausgelacht <strong>wird</strong>. O<strong>der</strong>an den Jungen, <strong>der</strong> nach einem Fahrradunfall hinkt und nicht amTurnen teilnehmen kann. Wie viel Entmutigung, wie viel Min<strong>der</strong>wertigkeitsgefühlekçnnen aus solchen Behin<strong>der</strong>ungen entstehen!Oft haben diese Kin<strong>der</strong> schlechtere Startbedingungen für das Leben.Hierher gehçren auch diejenigen Kin<strong>der</strong>, die als sogenannte «POS-Kin<strong>der</strong>» 3 unter erhçhter Ablenkbarkeit, Aktivität und Reizbarkeitleiden. Sie for<strong>der</strong>n ständige Erziehungsaktionen von Lehrern undEltern heraus und machen oft entmutigende und erniedrigende Erfahrungen.Damit ergibt sich auch schon die Beziehung zwischen <strong>der</strong> Anlageund dem Umfeld. Ich habe ganz bewusst den weiten Begriff «PsychosozialesUmfeld» gewählt. Dieses umfasst viel mehr als nur dasElternhaus. Dazu gehçren die Freunde, die Schulkameraden, dieLehrer, die Nachbarn – kurz: alle, die für das Erleben des heranwachsendenKindes eine wichtige Rolle spielen. In <strong>der</strong> englischenLiteratur werden sie als die «significant others» und als «peers»(Gleichaltrige) bezeich<strong>net</strong>. Da ist die dominierende ältere Schwestermit ihren beleidigenden Sticheleien o<strong>der</strong> <strong>der</strong> brutale Nachbarsjunge,<strong>der</strong> das kleine Mädchen in einem Schuppen sexuell belästigt undbedroht, es niemandem zu sagen. Da ist die parteiische Lehrerin,die immer die an<strong>der</strong>n bevorzugt, während <strong>der</strong> wichtigtuerischeKlassenprimus freche Faxen macht. Aber da ist auch die gütigeGroßmutter, die stundenlang Geschichten erzählen kann, o<strong>der</strong> diefreundliche Nachbarin mit ihrer Keksdose und den aufmunterndenWorten.Da sind die Action-Serien im Fernsehen mit all den brutalen Bil<strong>der</strong>n,die ein Kind bis in den Schlaf verfolgen kçnnen, die besorgtenWarnungen vor dem Ozonloch und die Geschichten in <strong>der</strong> Sonntagsschule.Gerade sensible Kin<strong>der</strong> verarbeiten alle diese Eindrückemit beson<strong>der</strong>er Intensität, während ihre robusteren Altersgenossenviel leichter darüber hinweggehen kçnnen und ihren eigenen Wegfinden.63In <strong>der</strong> Abbildung wurden diese Einflüsse etwas an<strong>der</strong>s gruppiert. Dasind einmal die Anlagefaktoren: Darunter verstehen wir nicht nurdie Gene, die die Persçnlichkeit maßgeblich beeinflussen 2 , son<strong>der</strong>n


64Lebenserfahrungen und LernschritteWährend man in <strong>der</strong> analytischen Tiefen<strong>ps</strong>ychologie von <strong>der</strong> allesdominierenden frühkindlichen Phase spricht, zeigt es sich zunehmend,dass auch Erfahrungen und Lernschritte in <strong>der</strong> späterenKindheit, in <strong>der</strong> Jugend und im Erwachsenenalter einen wesentlichenEinfluss auf die Entwicklung einer späteren Vulnerabilität haben.Liebesenttäuschungen und Schwierigkeiten in <strong>der</strong> Berufsausbildung,die Ablçsung von den Eltern und die ersten Erfahrungen ineiner Partnerschaft, all das gehçrt zur normalen Entwicklung einesjungen Menschen. Doch da sind auch unvorhergesehene und traumatischeErlebnisse, die die Einstellung <strong>zum</strong> Leben entscheidendverän<strong>der</strong>n kçnnen: <strong>der</strong> plçtzliche Tod eines geliebten Menschen,eine lebensbedrohende Krankheit, ein unverschuldeter Unfall, unerwarteteKündigung <strong>der</strong> Arbeit o<strong>der</strong> eine Vergewaltigung.Für sensible Menschen sind es aber auch viel weniger einschneidendeLebenserfahrungen, die zur Entwicklung einer vulnerablenPersçnlichkeit beitragen kçnnen: unerfüllte Wünsche, Beziehungsschwierigkeiten,Ablehnung und Missgunst durch Arbeitskollegen,seelische Ausbeutung durch einen Lebenspartner und die allmählicheVerän<strong>der</strong>ung des Kçrperbildes durch das Herauswachsen aus<strong>der</strong> Jugendkultur. Dabei darf man nie vergessen, dass sensible Menschenbei diesem Lernprozess nicht nur die Leidenden und Erduldendensind. Vielmehr kçnnen sie durch ihre innere Haltung unddie äußeren Reaktionen die Erfahrungen wesentlich mit beeinflussen.Aus seinen Erfahrungen baut sich je<strong>der</strong> Mensch eine grundlegendeWeltanschauung, eine Lebensphilosophie auf, kurze Sätzeund Grundprinzipien, die sein Leben leiten. Hier einige Beispiele:&&&&&«Um glücklich zu sein, muss ich überall beliebt sein.»«Ich habe meine Meinungen und brauche nicht ständig die Zustimmung<strong>der</strong> an<strong>der</strong>n. Trotzdem kann man gut miteinan<strong>der</strong> auskommen.»«Um mich wertvoll zu fühlen, darf ich bei <strong>der</strong> Arbeit nie einen Fehlermachen.» – «Probleme gehçren <strong>zum</strong> Leben; packen wir’s an!»«Ich weiß, dass ich nicht perfekt bin. Ich kann noch viel von an<strong>der</strong>nlernen.»«<strong>Wenn</strong> mich jemand kritisiert, dann mag er mich als Menschnicht.»Beachten Sie die Unterschiede! Welche Sätze werden wohl eher geeig<strong>net</strong>sein, das Leben zu meistern? ¾hnliche Sätze lassen sich auchfür den gläubigen Menschen formulieren:&&&«Ich fühle mich nur von Gott geliebt, wenn ich spüre, dass michdie Leute in <strong>der</strong> Gemeinde gern haben.»«Auch als Christen sind wir unterschiedlich. Ich mçchte an<strong>der</strong>eermutigen, auch wenn ich nichts dafür zurückbekomme.»«Als wirklich geheiligter Christ darf ich mir keine Fehler erlauben!»Je unflexibler die Leitsätze, desto anfälliger ist ein Mensch auf Enttäuschungenund Kränkungen, die sich tief in seine Seele fressen. Er<strong>wird</strong> verletzlich. Erreicht diese Verletzlichkeit einen gewissen Grad,so kann man von einer neurotischen Vulnerabilität sprechen.Drei Elemente <strong>der</strong> neurotischen «Verletzlichkeit»Gesunde Menschen gestehen sich Unvollkommenheiten ein undkçnnen sich auch an neue, schwierige Situationen anpassen. Menschenmit einer neurotischen Vulnerabilität hingegen leiden untereinem brüchigen Selbstwertgefühl, das sie in den Stürmen des Lebensanfällig macht, in «Seenot» zu geraten.Eigentlich ist die neurotische Verletzlichkeit mehr als eine gewçhnlicheSensibilität. Eine nähere Betrachtung <strong>der</strong> neurotischen«Verwundbarkeit» zeigt uns drei Elemente, nämlich im Bereich1. verzerrter Gedanken und Wahrnehmungen (kognitive Verzerrungen),2. einer erhçhten Angstneigung,3. einer kçrperlichen Sensibilität und vegetativen Labilität.1. KOGNITIVE VERZERRUNGEN 4 : Wie wir schon gesehen haben,sind die Denkmuster neurotischer Menschen nicht flexibel an dieWirklichkeit angepasst. Man kçnnte sie auch als «dysfunktionaleAbwehrmechanismen» bezeichnen. Sie stellen zu hohe Erwartungenan sich selbst und an<strong>der</strong>e. Sie machen ihr Glück davon abhängig,was an<strong>der</strong>e über sie sagen und denken und wie sich an<strong>der</strong>e ihnen65


66gegenüber verhalten. Dies gilt nicht nur für das Leben allgemein,son<strong>der</strong>n auch für ihre Religiosität. Hier machen sie sich abhängigvon christlichen Leitfiguren und Meinungen, weit über eine gesundeOrientierung hinaus. Jede extreme Strçmung stürzt sie in Selbstzweifelund angestrengte Bemühungen zur Verän<strong>der</strong>ung. Dieserfremdbestimmte, an an<strong>der</strong>n orientierte <strong>Glaube</strong> <strong>wird</strong> auch als «extrinsisch»bezeich<strong>net</strong> und macht anfällig für depressive Reaktionen.Vulnerable Menschen schwanken hin und her zwischen Alles o<strong>der</strong>Nichts, überhçhten Idealen und bedrohlichen Versagensängsten. Siepflegen eine selektive Wahrnehmung, sehen eher das Negative, dasBelastende, das Feindliche. Oft spüren sie eine Entfremdung, sichselbst und an<strong>der</strong>en gegenüber. Sie bewegen sich in dieser Welt miteiner ständig nagenden Unsicherheit, ohne sich diese einzugestehen.Sie kommen durch, solange das Leben in Routine ohne allzu großeAnfor<strong>der</strong>ungen verläuft, doch bei kleinsten Verän<strong>der</strong>ungen steigt dieSpannung und macht anfällig für die Aktivierung einer neurotischenErkrankung.2. ANGSTNEIGUNG: Die Angst ist wohl das umfassendste gemeinsameMerkmal neurotischer Verletzlichkeit. Nicht umsonst trägt einBuch über Persçnlichkeitsstçrungen den Titel Grundformen <strong>der</strong>Angst 5 . Nicht immer ist diese Angst für den vulnerablen Menschenbewusst spürbar, doch sie lauert im Untergrund wie ein drohen<strong>der</strong>Schatten. Jede neue Situation ist verbunden mit einem Aufwallendieser diffusen, lähmenden Angstgefühle, die sich wie eine schwere,klebrige Masse über die Seele legen. Je schwerer das Leiden, destoausgeprägter die Angst in gewissen Situationen. Es ist diese Angst,die dem vulnerablen Menschen seine Unbefangenheit nimmt, ihnhin<strong>der</strong>t, sich zu entfalten und sich mit Freude und Neugier auf Neulandzu wagen. Und doch verlangt das Leben von jedem, sich neuenSituationen zu stellen und sie zu bewältigen. Die Angst schränktdiese Bewältigungsmçglichkeiten stark ein und kann in Krisen zuausgeprägten neurotischen Reaktionen führen.3. VEGETATIVE LABILIT¾T: Neurotische Verletzbarkeit drücktsich nicht nur in Gedanken und Gefühlen aus, son<strong>der</strong>n sie ist engverbunden mit einem Ungleichgewicht des vegetativen Nervensystems.Gerade in dieser vegetativen Vulnerabilität erweist sich <strong>der</strong>enge Zusammenhang von Leib und Seele. Der vulnerable Menschist eher krankheitsanfällig und macht sich mehr Sorgen um seineGesundheit. Die <strong>Konflikt</strong>e sensibler Menschen spielen sich nichtnur im Kopf ab, sie sind begleitet von einem vegetativen Spannungszustand,<strong>der</strong> je<strong>der</strong>zeit durch äußere Belastungen (Stress) und innereSpannung (Strain) zur Entgleisung gebracht werden kann.<strong>Konflikt</strong>verarbeitung und LebensbewältigungDie Lebensbewältigung eines Menschen ist entscheidend davon abhängig,wie er mit den alltäglichen und den beson<strong>der</strong>en <strong>Konflikt</strong>enumgehen kann, die zu unserem Leben gehçren. Dabei unterscheidenwir zwischen einer «adäquaten» Verarbeitung und «dysfunktionalen»Bewältigungsformen. In <strong>der</strong> tiefen<strong>ps</strong>ychologischen Sprache<strong>wird</strong> auch <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> «Abwehrmechanismen» verwendet. ImGrunde genommen werden damit diejenigen Prozesse umschrieben,die wir hier als «kognitive Verzerrungen» bezeich<strong>net</strong> haben. Sie sollenim Folgenden nur kurz angetippt und aufgelistet werden:a) adäquate <strong>Konflikt</strong>verarbeitung– realitätsgerecht; <strong>Konflikt</strong> bleibt bewusst, <strong>wird</strong> rational verarbeitet– Verzicht– Durchsetzung– schçpferische Lçsungb) Die Abwehrmechanismen des vulnerablen Menschen:Eine ausführliche Darstellung <strong>der</strong> Abwehrmechanismen ist an dieserStelle nicht mçglich. Der interessierte Leser findet weitere Informationendazu in <strong>der</strong> Fachliteratur. 6 Hier einige Stichworte:&&&Sie dienen <strong>der</strong> Abwehr von Angst, dem Ausweichen vor <strong>der</strong> alsschmerzlich empfundenen Realität, sind oft irrational und begleitetvon unangenehmen Gefühlen und Kçrperempfindungen. DieFormen im Einzelnen:Verdrängung (von Strebungen, Gefühlen)Verleugnung (von Grenzen o<strong>der</strong> <strong>zum</strong> Beispiel schwerer Krankheit)67


68&&&&&&Verschiebung (auf ein an<strong>der</strong>es Objekt)Sublimierung (an<strong>der</strong>e, «hçhere» Tätigkeit ersetzt das eigentlicheZiel)Isolierung, Abspaltung (von Gefühlen)Wendung ins Gegenteil (Überfürsorglichkeit trotz Hass)Projektion (auf an<strong>der</strong>e Menschen o<strong>der</strong> auf Gott)Identifizierung (mit einer an<strong>der</strong>en Person)Abwehrmechanismen sind nicht immer negativ zu bewerten. Vielleichtsind sie <strong>der</strong> einzige Weg, wie ein vulnerabler Mensch in drängendeninneren <strong>Konflikt</strong>en überleben kann, ohne vçllig zusammenzubrechen.Die Abwehrmechanismen wirken dann wie <strong>der</strong> Panzereiner Rüstung, <strong>der</strong> seinen Träger vor Verletzungen schützt, ihn aberauch beschwert und weniger beweglich macht.Die Aktivierung neurotischer Schemata« Ich habe lange versucht, mich zusammenzureißen. Ich habe jedeunnçtige Belastung vermieden.» Frau Kremer rang um Worte: «Abernun ist alles zusammengekommen: das Telefonat mit meinerSchwiegertochter, das Ohr-Ekzem bei meinem Hund, und dieschrecklichen Nachrichten im Fernsehen. Ich spüre, wie mich meineKraft verlässt. Ich bin wie<strong>der</strong> ganz depressiv. Ich kann nichtmehr …» Die Patientin, <strong>der</strong> es über einige Zeit recht gut gegangenwar, war in eine neue depressive Krise hineingerutscht.Erreicht die Spannung einen gewissen Grad, so kann es zur Auslçsungeines neurotischen Schemas kommen, das (einmal aktiviert)willentlich nur noch schwer zu beeinflussen ist. Der Vorgang ist modellhaftvergleichbar einer Spieldose, die auf Knopfdruck ihre Melodieklimpert, bis die Walze ihre Umdrehung beendet hat. Die Walzedreht sich, weil sie zuvor durch den Schlüssel aufgezogen worden,unter Spannung gestellt worden ist. Die kleinen Stifte <strong>der</strong> Walze sindin einem festen Muster verteilt, das dann die Melodie auf den Metallzungenspielt.So ähnlich, wenn auch unendlich komplexer, kçnnen wir uns einneurotisches Schema vorstellen. 7 Während in <strong>der</strong> <strong>ps</strong>ychosomatischenLiteratur vor allem die vegetativen Reaktionsformen beschriebenwerden, beobachten wir in <strong>der</strong> Klinik auch vorgegebene Mustervon Gefühlen, Verhalten und Denken, die durch einen Stressor aktiviertwerden. Verschiedene Synonyme kçnnen die Bedeutung desWortes noch etwas erhellen: So kann man von einem «Repertoirevon Gefühls- und Reaktionsweisen» sprechen. Freud spricht vonden «Abwehrmechanismen». Und schließlich kçnnte man auch denBegriff <strong>der</strong> «Reaktionsmuster» verwenden. Ihnen allen ist gemeinsam,dass sie nicht bewusst eingesetzt werden, son<strong>der</strong>n viel eherunter Spannung «in Gang kommen», ohne dass sie in <strong>der</strong> Akutphasewesentlich durch den Willen beeinflussbar sind. Ich mçchte die neurotischenSchemata einteilen in drei Elemente:&&&GefühlsschemataDenk- und Verhaltensschematavegetative SchemataDiese spielen oft zusammen und formen das wechselhafte Bild einesneurotischen Syndroms. Die oben erwähnte Patientin zeigte alle dreiSchemata: Ihre Gefühle wurden von Verzweiflung und Angst überschwemmt.Eine innere Unruhe ergriff sie, die ihr das Alleinsein fastunerträglich machte. Die Gedanken engten sich ein auf die schrecklichenErfahrungen <strong>der</strong> Flüchtlinge, die sie im Fernsehen gesehenhatte; die ständige Frage, ob sie das aushalten würde. Gleichzeitigmachte sie sich Vorwürfe bezüglich ihrer Tochter, die sie nicht richtigerzogen habe. Auch wenn sie die Gedanken abstellen wollte, sodrehten sie sich von alleine weiter, in zwanghafter Grübelei über ihreFehler. Schließlich machten ihre vegetativen Beschwerden sich wie<strong>der</strong>bemerkbar: ein unerträgliches Frieren trotz normaler Zimmertemperatur,ein Druck in <strong>der</strong> Magengegend und ein ständigesSchwächegefühl in den Armen. Frau Kremer kennt diese Zuständevon früheren neurotischen Krisen. Es ist ihre Art, auf Belastungen zureagieren, ihr «Schema», das sich über die Jahre entwickelt hat.Neurotische Syndrome – ein kurzer Überblick1. NEUROTISCHE DEPRESSION (DYSTHYMIE): ein Syndrommit unverhältnismäßig starker Verstimmung, die meist auf ei<strong>net</strong>raumatische Erfahrung folgt. Der Betroffene beschäftigt sich vielmit Fragen um Verlust, Ablehnung, Versagen und ist gegenüber neu-69


70erlichen Belastungen sehr sensibel. Dauer: langwierig, mindestenszwei Jahre. Übergang zu endogenen Depressionen fließend. Meistspielen endogene und reaktive Faktoren mit.2. ANGSTSYNDROME: Verschiedene Kombinationen <strong>ps</strong>ychischerund kçrperlicher Angstsymptome, die keiner realen Gefahr zugeord<strong>net</strong>werden kçnnen. Auftreten als plçtzlicher Angstzustand (Panikattacken)o<strong>der</strong> als dauernde Angst (generalisiertes Angstsyndrom).Phobien sind Stçrungen mit Furcht vor bestimmtenObjekten o<strong>der</strong> Situationen, die normalerweise solche Gefühle nichthervorrufen würden.3. NEURASTHENIE: Ein Syndrom mit allgemeiner Schwäche,Reizbarkeit, Kopfweh, Depression, Schlafstçrungen, Konzentrationsschwierigkeitenund Mangel <strong>der</strong> Fähigkeit, Freude zu empfinden.Es kann einer Infektionskrankheit o<strong>der</strong> einer Erschçpfung folgeno<strong>der</strong> sie begleiten o<strong>der</strong> aus einer anhaltenden Belastungssituationhervorgehen.4. HYPOCHONDRISCHES SYNDROM: Übermäßige Beschäftigungmit <strong>der</strong> eigenen Gesundheit im Allgemeinen o<strong>der</strong> mit einzelnenKçrperfunktionen, verbunden mit Angst und Depression.5. HYSTERISCHE SYNDROME (Somatisierungs-Syndrom): Ausgeprägtekçrperliche Symptome (Lähmung, Zittern, Blindheit, Taubheit,Anfälle und ¾hnliches) o<strong>der</strong> starke Einengung des Bewusstseinsohne organischen Befund, oft stark wechselhaft. In äußerst seltenenFällen kann es zu einer multiplen Persçnlichkeit kommen.6. ZWANGS-SYNDROM: Denkinhalte o<strong>der</strong> Handlungsimpulsedrängen sich dem Kranken auf, obwohl er sie als unsinnig erkennt.Gibt er den Impulsen nicht nach, so entwickelt sich eine unerträglicheSpannung und Angst.7. ANDERE NEUROSEFORMEN: Dazu zählen verschiedene selteneSyndrome und vor allem unklare Mischbil<strong>der</strong>. Hierher gehçrenbeispielsweise die sogenannten Bor<strong>der</strong>line-Stçrungen, Sexualstçrungenund Essstçrungen. Neben <strong>der</strong> speziellen Problematik zeigendiese Menschen die erwähnten gemeinsamen neurotischen Grundsymptome.Inhaltlicher Wandel bei gleichbleiben<strong>der</strong>GrundsymptomatikDie oben erwähnten neurotischen Syndrome lassen sich als komplexes,fehlgeleitetes Reaktionsmuster verstehen, ohne dass man darausschon Rückschlüsse auf die Ursachen ziehen kçnnte. Während dasgrundlegende Muster dem Syndrom den Namen gibt, kann es ganzunterschiedliche Facetten des Lebens beeinträchtigen, je nachdem,was dem einzelnen Menschen wichtig ist. Das neurotische Syndromist sozusagen das Gefäß, in dem die unterschiedlichsten gedanklichenInhalte Platz haben. Obwohl man schließlich das Gefäß nachseinem Inhalt benennt, etwa als «Cola-Flasche» o<strong>der</strong> als «Bierkrug»,so bleibt das Gefäß letztlich dasselbe, auch wenn es mit an<strong>der</strong>emInhalt gefüllt würde. Die Inhalte haben aber kaum Rückwirkungenauf Form und Beschaffenheit des Gefäßes.So ist auch <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> eines Menschen primär ein Inhalt, <strong>der</strong> indie schwachen Gefäße <strong>der</strong> vulnerablen Persçnlichkeit ausgegossensein kann, «ein gçttlicher Schatz in einem zerbrechlichen irdenenGefäß», um es mit Paulus zu sagen. 8 Der religiçse Faktor wi<strong>der</strong>spiegeltdeshalb nur einen inhaltlichen Teilaspekt im Gesamterleben desneurotischen Menschen.Nicht selten beobachten wir sogar einen Wandel in den neurotischenDenkinhalten, wenn sich ein Mensch dem <strong>Glaube</strong>n zuwendet.Als Beispiel sei ein 27-jähriger Patient mit einem ausgeprägtenZwangssyndrom angeführt. Im Vor<strong>der</strong>grund standen religiçse Zweifel,Zwänge, die Bibel zu lesen und seine Sünden zu bekennen. Seineständige Fragerei, die krankhafte Skrupulosität führte nicht nur zurAuflçsung seiner Verlobung, son<strong>der</strong>n auch <strong>zum</strong> Abbruch <strong>der</strong> drittenAusbildung. Er wäre ein klassisches Beispiel für diejenigen gewesen,die eine kirchliche Verursachung einer Zwangsneurose postulieren.Doch die Vorgeschichte zeigte ein an<strong>der</strong>es Bild.Er war in einer aufgeklärten, freidenkerisch geprägten Akademikerfamilieaufgewachsen, liberal und weltoffen. Schon alsKind war er sehr gewissenhaft und ängstlich, mit einem Hang,alles mçglichst gut zu machen und niemandem wehzutun. Als71


72Mittelschüler litt er wie<strong>der</strong>holt an Erkältungen. Allmählich entwickelteer die Angst, er kçnnte in <strong>der</strong> Straßenbahn jemandenanstecken. Er begann zunehmend die çffentlichen Verkehrsmittelzu meiden, wenn er Schnupfen hatte, obwohl er einen langenFußmarsch in Kauf nehmen musste. Später, während eines Chemiepraktikums,entwickelte er eine phobische Angst vor krebserzeugendenStoffen, die zu stundenlangen hypochondrischenGrübeleien führten. Jede neue Situation rief neue Zwangsbefürchtungenhervor. Eines Tages wurde er von jungen Christen angesprochen.Er erfuhr eine tiefgreifende Hinwendung <strong>zum</strong> <strong>Glaube</strong>nund erhoffte sich davon nicht zuletzt eine Heilung von seinenZwängen. Doch es kam an<strong>der</strong>s: Bald begann er seine ¾ngste mitgeistlichen Themen auszugestalten, von <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Heilsgewissheitbis hin zu grüblerischen dogmatischen Fragen. DerZwang als Denkschema war <strong>der</strong>selbe geblieben, <strong>der</strong> Inhalt aberhatte sich ins Religiçse gewandelt.Verletzlichkeit und IndividualitätBetrachtet man die Wege, die schließlich zu einer Vulnerabilität fürneurotische Stçrungen führen, so sind diese so vielgestaltig, wie esMenschenschicksale nur sein kçnnen. Deshalb gilt es, an jeden Menschenund an sein Umfeld in einer zutiefst barmherzigen Haltungheranzugehen, in einer Haltung, die nicht primär nach Kausalitätfragt, son<strong>der</strong>n die das Gegenüber in seinem So-Sein annimmt undversucht, ihn ein Stück Wegs zu begleiten. Dabei bleibt die individuelleVerletzlichkeit immer etwas letztlich Unfassbares, wie dies sehrschçn von Karl Jaspers dargestellt wurde:«Das Individuum ist aus sich, ist nicht aus An<strong>der</strong>em zu erklären.Es ist selbst im Ganzen nicht zu erfassen: individuum est ineffabile.Trotz Eingeglie<strong>der</strong>tsein als biologisches Wesen in Erbzusammenhänge,als <strong>ps</strong>ychologisches in Gemeinschaft und geistige Überlieferung,so gleichsam im Schnittpunkt zweier Linien, des Erbgutes und<strong>der</strong> Umwelt, ist es doch nicht bloß Durchgang für diese, ist nie auflçsbar,son<strong>der</strong>n irgendwo es selbst, einmalig, für sich, in geschichtlicherKonkretion als Fülle <strong>der</strong> Gegenwart, als einzige unvergleichlicheWelle <strong>der</strong> Unendlichkeit des Wellenmeeres zugleich ein Spiegeldes Ganzen.» 9Ein wesentlicher Teil dieses Individuums ist seine religiçse Dimension,sein <strong>Glaube</strong>nsleben. Wie wir im nächsten Kapitel sehenwerden, gibt es auch hier eine Vielgestaltigkeit, die sich letztlich nieganz fassen lässt und sich nur aus <strong>der</strong> Lebensgeschichte, dem kirchlichenUmfeld und <strong>der</strong> individuellen Verarbeitungsweise verstehenlässt.Anmerkungen zu Kapitel 5731. vgl. die ausführliche Übersicht von Schmidt-Degenhardt 19882. vgl. Andrews et al. 1990b, sowie McGuffin und Thapar 19923. P. O. S. = Psycho-Organisches Syndrom, o<strong>der</strong> auch Minimale CerebraleDysfunktion (MCD): Man versteht darunter eine leichte frühkindlicheHirnschädigung, die nicht nur durch Sauerstoffmangel, son<strong>der</strong>n auchdurch erbliche Stçrungen entstehen kann. Oft wächst sie sich mit den Jahrenaus. Ein hilfreicher Ratgeber für Eltern wurde von Wen<strong>der</strong> (1991) verfasst.4. Kognitive Verzerrungen o<strong>der</strong> «Denkfehler» wurden insbeson<strong>der</strong>e bei depressivenMenschen erforscht und in dem Buch Kognitive Therapie <strong>der</strong>Depression von Beck (1981) umfassend dargestellt. Eine christliche Anwendung<strong>der</strong> kognitiven Therapie findet sich in den Büchern von Thurmann(1991) sowie Backus und Chapian (1983). Ein integrativer Überblick <strong>wird</strong>bei S. Pfeifer (1988) gegeben.5. Riemann 19756. Eine hervorragende Darstellung gibt Shapiro (1991) in seinem Buch NeurotischeStile; aus analytischer Sicht lesenswert ist das Buch von Anna Freud(1984).7. Eine umfassende Darstellung <strong>der</strong> Rolle des limbischen Systems bei <strong>der</strong>Auslçsung einer <strong>ps</strong>ychosomatischen Reaktion findet sich bei Schmidt undThews 1987, S. 379. Der Begriff <strong>der</strong> Schemata <strong>wird</strong> hier mit «fixen Programmen»umschrieben. Hoffmann und Hochapfel (1992) sprechen voneiner «stets reproduzierbaren Reaktionsform» (S. 202).8. 2. Korinther 4,79. Jaspers 1959, S. 630


756<strong>Glaube</strong>–Was ist das eigentlich?Ich bin ein gläubiger Mensch» – wie viel kann in diesem kurzenSatz enthalten sein! Für den einen bedeutet es den allgemeinen<strong>Glaube</strong>n an eine übersinnliche Welt, vielleicht ein kurzes Stoßgebetin <strong>der</strong> Not. Für einen an<strong>der</strong>n ist <strong>Glaube</strong> eng verbundenmit regelmäßiger Bibellese, Gebet und Gottesdienstbesuch. Der eineverbirgt seinen <strong>Glaube</strong>n in seinem Herzen wie einen wertvollenSchatz und redet kaum darüber, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e aber sieht einen Auftragdarin, seine Gotteserfahrung mçglichst vielen mitzuteilen. Der einezieht sich in mystische Versenkung zurück, während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e zusammenmit <strong>Glaube</strong>nsgenossen die Heilige Schrift detailliert studiertund analysisert, um sie besser zu verstehen.Schon im Jahre 1902 hat <strong>der</strong> amerikanische Philosoph und PsychologeWilliam James ein Buch mit dem Titel Die Vielgestaltigkeitreligiçser Erfahrung 1 verçffentlicht. Er beschrieb in faszinieren<strong>der</strong>Einfühlsamkeit und Beredsamkeit die Sehnsucht des Menschennach <strong>der</strong> «Wirklichkeit des Unsichtbaren» – die Erfahrung <strong>der</strong> Bekehrung,den Wert eines geheiligten Lebens («saintliness») und dasErleben <strong>der</strong> Mystiker. Aber er beobachtete auch den Einfluss <strong>der</strong>«kranken Seele» auf die religiçse Erfahrung: die Selbstunsicherenund die Pessimisten; die Melancholiker und die ständig Klagenden;die ¾ngstlichen und die ewig Zweifelnden.<strong>Glaube</strong> o<strong>der</strong> Religiosität – wo ist <strong>der</strong> Unterschied?Manche Leser werden sich fragen, warum ich nicht einfach von<strong>Glaube</strong> spreche, von Beziehung zu Gott o<strong>der</strong> gar von einer Bezie-


76hung zu Jesus Christus. Warum verwende ich einen so «schwammigen»Begriff ohne klare inhaltliche Aussagekraft?Gerade hier aber liegt das Problem <strong>der</strong> Begriffsverwirrung umdie «ekklesiogene», die «durch die Kirche verursachte» o<strong>der</strong> die«glaubensbedingte», ja gar die «von Gott verursachte» «Neurose»:Es <strong>wird</strong> mit vçllig unterschiedlichen <strong>Glaube</strong>nsbegriffen agiert. Woinnerseelische und zwischenmenschliche Ausdrucksformen <strong>der</strong>Beziehung zu Gott nicht unterschieden werden von den inhaltlichenAussagen <strong>der</strong> Bibel, da <strong>wird</strong> auch nicht mehr klar differenziertzwischen den innerseelischen Erlebnisweisen eines Menschenund seiner <strong>ps</strong>ychischen Problematik, die sich vielleicht in einerNeurose äußert.So bin ich mir wohl bewusst, dass ich mit «Religiosität» ein vielbreiteres Spektrum umschreibe, als es mancher gläubige Mensch fürsich in Anspruch nehmen würde. Es geht mir darum, ein Wort zubrauchen, das mçglichst viele Ausprägungen des <strong>Glaube</strong>ns umfasst.Doch was versteht man denn nun eigentlich unter Religiosität?Religiosität in <strong>der</strong> BibelSchon mit diesen wenigen Worten <strong>wird</strong> etwas von dem Spannungsfeldskizziert, das dem <strong>Glaube</strong>nsleben innewohnt – das Spannungsfeldzwischen Herzenshaltung und äußeren Gegebenheiten immenschlichen Miteinan<strong>der</strong>.ReligiositätDie ursprüngliche Bedeutung <strong>der</strong> Wurzel des lateinischen Wortes«religio» bedeutet tragen, halten, stützen. Religiosität bedeutetim weitesten Sinne den Ausdruck <strong>der</strong> Verbindung zwischenGott und Mensch, zwischen dem überweltlichen,transzendenten Heiligen und dem unvollkommenen, sündigenund leidenden Menschen. Ja, man kçnnte noch einen Schrittweitergehen: Religiosität ist <strong>der</strong> Versuch des Menschen, in Kontaktmit Gott zu kommen, sich diesen Gott günstig zu stimmen,unter seinem Schutz zu leben und diesem Gott zu dienen.Religiosität umfasst ein weites Feld von <strong>der</strong> Herzensüberzeugung(«Gläubig-Sein», «Wie<strong>der</strong>geburt», «Heiligung», «InChristus sein» etc.) bis hin zu umfangreichen, detailliert vorgeschriebenen,hierarchisch geord<strong>net</strong>en religiçsen Strukturen(beson<strong>der</strong>s in den großen Kirchen).Wichtig: Beide kçnnen sich ergänzen, aber auch unterschiedlicheInteressen vertreten.Es wäre ein Irrtum zu glauben, <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> «Religiosität» kommein <strong>der</strong> Bibel nicht vor. Vielmehr <strong>wird</strong> er an verschiedenen Stellen desNeuen Testaments verwendet, insbeson<strong>der</strong>e von Jakobus (Jakobusbrief1,26f.) und von Paulus (Apostelgeschichte 26,5).Dabei ist es interessant zu wissen, dass Jakobus beim Wortreligio (lateinisch; griechisch: thräskeia) nicht nur an die Einhaltungkultischer Bräuche gedacht hat. Er führte eine viel umfassen<strong>der</strong>eSicht ein. Dabei wendet er sich «gegen eine bestimmt Religiosität,die sich vom alltäglichen Leben und <strong>der</strong> in ihmgegebenen Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen gelçstund sich auf weltlose Innerlichkeit o<strong>der</strong> kultische Zeremonie zurückgezogenhat. Religion ist nun aber mit solcher Haltung keineswegsidentisch, son<strong>der</strong>n soll von ihr gerade freigehalten werden.Religion heißt also für Jakobus: in seinem Gesamtverhalten(also nicht nur im religiçsen Gefühl) von <strong>der</strong> Verantwortung vorGott bestimmt zu sein.» 2Vielen Christen ist es wichtig, einen Unterschied zwischen ihrem<strong>Glaube</strong>n und Religiosität zu machen. Christlicher <strong>Glaube</strong>, so sagensie, ist doch eine persçnliche Beziehung zu Gott, <strong>der</strong> uns durch Jesusangenommen hat. Ich kann dieses <strong>Glaube</strong>nsbekenntnis voll undganz teilen. Doch gehen wir einen Schritt weiter. Oftmals frage ich:«Woran erkennt man denn einen gläubigen Christen?» Und dannkommen verschiedene Antworten:«<strong>Wenn</strong> er an die Bibel glaubt!»«<strong>Wenn</strong> er aus seinem <strong>Glaube</strong>n heraus Gutes tut!»«<strong>Wenn</strong> er regelmäßig betet und einen Gottesdienst besucht!»Es zeigt sich also: Der <strong>Glaube</strong> ist eingebettet in ein Umfeld. Eswäre eine Illusion zu meinen, persçnlicher <strong>Glaube</strong> ließe sich loslçsenvon Persçnlichkeitsstil, von Gemeinschaftsformen, von <strong>Glaube</strong>nsinhaltenund von ethischen Richtlinien, die sich aus dem <strong>Glaube</strong>nergeben. Um diese Vielfalt besser zu umschreiben, redet man auchvon Religiosität.Eine hilfreiche Darstellung dieser Zusammenhänge findet sich in77


78einem Buch <strong>der</strong> beiden Harvard-Theologen Glock und Stark. 3 Siehaben fünf Dimensionen des <strong>Glaube</strong>ns herausgearbeitet, die in Tabelle6–1 dargestellt werden.<strong>Konflikt</strong>potenzialHalten Sie beim Lesen nun einen Moment inne und betrachten Siedie folgende Tabelle mit den verschiedenen <strong>Glaube</strong>ns-Dimensionen.Welche Elemente des <strong>Glaube</strong>ns kçnnen wohl für den neurotischenMenschen konflikthaft werden? Denken Sie zurück an die gemeinsamenEigenschaften neurotischer Menschen, an ihre Unsicherheit,ihre Hemmungen, ihre Kontaktstçrung, die Neigung zu Gefühlsverstimmungen,die vermin<strong>der</strong>te Leistungsfähigkeit. Welchen Einflusshaben sie auf den <strong>Glaube</strong>n?Tabelle 6–1: Fünf Dimensionen des <strong>Glaube</strong>ns (abgewandeltnach Glock und Stark 1963)1. GLAUBENSBASIS/GLAUBENSINHALT– Gott/Jesus/Heiliger Geist– Biblische Wahrheiten, speziell:– Opfertod Christi/Vergebung <strong>der</strong> Sünden– Hoffnung für Leben und Ewigkeit– Lebensrichtlinien/Ethik2. GLAUBENSERFAHRUNG– Unrast: Unzufriedenheit mit Gegenwart, Suche nach Sinn,Hunger nach Gott– Gefühl <strong>der</strong> Verbindung mit Gott, <strong>der</strong> Gegenwart von Jesus,des Wirkens des Heiligen Geistes– Vertrauen: Mein Leben ist in <strong>der</strong> Hand Gottes– Innerer Friede: Meine Schuld ist vergeben3. GLAUBENSWISSEN– Informiert über den <strong>Glaube</strong>n, Heilige Schrift– Apologetik (Verteidigung des <strong>Glaube</strong>ns)– Heilsgewissheit (<strong>zum</strong> Beispiel «Ich bin ein Gotteskind»)– Gewissheit <strong>der</strong> Vergebung <strong>der</strong> Sünden auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong>Aussagen <strong>der</strong> Bibel– Fähigkeit, zwischen Gefühl und Tatsache zu unterscheiden(Selbstwert, Schuld)4. FRÖMMIGKEITSSTIL– Kirchen- o<strong>der</strong> Gemeindezugehçrigkeit– Gottesdienstform (<strong>zum</strong> Beispiel Zeugnis geben, Selbstprüfungvor dem Abendmahl)– Gebet/Bibellese/Fasten (Häufigkeit, Inhalt, Bedeutung,qualitative Unterschiede)– Missionarische Aktivität5. GLAUBENSAUSWIRKUNGEN– Wie sehr lebt ein Mensch nach seinem <strong>Glaube</strong>nsbekenntnis?– Aktive NächstenliebeDie Unsicherheit kann sich darin äußern, dass ein Mensch ständigdaran zweifelt, ob seine Sünden wirklich vergeben sind – obwohl ermit dem Kopf eigentlich weiß, dass Christus die Schuld auf sichgenommen hat. Das Bestreben, nach den Richtlinien <strong>der</strong> Bibel zuleben, kann beim Zwanghaften dazu führen, sich selbst bei kleinstenRegelverstçßen Vorwürfe zu machen o<strong>der</strong> sich vor dem Abendmahleiner selbstquälerischen Gewissensprüfung zu unterziehen, die weithinaus geht über das, was eigentlich damit gemeint ist. Eine gehemmteFrau mag Schwierigkeiten mit dem Brauch in einer Gemeindehaben, çffentlich Zeugnis abzulegen. Patienten mit einervermin<strong>der</strong>ten Leistungsfähigkeit schämen sich oft, dass sie mit denAktivitäten <strong>der</strong> Gesunden in <strong>der</strong> Gemeinde nicht mithalten kçnnen,und fühlen sich von vielen Anlässen ausgeschlossen, die bis in dieNacht hinein dauern. Menschen mit Kontaktstçrungen wie<strong>der</strong>umhaben Probleme, sich in eine Gruppe einzugeben, weil die Offenheitund Nähe bei ihnen ¾ngste auslçst.<strong>Wenn</strong> diese Menschen dann auch noch erleben, dass man sienicht versteht und ihnen Vorhaltungen macht, dann ist <strong>der</strong> Wegnicht weit <strong>zum</strong> Eindruck, man werde durch den <strong>Glaube</strong>n o<strong>der</strong> durchdie Kirche eingeengt, bedrückt, ja sogar krank gemacht.79


80Positive Aspekte des <strong>Glaube</strong>nsWas ist denn aber nun <strong>der</strong> Wert des <strong>Glaube</strong>ns? Was gibt er demMenschen, <strong>der</strong> sich daran festhält und darin gehalten <strong>wird</strong>? Letztlichkann dies nur <strong>der</strong> erfassen, <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong>n auch in seiner eigenen Erfahrungkennt. Der Tübinger Theologe Hans Küng hat in einemeindrücklichen Plädoyer gegen die «Verdrängung <strong>der</strong> Religiosität in<strong>der</strong> Psychiatrie» einmal Folgendes geschrieben:«Wer aufgrund mangeln<strong>der</strong> Empfänglichkeit o<strong>der</strong> Erziehung keine Erfahrungmit Musik hat, <strong>wird</strong> die heilende o<strong>der</strong> anregende Kraft vonMusik nie richtig einschätzen kçnnen; er ist ärmer als an<strong>der</strong>e. Undman darf wohl auch sagen: Wer die Religion nicht kennengelernt hat(sei es aufgrund individualbiografischer Stçrungen, philosophischerPrämissen o<strong>der</strong> gesellschaftlicher Vorurteile), <strong>wird</strong> nie die großen spirituellenRessourcen kennen, die für das Wohl eines Patienten entscheidendsein kçnnen; er ist ärmer als an<strong>der</strong>e, die über Erfahrungen mitReligion im befreienden, heilenden Sinn verfügen.» 4Geistliche Kraftquellen – wie leicht werden sie durch das einseitigeReden von den problematischen Seiten <strong>der</strong> Frçmmigkeits-Ausübungvernachlässigt, verachtet, ja gar verschüttet! Es ist deshalb an<strong>der</strong> Zeit, einmal deutlich die positiven Seiten des <strong>Glaube</strong>nslebens zubetonen. Unzählige gläubige Menschen bezeugen, welche Hilfe ihnen<strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> im Alltag, aber insbeson<strong>der</strong>e auch in Krisen ist.Selbst Menschen, die in manchen Bereichen an Verzerrungen undEinengungen leiden, fühlen sich von Therapeuten und ¾rzten gründlichmissverstanden, wenn diese ihren <strong>Glaube</strong>n als Ganzes in Zweifelziehen o<strong>der</strong> für ihre Probleme verantwortlich machen. Deshalb ist esfür die Beratung des religiçsen Menschen, <strong>der</strong> an sich selbst und an<strong>der</strong>enleidet, enorm wichtig, dass <strong>der</strong> Therapeut o<strong>der</strong> Seelsorger in <strong>der</strong>Lage ist, mit ihm diejenigen Bereiche seines <strong>Glaube</strong>ns herauszuarbeiten,die ihm helfen, sein Leben besser zu bewältigen.Halt im <strong>Glaube</strong>nIch mçchte im Folgenden versuchen, den Wert des <strong>Glaube</strong>ns in zweiBereichen zu beschreiben:a) Der Wert des <strong>Glaube</strong>ns im allgemeinen Sinne,b) <strong>der</strong> Wert des <strong>Glaube</strong>ns beim Menschen, <strong>der</strong> durch <strong>ps</strong>ychischeKrisen geht.Die Frage nach dem Sinn ist für jeden Menschen irgendwann aktuell.Manche fangen schon früh an, sich darüber Gedanken zu machen;bei an<strong>der</strong>n drängt sie sich erst ins Bewusstsein, wenn <strong>der</strong> geruhsameGang <strong>der</strong> Dinge erschüttert <strong>wird</strong>, wenn sie durch Unbillund Leiden an ihre Grenzen kommen. «Wer bin ich? Woher kommeich? Wozu bin ich auf dieser Welt? Wohin gehe ich? Was geschiehtnach dem Tod?» Diese Fragen lassen sich mit den Argumenten diesseitigerAlltagsweisheit nie restlos beantworten. In <strong>der</strong> Not kann dieVernunft nicht trçsten. Und in Sinnfragen kann sie keine letzte Antwortgeben. Hier greift je<strong>der</strong> Mensch auf den <strong>Glaube</strong>n zurück, sei ernun einfach o<strong>der</strong> intellektuell, philosophisch o<strong>der</strong> religiçs. Für dengläubigen Christen sind <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> an die Aussagen <strong>der</strong> Bibel unddas Wissen um ein Gehaltenwerden durch Gott die Hoffnung, die<strong>zum</strong> «festen Anker [seiner] Seele» (Hebräer 6,19) <strong>wird</strong>.Der allgemeine Wert des <strong>Glaube</strong>ns:1. Persçnliche Sinngebung für das Leben2. Trost und Kraftquelle in den Wi<strong>der</strong>wärtigkeiten des Lebens3. Ethische Leitlinien4. Soziale UnterstützungDoch allein schon das biblische Bild vom Anker ist für manche zwiespältig.Denn Halt kann ein Anker nur geben, wenn er fest verbundenist mit dem Felsen. Pointiert gesagt: «Ohne Kette geht es nicht.»O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt: Halt ohne Verbindlichkeit ist nicht mçglich.Wer versucht, sich von jedem Halt, von je<strong>der</strong> Verbindlichkeit zulçsen, <strong>der</strong> mag «frei» sein – doch um welchen Preis?Der <strong>Glaube</strong> gibt auch Trost und Kraft in den Wi<strong>der</strong>wärtigkeitendes Lebens. Die Psalmen spiegeln etwas wi<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Kraft des<strong>Glaube</strong>ns in <strong>der</strong> Not. Diese Gebete «aus <strong>der</strong> Tiefe» fassen in Worte,was gläubige Menschen in allen Zeiten und Generationen immerwie<strong>der</strong> erleben. Die Probleme werden nicht einfach verdrängt; nein,81


82sie werden vor Gott gebracht – herausgeschrien mit <strong>der</strong> erstickendenStimme des Ertrinkenden, dem heiseren Krächzen des Verdurstenden,dem kaum hçrbaren Seufzen des Erschçpften. Verzweiflung,Angst und Wut untermalen die Schil<strong>der</strong>ungen von äußerem Unrechtund innerem Leiden, von hilflosem Ausgeliefertsein an übermächtigeBedrücker und zerknirschter Reue über begangene Sünden.Doch auf dem dunklen Hintergrund <strong>der</strong> Klage bricht immerwie<strong>der</strong> das Licht durch – dieses in Gott begründete «Dennoch», dasKraft gibt <strong>zum</strong> Wi<strong>der</strong>stand, <strong>zum</strong> Durchhalten, <strong>zum</strong> Aufblick auf dengnädigen und vergebenden Gott, auf den Trçster, <strong>der</strong> einst Weinenin Lachen verwandeln <strong>wird</strong>.Ethik und soziale AktionDer <strong>Glaube</strong> bleibt nicht nur stehen in persçnlichem Zuspruch. Wahrer<strong>Glaube</strong> wirkt sich auch aus auf die Gestaltung des Lebens unddes Zusammenlebens. Der Mensch kann ohne Leitlinien nicht leben,so wie eine Straße ohne Markierungen und Leitplanken zur Todesfalle<strong>wird</strong>. Die Zehn Gebote gaben die ersten ethischen Leitlinien,Grundregeln, die Beziehungen erst sicher und geord<strong>net</strong> machen,Grundregeln, die dazu verhelfen, dass die Freiheit des Einzelnenauch die Grenzen des an<strong>der</strong>n respektiert. Jesus hat diese Gebote aufgenommenund vollumfänglich unterstützt. Aber er hat sie auchbefreit vom menschlichen Beiwerk <strong>der</strong> Pharisäer, von unnçtigen Belastungenheuchlerischer Privilegienhüter. In ihm erçff<strong>net</strong>e sich eineneue Dimension, die sich schon im Alten Testament abzuzeichnenbegann: Seine Gnade und Vergebung überwindet eine menschenverachtendeGesetzlichkeit. Aber gleichzeitig gibt er auch Kraft, denAusgleich zwischen Freiheit und Verantwortung zu finden, ohneden menschliche Gemeinschaft nicht mçglich ist.Und damit sind wir beim vierten wesentlichen Wert des christlichen<strong>Glaube</strong>ns angelangt: die gegenseitige Unterstützung durch dieGemeinschaft mit an<strong>der</strong>en Christen. Christliche Gemeinschaft isttherapeutisch. Mehr noch: Sie wirkt vorbeugend gegen die so oftbeklagte Vereinsamung des mo<strong>der</strong>nen Menschen. Wer nicht aus eigenerErfahrung etwas von <strong>der</strong> tragenden und formenden Kraft verbindlicherBeziehungen mit an<strong>der</strong>en Christen kennt, kann wohl nieermessen, welche Kraftquelle darin liegt. In christlichen Zweier-schaften, Hauskreisen, Jugendgruppen und Gottesdiensten erlebt<strong>der</strong> gläubige Mensch Zugehçrigkeit und Annahme, gegenseitige Ermutigungund Trost 5 , Ablenkung von den eigenen Sorgen und eineneue Ausrichtung auf den gemeinsamen <strong>Glaube</strong>n an Gott. Lie<strong>der</strong>und Gebete, Abendmahl und Segenserteilung kçnnen eine ganzneue Erfahrungsdimension in seinen Alltag bringen. Doch er kanndort auch etwas an<strong>der</strong>es erfahren, das nicht min<strong>der</strong> wertvoll, wennauch manchmal schmerzlich ist: Zurechtweisung und Ermahnung,Sich-Einfügen in die Gemeinschaft unter Aufgabe überhçhterSelbstwertgefühle und Anspruchshaltungen. Hier ist die Mçglichkeit,«Gemeinschaftsgefühl» 6 zu lernen, nämlich «den an<strong>der</strong>n in Bescheidenheithçher zu achten als sich selbst, und nicht nur auf dasSeine zu achten, son<strong>der</strong>n auch auf das, was des an<strong>der</strong>n ist.» 7 Sowächst aus <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Christen auch soziale Aktion,praktische Hilfe für Menschen, die es nicht so gut haben.<strong>Glaube</strong>nshilfe in <strong>ps</strong>ychischen Krisen«Das mag schçn und gut sein für die Gesunden», mçgen einige denken,«doch was bringt Religiosität denen, die trotz ihres <strong>Glaube</strong>nskrank und <strong>ps</strong>ychisch angeschlagen sind; denen, die leiden an ihremUnvermçgen, ihrer Kraftlosigkeit, ihrer Depression, ihrer Angst?Müssen sie sich nicht von Gott verlassen fühlen?»Die ärztlichen Gespräche mit seelisch Leidenden haben mir einan<strong>der</strong>es Bild gezeigt, ein vielgestaltiges Bild, wie es von Erich Schickin seinem Seelsorge-Klassiker Der Christ im Leiden 8 tiefschürfenddargestellt wurde. Das Leiden, so Schick, sei «eine steile Brückeüber schwindelnden Abgrund, über den Abgrund <strong>der</strong> Schuld, <strong>der</strong>Zerstçrung, <strong>der</strong> Verzweiflung.» Aber: «Die Brücke des Leidens istzugleich die Brücke <strong>der</strong> Sehnsucht und die Brücke <strong>der</strong> Verheißung.»9So kann sich gerade im Leiden <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> auch als beson<strong>der</strong>eKraft erweisen, die ich im Folgenden kurz skizzieren mçchte:Ich erinnere mich noch gut an jene Frau, die nach dem plçtzlichenTod ihrer Tochter eine schwere Depression entwickelte. Sie berichtetemir: «Nach dem Unfall meiner Tochter konnte ich wochenlangnicht richtig beten. Ich habe gelebt von dem, was ich von <strong>der</strong>Bibel auswendig konnte. Ich habe erst jetzt gemerkt, wie wichtig es83


84ist, Psalmen und Bibelverse auswendig zu lernen. Als ich nicht betenkonnte, da habe ich das im Kopf bewegt, was ich auswendig gelernthatte, und das hat mich begleitet. Ich hatte eine tiefe innere Leere,und doch konnte ich sagen: Herr, du bist da, ich vertraue dir. Auchwenn es mir schlecht geht, auch wenn ich oft weinen muss: Ich vertrauedir …» So wurde für sie <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> zur Quelle <strong>der</strong> Kraft trotzVerzagtheit, Zweifel, Kraftlosigkeit. Bibelstellen und Lie<strong>der</strong>versesind dann wie Vorräte, die auch in <strong>der</strong> Wüste durchtragen. Selbstwenn von außen nichts mehr an den Menschen heranzukommenscheint, so <strong>wird</strong> doch eine innere Quelle geçff<strong>net</strong>, die selbst alskaum wahrnehmbares Rinnsal noch am Leben hält.<strong>Glaube</strong>nshilfe in <strong>ps</strong>ychischer Krankheit:1. <strong>Glaube</strong> als Quelle <strong>der</strong> Kraft in <strong>der</strong> seelischen Not2. <strong>Glaube</strong> als Schutz vor Verzweiflung und Suizid3. <strong>Glaube</strong>nsvertiefung durch das LeidenUnd hier <strong>wird</strong> <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> für viele <strong>zum</strong> Schutz vor dem letztenSchritt <strong>der</strong> Verzweiflung, dem Suizid. <strong>Wenn</strong> die Bindung an dasLeben immer brüchiger <strong>wird</strong>, wenn immer weniger Fäden sichspannen <strong>zum</strong> Ufer des Diesseits, dann kann <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> noch dieletzte Hoffnung wi<strong>der</strong> die drängende Hoffnungslosigkeit sein.Manchmal spielt auch die Angst vor Strafe und ewiger Verlorenheitmit und hält quasi als ethische Leitplanke den Sturz in die Tiefe auf,obwohl alle an<strong>der</strong>en Verankerungen sich gelçst haben. Als Seelsorgerist man in einem Dilemma: We<strong>der</strong> steht es uns zu, zu richten überdiejenigen, <strong>der</strong>en Kraft nicht mehr ausreichte, in dem für sie unerträglichgewordenen Leben zu bleiben, noch wollen wir diesen letztenHalt <strong>der</strong> Angst unterminieren, <strong>der</strong> einen Menschen vor demAbgrund bewahrt. So erlebe ich es als Arzt immer wie<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>sschçn, wenn <strong>der</strong> Todeswunsch sich wandelt zur Ewigkeits-Sehnsuchtohne suizidale Eigenhandlung; zur Ewigkeits-Sehnsucht, dieden Spannungsbogen des Leidens noch so lange aushält, bis Gottselbst eingreift und Erlçsung schenkt.Nicht selten erleben Menschen gerade in einer seelischen Kriseeine Vertiefung ihres <strong>Glaube</strong>ns, in einem Maße, wie dies ohne einsolches Erlebnis nie mçglich gewesen wäre. Die äußere Hoffnungs-losigkeit, <strong>der</strong> Verlust von Selbstsicherheit und Schaffenskraft, <strong>der</strong>schale Geschmack oberflächlicher Zerstreuung führt sie in die Tiefeund in eine vermehrte Abhängigkeit von Gott. Sie entwickeln einereifere Haltung gegenüber dem Leiden. Sie lernen durchzuhalten –auch in Belastungen und Spannungen. Worte des Trostes, über diesie in guten Zeiten so leicht hinweggelesen hatten, entfalten erst jetztihre tiefe Bedeutung für das persçnliche Erleben: Sie signalisierenGehaltenwerden inmitten <strong>der</strong> Bodenlosigkeit, Licht im undurchdringlichenSmog, erfrischenden Regen im ausgedçrrten Wüsten-Wadi. Mehr noch: Eigenes Leiden führt zu einer reiferen Haltunggegenüber an<strong>der</strong>en Leidenden. Manch einer, <strong>der</strong> früher hart war inseinem Urteil über diejenigen, die nicht so leistungsfähig waren, gewannim eigenen Leiden ein tiefes Einfühlungsvermçgen für an<strong>der</strong>e,eine neue Barmherzigkeit für die Schwachen.Warum kann <strong>Glaube</strong> notvoll werden?Ich komme mir vor wie einer, <strong>der</strong> versucht, mit stammelnden Worteneinen unermesslichen Schatz zu beschreiben, mit einer vergilbtenSchwarz-Weiß-Fotografie etwas von <strong>der</strong> farbenprächtigenSchçnheit eines Naturwun<strong>der</strong>s wie<strong>der</strong>zugeben, wie einer, <strong>der</strong> versucht,mit dürren Worten die erhabene Klangfülle einer Symphonieeinzufangen.Wie ist es nur mçglich, dass <strong>der</strong> Reichtum des <strong>Glaube</strong>ns auch<strong>der</strong>art schmerzliche Seiten in sich bergen kann, wie sie in diesemBuch geschil<strong>der</strong>t werden? Warum kann die Kraft und Schçnheitdes <strong>Glaube</strong>ns nicht alle Nçte und Schwächen des Menschen überstrahlen?Warum kann das, was dem einen Kraft und Hoffnung gibt,beim an<strong>der</strong>n zur Belastung und zur Enge werden? Die Analogie mit<strong>der</strong> Musik mag etwas von diesem Spannungsfeld illustrieren:Je<strong>der</strong> von uns kennt in irgendeiner Form die heitere Gelassenheiteiner frçhlichen Melodie, die begeisternde Inspiration mitreißen<strong>der</strong>Rhythmen, die heilende und trçstende Kraft eines Liedes o<strong>der</strong> dieehrfurchtgebietende Feierlichkeit eines Oratoriums. Fast mçchteman sagen: «Wohl dem, <strong>der</strong> die Musik in seinem Leben kennt undliebt.»Und doch kenne ich von meinen Patienten auch <strong>der</strong>en Nçte mit<strong>der</strong> Musik: schmerzliche Erinnerungen an die krampfhaften Ver-85


86suche, ein Instrument zu lernen; ohnmächtig-wütendes Leiden aneiner ehrgeizigen Mutter, die die Tochter zur Klaviervirtuosin erziehenwollte; verzweifelte Selbstabwertung, weil man in <strong>der</strong> Depressionnicht mehr in <strong>der</strong> Lage ist, seine Gefühle in <strong>der</strong> Musik auszudrückenund sich in den Klängen eines Instruments zu verlieren.<strong>Wenn</strong> im Folgenden nun von «krankmachen<strong>der</strong>» Frçmmigkeitund neurotischem Leiden am <strong>Glaube</strong>n die Rede sein <strong>wird</strong>, so sollund kann <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> in keiner Weise abgewertet werden. Vielmehrsoll <strong>der</strong> Leser ein besseres Verständnis bekommen für die enge Verwobenheitdes <strong>Glaube</strong>ns mit dem Erleben eines Menschen im gutenwie im problematischen Sinne. Wir wollen versuchen zu unterscheidenzwischen dem <strong>Glaube</strong>nsinhalt und dem <strong>Glaube</strong>nsstil, dem Sinngehaltdes Wortes und <strong>der</strong> Frçmmigkeit des Menschen, <strong>der</strong> Freiheitdes Einzelnen in Christus und <strong>der</strong> Eingebundenheit in eine Gemeinschaftvon an<strong>der</strong>en Menschen. Eines <strong>wird</strong> deutlich werden, wasschon Paulus in die ewiggültigen Worte gefasst hat: «Wir habenaber diesen Schatz [des <strong>Glaube</strong>ns] in irdenen [zerbrechlichen undunvollkommenen] Gefäßen, damit die überschwängliche Kraft vonGott sei und nicht von uns.» 10Anmerkungen zu Kapitel 61. James 1902/19822. Burkhardt 1990, S. 16f.3. Glock und Stark 19634. Küng 19875. Eine wertvolle Anleitung findet sich in dem lesenswerten Buch von Crabbund Allen<strong>der</strong>: Dem an<strong>der</strong>n Mut machen.6. nach Alfred Adler7. vgl. Philipper 2,1–68. Schick 19829. Schick, S. 33f.10. 2. Korinther 4,77 Frçmmigkeitund NeuroseDie kleine Natalie mit ihren blonden Locken und den großenblauen Augen ist ein gewissenhaftes und sensiblesKind, ein gutes Mütterchen für ihre Puppen. Und jedenAbend bereitet die 8-jährige Schülerin ihre Schultaschefür den nächsten Tag vor, um am Morgen bereit zu sein für dieSchule. Als sie einmal ein Heft vergessen hatte, war ihr das furchtbarunangenehm, obwohl die Lehrerin sie ganz freundlich ermahnt hatte.<strong>Wenn</strong> die Mutter sie einmal zurechtweisen muss, denkt sie nochtagelang darüber nach und versichert sich immer wie<strong>der</strong>: «Gelt, Mami,du hast mich noch lieb?»Als kleines Kind hatte sie oft unter übermäßiger Angst gelitten;auch jetzt noch hat sie Mühe, abends einzuschlafen. Ihre beidenjüngeren Schwestern sind da ganz an<strong>der</strong>s. Sie sind robuster unddurchsetzungsfähiger, eher dem ruhigen, starken Vater ähnlich. Nataliehingegen gleicht ihrer Mutter, einer sensiblen, musisch hochbegabtenKin<strong>der</strong>gärtnerin. Natalie hat das Vorrecht, in einer Familieaufzuwachsen, in <strong>der</strong> sie viel Liebe und Geborgenheit erhält. IhreEltern sind offene und gebildete Menschen, überzeugte Christen,die mit beiden Beinen in <strong>der</strong> Welt stehen.Während einiger Wochen fiel den Eltern auf, dass Natalie seltsambedrückt, nachdenklich und ängstlicher war. Sie war noch gewissenhafterals sonst, räumte ihr Zimmer makellos auf und gehorchte infast unheimlicher Beflissenheit. Schließlich fragte die Mutter einmalnach dem, was sie beschäftigte. «Mami, ich habe so Angst, dass ichnicht mitgehen kann, wenn Jesus wie<strong>der</strong>kommt! Unser Sonntagsschullehrerhat gesagt, dass wir nur dann bereit sind, wenn wir Jesusum Vergebung für jede Sünde gebeten haben. Und sonst sind wir87


88nicht dabei! Und wenn du einmal sagst, ich solle den Tisch abräumen,und ich gehorche nicht gleich, dann ist das schon wie<strong>der</strong> eineSünde!»Die Eltern redeten schließlich mit dem Sonntagsschullehrer un<strong>der</strong>klärten ihm, welchen Einfluss seine Darstellung <strong>der</strong> Dinge auf Nataliegehabt habe. Und sie versuchten, auch Natalie deutlich zu machen,dass nicht die sklavische Einhaltung aller Gebote zu je<strong>der</strong> Zeitdarüber entscheidet, ob man einmal bei Jesus sei, son<strong>der</strong>n dieGrundhaltung des Herzens.Fall-AnalyseBetrachtet man nur die Episode <strong>der</strong> Sonntagsschulgeschichte, sowäre man versucht, in <strong>der</strong> Tat alle Probleme <strong>der</strong> kleinen Natalie aufdie religiçse Erziehung und eine verzerrte, übergesetzliche Darstellungvon Evangeliumsinhalten in <strong>der</strong> Sonntagsschule zurückzuführen.Man ist versucht zu sagen: Für dieses Kind wurde Frçmmigkeit<strong>zum</strong> Alptraum, <strong>zum</strong> bedrückenden, ja <strong>zum</strong> krankmachenden Ballast.Man fühlt sich unwillkürlich an die «Gebete vor Morgengrauen»in Tilmann Mosers Buch Gottesvergiftung erinnert, <strong>der</strong> in erschüttern<strong>der</strong>Intensität seine Not mit dem Gottesbild seiner Kindheit herausschreit.1An<strong>der</strong>e vermuten die Schuld bei den Eltern: Welche unterschwelligenBotschaften <strong>der</strong> Ablehnung muss dieses Kind erhalten haben,welche Traumata muss es erlebt haben, dass es <strong>der</strong>art unter Verlassenheitsängstenund Autoritäts-Unterwürfigkeit leidet! Doch ichkenne die Eltern persçnlich und weiß, dass sie in überdurchschnittlicherEinfühlung mit ihren Kin<strong>der</strong>n umgehen.We<strong>der</strong> ein «neurotisieren<strong>der</strong>» Einfluss <strong>der</strong> Eltern noch die Tatsache,dass das Kind einen Bezug <strong>zum</strong> <strong>Glaube</strong>n hat, reichen aus, um zuerklären, warum Natalie mit so starker Angst auf die Sonntagsschulgeschichtevon <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>kunft Jesu reagierte. Denn an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong>in <strong>der</strong> gleichen Sonntagsschule nahmen die Sache nicht so ernst,obwohl sie sicher auch dabei sein wollten, wenn Jesus wie<strong>der</strong>käme.Bei Natalie jedoch fiel die Botschaft auf den Boden einer übersensiblen,ängstlichen und übergewissenhaften Grundpersçnlichkeit. Dieuntenstehende Tabelle 7–1 soll darstellen, welche Faktoren im Lebenvon Natalie belastend und welche hilfreich sein kçnnen.Wie würde sich wohl ein sensibles Kind entwickeln, das keinenBezug <strong>zum</strong> <strong>Glaube</strong>n hätte? Wäre es lebenstüchtiger, weniger «neurotisch»,unbeschwerter? Nicht sicher. Oft leiden gerade sensibleMenschen an <strong>der</strong> Frage nach dem Sinn, nach den Ursachen ihrerübermäßigen Sensibilität und daran, dass die Umwelt sie nicht verstehtin ihrer Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Auch ohne<strong>Glaube</strong>n kann es zu Schuldgefühlen und ¾ngsten kommen, die danndurch Berichte über hungernde Kin<strong>der</strong> und drohende Kriege inähnlicher Weise Nahrung erhalten wie durch biblische Geschichten.Mehr noch: Für Menschen ohne <strong>Glaube</strong>n gibt es keinen Halt ineinem Gott, <strong>der</strong> die Hand über ihnen hält, zu dem sie beten kçnnenund dem sie auch in Wi<strong>der</strong>wärtigkeiten vertrauen dürfen.Tabelle 7–1: Hilfreiche und belastende Faktoren im Leben von NatalieGrundpersçnlichkeitAlltag<strong>Glaube</strong>HilfreichFeinfühlig, musisch, tiefe persçnlicheBeziehungen, Treue.Stabile und liebevolle Familie,verständnisvolle Lehrerin, guteSchulfreundin.BelastendÜbergewissenhaft, perfektionistisch,Neigung zu ¾ngsten undSchuldgefühlen.Erkennen von eigener Unvollkommenheit(Sünde), übermäßigesLeiden an Versagen und Ablehnung.Halt im Wissen, von Jesus geliebt Betonung einer gesetzlichen Lehreund geschützt zu sein. Entspannte von Vollkommenheit in <strong>der</strong>Haltung <strong>der</strong> Eltern in <strong>Glaube</strong>nsfragen.Angst, bei <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>kunft JesuSonntagsschule. Fçr<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>zurückgelassen zu werden.Frçmmigkeit – ein erstrebenswertes Gut?Frçmmigkeit ist in <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft «out». Selbst in christlichenKreisen hat man Mühe mit dem Begriff, <strong>der</strong> allzu oft verbundenist mit Enge und Gesetzlichkeit. Umso wichtiger erscheint esdaher, den Begriff an seine Wurzeln zu verfolgen. Was bedeutet es,wenn Paulus dem Timotheus ans Herz legt: «Aber du,Gottesmensch … Jage aber nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit, <strong>der</strong> Frçmmigkeit,dem <strong>Glaube</strong>n, <strong>der</strong> Liebe, <strong>der</strong> Geduld, <strong>der</strong> Sanftmut!» 2 Ein Blickin die ursprüngliche Bedeutung im Griechischen zeigt uns einen89


90ganz neuen Gehalt. Das griechische eusebeia, das bei Luther mit«Frçmmigkeit» wie<strong>der</strong>gegeben <strong>wird</strong>, bedeutet eigentlich «vor jemando<strong>der</strong> etwas zurücktreten» und enthält Elemente <strong>der</strong> Ehrfurchtund des Staunens. In <strong>der</strong> griechischen Kultur bedeutete Frçmmigkeitganz allgemein, dass die Erhabenheit von Dingen, Menscheno<strong>der</strong> Gçttern «heilige Scheu, Staunen o<strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung hervorruft.Die religiçse Verehrung kann sich dementsprechend auf sehrverschiedene Objekte richten: das Vaterland, eine Landschaft, Träume,die Eltern, Verstorbene, Heroen … Verehrungswürdig sind fürdie Griechen vor allem die Glie<strong>der</strong> <strong>der</strong> eigenen Familie einschließlich<strong>der</strong> Vorfahren, die Gçtter und die von diesen garantierten Ordnungen.Im religiçsen Sprachgebrauch ist <strong>der</strong> Übergang von Achtung,Ehrung zur kultischen Verehrung fließend.» 3In den Briefen des Apostels Paulus erhält das Wort Frçmmigkeiteine neue Bedeutung. Sie <strong>wird</strong> <strong>zum</strong> Ausdruck <strong>der</strong> NachfolgeChristi und macht den persçnlichen <strong>Glaube</strong>n in den Werkensichtbar, ohne dass damit eine einseitige Werksgerechtigkeit gemeintist. Auch in <strong>der</strong> deutschen Sprache hatte das Wort «fromm»eine Bedeutung, die weit über bloße religiçse Pflichterfüllunghinaus ging. Ein frommer Mensch war einer, <strong>der</strong> rechtschaffenund tüchtig war, dem es nicht nur um sich selbst, son<strong>der</strong>n auchum die Anliegen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n und die Fçr<strong>der</strong>ung des Gemeinwohlsging. Erst die Verwendung des Wortes in <strong>der</strong> deutschen BibelübersetzungLuthers («Ei, du frommer und getreuer Knecht») gab demWort den heute fast altertümlichen Beigeschmack eines gottergebenen,den Belangen dieser Welt entfremdeten Lebens. Das Auseinan<strong>der</strong>klaffenvon äußerer und innerer Haltung, von weltfrem<strong>der</strong>religiçser Abgehobenheit und mangeln<strong>der</strong> Einfühlung in dieMitmenschen brachte dann im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t den Begriff des«Frçmmelns» hervor. Erst die Entwicklung <strong>der</strong> Sprache hat alsodie «Frçmmigkeit» ins religiçse Getto verbannt.So hat nun Frçmmigkeit zwei Bedeutungen, nämlich …a) im engeren Sinne die Ausübung religiçser Pflichten und Formen;b) im weiteren Sinne eine Grundeinstellung dem Leben gegenüber.Frçmmigkeit im engeren Sinne beschreibt die Ausdrucksformendes <strong>Glaube</strong>ns: Wie oft und in welcher Form man etwa betet (lauto<strong>der</strong> leise, für sich allein o<strong>der</strong> in einer Gruppe, freies Gebet o<strong>der</strong>Lesen vorformulierter Gebete, verständliches Gebet o<strong>der</strong> Zungenreden);wie man die Bibel liest und Stille Zeit macht; ob undwie man Gemeinschaft mit an<strong>der</strong>en Christen pflegt; ob und inwelcher Form man das Abendmahl einnimmt; ob und wie manin Kleidung und Haartracht seinen <strong>Glaube</strong>n <strong>zum</strong> Ausdruckbringt; welche Rituale (o<strong>der</strong> Sakramente) man als wichtig fürdie Ausübung des <strong>Glaube</strong>ns betrachtet (<strong>zum</strong> Beispiel Kin<strong>der</strong>o<strong>der</strong>Erwachsenentaufe, Konfirmation o<strong>der</strong> Firmung, kirchlicheTrauung etc.); welche Feste man feiert und welche Bedeutungman ihnen <strong>zum</strong>isst. Schließlich <strong>wird</strong> die Frçmmigkeit auch geprägtdurch die Kirche o<strong>der</strong> Gemeinschaft, <strong>der</strong> man sich zugehçrigfühlt, inhaltlich vorgegeben durch <strong>der</strong>en Autoritätspersonen(Pfarrer, Prediger, Evangelisten o<strong>der</strong> auf katholischer SeitePriester, Bischçfe und Pa<strong>ps</strong>t).Frçmmigkeit ohne <strong>Glaube</strong>?Im weiteren Sinne aber geht es doch um eine Grundhaltung <strong>der</strong>Ehrfurcht vor dem Leben, dem Anliegen um gute Beziehungenmit den Mitmenschen, <strong>der</strong> Bereitschaft persçnlichen Nachgebens,wenn es dem Frieden dient. Es geht um Loyalität gegenüber <strong>der</strong>Familie und Dankbarkeit gegenüber denen, die einem Gutes gegebenhaben, um Solidarität mit Schwächeren und mit Randgruppen.Menschen mit dieser Grundhaltung sind offen gegenübersozialen Nçten, geben für Hungrige, Obdachlose und Leidende.Sie betrachten ihr Wohlergehen nicht als selbstverständlich, son<strong>der</strong>nals ein Vorrecht, das sie im Grunde nicht selbst erarbeitethaben. Im mo<strong>der</strong>nen Jargon würde man vielleicht von einemsozial engagierten, umweltbewussten und friedens-bewegten Lebensstilsprechen. Die Biografie <strong>der</strong> von ihrem Lebenspartnererschossenen Politikerin Petra Kelly gibt eindrückliches Zeugnisvon solch grüner Frçmmigkeit. 4 Beim Christen entspringt nunaber diese Haltung nicht nur einem allgemeinen Verpflichtungsgefühlgegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft, son<strong>der</strong>n letztlich dem Wunsch,nach dem Willen Gottes zu leben.Diese allgemeine Bedeutung <strong>der</strong> Frçmmigkeit findet sich nichtnur bei religiçsen Menschen, son<strong>der</strong>n auch bei vielen hochanständigen,feinfühligen und sozial empfindenden Menschen ohne einen91


92ausgeprägten christlichen <strong>Glaube</strong>n. Die meisten kçnnen die obengeschil<strong>der</strong>ten Ideale gut ins Leben integrieren und behalten dabeigleichzeitig ein gesundes Empfinden für ihre eigenen Bedürfnisseund Grenzen.Beson<strong>der</strong>s ausgeprägt <strong>wird</strong> die Beschäftigung mit diesen Tugendenaber bei denjenigen, die übermäßig sensibel sind und unter vermehrten¾ngsten und Depressionen leiden. Sie nehmen moralischeund ethische Verpflichtungen ernster als an<strong>der</strong>e, obwohl sie gleichzeitigwie<strong>der</strong> darunter leiden, sich dadurch unter Druck zu setzen.Hier ist nach meiner Beobachtung ein wesentlicher Kern des <strong>Konflikt</strong>eszwischen Neurose und Religiosität. Während Frçmmigkeitnämlich nur die persçnliche Ausgestaltung des <strong>Glaube</strong>nslebens bedeutet,stellt die Bibel und die Kirche als Ganzes auch allgemeineRegeln und Anfor<strong>der</strong>ungen auf, die <strong>zum</strong> Teil auslegungsbedürftigsind und nicht für jeden im gleichen Maße gelten. Hier entstehen<strong>Konflikt</strong>e.So wollen wir uns im Folgenden fragen: In welcher Weise beeinflussteine sensible, neurotische Grundpersçnlichkeit das Auslebendes <strong>Glaube</strong>ns, und umgekehrt: Welchen Einfluss hat die christlicheReligion auf die Erlebnisweise eines sensiblen Menschen?Der neurotische <strong>Konflikt</strong>im Spannungsfeld von Ideal und RealitätBevor wir uns den mçglichen Ursachen religiçs-neurotischer <strong>Konflikt</strong>eim Einzelnen zuwenden, mçchte ich versuchen, mit einerÜbersichtsdarstellung die Spannungsfel<strong>der</strong> abzustecken, in denensich je<strong>der</strong> Mensch, ob er nun gläubig ist o<strong>der</strong> nicht, bewegt (Abbildung7–1). Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem äußeren Rahmenund dem inneren Erleben.1. Der ¾USSERE RAHMEN ist geprägt von zwei wichtigenElementen:a) Kultur bzw. Subkultur 5 : Mit diesen Begriffen <strong>wird</strong> das allgemeineUmfeld beschrieben, in dem ein Mensch lebt und vondem er seine Regeln und Grenzen herleitet. So bestimmt dieGesellschaft weitgehend die Gesetze, aber sie prägt auch unge-schriebene Regeln <strong>der</strong> Mode, des Anstandes o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ordnung,um nur einige Beispiele zu nennen. Je<strong>der</strong> Mensch lebt aber zusätzlichauch in einer Subkultur mit ihren eigenen Regeln, abhängigvon Alter und Beruf, beson<strong>der</strong>en Interessen und Überzeugunge<strong>net</strong>c. So ist auch eine christliche Gruppe o<strong>der</strong> Kirche eineSubkultur, die eigene Regeln hervorbringt (von <strong>der</strong> inneren Haltungbeim Gottesdienst bis hin zu ¾ußerlichkeiten, wie <strong>zum</strong> Beispiel«ein Christ raucht nicht»).b) Die Realität <strong>der</strong> persçnlichen Lebenssituation, des Beziehungs<strong>net</strong>zesund <strong>der</strong> persçnlichen Konstitution.2. Das INNERE ERLEBEN <strong>wird</strong> ebenfalls geprägt von zweiFaktoren:a) Die Ideale eines Menschen: Je<strong>der</strong> von uns hat Vorstellungendarüber, wie er selbst und seine Welt sein sollten. Manche Idealewerden uns von außen gegeben, ohne dass wir sie immer als bindendbetrachten («Man geht nur bei Grün über die Straße», «BeimGottesdienstbesuch trägt man eine Krawatte»), an<strong>der</strong>e haben wirverinnerlicht, weil wir selbst fest davon überzeugt sind (<strong>zum</strong> Beispiel«Man sollte mçglichst umweltgerecht leben», «Man sollte dieGedanken mçglichst auf das Gute und Reine ausrichten»). Idealekçnnen ganz unterschiedlich sein – politisch, çkologisch, persçnlich(Gesundheit, Erfolg, Glück), ästhetisch (Schçnheitsempfinden),sozial (Familienehre, Treue, Loyalität, Gerechtigkeit) o<strong>der</strong>eben religiçs.b) Unsere Bedürfnisse, Gefühle und Triebe: Je<strong>der</strong> Mensch hat dasBedürfnis, geliebt und anerkannt zu werden und in Sicherheit zuleben. Er hat Gefühle <strong>der</strong> Liebe und <strong>der</strong> Zuneigung, aber auch <strong>der</strong>Angst, <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>geschlagenheit, <strong>der</strong> Abneigung und des Zorns.Und je<strong>der</strong> Mensch hat Triebe: Hunger und Durst, Aggression undSelbstverteidigung, Sexualität. Hunger und Durst kann man inunserer Gesellschaft problemlos stillen, doch die sexuelle Triebproblematikist nach den Regeln unserer Kultur eingebettet inein komplexes soziales Muster von Beziehungen, Normen undWerten.93


94Wie wir gesehen haben, leidet <strong>der</strong> «vulnerable», «verwundbare» o<strong>der</strong>«sensible» Mensch an den vielschichtigen Anfor<strong>der</strong>ungen und Spannungsfel<strong>der</strong>n,denen er sich ausgesetzt sieht. Kleinste Belastungen,die dem Gesunden keine Probleme bereiten, kçnnen ihn in seinerUnsicherheit und <strong>Konflikt</strong>haftigkeit in tiefe Nçte stürzen. Aus dieserPerspektive ist auch das Spannungsfeld zwischen Neurose und Religiositätzu sehen.schenmenschlicher Beziehungen zu finden. Denn was ich für michpersçnlich als richtig betrachte, kann von an<strong>der</strong>n als weniger erstrebenswert(«nicht mein Stil»), als verwerflich o<strong>der</strong> schlichtweg als«unchristlich» betrachtet werden.95Häufiges Spannungsfeld:Erfüllung persçnlicher BedürfnissecontraAufrechterhaltung zwischenmenschlicher BeziehungenAbbildung 7–1: Spannungsfel<strong>der</strong> zwischen innerem Erleben und äußeremRahmen (Erläuterung im Text)Leben mit Spannungsfel<strong>der</strong>nJe<strong>der</strong> Mensch muss mit den oben skizzierten Spannungsfel<strong>der</strong>n leben.Und er muss lernen, die Spannungen kreativ zu überbrücken,Kompromisse zwischen Ideal und Realität, Bedürfnissen und Grenzenzu finden, und mit unerfüllten Wünschen dennoch einen Sinnfür sein Dasein zu schaffen.Dies ist ein andauern<strong>der</strong> Lernprozess, <strong>der</strong> nicht mit <strong>der</strong> frühenKindheit abgeschlossen ist, ein Lernvorgang allerdings, <strong>der</strong> geradeden sensiblen Menschen viel Kraft kosten kann. Denn oftmals giltes, sich selbst und seine Ideale in Frage zu stellen und mit Unvollkommenheitenzu leben. Mehr noch: Es gilt einen Weg zwischen <strong>der</strong>Erfüllung persçnlicher Bedürfnisse und <strong>der</strong> Aufrechterhaltung zwi-Dies <strong>wird</strong> insbeson<strong>der</strong>e im Festlegen von Idealen deutlich. Da kannman auch ohne religiçse Werte enormen Druck ausüben und Menschenin einen <strong>Konflikt</strong> stürzen. Lehrer, Sozialarbeiter, ¾rzte undErwachsenenbildner müssen immer wie<strong>der</strong> zu ethischen FragenStellung nehmen und sagen, was richtig und was falsch ist. Nichtimmer reicht <strong>der</strong> Hinweis, dies müsse man eben selbst entscheiden.Ein Beispiel soll dies illustrieren: Wer ist für die Pflege einer älterwerdenden Mutter verantwortlich? Spontan würden wir vielleichtdas Ideal vertreten: Die Kin<strong>der</strong> sollen für ihre Eltern sorgen und sienicht ins Alters- und Pflegeheim abschieben. Doch das kann dieerwachsenen Kin<strong>der</strong> in einen schweren <strong>Konflikt</strong> stürzen. So schil<strong>der</strong>temir die Tochter einer betagten Patientin ihre Lage: Sie berichtetvon <strong>der</strong> quälenden Enge in <strong>der</strong> Wohnung, von ihrem schwierigen,hyperaktiven Kind, vom Ehemann, <strong>der</strong> in einer angespanntenberuflichen Situation steht. «Herr Doktor, ich hätte so gerne fürmeine Mutter gesorgt. Ich habe dies als meine familiäre und meinechristliche Pflicht gesehen. Aber unser Verhältnis ist so belastet. Immerkritisiert sie mich und macht abfällige Bemerkungen. Weil siebettlägerig ist, kommandiert sie mich und meinen Mann herum.Wir hatten schon oft Krach miteinan<strong>der</strong> wegen ihr. Ich kann einfachnicht mehr!» Es kam zu einem erneuten Auftreten von ¾ngsten undSchlaflosigkeit, die sie schon früher gehabt hatte. Ideal und Realität


96stehen sich in schmerzlicher Spannung gegenüber und verlangennach einer Lçsung.Es wäre zu einfach zu sagen, ihre christlichen Ideale hättendiese Frau in den <strong>Konflikt</strong> gestürzt. Vor<strong>der</strong>gründig religiçse Idealehaben nämlich viel mit persçnlichen und sozialen Idealen gemeinsam.Man mag argumentieren, dass <strong>Glaube</strong> bzw. Religiosität imRahmen <strong>der</strong> Familie vermittelt werde. Dies mag in manchenFällen zu einem zusätzlichen Druck führen, insbeson<strong>der</strong>e wenndie Erfüllung einer «christlichen Pflicht» verbunden <strong>wird</strong> mit dempersçnlichen Wohlergehen bzw. mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Annahme beiGott. – «Es kann kein Segen darauf liegen, wenn du diesen Mannheiratest!»Doch meistens führt ein solches Spannungsfeld nicht zu einerkrankhaften Verarbeitung. So hçre ich immer wie<strong>der</strong>: «Ich bin mirbewusst, dass manche in <strong>der</strong> Gemeinde die Dinge nicht so sehen wieich, aber ich muss mein Leben selber führen. Trotzdem fühle ichmich wohl im Gottesdienst …» Eine junge Frau sagte mir: «MeineEltern kçnnen es bis heute nicht begreifen, dass ich mit meinemFreund in eine an<strong>der</strong>e, in ihren Augen liberalere Gemeinde gehe.Aber damit müssen sie sich abfinden. Ich lebe meinen <strong>Glaube</strong>neben an<strong>der</strong>s aus.»Persçnlichkeit und <strong>Glaube</strong>nslebenDie Persçnlichkeit eines Menschen bestimmt nicht nur seinen Lebensstil,son<strong>der</strong>n auch die Art und Weise, wie er seinen <strong>Glaube</strong>nauslebt. Tabelle 7–2 (Seite 97) zeigt schematisch einen Überblicküber die mçglichen Verzerrungen des <strong>Glaube</strong>ns durch eine «neurotische»Persçnlichkeitsstçrung.Neurotisches Empfinden und Verhalten kann also als das Scheiternan <strong>der</strong> reifen Verarbeitung <strong>der</strong> oben gezeigten Spannungsfel<strong>der</strong>betrachtet werden. Doch welchen Einfluss hat <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> auf dieeinzelnen Elemente? Wo kommt es beson<strong>der</strong>s häufig <strong>zum</strong> neurotischen<strong>Konflikt</strong>? Und warum haben einzelne Menschen mehr Mühe,diese Spannungsfel<strong>der</strong> zu überbrücken? Im nächsten Kapitel sollensieben häufige Ursachen für religiçs-neurotische Spannungen beschriebenwerden.Tabelle 7–2: Persçnlichkeit und <strong>Glaube</strong>nslebenDepressionund AngstSchizoidnarzisstischePersçnlichkeit<strong>Glaube</strong>nsinhalt Frçmmigkeitsstil GemeinschaftsverhaltenAngst vor Gott undMenschen.Schuld- und Min<strong>der</strong>wertigkeitsgefühle.Negatives Gottesbild(schweigend,weit weg, richtend,strafend etc.).Angst vor Abhängigkeitund Selbsthingabe.Zwanghafte Angst vor Verän<strong>der</strong>ungund Regelver-Persçnlichkeitletzung. Neigung zugrüblerischem Zweifel.Hysterische Angst vor Festlegung,vor demPersçnlichkeitEndgültigen. Neigungzur Oberflächlichkeit.Leben als Opfer fürGott und Mitmenschen,Märtyrer-Gefühl,Unsicherheit,Angst, Schutzwallgegen außen.Welt- und realitätsfremd.Selbstbezogenheit.Neigung zuTagträumen undMystik.Melancholie, Pessimismus,Freudlosigkeit,Rückzug, Energiemangel,Selbstzweifel,Hemmungo<strong>der</strong> übermäßigeAbhängigkeit.Mimosenhafte EmpfindlichkeitohneEmpfinden für an<strong>der</strong>e,distanziert, wenigspürbar, Abgrenzung:«Wir und diean<strong>der</strong>n».Gesetzlichkeit, Unfreiheit.Absicherung sungsfähigkeit.Mangelnde Anpas-durch starre Regeln Zwingt an<strong>der</strong>n seineund Riten. Regeln auf. Rechthabereiaus tieferUnsicherheit.Dramatisch, gefühlsundausdrucksstark,aber auch übermäßigabhängig vonGefühlen.Neigung zur Selbstdarstellung.HoheErwartungen an an<strong>der</strong>e.Prophetenrolleo<strong>der</strong> dramatischeAbhängigkeit. Instabil.Einschränkung: Sowohl die Typen als auch die Auswirkungen auf den <strong>Glaube</strong>nsind modellhaft und unvollständig. Oft kommt es zu Überschneidungen undMischformen. Dennoch kçnnen die obigen Hinweise hilfreich <strong>zum</strong> besserenVerständnis neurotischer Menschen sein.97


9899Anmerkungen zu Kapitel 71. vgl. Moser 19762. 1. Timotheus 6,113. vgl. Stichwort «Frçmmigkeit», Coenen 1971, S. 394ff.4. «Der Spiegel» 44 (1992), S. 22–325. Schon Sigmund Freud hat sich intensiv mit dem «Unbehagen in <strong>der</strong> Kultur»beschäftigt und in seinem Aufsatz Die Zukunft einer Illusion (1927)argumentiert, die Religion sei nichts an<strong>der</strong>es als eine Stütze zur Erhaltung<strong>der</strong> herrschenden Kultur.8SiebenUrsachen vonreligiçs-neurotischenSpannungenMeine These lautet also, dass nicht die Frçmmigkeitallein krank macht. In jedem Fall ist es ein Zusammenwirkenreligiçser Elemente mit einer übersensiblen,«neurotischen» Grundpersçnlichkeit imKontext eines allgemein-menschlichen Spannungsfeldes. Es sindvor allem zwei Bereiche, die durch die Frçmmigkeit eines Menschengeprägt werden: die subkulturellen Regeln und die Idealeeines Menschen. So kçnnen sich <strong>Konflikt</strong>e ergeben, wenn einMensch mit seinen persçnlichen Bedürfnissen, Trieben und Gefühlennicht mehr im Einklang mit den Regeln in einer Gemeindeo<strong>der</strong> in einer christlichen Familie steht. Diese sind umso stärker,wenn er die Ideale seines <strong>Glaube</strong>ns nicht mit Überzeugung («intrinsisch»)glaubt, son<strong>der</strong>n als äußerlich aufgezwungen («extrinsisch»)erlebt. 1Tabelle 8–1: Sieben Ursachen von religiçs-neurotischenSpannungen1. Innere <strong>Konflikt</strong>haftigkeit im Allgemeinen2. Loyalitätskonflikte3. <strong>Konflikt</strong>e zwischen Ideal und Realität4. Gefühle <strong>der</strong> Angst und des Zweifels5. Schuld- und Versagensgefühle6. <strong>Konflikt</strong> zwischen Hingabe an Gott und Eigenverantwortlichkeit7. <strong>Konflikt</strong> zwischen menschlicher Einengung und christlicherFreiheit


100Die in Tabelle 8–1 beschriebenen Ursachen sind sicher nicht umfassend,doch sie decken einen wesentlichen Bereich ab.1. Innere <strong>Konflikt</strong>haftigkeitDie innere <strong>Konflikt</strong>haftigkeit ist ein prägen<strong>der</strong> Wesenszug bei neurotischenMenschen (vgl. Kapitel 4). Es fällt ihnen schwer, sich unbefangenins Leben einzugeben. Jede Erfahrung, jedes Gefühl, jedeBegegnung, ja je<strong>der</strong> Gedanke und jede Kçrperempfindung <strong>wird</strong> aufmçgliche Probleme abgetastet, hin- und herbewegt in Pro und Contra,oftmals getragen von einer diffusen Unsicherheit und Angst.Diese Grundhaltung überträgt sich auch auf das <strong>Glaube</strong>nsleben.Stärkende und trçstende Aussagen <strong>der</strong> Bibel kçnnen nicht aufgenommenwerden ohne die bange Frage, ob diese auch für die betroffenePerson gelten. Ermahnungs- und Gerichtsworte wecken oftunangenehme Empfindungen und Erinnerungen, regen an zur morbidenSelbstprüfung, weit hinaus über den eigentlichen Sinn desWortes. Selbst harmlose biblische Geschichten o<strong>der</strong> Empfehlungenfür das tägliche Leben kçnnen beim übersensiblen Menschen schonzur konfliktbeladenen Gewissenserforschung führen.Da <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> Richtlinien für den Alltag gibt, leiden sensibleMenschen oft am inneren Zwiespalt zwischen Wollen und Dürfen,zwischen Bedürfnissen und Hemmungen, zwischen Trieben undkulturellen Verboten und Tabus. Während <strong>der</strong> im <strong>Glaube</strong>n Gefestigtehier keine Probleme hat, leidet <strong>der</strong> Sensible und empfindetdieses Leiden zeitweise als «krankmachend».2. Loyalitäts-<strong>Konflikt</strong>eDas innere Band, das uns mit Eltern, Geschwistern und Angehçrigenverbindet, ist bis heute letztlich ein Geheimnis. Und dochbesteht eine innere Loyalität, ein Gefühl <strong>der</strong> Verbundenheit, ja inZeiten <strong>der</strong> Not auch ein Gefühl <strong>der</strong> Verpflichtung, das sich kaumausblenden lässt. Selbst schwere innere Verletzungen in <strong>der</strong> Kindheitkçnnen dieses Band nicht vçllig zerschneiden. Immer wie<strong>der</strong>trifft man bei adoptierten o<strong>der</strong> unehelichen Kin<strong>der</strong>n im Erwachsenenalterdie unstillbare Sehnsucht nach dem Vater o<strong>der</strong> nach <strong>der</strong>Mutter. Letztlich ist die Familie <strong>der</strong> Ort, wo ein Mensch seine101Identität entwickelt, wo ein Kind seine ersten und prägendenLernerfahrungen für das Leben macht – Erfahrungen <strong>der</strong> Geborgenheitund <strong>der</strong> Verantwortung, des Verstandenwerdens und <strong>der</strong>Ablehnung. Es <strong>wird</strong> hin- und hergerissen zwischen dem Wunschnach Zuwendung und Schutz und dem inneren Drang nach Verselbständigungund Abgrenzung. Die Familie ist auch <strong>der</strong> ersteOrt, wo ein Kind lernt, dass es Grenzen gibt, wo es Einengung inseinem Entdeckungsdrang erfährt, Verbote und Regeln, Zurechtweisungund auch Strafe.Es wäre eine Illusion zu glauben, diese Auseinan<strong>der</strong>setzung mitdem heranwachsenden Kind ließe sich so gestalten, dass sich diesesimmer rundum wohlfühlt. Wachsen heißt auch hier: Spannungenaushalten lernen. Allerdings gibt es Extrem-Erfahrungen von Lieblosigkeitund Misshandlung in <strong>der</strong> Kindheit, die es einem Menschenspäter beson<strong>der</strong>s schwer machen kçnnen, sein inneres Gleichgewichtzu finden. Doch lange nicht alle «neurotischen» Menschenhaben solche Extrem-Erfahrungen hinter sich. Viele sind in einemdurchschnittlichen Elternhaus aufgewachsen.Sensible Menschen leiden oft an dem inneren Zwiespalt zwischenLiebe und Dankbarkeit den Eltern gegenüber auf <strong>der</strong> einen Seite undden für sie schmerzlichen Erfahrungen von Einengung, Verboten,Abwertung und Strafe. Je weiter sie sich aus <strong>der</strong> Realität des Elternhausesentfernen, sich ablçsen und zunehmend von den Erinnerungenleben, desto selektiver <strong>wird</strong> die Wahrnehmung <strong>der</strong> Eltern. Oftmalssteigern sich die <strong>Konflikt</strong>e zwischen Liebe und Vorwürfen indie geflügelten Worte: «Die lieben Eltern, wie ich sie hasse!» 2 In <strong>der</strong>Erinnerung neurotischer Menschen werden die Eltern oft groteskentstellt. Nicht selten haben ihre Geschwister eine ganz an<strong>der</strong>e Erinnerungan die gleichen Eltern – ein weiterer Hinweis darauf, dass dieBetroffenen eine verzerrte Sicht ihrer Kindheit entwickelt haben.<strong>Wenn</strong> die Eltern dann auch noch religiçs waren, so neigen Patientenund Therapeuten noch eher dazu, die Probleme auf diesen Faktor zureduzieren.In ähnlicher Weise machen Patienten auch den <strong>Glaube</strong>n verantwortlich,wenn sie sich durch biblische Aussagen, wie das Gebot«Ehre Vater und Mutter», unter dem Druck fühlen, etwas zu tun,was ihren Gefühlen zuwi<strong>der</strong>läuft.


102&&«Muss ich meinen Eltern gehorchen, wenn sie gegen meine Verbindungmit dem Mädchen sind, das ich liebe? Eigentlich will ichnichts von ihren Ratschlägen wissen, aber jedes Mal, wenn ichmich mit ihr treffe, habe ich ein schlechtes Gefühl!»«Wie kann ich meinem Vater verzeihen, <strong>der</strong> mich und meineMutter verließ und zu einer Freundin zog, als ich erst neun war?Jetzt liegt er mit einem Schlaganfall im Krankenhaus und brauchtjemanden, <strong>der</strong> sich um ihn kümmert.»Biblische Aussagen reaktivieren dann den ohnehin schlummerndenVerpflichtungs- bzw. Loyalitätsgedanken, <strong>der</strong> im <strong>Konflikt</strong> mit denBedürfnissen und Empfindungen steht. Gleichzeitig <strong>wird</strong> oft verdrängt,dass die Bibel sehr realistische Hinweise für eine reife, eigenverantwortlicheLçsung solcher <strong>Konflikt</strong>e gibt.3. <strong>Konflikt</strong> zwischen Ideal und RealitätWir haben schon im letzten Kapitel das Spannungsfeld zwischenIdeal und Realität betrachtet. Ich habe darauf hingewiesen, dass essich hier um ein grundsätzliches Problem <strong>der</strong> Lebensgestaltunghandelt, das primär nichts mit Religiosität zu tun hat. Nun kannaber die kirchliche Lehre und Praxis sowohl die Ideale als auch dieRealität beeinflussen und damit einen Menschen in große <strong>Konflikt</strong>estürzen. Insbeson<strong>der</strong>e dort, wo Lebensbereiche mit starkerGefühlsbesetzung angesprochen werden, kann dies zu ernsthaftenseelischen Schwierigkeiten führen. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen:a) Gesetzliche Überfor<strong>der</strong>ung: Das Problem <strong>der</strong> Gesetzlichkeit findetsich insbeson<strong>der</strong>e in eng geführten evangelischen Gemeinschafteno<strong>der</strong> in katholisch-traditionalistischen Kreisen. Immer da, wodas Ideal <strong>der</strong> Sündlosigkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> vollständigen Heiligung gepredigt<strong>wird</strong>, werden Menschen in den <strong>Konflikt</strong> mit <strong>der</strong> Realität ihrerUnvollkommenheit und Schwachheit gestürzt. Schon <strong>der</strong> ApostelPaulus rang mit diesem Spannungsfeld: «Wollen habe ich wohl,aber das Gute vollbringen kann ich nicht!» 3 Für ihn war die GnadeGottes eine ganz wesentliche Hilfe, die Spannung zu überbrücken.Nun darf man nicht vergessen, dass Perfektionismus beson<strong>der</strong>s103bei denjenigen Menschen sehr ausgeprägt ist, die unter depressivenund zwanghaften Zügen leiden. So hçren wir nicht selten auch vonkirchlich ungebundenen Menschen Aussagen wie: «Ich darf keineFehler machen, sonst verliere ich die Achtung meiner Kollegen!»O<strong>der</strong>: «Ich kann keinen unordentlichen Haushalt haben, ich musseinfach putzen, und wenn es Mitternacht <strong>wird</strong>!» Solange ein Menschdie Mçglichkeit hat, seine Ideale auszuleben, <strong>wird</strong> er nicht darunterleiden. Erst wenn er an seine Grenzen kommt o<strong>der</strong> wenn ein für ihngravieren<strong>der</strong> Fehler (o<strong>der</strong> eine Sünde) geschieht, dann tut sich <strong>der</strong>Graben zwischen Ideal und Realität auf, <strong>der</strong> beim Übersensiblen zu¾ngsten und Depressionen führen kann.b) Emotionale Überfor<strong>der</strong>ung ist beson<strong>der</strong>s in charismatischenKreisen zu beobachten. Hier <strong>wird</strong> das Ideal des Lobens und Preisens,<strong>der</strong> ausdrucksstarken Dankbarkeit in je<strong>der</strong> Lebenslage gepredigt.Das Ideal <strong>der</strong> Machbarkeit von geistlichen und gesundheitlichenGütern, von Vollmacht, Sieg und Heilung <strong>wird</strong> <strong>zum</strong> bedrückendenSpiegel persçnlichen Versagens für diejenigen, die an seelischen undkçrperlichen Leiden tragen. Allzu oft werden die Schwachen an denRand gedrückt. Ich bin immer wie<strong>der</strong> tragisch berührt, wie uneinfühlsamein verengter Halleluja-Optimismus gegenüber denen seinkann, die in echter Weise trauern und leiden. Nicht wenige sensibleMenschen zerbrechen an diesem Ideal, das vor<strong>der</strong>gründig so beson<strong>der</strong>schristlich zu sein scheint und doch wesentliche Aussagen <strong>der</strong>Bibel über die gefallene und leidende Schçpfung außer Acht lässt. 4c) Überfor<strong>der</strong>ung durch ethische Vorschriften ohne ausreichendebiblische Grundlage: Ehepaare stehen immer wie<strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Frage,wie sie die Empfängnisverhütung regeln sollen. Nicht immer warund ist die Kirche in diesen Fragen hilfreich. 5 Das ethische Idealeiner natürlichen Verhütung steht im <strong>Konflikt</strong> mit den Realitätenehelicher Sexualität. Viele Männer (und auch Frauen) stellen ihresexuellen Bedürfnisse und Wünsche vor eine partnerschaftlich getragenenatürliche Empfängnisverhütung. Und das ist an sich nichtverwerflich. Sensible Frauen kçnnen aber in einen schweren inneren<strong>Konflikt</strong> zwischen <strong>der</strong> Angst vor unerwünschter Schwangerschaftund ihrem (christlichen) Ideal von erfüllter Sexualität geraten. Zudemhaben viele Frauen schlichtweg nicht die seelische und kçrper-


104liche Kraft, Kin<strong>der</strong> in rascher Folge zu gebären und zu erziehen,obwohl dies biologisch mçglich wäre.Aus Gesprächen mit Patientinnen und ¾rzten weiß ich jedoch,dass die kirchlichen Ideale und Moralgesetze längst durch eine kultur-konformeVerhütung ersetzt worden sind, ohne dass Frauen eine«ekklesiogene» Neurose entwickeln. Probleme ergeben sich also vorallem dort, wo sensible Frauen in Belastungssituationen unter mangelndemsexuellen Empfinden und Verlangen leiden. Sie neigendann dazu, eheliche Sexualität als konflikthaft zu erleben, ob sienun kirchlich gebunden sind o<strong>der</strong> nicht.4. Die Grundbefindlichkeit <strong>der</strong> AngstEin wesentliches Element im Erleben des neurotischen Menschen isteine übermäßige Angst. 6 Die neurotische Angst ist Ausdruck <strong>der</strong>inneren <strong>Konflikt</strong>e und <strong>wird</strong> immer wie<strong>der</strong> beschrieben als Angstdavor, abgelehnt zu werden, zu kurz zu kommen, allein gelassen zuwerden o<strong>der</strong> zu versagen. Viele neurotische Menschen leben in ständigerinnerer Anspannung. Oftmals leiden neurotische Menschenenorm an Angst vor Autorität, vor Leistungsanfor<strong>der</strong>ungen undvor (vermeintlichen) Erwartungen, die an sie gestellt werden.Es darf daher nicht verwun<strong>der</strong>n, dass diese Angst auch gegenüberchristlichen Amtsträgern und Autoritätspersonen auftritt. Mehrnoch: Häufig <strong>wird</strong> sie auf Gott selbst projiziert, <strong>der</strong> dann als weitentferntes, furchteinflçßendes Wesen erlebt <strong>wird</strong>, als ständige Quellevon unerfüllbaren Erwartungen und gesetzlichen For<strong>der</strong>ungen, alsallgegenwärtiger Aufpasser, <strong>der</strong> jedes Versäumnis rächt und jedeSünde bestraft. Diesem Gott kçnne man sich nicht vertrauensvollzuwenden. Bei ihm kçnne man keine Geborgenheit finden. Mankçnne ihn hçchstens fürchten und versuchen, in unterwürfiger Beflissenheitseinen Zorn nicht herauszufor<strong>der</strong>n. Oft entsteht aus einemZusammenspiel von neurotischer Grundangst und KindheitsundLebenserfahrungen ein vçllig verzerrtes Bild Gottes 7 , das we<strong>der</strong>dem biblischen Gottesbild noch <strong>der</strong> christlichen Lehre in den Gemeindengerecht <strong>wird</strong>.Viele neurotische Menschen leiden unter <strong>der</strong> Angst, allein gelassenzu werden. Schon <strong>der</strong> Gedanke daran kann Panik auslçsen. DieAngst des Kindes, seine Eltern kçnnten verschwinden und es alleinlassen, hat auch ihre christliche Entsprechung: die Angst, die Elternund Geschwister kçnnten durch die Wie<strong>der</strong>kunft Christi mitgenommenworden sein, während man (wegen irgendeiner Sünde)allein zurückgelassen wurde. Während robustere Kin<strong>der</strong> diese Vorstellungbald auf die Seite legen kçnnen, leiden sensiblere Kin<strong>der</strong> oftbis ins Erwachsenenalter erheblich unter solchen Gedanken.Während man einerseits diese ¾ngste im Gespräch ernst nehmenund bearbeiten sollte, darf man nicht vergessen, dass sie in an<strong>der</strong>erForm auch bei kirchlich nicht geprägten Menschen vorkommenkçnnen und als verzerrte, übersteigerte Ausdrucksform einermenschlichen Grundbefindlichkeit zu betrachten sind. 85. Schuld – ein menschliches Grundproblem105Zu unserem menschlichen Dasein gehçrt nicht nur die Angst, son<strong>der</strong>nauch die Schuld. Man kann es <strong>ps</strong>ychologisch ausdrücken o<strong>der</strong>biblisch: Kein Mensch ist frei von Schuld und Schuldgefühlen. Einje<strong>der</strong> braucht Vergebung und Aufarbeitung seiner Schuld. DochSchuldgefühle sind nicht immer gleichzusetzen mit echter Schuld. 9Das Schuldgefühl, so Freud, «ist <strong>der</strong> Ausdruck des Ambivalenzkonfliktes»zwischen den unterschiedlichen Strebungen in einem Menschen,ein Ausdruck des Spannungsfeldes zwischen den Generationen,zwischen dem Einzelnen und <strong>der</strong> Gesellschaft. Schuldgefühleentstehen immer dort, wo ein Mensch nicht gemäß seinen Idealenleben kann, wo er Regeln verletzt o<strong>der</strong> wo er versagt. <strong>Wenn</strong> die Bibelvon Schuld redet, so erfindet sie nicht eine neurotisierende Last, von<strong>der</strong> <strong>der</strong> areligiçse Mensch nicht betroffen ist, son<strong>der</strong>n sie beschreibteine Grundproblematik des Menschen schlechthin.Der neurotische Mensch leidet viel mehr an Schuldgefühlen alsan<strong>der</strong>e. Doch wem gegenüber empfindet er seine Schuld? Hier hat<strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> einen entscheidenden Einfluss. Während religiçs ungebundeneMenschen eher von einer existenziellen Schuld sprecheno<strong>der</strong> sich selbst eines Versagens bezichtigen, hat <strong>der</strong> gläubigeMensch eine an<strong>der</strong>e Perspektive. Für ihn ist es letztlich Gott, gegenden er gesündigt hat. Darin liegt auch eine Chance: Denn Gott verheißtuns Vergebung und Tilgung <strong>der</strong> Schuld. Sie wurde am Kreuzgetragen von Jesus Christus, und nun steht sie nicht mehr zwischenuns und Gott.


106Gerade da aber hat <strong>der</strong> neurotisch-unsichere Mensch seine Not.Er leidet an seinem Versagen und an seinen Schuldgefühlen weithinaus über jede Zusicherung <strong>der</strong> Vergebung. Sein Gewissen plagtihn und lässt ihn nicht in Ruhe. Und gerade in dem Bemühen, freizu werden von je<strong>der</strong> Schuld, liegt <strong>der</strong> Stachel für immer neue Gewissensprüfungenund Schuldgefühle. Während <strong>der</strong> reife Christ seineSchuldhaftigkeit annehmen und Vergebung für sich beanspruchenkann, <strong>wird</strong> <strong>der</strong> neurotische Mensch mit seinen Schuldgefühlen oftnicht fertig. Entwe<strong>der</strong> leidet er ständig darunter, o<strong>der</strong> aber er versucht,sich vçllig von je<strong>der</strong> ethisch-moralischen Instanz abzuwendenund so Ruhe für sein geplagtes Gewissen zu finden – ein Unternehmen,das letztlich <strong>zum</strong> Scheitern verurteilt ist.Welche Rolle spielt denn nun die Erziehung? Ist es nicht letztlich sie,die durch Einengung, Gesetz und Strafe das Gewissen eines Kindesfür das ganze spätere Leben verbiegt und anfällig macht für Schuldgefühle?In <strong>der</strong> Tat hçren wir in <strong>der</strong> Sprechstunde immer wie<strong>der</strong> von beklagenswertenErziehungsfehlern, von verzerrten Idealen und Strafandrohungen,die sich tief in die Seele eines Menschen eingegrabenhaben. Umgekehrt hatten neurotische Menschen häufig auch einesehr freie, unbeschwerte und behütete Jugend ohne große Einschränkungen.Doch die Gewissensbildung hçrt nicht mit <strong>der</strong> Kindheit auf,sie ist ein ständiger Lernprozess. Reifen Menschen gelingt es, ihreWerte selbst zu wählen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.Neurotische Menschen hingegen verharren oft in einer Abhängigkeitvon überlieferten Leitsätzen und von übergestülpten Verboten.Sie sehen zwar <strong>der</strong>en Sinn nicht mehr ein, machen sich aberdoch ein Gewissen. Es fällt ihnen schwer, ethische Leitlinien flexibelauf ihr Leben anzuwenden, ohne ständig an die mçgliche Ablehnungdurch an<strong>der</strong>e zu denken. «Meine Eltern waren immer für einen einfachenund natürlichen Lebensstil. Nie hätte sich meine Mutter geschminkt.Ein Christ hätte das nicht nçtig. Jetzt bin ich 35. Aber es gelingtmir noch immer nicht, Nagellack zu benutzen ohne die innereFrage, was wohl meine Mutter darüber denken würde.»6. Hingabe an Gott contra EigenverantwortlichkeitDie innere Unsicherheit neurotischer Menschen kann sich auch imreligiçsen Gewande äußern. Das Bemühen, Gottes Willen zu tunund innerlich auf seine Stimme zu hçren, kann <strong>zum</strong> «christlichen»Vorwand werden, keine Verantwortung zu übernehmen. Was als«Hçren auf Gott» bezeich<strong>net</strong> <strong>wird</strong>, ist oft eine Abhängigkeit vonGefühlen, ¾ngsten und Zweifeln. Ein Beispiel: Eine junge Frau suchtnach dem Abitur eine Lehrstelle. Immer wie<strong>der</strong>, wenn eine Stellekonkret wurde, schlich sich plçtzlich ein Zweifel ein, ob die angestrebteStelle wohl Gottes Wille sei. In zwanghafter Weise fragte sieEltern, Pastoren und Freunde, was sie ihr raten würden. Schließlichverstrich ein Anmeldetermin nach dem an<strong>der</strong>n, weil die junge Frau«keinen inneren Frieden über <strong>der</strong> Sache» und «keine Bestätigung imGebet» bekommen hatte.¾hnlich schwierig gestaltet sich bei neurotisch-unsicheren Menschendie Partnerwahl. Immer wie<strong>der</strong> ergeben sich Situationen, indenen die «Gefühle nicht stimmen» (säkular formuliert) o<strong>der</strong> <strong>der</strong>Betroffene «keine innere Gewissheit von Gott her», kein «inneresZeugnis» hat. In dem ständig hinauszçgernden Bemühen, «denrichtigen Partner» zu finden, werden wichtige Entscheide nicht getroffen.Schlimmer noch: Später macht man an<strong>der</strong>n den Vorwurf,sie hätten den falschen Rat gegeben o<strong>der</strong> sie hätten (im Falle einerEheschließung) auf die Beziehung hingedrängt, obwohl man sichdieser doch gar nicht sicher gewesen sei. So zeigt sich in dieser Zau<strong>der</strong>haftigkeitdie tiefe Angst davor, Verantwortung zu übernehmenund danach zu handeln.7. Menschliche Einengung und christliche Freiheit107Ein letzter, aber nicht min<strong>der</strong> wichtiger <strong>Konflikt</strong> entsteht dort, woKin<strong>der</strong> und Erwachsene im Rahmen ihrer Kirche und Gemeindeeine Einengung erleben, die nicht biblisch zu begründen ist. Erstkürzlich hat <strong>der</strong> amerikanische evangelikale Soziologe Ronald Enrothein Buch mit dem provokativen Titel Churches that abuse (zuDeutsch: «Kirchen, die missbrauchen») herausgegeben, in dem erüber bedauerliche Extreme solcher Machtausübung über gläubigeMenschen schrieb. 10 Beson<strong>der</strong>s tragisch empfindet man Berichtevon seelisch leidenden Menschen, bei denen Gottesdienstbesuch,Klei<strong>der</strong>ordnung o<strong>der</strong> Bibellese und Gebet mit <strong>der</strong> Begründung erzwungenwurden, dies sei Gottes Wille. Wi<strong>der</strong>stand sei Auflehnungund damit eine schwere Sünde. Oftmals lebten hier Eltern und Ge-


108meinde-¾lteste eine Autorität aus, die ihnen so nicht zustand. Hierhaben die von Menschen gemachten religiçsen Gesetze einen wichtigerenPlatz eingenommen als die Barmherzigkeit. 11 Jesus hat sichgegen <strong>der</strong>artige uneinfühlsame Einengung gewehrt, als er seinenJüngern erlaubte, am Sabbat ¾hren abzureißen und die Kçrner zuessen. «Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht<strong>der</strong> Mensch um des Sabbats willen.» 12Nun gilt es aber auch hier zu sehen, dass Ordnungen in Familieund Gesellschaft eine Grundgegebenheit des menschlichen Lebenssind. Das Erzwingen eines Familien-Idylls durch Verwandtenbesuchund langweilige Sonntagsspaziergänge kann auch für ein Kind ausnicht-religiçser Tradition ähnlich einengend erlebt werden. Mehrnoch: Selbst eine starke traditionelle Einengung bedeutet nicht automatischeine Neurotisierung. Man denke beispielsweise an dieAmish-Dçrfer in Amerika, in denen die Menschen meist auf demNiveau des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts leben, ohne Autos, Fernsehen undElektrizität. Nichts deutet darauf hin, dass es in diesen religiçs geprägtenGemeinschaften mehr Neurosen gäbe als in säkularisiertenGroßstädten. Eher ist das Umgekehrte <strong>der</strong> Fall: Die Kin<strong>der</strong> werdenvor vielen Einflüssen <strong>der</strong> gehetzten Leistungsgesellschaft verschont.Sie erleben eine intensive Gemeinschaft in Familie, Arbeit und Gottesdienst,die ihnen Halt und Geborgenheit vermittelt. Zu <strong>Konflikt</strong>enkommt es meist erst, wenn sie aus <strong>der</strong> Gemeinschaft heraus in«die Welt» gehen und sich dann intensiv damit beschäftigen müssen,welche Werte sie für ihr Leben wählen wollen.Schlussfolgerungen<strong>Wenn</strong> man die sieben häufigen Ursachen von religiçs-neurotischenSpannungen betrachtet, so <strong>wird</strong> deutlich, dass es sich dabei um religiçseingefärbte Son<strong>der</strong>fälle allgemein-menschlicher Probleme handelt,mit denen <strong>der</strong> neurotische Mensch nicht fertig <strong>wird</strong>. Es bedarfimmer des Zusammenspiels von religiçser Prägung <strong>der</strong> Umwelt undeiner sensiblen, «neurotischen» Persçnlichkeitsstruktur. Damit solldie Tragik des Erlebens einzelner Menschen nicht verniedlicht werden.Viele, die an einer religiçsen Einengung leiden, kennen nurdieses Umfeld und betrachten es daher für sie persçnlich als krankmachend.Es braucht viel Reife und Selbsteinsicht, um Abstand voneinem persçnlichen Schicksal zu finden und es in einen grçßerenZusammenhang <strong>der</strong> menschlichen Existenz schlechthin zu stellen.Die ärztliche und <strong>ps</strong>ychotherapeutische Erfahrung zeigt, dassneurotische Denk- und Beziehungsmuster einen Menschen nichtnur in seiner Arbeits- und Genussfähigkeit beeinträchtigen, son<strong>der</strong>nauch in seinem <strong>Glaube</strong>n. So kam <strong>der</strong> deutsche Theologe und PsychotherapeutHelmut Hark in seiner Studie über religiçse Neurosenzur Schlussfolgerung: «Die Neurose beeinträchtigt und stçrt das<strong>Glaube</strong>nsleben, während eine positive Frçmmigkeit zur Heilung<strong>der</strong> Stçrungen beiträgt.» 13Bevor wir uns den therapeutischen Zugängen bei religiçs-neurotischen<strong>Konflikt</strong>en zuwenden, muss noch ein beson<strong>der</strong>s heiß diskutierterSon<strong>der</strong>fall besprochen werden, <strong>der</strong> eigentlich den Anlass für diePrägung des Begriffs <strong>der</strong> «ekklesiogenen Neurose» gegeben hat. Esgeht um die Zusammenhänge zwischen Neurose, Religiosität und Sexualität,die im nächsten Kapitel näher beleuchtet werden sollen.Anmerkungen zu Kapitel 81091. Die Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Frçmmigkeitwurde von Allport (1950) eingeführt. In deutscher Sprache hat sich beson<strong>der</strong>sDçrr (1987) mit <strong>der</strong> Beziehung von extrinsischer vs. intrinsischerFrçmmigkeit beschäftigt.2. Unter diesem Titel stand ein Artikel von A. Guggenbühl (1991), <strong>der</strong> sichmit <strong>der</strong> <strong>ps</strong>ychologischen Bedeutung <strong>der</strong> Kindheit und des Elternbildes desErwachsenen auseinan<strong>der</strong>setzte.3. Rçmerbrief 7,18ff.4. Rçmerbrief 8,18–395. Eine ausführliche Darstellung katholischer Sexualmoral findet sich beiRanke-Heinemann 1989, S. 279–309.6. Wie komplex das Phänomen <strong>der</strong> Angst ist, zeigt ein Blick in <strong>ps</strong>ychologischeLexika, <strong>zum</strong> Beispiel Frçhlich und Drever 1978, Stichwort «Furchtund Angst».7. Ein klassisches Beispiel findet sich in T. Mosers Gottesvergiftung.8. vgl. Condrau 19769. vgl. Tournier 1959: «Echtes und falsches Schuldgefühl», o<strong>der</strong> Narramore 198410. Enroth 199211. Matthäus 12,712. Markus 2,2713. Hark 1984, S. 13


1119Neurose,Sexualitätund <strong>Glaube</strong>Sexualität gehçrt zu unserem Leben. Je<strong>der</strong> Mensch muss lernen,mit seiner Geschlechtlichkeit umzugehen, doch das fälltden Sensiblen und den Übergewissenhaften schwer. Dennwie kein an<strong>der</strong>es Spannungsfeld berührt Sexualität den Menschenals Ganzes: in seinen Trieben und Bedürfnissen, in seinem Denkenund Empfinden, und nicht zuletzt auch in seinen leiblichen Funktionen.Sexualität kann nicht losgelçst werden von unserer Umwelt,von den Sinnesreizen und von den geltenden Regeln in unserer Kultur.Sexualität ist eine intime Angelegenheit des Einzelnen, und gleichzeitigliegt darin eine Sehnsucht nach Ausdruck in <strong>der</strong> Begegnung mit eineran<strong>der</strong>n Person.Sie ist wohl die stärkste Triebkraft im Menschen, eine Triebkraftmit doppeltem Gesicht: <strong>zum</strong> einen Quelle tiefer Freude und ekstatischerLust, intimstes Zeichen <strong>der</strong> Verbindung mit einem geliebtenMenschen. Aber sie kann auch Herd von Unlust, Unsicherheit undFrustration werden; ein Stachel ungestillter Sehnsucht, dort wo ihrdas Gegenüber o<strong>der</strong> die Kraft <strong>zum</strong> Vollzug fehlt. Mehr noch: Siekann zur Triebfe<strong>der</strong> zerstçrerischer Verletzung werden, wo sie losgelçstvon persçnlicher Beziehung und Verantwortung reduziert <strong>wird</strong>auf bloße Lustbefriedigung und Triebabfuhr.Sexualität, Ethik und KircheGerade weil Sexualität dieses Doppelgesicht hat, bedarf sie einerethischen Einbettung in den Lebensstil als Ganzes. Der heranwachsendeMensch muss lernen, mit seiner Sexualität umzugehen, undden Rahmen finden, in dem sie sich mçglichst befriedigend und


112zugleich verantwortlich ausleben lässt. In einer reifen Beziehungentwickeln Mann und Frau ein subtiles Gleichgewicht zwischen sexuellerHingabe und Verzicht, in ständig neuer Anpassung an dieGegebenheiten ihrer Lebensphase. Im Verlauf des Lebens verschiebtsich oft <strong>der</strong> Schwerpunkt vom kçrperlichen Erleben hin <strong>zum</strong> Ausdruckvon Nähe und Geborgenheit.Die Bibel nimmt in vielfältiger Form zur Frage <strong>der</strong> Sexualität Stellung.Dem Ausdruck sexuellen Empfindens in <strong>der</strong> Ehe <strong>wird</strong> ein weiterSpielraum gegeben. Sex ist Ausdruck <strong>der</strong> Beziehung und die Bibel betontdie personale Würde von Mann und Frau, auch in <strong>der</strong> sexuellenBegegnung. Einschränkende Leitlinien gibt die Bibel aber dort, wo sexuellesDenken und Handeln in Gefahr steht, vom Ziel abzuweichen,wo Sexualität ausbricht aus partnerschaftlicher Treue und Rücksichtnahme,wo sie an<strong>der</strong>e verletzt und demütigt. Auffällig ist aber auch,dass die Bibel zu «heißen» Themen schweigt: An keiner Stelle findetsich eine negative Wertung <strong>der</strong> Selbstbefriedigung. Auch findet mannirgends Hinweise zur Frage <strong>der</strong> Schwangerschaftsverhütung.Überlieferte kirchliche Lehren stehen nicht immer im Einklangmit den Aussagen <strong>der</strong> Bibel. Insbeson<strong>der</strong>e die katholischen Morallehren,etwa das Verbot <strong>der</strong> Priesterehe o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schwangerschaftsverhütung,sind zur Quelle großer Spannungen geworden, an denenviele Menschen innerlich leiden. Solche Sexualdogmen sind biblischnicht zu rechtfertigen. Sie haben Ideale aufgestellt, die nur wenigeeinhalten konnten, oft nur unter Aufgabe wesentlicher Wünscheund Hoffnungen ihres Lebens. 1Sexualerziehung und Sexualethik unter religiçsem Vorzeichenkçnnen wohl Leitlinien geben, letztlich einem Menschen aber niedie Verantwortung abnehmen, für sich selbst Wege zu einer befriedigendenSexualität zu finden, die im Einklang mit seinem <strong>Glaube</strong>nund mit seiner Biografie steht. Nicht immer ist es für Eltern leicht,ihren Kin<strong>der</strong>n einen entspannten Umgang mit Sexualität zu vermittelnund das richtige Gleichgewicht zwischen informativer Aufklärungund ethischer Grundhaltung zu finden.Sexuelle Probleme sind häufigUnsere Gesellschaft und ihre Meinungsmacher 2 haben <strong>der</strong> Sexualitäteinen Glorienschein verliehen, <strong>der</strong> längst <strong>zum</strong> verpflichtenden Leis-tungsmaßstab geworden ist. 3 Ein seelisch gesun<strong>der</strong>, erfolgreicherund selbstverwirklichter Mensch, so <strong>wird</strong> uns suggeriert, lebt seineSexualität mçglichst vielfältig und genussbringend aus. Gute Partnerschaftbedeute gleichzeitig auch lebenslange Leidenschaft. Einerotisieren<strong>der</strong> Seidenglanz liegt über <strong>der</strong> Werbung, von <strong>der</strong> Schokoladebis <strong>zum</strong> Auto, ganz zu schweigen von Parfums und alkoholischenGetränken. Zeitschriften steigern ihre Auflage mit Hochglanzbil<strong>der</strong>nschçner Frauen. Kinofilme und Romane kommen nichtohne jenen prickelnden Touch von Sex aus, <strong>der</strong> sie erst so richtigspannend macht. Wären all die schçnen Bil<strong>der</strong> lächeln<strong>der</strong> Paare,die schmachtenden Po<strong>ps</strong>ongs und die freizügigen Modejournaleein Abbild unserer Gesellschaft, so dürfte es eigentlich keine sexuellunerfüllten Menschen geben.Sexuelle Schwachheit – das ist nichts für die Titelseiten. Und imFilm <strong>wird</strong> sie hçchstens dargestellt beim trotteligen Negativhelden.Doch das Gegenteil ist <strong>der</strong> Fall. Die glitzernden Verheißungen <strong>der</strong>Idole lassen sich im Alltag nicht einlçsen. Mehr denn je suchen Männerund Frauen Psychiater und Therapeuten auf, weil sie in ihremSexualleben nicht die Erfüllung finden, die ihnen eigentlich vorschwebte,o<strong>der</strong> weil eine Beziehung in Brüche ging. Schlagzeile auseiner Illustrierten 1991: «Sexuelle Not, Einsamkeit, Karrieresturz –Wer sich alles in Deutschland beim Psychiater hinlegt.» Mit <strong>der</strong> zunehmendenSäkularisierung lassen sich diese Probleme längst nichtmehr nur einer «krankmachenden Kirche» unterschieben. Immermehr dämmert es den Therapeuten, dass hier wohl noch an<strong>der</strong>e Faktorenmitspielen müssen.Was braucht es für erfüllte Sexualität?113In keinem Bereich des Lebens verspürt <strong>der</strong> Mensch so eindringlichdie Verwobenheit von Leib und Seele, von Hormonen und Gedanken,wie in seiner sexuellen Funktion. Allein schon die Aktivierunginnerer Bil<strong>der</strong> kann zu spürbaren Verän<strong>der</strong>ungen in den Sexualorganenführen, kann die Gedanken anheizen und auf «das Eine», denWunsch nach sexueller Entladung und Vereinigung, ausrichten. Wieviel intensiver laufen diese Vorgänge noch ab, wenn man mit demgeliebten Mann, <strong>der</strong> geliebten Frau zusammen ist; wenn man sichsieht, sich riecht, sich spürt, sich im gemeinsamen Rhythmus be-


114wegt. Doch Sex ist nicht nur eine Funktion kçrperlicher Organe.Unsere Sexualität entwickelt sich über die Jahre im Kontext vonBiografie und Lebenserfahrungen.Es ist an dieser Stelle nicht mçglich, eine umfassende Darstellung<strong>der</strong>jenigen Aspekte zu geben, die schließlich zu einer befriedigendenSexualität führen. In Abbildung 9–1 werden die wichtigsten Faktorenzusammengefasst, die zu sexuellen Stçrungen führen kçnnen.Dabei wurde darauf geachtet, ein mçglichst ganzheitliches Bild zugeben, das besser erlaubt, die Frage nach dem Einfluss von Neuroseund Religion auf die Sexualität zu beantworten.Abbildung 9–1: Entstehungsbedingungen sexueller StçrungenEtwa fünfzig Prozent aller Ehepaare leiden zeitweisean einer sexuellen Stçrung115Man schätzt, dass rund 40 bis 50 Prozent <strong>der</strong> Ehepaare zeitweiseunter einer sexuellen Stçrung leiden. Davon sind auch glücklicheEhepaare nicht ausgenommen. In einer viel beachteten Studieuntersuchte ein Team <strong>der</strong> Universität Pittsburgh in den USA diesexuellen Erfahrungen bei einhun<strong>der</strong>t «normalen» Ehepaaren. 4Obwohl mehr als 80 Prozent <strong>der</strong> Ehepaare ihre ehelichen undsexuellen Beziehungen als glücklich und befriedigend bezeich<strong>net</strong>en,berichteten 40 Prozent <strong>der</strong> Männer über Erektionsproblemeo<strong>der</strong> vorzeitigen Samenerguss. 63 Prozent <strong>der</strong> Frauen berichtetenüber mangelnde sexuelle Erregung und über Schwierigkeiten, denOrgasmus zu erreichen. 50 Prozent <strong>der</strong> Männer und 77 Prozent<strong>der</strong> Frauen klagten darüber, dass sie oft zu wenig Interesse an Sexhätten o<strong>der</strong> sich im Stress des Alltags zu wenig entspannen kçnnten.Die Autorinnen betonten, dass es sich bei ehelicher Sexualitätum eine «interaktive Erfahrung» handle, die Auswirkungen aufbeide Partner habe.Wie die Erfahrungen in <strong>der</strong> Paartherapie zeigen, gibt es keine«Kennzahlen» für eine befriedigende Sexualität. Denn Glück hängtnicht zuletzt davon ab, welche Ideale man hat und wie gut man mitden Unvollkommenheiten, auch im Bereich <strong>der</strong> sexuellen Beziehung,umgehen kann. Ein positives Selbstwertgefühl kann beidenhelfen, auch einmal über sich selbst zu lächeln und sich nach einem«Versagen» zuzuflüstern: «Beim nächsten Mal geht’s wie<strong>der</strong> besser!»Reife und partnerschaftliche Sexualität setzen voraus, dass manSpannungen aushält und seinen Wert nicht von sexueller Leistungsfähigkeitallein abhängig macht.Aus ärztlicher Sicht soll aber betont werden: Nicht alle Sexualstçrungenwerden durch <strong>ps</strong>ychische Ursachen hervorgerufen. Immerwie<strong>der</strong> spielen organische Ursachen mit, die einer sorgfältigenAbklärung bedürfen. Gerade im Alter kann es häufiger zu Verän<strong>der</strong>ungenkommen, die die Potenz herabsetzen. Einen guten Überblicküber die notwendigen Abklärungen in <strong>der</strong> Sexualberatung gibt dasBuch von Prof. C. Buddeberg. 5


116Angst, Depression und SexualitätDoch sexuelles Erleben ist auch davon abhängig, dass ein Menschgenussfähig ist. Es verwun<strong>der</strong>t daher nicht, dass beim depressivenMenschen sexuelles Verlangen und Empfinden stark beeinträchtigtsein kann. 6 So <strong>wird</strong> in den Fragebogen zur Messung <strong>der</strong> Depressiondie Feststellung «Ich habe die Freude an Sex verloren» häufig angekreuzt.Depressive Menschen erleben nicht nur eine traurige Verstimmung,son<strong>der</strong>n eine tiefgreifende Unfähigkeit, Freude zu empfinden,Gefühle auszudrücken und sich angstfrei auf Begegnungeneinzulassen.¾hnliches lässt sich auch bei Angststçrungen beobachten, insbeson<strong>der</strong>e,wenn sie einhergehen mit <strong>ps</strong>ychosomatischen Symptomen:Nervosität, Verdauungsbeschwerden, Blutdruck-Schwankungeno<strong>der</strong> diffusen Schmerzen. Da vergeht einem schlichtweg die Lust.Nicht immer muss es sich dabei um eine voll ausgeprägte Depressionhandeln. Viel, viel häufiger sind es zwischenmenschliche Spannungen,eine äußere Belastungssituation o<strong>der</strong> ein Wortwechsel, bevorman ins Bett geht, die einem Paar die Lust ver<strong>der</strong>ben. Falsche Ideale,überhçhte Erwartungen und innere <strong>Konflikt</strong>haftigkeit kçnnen dasihre dazutun, um das subtile Zusammenspiel von sexuellem Verlangen,kçrperlichem Ausdruck und gegenseitiger Zärtlichkeit zu vermiesen.Wie schnell kann Ablenkung und Enttäuschung, Anspannungund Unsicherheit, Stress und Wut die aufknospende Kraft <strong>der</strong> Triebewie<strong>der</strong> erschlaffen lassen und die Lust umwandeln in Frust.Sexuelles Versagen – Negatives Lernen<strong>Wenn</strong> Sex nicht klappt, so sind oft Selbstvorwürfe und Min<strong>der</strong>wertigkeitsgefühleo<strong>der</strong> Vorhaltungen gegenüber dem Partner die Folge.Bei nicht wenigen Menschen führt sexuelles Versagen zur depressivenVerstimmung und zur Selbstabwertung. – «Ich bin ja gar keinrichtiger Mann mehr.» – «Alle reden vom Orgasmus, aber mich ekeltdas Zusammensein mit meinem Mann.» Oftmals spielen sich in sexuellgestçrten Beziehungen Muster ein, um einan<strong>der</strong> aus dem Wegzu gehen. Man geht zu verschiedenen Zeiten schlafen, <strong>der</strong> Mannarbeitet bis in alle Nacht und die Frau klagt immer im entscheidendenMoment über Kopfweh.Angst erfüllt sie vor <strong>der</strong> nächsten Begegnung, Angst vor erneutemVersagen, so stark, dass sie sich innerlich verkrampfen und dann erstrecht nicht kçnnen. Hier liegen die wichtigsten Ursachen von mangelndemsexuellen Verlangen und Impotenz, aber auch von Frigiditätund sexuellem Rückzug. Fällt es Paaren auch noch schwer, miteinan<strong>der</strong>zu reden und sich neue Chancen zu geben, so entstehendaraus tiefgreifende Stçrungen.Doch eine erfüllte Sexualität kann wie<strong>der</strong> erlernt werden, so wiesie «verlernt» wurde. Vielen Menschen hat die Offenheit geholfen,mit <strong>der</strong> heute über Sex gesprochen <strong>wird</strong>. Sie haben sich bewusstentspannt und sich in fast spielerischer Art und Weise angstauslçsendenSituationen gestellt. Oft entdeckten sie dabei, dass gemeinsamesReden und eine entspannte Haltung vieles wie<strong>der</strong>gutmachenkann. Es gibt heute eine Vielzahl von Selbsthilfebüchern, die Ehepaarenhelfen kçnnen, eine neue Zärtlichkeit einzuüben.Nun gibt es aber auch den Weg des Verzichtes, den man in Seelsorgeund Therapie nicht geringschätzig abwerten sollte. Manchmalfühlt sich ein Ehepaar wohler dabei, auf genitalen Sex zu verzichten,als sich in fast akrobatisch anmuten<strong>der</strong> Disziplin aufzutrainieren.Nicht immer werden diese Paare unglücklich. Denn es gibt in <strong>der</strong>Tat noch vieles an<strong>der</strong>e im Leben als nur Sex. Manche finden sichdamit ab und betrachten ihren Lebensstil als Alterserscheinung. Sielernen es, auf an<strong>der</strong>e Weise schçne gemeinsame Erfahrungen zu machenund das Leben zu genießen. So ist es also nicht nur übendesLernen, das Sexualität wie<strong>der</strong> befriedigend macht, son<strong>der</strong>n auch dasLernen, mit Grenzen zu leben.Im bisher Gesagten wurden vor allem die sexuellen <strong>Konflikt</strong>e <strong>der</strong>Verheirateten angesprochen. Mindestens so problematisch ist jedoch<strong>der</strong> Umgang mit Sexualität für diejenigen, die keinen Lebenspartnergefunden haben. Gerade für die Singles unter den Christen stelltsich hier ein Aufgabenfeld, das nicht immer leicht zu bewältigen istund eine immer neue Bejahung ihrer Lebenssituation erfor<strong>der</strong>t.Sex beim neurotischen Menschen117Was ist es nun aber, das Sex gerade für sensible und selbstunsichereMenschen in Belastungssituationen so schwierig macht? Sicher wärees falsch, alle neurotischen Menschen als sexuelle Versager hinzustel-


118len. Hier sehe ich auch eine beson<strong>der</strong>e Gefahr <strong>der</strong> Etikettierungdurch diejenigen, die die «ekklesiogene Neurose» einseitig mit Sexualstçrungenin Beziehung bringen.Und doch: Gerade neurotische Menschen erleben im Umgangmit ihrer Sexualität den inneren Zwiespalt zwischen überliefertenIdealen, unangepassten Lebens-Einstellungen und <strong>der</strong> Realität ihrerTriebe in beson<strong>der</strong>em Maße. So kann eine sexuelle Thematik ganzim Vor<strong>der</strong>grund stehen, wenn es darum geht, eine Beziehung befriedigendzu gestalten. Die Hemmungen, Zweifel und ¾ngste, aberauch die kçrperlichen Beschwerden, die die Arbeits- und die Genussfähigkeitdes neurotischen Menschen vermin<strong>der</strong>n, kçnnenauch Einfluss auf seine «Liebesfähigkeit» nehmen und erheblichesLeiden verursachen.Beim neurotischen Menschen geht es nicht nur um sexuelleFunktion, son<strong>der</strong>n um Beziehung, um subtile Formen <strong>der</strong> Annahmeund <strong>der</strong> Enttäuschung. Ein klassisches Beispiel für die Erlebnisweltdes neurotischen Menschen ist <strong>der</strong> «Junggeselle» von EmmanuelBove, <strong>der</strong> in einer Buchbeschreibung treffend zusammengefasstwurde. 7 Der Held des Buches, Albert Guittard, «verspürt nach einemerfolgreichen Unternehmerleben das Bedürfnis nach einer Ehefrau.All seine Bemühungen versanden jedoch in einer seltsamen Zçgerlichkeit:Er scheint in den Konjunktiv seiner Wünsche verliebter zusein als in die Frauen, auf die sie sich richten. Angestrengt macht erihnen den Hof, in subtilsten Andeutungen taktierend; ängstlich,aber eifrig lauert er auf Enttäuschungen, die es ihm erlauben, sichaus <strong>der</strong> unübersichtlichen Welt <strong>der</strong> Liebesbeziehungen beleidigtzurückzuziehen …»Große Probleme kçnnen sensible Menschen auch mit ihrer sexuellenAusrichtung haben. So <strong>wird</strong> von dem bekannten SchriftstellerThomas Mann berichtet, <strong>der</strong> verheiratete Familienvater habe «Kälte,ja Wi<strong>der</strong>willen gegen eheliche Vereinigungen» verspürt. Der Grundwaren ausgeprägte homosexuelle Tendenzen. Der Schriftsteller habesein gesellschaftliches Ansehen mit Verzicht, Leiden, Selbstzucht,Beherrschung, Triebunterdrückung bezahlt. «Thomas Mann hatseine Sexualität ein Leben lang als Schwäche, Krankheit, Versagenempfunden; nur nahezu vollkommenes Entsagen schien ihm <strong>der</strong>einzig erträgliche Umgang mit <strong>der</strong> Natur …» 8 Hätte Mann seineHemmungen religiçs begründet, er wäre sicher in die Reihe <strong>der</strong> ekklesiogenVerformten aufgenommen worden. So aber schil<strong>der</strong>n unsseine Tagebücher ein notvolles Einzelschicksal im Zwiespalt vonDichterpflichten, Familienideal und sexueller Neigung, von Selbstdisziplinund Entsagung ohne explizite Beweggründe eines christlichen<strong>Glaube</strong>ns.Neurotisch-religiçse <strong>Konflikt</strong>e zwischen Idealund WirklichkeitWo spielt nun die Religiosität eines Menschen o<strong>der</strong> seines Umfeldeseine Rolle in <strong>der</strong> Entstehung und Ausprägung einer Sexualstçrung?Gibt es sie wirklich, die spezifisch «kirchlich verursachte» Sexualstçrung?Betrachtet man die Einzelschicksale auf dem Hintergrund <strong>der</strong>allgemeinen Nçte menschlicher Existenz, so lassen sich auch hier dieneurotisch-religiçsen <strong>Konflikt</strong>e in einem grçßeren Zusammenhangsehen:&&&&&&119in Spannungen zwischen Werthaltungen und Triebbedürfnissenin Unsicherheiten bezüglich <strong>der</strong> sexuellen Identitätin <strong>ps</strong>ychovegetativen Stçrungen bis hin zur vçlligen Impotenzin zwischenmenschlichen <strong>Konflikt</strong>en (in christlichen Familienund Gemeinden)im <strong>Konflikt</strong> zwischen den Anfor<strong>der</strong>ungen einer Institution undden Bedürfnissen des Einzelnenals Reaktion auf Stress und soziale Belastungen, die es auch inkirchlichen Berufen gibtDamit sollen die sexuellen Nçte nicht bagatellisiert werden, die vonreligiçsen Menschen in die Therapie eingebracht werden. Oft hçrenSeelsorger, ¾rzte und Therapeuten tragische Lebensberichte, die eineninnerlich mitleiden lassen bis an die Grenze des Erträglichen.Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen:a) Ein feinfühliger junger Mann, Mitglied einer christlichen Jugendgruppe,kommt mit Schlafstçrungen und Depressionen in dieSprechstunde. Vor kurzem ist eine Freundschaft mit einem Mädchenauseinan<strong>der</strong>gebrochen. Er steht im letzten Jahr seiner Lehreund kämpft mit schlechten Schulleistungen. Im vergangenen Sommerhat er einen Missionseinsatz mitgemacht und eine neue Vertie-


120fung seines <strong>Glaube</strong>ns erlebt. In seinem Bemühen, sich Gott ganzhinzugeben, mçchte er auch sexuell ein reines Leben führen. Seingroßes Problem aber ist die Selbstbefriedigung, die er als Sündeempfindet. «Immer wie<strong>der</strong> falle ich. So kann mich Gott nicht mehrannehmen!» 9b) Ein Ehepaar ist seit zwei Jahren verheiratet. Beide sind überzeugteChristen und kommen aus streng religiçsen Elternhäusern;er ist 40 und sie 25 Jahre alt. Ihre sexuelle Beziehung funktionierteigentlich ganz gut, aber die junge Frau leidet an massiver seelischerInstabilität. Sie weint häufig, leidet unter ¾ngsten und mçchte amliebsten den Mann immer um sich haben. Oft macht sie ihm eineSzene, wenn er beruflich für zwei Tage fortgehen muss o<strong>der</strong> abendsnoch eine Sitzung hat. Nun <strong>wird</strong> auch er zunehmend depressiv,hilflos, geplagt vor einer tiefsitzenden Angst vor den Reaktionenseiner Frau. Häufig zieht er sich zurück und besucht noch regelmäßigerdie Gemeindeveranstaltungen, um dort Trost und Halt zufinden. Die beiden erfahren eine zunehmende Entfremdung, dochsie fühlen sich aneinan<strong>der</strong>gekettet, weil sie Christen sind. In ihrerGemeinde bedeutet Scheidung absolutes Versagen und das Ausscheidenaus dem ¾ltestenrat. In einem Gespräch bricht es ausihm heraus: «Für mich gibt es nur die Alternative: Scheidung o<strong>der</strong>Selbstmord. Ich halte diese Frau nicht mehr aus! Doch beides istSünde. Und so werde ich das mir auferlegte Schicksal wohl tragenmüssen.»c) Eine junge Frau aus chaotischen Familienverhältnissen findet mit22 <strong>zum</strong> <strong>Glaube</strong>n. Sie lernt einen Freund kennen, <strong>der</strong> ebenfalls Christist. Während <strong>der</strong> Verlobungszeit wurde Sex <strong>zum</strong> Problem. Währen<strong>der</strong> sich immer stärker zu ihr hingezogen fühlte, blieb sie zurückhaltendmit dem Hinweis, dass sie als Christen keinen vorehelichenGeschlechtsverkehr haben sollten. Doch auch nach <strong>der</strong> Heirat funktioniertees nicht. Sie lag zwar gerne in seinen Armen, aber siekonnte sich ihm nicht hingeben. Erst im Verlauf von Gesprächenkam <strong>der</strong> tiefere Grund heraus: Die junge Frau war als Kind mehrfachbrutal sexuell missbraucht worden und hatte noch immer dumpfeAngst und Ekel vor sexueller Nähe.Neurotisches Leiden an <strong>der</strong> SexualitätEs fällt mir schwer, diese Beispiele als «ekklesiogene» Sexualproblemezu etikettieren, die allein durch die Kirche o<strong>der</strong> durch den<strong>Glaube</strong>n verursacht worden seien. Und doch haben alle ihre sexuellenProbleme im Kontext ihres religiçsen Umfeldes erlebt.Welchen Einfluss hat denn nun <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> auf häufige neurotisch-religiçse<strong>Konflikt</strong>e im Bereich <strong>der</strong> Sexualität?Tabelle 9–1: Neurotisch-religiçse <strong>Konflikt</strong>e und SexualitätABCDie religiçse Prägung von Idealen1. Eindeutige biblische Gebote, bzw. Verbote2. Empfehlungen für beson<strong>der</strong>e Menschen und Umstände3. Anwendung allgemeiner biblischer Prinzipien auf diepersçnliche SexualitätDie Gestaltung des sozialen Umfeldes durch <strong>Glaube</strong>nsaspekte1. Religiçses Elternhaus2. Institutioneller Zwang3. Gruppendruck in religiçser GemeinschaftDie religiçse Verarbeitung von unerfüllten Wünschen121Die Ideale eines Menschen für den Umgang mit seiner Sexualitätwerden durch viele Faktoren seiner Biografie geprägt. Die religiçsenLeitlinien sind, wie wir gesehen haben, sehr vielgestaltig. Es <strong>wird</strong>also darauf ankommen, von welchen Quellen sich ein Mensch prägenlässt. Die biblischen Prägungen des Ideals, die in Wi<strong>der</strong>spruchzu aktuellen Wünschen und Bedürfnissen stehen kçnnen, lassen sichwie folgt einteilen:1. Eindeutige Gebote bzw. Verbote (<strong>zum</strong> Beispiel Ehebruch, Verkehrmit Tieren etc.)2. Empfehlungen für beson<strong>der</strong>e Menschen in beson<strong>der</strong>en Umständen(<strong>zum</strong> Beispiel Ehelosigkeit, um sich ganz <strong>der</strong> Ausbreitung desEvangeliums o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wohltätigkeit zu widmen 10 ). Diese Lebens-


122form <strong>wird</strong> noch heute frei gewählt von Diakonissen und Ordensleutenund Priestern, um nur einige Beispiele zu nennen.3. Die Anwendung allgemeiner biblischer Prinzipien («Reinheit»,«Keuschheit») auf die persçnliche Sexualität. Hier ergeben sicham meisten <strong>Konflikt</strong>e mit biblisch unklar begründeten Lehren.Insbeson<strong>der</strong>e die Selbstbefriedigung o<strong>der</strong> die Formen vorehelicherZärtlichkeit werden aus christlicher Sicht unterschiedlichgewertet. Nicht immer kann von Sünde gesprochen werden, eherschon von persçnlichem Umgang mit den natürlichen Regungendes eigenen Kçrpers im Spannungsfeld von Ich und Du.Zwischen Prü<strong>der</strong>ie und VerantwortungDie religiçse Prägung <strong>der</strong> Sexualität erfolgt nun aber nicht nur direktdurch die Bibel, son<strong>der</strong>n auch durch das soziale Umfeld, in dem<strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> eine wichtige Rolle spielt.Ein religiçses Elternhaus kann sehr unterschiedlichen Einflussauf die sexuelle Entwicklung nehmen. Im Allgemeinen lässt sichkeine Regel aufstellen. Viel wirksamer als die Vermittlung christlichethischerLeitlinien sind die Vorbildwirkung <strong>der</strong> Eltern, die emotionaleStabilität und das offene und altersentsprechende Diskutierenvon sexuellen Themen. Dabei dürfen die «Miterzieher» nichtvergessen werden: Schulkameraden und Vorbil<strong>der</strong> aus Film undFernsehen (vgl. Abbildung 9–1). In Einzelfällen kommt es aber zusehr verzerrten religiçsen (Ab-)Wertungen <strong>der</strong> Sexualität durch dieFamilie, die sich tief in das Bewusstsein eines jungen Menscheneingraben kçnnen.Institutioneller Zwang: Beson<strong>der</strong>e Spannungen entstehen dort,wo Beruf o<strong>der</strong> Stellung eine entsprechende Lebenshaltung erfor<strong>der</strong>n(Geistliche, Diakonissen, ¾lteste, Kirchenvorstand). In <strong>der</strong> Tat kannes, beispielsweise bei einem außerehelichen Verhältnis eines Pfarrers,zu einer tiefgreifenden Krise bis hin <strong>zum</strong> Suizidversuch kommen. 11Dies hat primär nichts mit seinem <strong>Glaube</strong>n zu tun: Auch religiçsungebundene Männer kçnnen am <strong>Konflikt</strong> zwischen Ehefrau undGeliebter in einem Maße leiden, das durchaus neurotische Dimensionenannehmen kann.Gleichzeitig wählt sich je<strong>der</strong> seine Institution selbst, zu <strong>der</strong> er sichzählen mçchte. U<strong>net</strong>hisches o<strong>der</strong> unsolidarisches Verhalten führtauch bei an<strong>der</strong>en Institutionen, beispielsweise bei Parteien o<strong>der</strong>Umwelt-Organisationen, dazu, dass es zu <strong>Konflikt</strong>en kommt. DieKirche tut sich daher keinen Gefallen, wenn sie im Bemühen umein toleranteres Image keine Grenzen mehr setzt. Vielmehr müssensich diejenigen, die sich an ihren Institutionen wund reiben, ohnesie zu verlassen, fragen, ob es nicht auch Teil ihrer neurotischen Problematiksein kann, dass sie in Selbstmitleid und unselbständigenAbhängigkeitswünschen ohne Verantwortung verharren. Im Vor<strong>der</strong>grundsteht dann nicht krankmachen<strong>der</strong> <strong>Glaube</strong>, son<strong>der</strong>n einemangelnde Bereitschaft, sich an die Regeln einer frei gewählten Institutionzu halten.Gruppendruck in religiçser Gemeinschaft: Für manche gläubigeEltern ist ein uneheliches Kind die grçßte Katastrophe, dieihnen eine Tochter antun kann. Die Angst um die Familienehreo<strong>der</strong> die Ehre Gottes kann zu einem enormen inneren Druckführen, <strong>der</strong> die Eltern oft vergessen lässt, dass ihre Kin<strong>der</strong> geradein einer so schweren Situation ihre beson<strong>der</strong>e Liebe brauchen.Immer mehr Nçte entstehen auch dort, wo ein Paar in die Krisegerät o<strong>der</strong> es zur Scheidung kommt. Man schämt sich <strong>der</strong>art vorden Mitchristen, dass man nicht mehr in die Gemeinschaft gehtund weiter vereinsamt. Hier ist meiner Meinung nach ein neuerUmgang mit denen angezeigt, die durch Partnerschaftskrisengehen. Gleichzeitig habe ich auch Verständnis, dass man sichdenen entfremdet, die einen noch aus glücklicheren Zeiten kennen.Oft braucht es eine an<strong>der</strong>e Gemeinde, um einen Neubeginnzu machen.Mit unerfüllten Wünschen leben123Eine religiçse Grundhaltung hat vielen Menschen dazu verholfen,mit ihren sexuellen Grenzen zu leben, sie zu erleiden und dennochnicht aus einer Beziehung auszubrechen, obwohl sie längst nichtmehr das gibt, was man sich davon erhofft hatte. Eindrücklich schil<strong>der</strong>tdie vom Hals an gelähmte Autorin Joni Eareckson Tada ihrenKampf mit <strong>der</strong> Tatsache, dass sie als lebenslustige und sinnlichejunge Frau nie im Leben eine sexuelle Beziehung werde haben kçnnen.Für sie war <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> in dieser inneren Auseinan<strong>der</strong>setzungeine wesentliche Hilfe.


124Von manchen Therapeuten <strong>wird</strong> dies als falsche frçmmlerischeErgebenheit gedeutet: Auf diese Weise würden frustrierende undseelenverstümmelnde Muster zementiert, anstatt Auswege zu suchenund sich vielleicht auf an<strong>der</strong>e Weise o<strong>der</strong> in einer neuen Beziehungneu zu entfalten. Hier stehen sich humanistisches Ideal undchristliche Seelsorge gegenüber, <strong>der</strong> Mythos von <strong>der</strong> stetigen Erfüllungpersçnlicher Bedürfnisse gegen die Lebensrealität eines verantwortlichenLebens trotz unerfüllter Wünsche.Nicht immer ist Scheidung o<strong>der</strong> Sex-Therapie die Lçsung. Oftwählen Menschen den Weg <strong>der</strong> «Sublimation». Diese kann, mussaber nicht vom <strong>Glaube</strong>n her geprägt sein, wie das Beispiel von ThomasMann gezeigt hat. 12 Im tiefsten Inneren bleibt vielleicht dieSehnsucht nach Erotik, doch im Abwägen von Pro und Contrageht man den Weg des Verzichtes. Im religiçsen Bereich kann Sublimationbeispielsweise folgende Formen annehmen: Ein Mann, <strong>der</strong>bei seiner Frau keine sexuelle Erfüllung findet, engagiert sich vielleichtmehr in <strong>der</strong> Kirche o<strong>der</strong> strebt nach tieferer Gottesbeziehungund Verinnerlichung. Eine Frau sublimiert ihre unausgelebten Energienvielleicht in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>erziehung, im kirchlichen o<strong>der</strong> kulturellenEngagement.Nicht vorschnell pathologisierenManchmal hat man auch in <strong>der</strong> Seelsorge den Eindruck, ein Einzelnero<strong>der</strong> ein Paar hätten sich allzu schnell mit einer schmerzlichenVerzichtsituation abgefunden. Nie darf solche Aufgabe sexueller Gemeinschaftleichtfertig in Kauf genommen werden. Denn wer sichauf eine Paarbeziehung einlässt, hat auch eine Verantwortung fürden sexuellen Bereich, weit hinaus über reine Zeugungs-Absichten. 13So mçchte man oft einem Ehepaar Mut machen, sich nochmals einzulassenauf neue Erfahrungen von sexueller Erfüllung ohne falscheSchuldgefühle und ohne falsche Hemmungen. Denn oft haben sichSchuldgefühle an biblisch nicht begründbaren Idealen orientiert,und Hemmungen haben sich durch negative Erfahrungen eingeschliffen.Doch hier gilt es auch feinfühlig zu sein gegenüber diesem intimstenBereich einer Ehe. Der Therapeut o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Seelsorger darfindividuelle Wege in <strong>der</strong> Bewältigung sexueller Trieblçsung nichtvorschnell pathologisieren, auch wenn sie nicht seinem persçnlichenIdeal entsprechen. Es wäre denn auch ein Irrtum zu glauben, jedeethische Spannung im Leben und insbeson<strong>der</strong>e im Bereich <strong>der</strong> Sexualitätsei falsch. Bedenken wir: Hemmungen und Gewissensängstekçnnen auch schützen. Immer wie<strong>der</strong> <strong>wird</strong> das Ideal einer spannungsfreienSexualität <strong>der</strong>art überzeich<strong>net</strong>, dass dabei vçllig vergessen<strong>wird</strong>, dass die grçßten zwischenmenschlichen Probleme geradedort entstehen, wo das Spannungsfeld zwischen sexueller Lust undVerantwortung nicht ausgehalten wurde (Seitensprung, Vergewaltigung,sexueller Missbrauch).So mag ein Mann wohl die «ekklesiogene Last» beklagen, die ihmdurch den Verzicht auf Geschlechtsverkehr vor <strong>der</strong> Ehe auferlegtwurde. Aber – wie wäre er mit seiner Freundin umgegangen, wennsie vor <strong>der</strong> Zeit ein Kind erwartet hätte? Eine Frau mag wohl die«prüde Erziehung» durch ihre religiçse Mutter als Grund für ihrmangelndes sexuelles Verlangen verantwortlich machen, aber wiehätte sie wohl ein permissiveres Leben mit mehrfachen Partnerwechselnverkraftet? Welche inneren Beweggründe und Erfahrungenhaben wohl zusätzlich zu ihrer jetzigen Situation beigetragen? Wirwissen die Antworten nicht.Es fällt so manchen Therapeuten leicht, die Fehler <strong>der</strong> Eltern in<strong>der</strong> Sexualerziehung anzuprangern. Doch oft <strong>wird</strong> übersehen, dassVäter und Mütter in bester Absicht versucht haben, ihre Kin<strong>der</strong>vor denjenigen Fehlern zu bewahren, an denen sie selbst ein Lebenlang gelitten haben. Nicht immer ist es ihnen gelungen, ihreErfahrungen und ihre ¾ngste den Kin<strong>der</strong>n so weiterzugeben, dassdiese sie verstehen konnten. Und allzu oft waren es gerade dieEinschränkungen und die Warnungen, die das Verbotene umsospannen<strong>der</strong> machten. Väter und Mütter von Heranwachsendenmüssen immer wie<strong>der</strong> lernen, ihre Kin<strong>der</strong> loszulassen. Die nächsteGeneration muss selbst Verantwortung übernehmen. Und während«die Starken», die seelisch Stabilen, ihren Weg gehen, leiden«die Schwachen», die Sensiblen, ein Leben lang an den Idealen, dieihnen <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> im komplexen Zusammenspiel mit an<strong>der</strong>enEinflüssen vorgegeben hat.* * *125


126<strong>Wenn</strong> wir die Bibel ernst nehmen und ihre ethischen Leitlinien alshilfreich betrachten, so müssen wir immer wie<strong>der</strong> darüber nachdenken,was sie mit dem Begriff <strong>der</strong> Reinheit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Keuschheit meint.Es kann nicht darum gehen, allen unterschiedslos die gleiche Lebensformzu empfehlen. Keuschheit bedeutet mehr als sexuelle Abstinenzbeim Ledigen, aber auch mehr als Beschränkung <strong>der</strong> Sexualitätauf die Ehegemeinschaft. Es gilt Keuschheit inhaltlich von <strong>der</strong>Bibel her zu definieren ohne falsche Dogmatik und ohne unrealistischeIdeale. Luther soll einmal den Satz geprägt haben: «Keuschheitist die vom Heiligen Geist geprägte Sinnlichkeit.» Dieses Spannungsfeldzwischen persçnlicher Frçmmigkeit und «gottergebenerLeiblichkeit» muss je<strong>der</strong> für sich finden. Letztlich gelten im Bereich<strong>der</strong> Sexualität die gleichen biblischen Regeln wie für das christlicheund menschliche Miteinan<strong>der</strong> im Allgemeinen. Sexualität kann nurdort wahrhaft sinnerfüllt sein, wo sie in Liebe und Verantwortung indas Leben als Ganzes integriert <strong>wird</strong>, in all ihrer Schçnheit, aberauch in den notvollen Grenzen unseres Daseins.Tabelle 9–2: Sexuelle Stçrungen im Kontext&&&&&&Sexuelle Stçrungen kommen bei vielen Menschen vor, egal,ob sie gläubig sind o<strong>der</strong> nicht.Die Sexualität des Einzelnen <strong>wird</strong> heute nicht zuletzt durchüberhçhten Leistungsdruck, die Sexualisierung <strong>der</strong> Umweltund durch eine mangelnde Verbindlichkeit negativ beeinflusst;kirchlich-ethische Wertungen stehen heute eher imHintergrund.Depressionen und <strong>ps</strong>ychosomatische Stçrungen haben ofteinen hemmenden Einfluss auf die sexuelle Funktion. SexuelleDysfunktionen sind einerseits Symptom dieser Stçrungen,kçnnen aber gleichzeitig auch <strong>zum</strong> belastendenThema werden.In einer Paarbeziehung ist eine erfüllte Sexualität immerabhängig von beiden Partnern und oftmals Ausdruck <strong>der</strong>interpersonellen Dynamik.Die Abklärung sexueller Stçrungen muss multifaktoriell,also medizinisch und <strong>ps</strong>ychologisch erfolgen.Religiçse Menschen versuchen, sexuelle Probleme auch aufdem Hintergrund ihres <strong>Glaube</strong>ns zu verstehen und zu lçsen.&&&Sexualität entzieht sich in ihrer triebhaften Komponenteimmer wie<strong>der</strong> einer vçlligen Willenskontrolle. Sie kann daherbei sensiblen Menschen in den <strong>Konflikt</strong> zwischen«Fleisch und Geist» führen.Persçnliche Reife beinhaltet einen entspannten und zugleichverantwortlichen Umgang mit <strong>der</strong> eigenen Sexualität,wobei sich vielfältige individuelle Lçsungen ergebenkçnnen, von einer bewussten Öffnung für eine erfüllte Sexualitätin <strong>der</strong> Ehe bis hin zu einem Verzicht auf das Auslebenvon Sexualität.Der Seelsorger und Therapeut darf bei einem Ratsuchendeneinen individuellen Weg im Bereich <strong>der</strong> Sexualitätnicht vorschnell als krankhaft bezeichnen, auch wenn ernicht seinen persçnlichen Idealen entspricht.Anmerkungen zu Kapitel 91271. vgl. dazu die Verçffentlichungen von Drewermann 1989 und Ranke-Heinemann19892. Die Sex-Reports von Alfred Kinsey, Shere Hite, Margaret Mead sowie Mastersund Johnson haben das Bild einer permissiven Gesellschaft gezeich<strong>net</strong>,die mçglichst ohne Tabus und Hemmungen mit Sexualität umgeht. Dochneuere Überprüfungen ihrer Grundlagenarbeit stellen viele ihrer Behauptungenin Frage. Kritiker werfen ihnen vor, sie hätten vor allem die Aussagen<strong>der</strong>jenigen gewichtet, die exhibitionistisch genug waren, über ihreSexualität zu berichten (vgl. Reisman 1990) o<strong>der</strong> im Falle <strong>der</strong> Samoa-Studiendie Augen vor den negativen Aspekten <strong>der</strong> Sexualität bei den «glücklichenWilden» verschlossen (Freeman 1983). Insbeson<strong>der</strong>e die Ergebnisse<strong>der</strong> Sextherapeuten wurden stark in Frage gestellt, vgl. Zilbergeld undEvans 1980, Garcia 1983.3. vgl. Fliegel 1990 und Boelhouwer 19904. Frank 19785. Buddeberg 19876. Die Zusammenhänge zwischen Depression und Sexualität wurden sehrumfassend bei Derogatis et al. 1981 untersucht und belegt. Die Autorenweisen jedoch darauf hin, dass die Interpretation <strong>der</strong> Befunde mit Vorsichterfolgen sollte, weil die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen<strong>ps</strong>ychologischer Belastung und sexueller Dysfunktion komplex und unerforschtseien.7. Bove 1990, Buchbesprechung in: «Der Spiegel» 25/1990, S. 190.8. Aus einem Bericht von Karasek in: «Der Spiegel» 46/1991, S. 317ff.


1289. Von den Vertretern des «ekklesiogenen» Modells werden junge Menschenmit diesem Problem als «Onanie-Skrupulanten» bezeich<strong>net</strong>.10. vgl. 1. Korinther 7,25ff.11. vgl. das Beispiel in Kapitel 2, S. XX ((ehemals 20))12. Ein weiteres klassisches Beispiel gibt Sigmund Freud, <strong>der</strong> als Vater vonsechs Kin<strong>der</strong>n seit seiner Lebensmitte seine Sexualität nicht mehr auslebte,son<strong>der</strong>n sich nur noch seinen Patienten und dem Ausbau seiner analytischenTheorie widmete (vgl. Drewermann 1989, S. 847).13. vgl. 1. Korinther 7,1–910Neurotische Verzerrungendes Gottesbildes129Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihreuch abermals fürchten müsstet; son<strong>der</strong>n ihr habt einen kindlichenGeist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geistselbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kin<strong>der</strong> sind.Rçmer 8,15–16Da <strong>wird</strong> also unterschieden zwischen zwei Geisteshaltungengegenüber Gott. Der «knechtische Geist» fürchtetsich vor Gott, während <strong>der</strong> «kindliche Geist» ihn vertrauensvollmit «Papa», «Abba, lieber Vater» anspricht.Es sind aber nicht nur innere Haltungen, son<strong>der</strong>n da ist auch eineKommunikation zwischen dem Geist Gottes und unserem Geist.Der Geist Gottes bestätigt uns, dass wir Gottes Kin<strong>der</strong> sind, nichtSklaven o<strong>der</strong> Knechte, nicht eine verelendete Randgruppe, die vonGottes Gnade lebt; nicht geduldete Gastarbeiter, <strong>der</strong>en Aufenthaltsbewilligungbegrenzt ist; auch nicht rechtlose Flüchtlinge, die je<strong>der</strong>zeitwie<strong>der</strong> abgeschoben werden kçnnen. Nein, wir sind Kin<strong>der</strong> Gottes:Wir müssen uns Gott nicht knechtisch, sklavisch-unterwürfig,gebunden und angstvoll nähern, voller Furcht vor einem rachsüchtigen,haarspalterisch-gesetzlichen Überwesen.Ein Kind Gottes darf kindlich-vertrauensvoll zu Gott kommen, indem Wissen, dass <strong>der</strong> Vater es liebt und ihm nur das Beste gebenmçchte. Da gibt es keine Audienzzeiten, die man sich durch Mittelsmänner,Juristen und Lobbyisten ergattern muss, um für ein paarMinuten mit ihm reden zu kçnnen. Nein, seine Kin<strong>der</strong> dürfen zuihm kommen zu je<strong>der</strong> Zeit, auch dann, wenn man nichts vorzuzei-


130gen hat, auch dann, wenn man versagt hat und an Gott und <strong>der</strong> Weltverzweifelt.Ist das nicht allzu leicht gesagt? Leiden nicht viele Menschen ebenan diesem verzerrten «knechtischen» Bild Gottes? Wie lässt sich dasBçse in dieser Welt erklären, wenn die Bibel von einem liebendenund vergebenden Gott spricht? Ist es da nicht verständlich, dassMenschen sich durch den Gedanken an Gott bedrückt und in keinerWeise getrçstet fühlen? Und welche Hoffnung gibt es für diejenigen,die unter einem bedrückenden Gottesbild leiden?Wie stellt die Bibel Gott dar?Bevor wir darauf eingehen, wie Menschen in unserer Zeit Gott erleben,wollen wir uns fragen: Wie stellt die Bibel Gott dar? Welches«Bild» Gottes, welches Wesen Gottes, kommt uns aus dem Lesen <strong>der</strong>Schrift entgegen? Dabei geht es ja nicht um ein «Bild» Gottes imengeren Sinne eines Gçtzenbildes, das im zweiten Gebot klar verboten<strong>wird</strong>, son<strong>der</strong>n um die Art und Weise, wie sich Gott den Menschenin <strong>der</strong> Bibel offenbart. Hatten es die Menschen in <strong>der</strong> Bibelimmer so leicht, sich ein «kindliches» Bild von Gott, dem liebendenVater, zu machen?Interessanterweise begegnen wir auch in <strong>der</strong> Bibel einem Spannungsfeld:Sie zeigt uns beide Seiten Gottes. Da ist einerseits Gott,<strong>der</strong> Allmächtige, <strong>der</strong> Schçpfer des Universums, <strong>der</strong> Unnahbare, denkein Mensch erkennen kann, <strong>der</strong> Zornige, <strong>der</strong> Rächer, <strong>der</strong> Weltenrichterdes Jüngsten Tages. Doch da ist auch Gott, <strong>der</strong> mit Menscheneine Beziehung eingeht, <strong>der</strong> sie liebt, sie umwirbt, eifersüchtig überihnen wacht, <strong>der</strong> sie heimsucht, <strong>der</strong> sie beschützt. Ja, Gott ist <strong>der</strong>himmlische Vater, er ist es, <strong>der</strong> uns trçstet, wie eine Mutter trçstet. 1Untersucht man die Bibel auf die Art hin, wie sie uns Gott darstellt,so merkt man bald, dass sie eigentlich Geschichten erzählt vonMenschen, die Gott in ganz individueller und unterschiedlicherWeise erlebt haben. 2 Da tut sich uns eine weite Palette von Gotteserfahrungenauf, von vertrauensvoller Hingabe an den liebendenund fürsorglichen Vatergott bis hin <strong>zum</strong> Leiden am tatenlosen Gott,<strong>der</strong> sein Volk den brutalen Soldaten ferner Vçlker ausliefert o<strong>der</strong> <strong>der</strong>scheinbar grundlos unsägliches Leid über einen Menschen kommenlässt. Die Psalmisten stellen Gott manchmal hart in Frage, haltenihm seine Verheißungen vor, die er nicht eingehalten habe, undklammern sich gleichzeitig an seine unwandelbare Treue. Wir erlebe<strong>net</strong>was mit von dem inneren Weg, den Menschen gehen in ihrerErfahrung mit Gott inmitten irdischen Leides. Ihre Gebete lassenuns einen Blick tun in die Gefühlswelt <strong>der</strong> damaligen Menschen,von Hiob bis David, in ihrem Ringen mit Gott, das gleichzeitigauch ein Ringen mit sich selbst ist, ein Reifen an <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungmit Gott. 3Theorien über die Entstehung des Gottesbildes131In <strong>der</strong> Psychologie <strong>wird</strong> das Gottesbild immer wie<strong>der</strong> als Vorgangbeschrieben, <strong>der</strong> im Grunde im Kopf vor sich geht und keine Aussageüber den objektiven Gott zulässt (so man denn an ihn glaubt).Schon <strong>der</strong> Philosoph Ludwig Feuerbach (1804–1872) stellte dieThese auf: «Das gçttliche Wesen … ist nichts an<strong>der</strong>es als dasmenschliche Wesen … Alle Bestimmungen des gçttlichen Wesenssind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens … Die Religionist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sichGott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber.» 4Für Sigmund Freud war das Gottesbild, das Über-Ich, Ausdruckdes Bildes vom Vater. Das «Ich-Ideal» entwickle sich aus <strong>der</strong> Verdrängungdes Ödipuskomplexes:«Das Über-Ich <strong>wird</strong> den Charakter des Vaters bewahren, und jestärker <strong>der</strong> Ödipuskomplex war, je beschleunigter (unter demEinfluss von Autorität, Religionslehre, Unterricht, Lektüre) seineVerdrängung erfolgte, desto strenger <strong>wird</strong> später das Über-Ich alsGewissen, vielleicht als unbewusstes Schuldgefühl über das Ichherrschen …» 5Mit <strong>der</strong> Elternbeziehung haben sich die Psychoanalytikerin MargarethS. Mahler und ihr Team intensiv auseinan<strong>der</strong>gesetzt. Inihrem Klassiker Die <strong>ps</strong>ychische Geburt des Menschen 6 schil<strong>der</strong>t siedie Entwicklung des Kindes von seinen ersten Erfahrungen bis hinzur Adoleszenz. In seiner anfänglichen Hilflosigkeit ist es vçllig von<strong>der</strong> Fürsorge <strong>der</strong> Eltern abhängig. Hier erlebt es Zuwendung undVersorgung, ohne dass es eine Gegenleistung geben kann, außervielleicht seinem Lächeln. Im Verlauf <strong>der</strong> ersten Lebensjahre bildetsich im Kontakt mit den Eltern eine eigene Persçnlichkeit (Indivi-


132duation und Objektbeziehung). Vertrauen <strong>wird</strong> umso besser erlernt,je verlässlicher die elterlichen Reaktionen für das Kind sind.Aus dieser Erfahrung kann das Kind dann auch gewisse Frustrationenertragen lernen, weil es weiß, dass es sich auf die Eltern verlassenkann, auch wenn es einmal warten muss. Diese Erkenntnissehaben eine wichtige Bedeutung für die analytische Theorie <strong>der</strong>Entstehung des Gottesbildes.Von <strong>der</strong> «Geburt des lebendigen Gottes» in <strong>der</strong> menschlichenPsyche spricht Ana-Maria Rizzuto. Sie schreibt: «Das Gottesbildunterliegt den gleichen Wechselfällen an<strong>der</strong>er Objekte. AmbivalenteGefühle mischen sich mit Sehnsucht; Wünsche, Gott zuvermeiden, vermischen sich mit Wünschen nach seiner Nähe. DieSuche nach Liebe, Annahme und Führung wechselt sich ab mitlärmiger und rebellischer Ablehnung, Zweifel und demonstrativerUnabhängigkeit. Der Stolz auf treuen Dienst für Gott kontrastiertmit schmerzlichen Zweifeln, unwürdig zu sein. In diesen komplexenund vielschichtigen Umgangsweisen mit Gott beginnen dieAbwehrmechanismen zu wirken, die den Einzelnen vor Angst undSchmerz schützen sollen.» 7Die Entwicklung des <strong>Glaube</strong>ns und damit auch des Gottesbildesbeim Kind und beim Erwachsenen wurde in den vergangenen Jahreneingehend untersucht. So stellte <strong>der</strong> Harvard-Theologe JamesFowler 8 sieben Stufen des <strong>Glaube</strong>ns dar, vom ursprünglichen <strong>Glaube</strong>ndes Kindes bis hin <strong>zum</strong> «universellen» <strong>Glaube</strong>n. ¾hnliche Untersuchungenim deutschsprachigen Raum wurden von Oser undGmün<strong>der</strong> verçffentlicht, die fünf «Stufen des religiçsen Urteils» herausarbeiteten.9 Damit wurden lebensnahe und differenzierte Alternativenzu den rein <strong>ps</strong>ychoanalytischen Theorien <strong>der</strong> Persçnlichkeitsentwicklunggeschaffen, die bis in unsere Zeit die kirchlichePastoral<strong>ps</strong>ychologie einseitig dominiert hatten.Während Fowler allerdings davon ausging, dass die einzelnenStufen nacheinan<strong>der</strong> vom Kind bis <strong>zum</strong> reifen Erwachsenen durchlaufenwerden, beobachtet man in <strong>der</strong> Praxis oft, dass auch erwachseneMenschen auf früheren <strong>Glaube</strong>nsstufen stehenbleiben kçnnen.Diese wi<strong>der</strong>spiegeln auch einen seelischen Reifungsgrad. Gerade in<strong>der</strong> Frage des Gottesbildes finden wir bei vielen neurotischen Menschenein Stehenbleiben auf einer Stufe, die stark mit Gefühlen undWahrnehmungen verbunden ist und die kritische Reflexion eigenerWerte und sozialer Zusammenhänge noch nicht kennt.Wie erleben Menschen Gott?133Kehren wir nun aber zurück <strong>zum</strong> Menschen und zu seinem Bild, daser sich von Gott macht. Gespräche mit Gesunden und Leidendenzeigen immer wie<strong>der</strong>, dass es sich um eine sehr persçnliche Erfahrunghandelt, um eine erfahrungsgeleitete Konstruktion einer Vorstellung,die vieles von dem wi<strong>der</strong>spiegelt, was ein Mensch mit an<strong>der</strong>nerlebt hat, was er sich wünscht und was er fürchtet. EinigeBeispiele sollen dies illustrieren:Wunschverweigerung und Gottes-Ablehnung (Pablo Picasso): «Erwar dreizehn Jahre alt, als seine acht Jahre alte Schwester Conchitaan Diphterie starb. Der junge Picasso hatte ihren Verfall von demlächelnden Mädchen mit den blonden Locken zu einem Schattenihrer selbst beobachtet. Er sah das verzweifelte Kommen und Gehendes Arztes, er durchlebte den Kampf <strong>der</strong> Eltern um das Leben seinerSchwester. In seinem Schmerz schloss Pablo einen verzweifelten Paktmit Gott. Er versprach, seine Kunst zu opfern und nie mehr einenPinsel anzurühren, wenn Gott dafür Conchita rettete. Danach war erhin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu retten, und demWunsch, sie mçge sterben, damit ihm die Malerei erhalten bliebe.Ihr Tod war für ihn <strong>der</strong> Beweis, dass ihm das Schicksal feindlichgesinnt und dass Gott bçse sei. Zugleich glaubte er auch, dass seineWankelmütigkeit Gott veranlasst habe, Conchita sterben zu lassen.Er hegte große Schuldgefühle – die Kehrseite seiner Überzeugung,dass er seiner Umwelt seinen Willen aufzwingen kçnne.» 10Negatives Vaterbild und negative Lebenserfahrung: Eine 30-jährigeAIDS-Kranke: «Ich bin bei Pflegeeltern aufgewachsen. Von meinemPflegevater habe ich keine Liebe erfahren. Nur an Weihnachten o<strong>der</strong>an Ostern gab es vielleicht ein kleines Geschenk. Ansonsten war ermürrisch, aufbrausend, ohne warmherzige Liebe. Wie soll ich mirGott als Vater vorstellen, wenn ich selber keinen Vater hatte, <strong>der</strong> mirLiebe gab?»


134Positives Gottesbild trotz Neurose: Eine 41-jährige Frau mit massiven¾ngsten, Suchtverhalten bei einer hysterischen Grundpersçnlichkeit:«Am letzten Sonntag war ich wie<strong>der</strong> am Grab meines Vaters.Die Tränen strçmten einfach. Am liebsten würde ich sterbenund bei ihm sein. Ich halte diese Welt nicht mehr aus! Ich habemeinen Vater früh verloren. Er war ein stiller, sanftmütiger Mann.Oft hat er mich auf seinem Schoß gehabt und mir über die Haaregestrichen und mich getrçstet, wenn mich die Mutter angeschrienhatte. So stelle ich mir Gott vor, auch wenn ich mich manchmalfrage, warum er mein Leiden zulässt und warum er meine Lage nichtän<strong>der</strong>t.»135Jahren für das Verständnis von Depression und Angst wichtigeBeiträge geleistet haben.Insbeson<strong>der</strong>e ist es mir wichtig, durch die Beschreibung <strong>der</strong> komplexenZusammenhänge wegzukommen von den Schuldzuweisungen,die implizit in vielen <strong>ps</strong>ychoanalytischen Modellen <strong>zum</strong> Ausdruckkommen.Diese Beispiele zeigen in unterschiedlicher Form die Gottesbil<strong>der</strong>von Menschen mit schweren Lebensschicksalen und mit neurotischenErkrankungen. Nicht immer sind es die Väter, die das Gottesbildprägen 11 , oft ist es auch die Enttäuschung <strong>der</strong> Erwartungen, dieman an Gott stellte.Ein Modell <strong>der</strong> Entstehung des Gottesbildes<strong>Wenn</strong> wir uns nun in diesem Buch speziell mit <strong>der</strong> Problematik desneurotischen Menschen und seinen Verzerrungen des Gottesbildesbeschäftigen, so geht es nicht nur um das Ringen <strong>ps</strong>ychisch einigermaßengesun<strong>der</strong> Leute mit Gott 12 , son<strong>der</strong>n darum, wie ein Menschmit einer neurotischen Problematik, insbeson<strong>der</strong>e mit ¾ngsten, Depressionenund Zwängen, seine Beziehung zu Gott erlebt.Auch hier gibt es keine einseitigen, monokausalen Erklärungen.Die ClichØs vom Vaterbild als Ursache des Gottesbildes müssen einerbreiteren Betrachtungsweise Platz machen. Das Modell <strong>der</strong> Entstehungdes Gottesbildes, das ich in den Abbildungen 10–1 und10–2 vorstellen mçchte, stützt sich auf drei Grundlagen:a) Auf klinische Erfahrungen mit <strong>ps</strong>ychisch leidenden Menschen,die man gemeinhin als «neurotisch» bezeich<strong>net</strong>.b) Auf empirische Studien, die die Zusammenhänge von Neuroseund Religiosität erforschen und sich speziell auch mit dem Gottesbildauseinan<strong>der</strong>setzen. 13c) Auf kognitiv-lerntheoretische Konzepte, die in den vergangenenAbbildung 10-1: Prägende Faktoren des GottesbildesManche Elemente des Modells werden dem Lesenden schon von <strong>der</strong>Darstellung <strong>der</strong> Entstehung neurotischer Muster bekannt sein. Hierhabe ich nun beson<strong>der</strong>en Wert auf die Ideale und Werthaltungengelegt, die in Krisensituationen im Kontrast stehen kçnnen zur realenErfahrung und zur biblischen Gottesvorstellung, wie sie durch


136Abbildung 10-2: Die neurotische Prägung des GottesbildesErziehung und Verkündigung vermittelt wurde. Blättern Sie kurzzurück zu dem Beispiel im ersten Kapitel, wo die junge Frau, dieihre Mutter verloren hat, sagt: «Ich habe Gott nicht erlebt. Er mussgeschlafen haben, als wir zu ihm schrien!» Dieses negative Gottesbildentstand, weil die junge Frau in ihrem Schmerz nicht annehmenkonnte, dass <strong>der</strong> «gute Gott», von dem ihr die Mutter so viel erzählthatte, nun Bçses zuließ, ja sogar das letztendlich Bçse, den unverdientenTod <strong>der</strong> geliebten Mutter. ¾hnliches hat Picasso durchgemacht,als seine kleine Schwester starb. Diese Spannung nenntman auch «kognitive Dissonanz» 14 , diesen unangenehmen Misston<strong>der</strong> menschlichen Erfahrung, <strong>der</strong> nach Auflçsung in eine neue Harmonieverlangt.137Wie <strong>der</strong> Mensch diese Dissonanz überbrückt, hängt entscheidenddavon ab, wie er mit seelischen Spannungen umgeht. Der reifeMensch <strong>wird</strong> nicht in den Kurzschluss fallen: «Weil mir Bçses geschehenist, ist Gott bçse.» Er <strong>wird</strong> Wege finden, sich mit dem Leidenin dieser Welt auseinan<strong>der</strong>zusetzen und daran zu wachsen. 15Doch man kann auch diejenigen Menschen verstehen, die sich inihrer Enttäuschung von Gott abwenden und nichts mehr von ihmwissen wollen. In <strong>der</strong> Literatur <strong>wird</strong> immer wie<strong>der</strong> über den <strong>Glaube</strong>nsverlustbei früher gläubigen Menschen berichtet, die an ihrenEnttäuschungen und Schicksalsschlägen zerbrachen.So beklagt Ringel 16 den «Religionsverlust durch religiçse Erziehung.»Und Strauch 17 fragt sich, «weshalb junge Leute fromme Traditionenaufgeben». Einerseits seien es gesellschaftliche und schulischeEinflüsse, die den <strong>Glaube</strong>n in unserer Zeit erschwerten. Auf<strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite sieht Strauch aber auch Ursachen im Bereich <strong>der</strong>Gemeinde und <strong>der</strong> Familie. Vielfach seien christliche Traditionenerstarrt zu einer äußeren Frçmmigkeit. Schließlich sei auch einBuch von Ruthe 18 erwähnt, in dem er ein Kapitel <strong>der</strong> Frage widmet,wie falsche Gottesbil<strong>der</strong> entstehen. Seine Aussagen werden durcheindrückliche Fallbeispiele und Bildbeschreibungen unterstrichen.Beson<strong>der</strong>s unter <strong>Glaube</strong>nszweifeln leiden aber diejenigen, die eigentlichja an Gott glauben wollen, aber in ihren neurotischen Mustern<strong>der</strong> Erlebnisverarbeitung an ihm verzweifeln und ein vçllig verzerrtesGottesbild entwickeln. Bei ihnen spielen am ehesten dieErinnerungen an schmerzliche Erfahrungen mit den Eltern eine Rolle,an demütigende Situationen in <strong>der</strong> Schule o<strong>der</strong> an Verlassenheitsängsteihrer Kindheit. Durch ihre unreife und angstbesetzte Verzerrungdes Denkens – ihr «trotziges und verzagtes Herz», wie eseinmal bei Jeremia 19 genannt <strong>wird</strong> – fällt es ihnen oft auch schwer,Trost aus <strong>der</strong> Bibel zu schçpfen. Ihr Schwarz-Weiß-Denken macht esihnen schwer, beide Seiten Gottes zu erkennen, seine Güte und seinesouveräne Autorität. Oft kçnnen und wollen sie gar nicht ergründen,ob die von ihnen zitierte Bibelstelle sich nun wirklich auf ihreLage anwenden lässt.So intensiv erleben sie ihre Angst beim Gedanken an Gott, dass esfür sie gar keine an<strong>der</strong>e Sichtweise gibt als diejenige des furchterregenden,zornigen Gottes. Diese Art des Denkens nennt man in <strong>der</strong>Tiefen<strong>ps</strong>ychologie auch «Projektion»: Innere Erfahrungen werdenauf außenstehende Personen 20 übertragen und ihnen angelastet.


138Weil <strong>der</strong> sensible gläubige Mensch die <strong>Konflikt</strong>e und Grenzen, an dieer stçßt, so eng mit seinem <strong>Glaube</strong>n verbindet, werden Enttäuschungenund Verletzungen nicht als Teil seiner Persçnlichkeit o<strong>der</strong>seines irdischen Erlebens verarbeitet, son<strong>der</strong>n auf Gott projiziert.«Weil meine Eltern mich so eingeengt haben, darum habe ichheute noch Schwierigkeiten, mich auf Beziehungen einzulassen.»«Weil man mich gelehrt hat, Gott sehe alles, was ich mache, darumleide ich so sehr an dem übergestrengen Gott, <strong>der</strong> in jeden Winkelmeines Lebens hineinschaut, <strong>der</strong> mir keine Chance gibt, mich endlicheinmal selbst zu entwickeln, auch ohne ständig daran zu denken,was er wohl dazu meint.» Hinter solchen knapp hingeworfenenSätzen kann sich eine große Tragik verbergen, nicht nur in Bezug aufdie Erziehung, son<strong>der</strong>n auch in Bezug auf die persçnliche Verarbeitungchristlicher Lehren im Kontext des gesamten Lebens. Es istdann manchmal weniger schmerzlich, Gott o<strong>der</strong> den Eltern dieSchuld zuzuschieben, als sich selbst als diejenige Person zu sehen,die ihr Leben mitgestaltet und erleidet.So sagt also das Gottesbild viel mehr über die innere Not und dieErlebnisverarbeitung eines Menschen aus als über Gott selbst. Dabeilassen sich auch nur begrenzt Rückschlüsse auf die wahre Natur <strong>der</strong>Eltern o<strong>der</strong> die Vermittlung religiçser Werte ziehen. Dennoch solltenEltern und Erzieher ihr Verhalten und die Vermittlung biblischerGeschichten immer wie<strong>der</strong> sorgfältig hinterfragen und immerwie<strong>der</strong> die heilenden, vergebenden und trçstenden SeitenGottes betonen.Gedanken zur TherapieWie kann man Menschen mit einem gestçrten Gottesbild helfen?Kann man ihnen bei den tief eingegrabenen seelischen Wundenund Enttäuschungen überhaupt einen liebenden Gott vermitteln,ohne sie in ihrer Not zu verhçhnen? So wie das Gottesbild in dieGesamtheit des Erlebens eines neurotischen Menschen eingebundenist, so sollte es auch in <strong>der</strong> Therapie auf dem Hintergrund <strong>der</strong> vielfältigenFaktoren gesehen werden, die die Entstehung eines Gottesbildesbegünstigen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Gottesbildin ein und <strong>der</strong>selben Person je nach Situation undGefühlslage sehr unterschiedlich sein kann.In <strong>der</strong> ersten Phase einer Therapie geht es darum, das Vertrauenherzustellen und einen Menschen im Leiden an seiner verzerrtenSicht Gottes ernst zu nehmen. Selbst in <strong>der</strong> Bibel finden wir Beispielefür die Verzweiflung an Gott, von den wütend-ohnmächtigenHilferufen in den Psalmen bis hin zur Frage Jesu: «Mein Gott, meinGott, warum hast du mich verlassen?»Doch jede Therapie, auch die Seelsorge, baut auf die Bereitschaftdes Ratsuchenden <strong>zum</strong> Umdenken. Er braucht Ermutigung, die negativverarbeiteten Lebenserfahrungen neu unter dem Blickwinkeldes Wortes Gottes zu sehen. Der seelsorgerliche Therapeut sollteihm dabei helfen, diese neue Sicht zu entwickeln. Insbeson<strong>der</strong>e giltes, die simplifizierende Gleichung aufzubrechen: «Weil mir Bçsesgeschehen ist, ist Gott bçse.»Nicht wenige Patienten verstecken sich hinter Schuldzuweisungengegenüber Eltern und Sonntagsschullehrern, Priestern und Predigern,die sie «krank gemacht» hätten. Dabei merken sie nicht, dasssie auf einer unreifen <strong>Glaube</strong>nsstufe stehengeblieben sind, ohne eigenverantwortlichesHinterfragen <strong>der</strong> vermittelten <strong>Glaube</strong>nssätze.So gilt es, <strong>der</strong>artige religiçse Projektionen in <strong>der</strong> Therapie vorsichtigzu hinterfragen und die Probleme in einen grçßeren Lebens-Zusammenhangzu stellen.Seelsorgliche Therapie soll und darf auch einen lehrhaften Anteilhaben, in dem aus <strong>der</strong> Bibel ein neues Gottes-Verständnis erarbeitet<strong>wird</strong>. Ziel wäre es, Gott nicht durch die Brille enttäuschen<strong>der</strong> undverletzen<strong>der</strong> Erfahrungen «nach menschlichem Bilde zu schaffen»,son<strong>der</strong>n sich neu ansprechen zu lassen von <strong>der</strong> Botschaft Gottes anden Menschen.Vom Gottesbild zur Gottesbegegnung139Wir haben nun viel vom Gottesbild geredet. Die Beschäftigung mitden innerseelischen Vorgängen bei <strong>der</strong> Entwicklung des Gottesbildskann leicht dazu führen, auf dem Weg <strong>der</strong> Psychologisierung und<strong>der</strong> Pathologisierung den Eindruck zu unterstreichen, <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> anGott sei primär eine <strong>ps</strong>ychische Projektion.Manchmal ist es notwendig, dass unsere Bil<strong>der</strong> zerbrechen, diesich in all den Jahren verfestigt und verklumpt haben und <strong>zum</strong> stçrendenHin<strong>der</strong>nis für Neues geworden sind. Ein solches Zerbrechen


140tut weh. Oft bedarf es einer tief erschütternden Krise, um offen zuwerden für ein neues Denken.In meinen Gesprächen mit Patienten erlebe ich immer wie<strong>der</strong>,dass eine solche Krise <strong>der</strong> Anfang für neues Wachstum sein kann.Wachstum, das haben wir schon gesehen, braucht Zeit. Nichtumsonst beschreibt die Bibel immer wie<strong>der</strong> eindrückliche Bil<strong>der</strong>aus dem landwirtschaftlichen Alltag Palästinas: die steinigen Fel<strong>der</strong>auf den Hügeln, die knorrigen Baumriesen in den Olivenhainen, diesorgfältig beschnittenen Weinstçcke, umgeben von niedrigen Mauernaus losen Steinen.Etwas Neues kann nur dort wachsen, wo Altes umgepflügt <strong>wird</strong>.Frucht entsteht nur dort, wo die Rebe in enger Verbindung mit demWeinstock bleibt, ja, wo man dem Weingärtner erlaubt, unfruchtbareTriebe wegzuschneiden. So kann gerade die schmerzliche Begegnungmit dem beschneidenden Messer des Winzers zur fruchtbringendenBegegnung mit Gott werden.Kehren wir am Schluss dieses Kapitels zurück <strong>zum</strong> eingangs zitiertenText aus dem Rçmerbrief. Es ist <strong>der</strong> schwache menschlicheGeist, <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> zurückfällt in das Muster des ängstlichenSklaven, in die Verzweiflung des Depressiven, in die Wankelmütigkeitdes Zweiflers, in die Skrupulosität des «Schwachen im <strong>Glaube</strong>n».Aufgabe von Seelsorgern, christlichen Therapeuten und Verkündigernist es, die Aufgabe des Heiligen Geistes mitzutragen,nämlich den verzagten menschlichen Geistern immer wie<strong>der</strong> zu bestätigen,dass sie Gottes Kin<strong>der</strong> sind. Letztlich müssen wir es dannGott überlassen, dass aus dem alten Gottesbild eine neue Gottesbegegnung<strong>wird</strong>. Eines ist sicher: Gott ist eine Realität, die weitüber jedes Gottesbild, über jede Projektion hinausgeht. Er offenbartsich den Menschen, die ihn wirklich suchen, in vielfältiger Form.Die Gefühle wechseln, Gott aber bleibt <strong>der</strong>selbe.1416. Mahler et al. 19807. Rizzuto 1979, S. 888. Fowler 19919. Oser und Gmün<strong>der</strong> 198810. Huffington 198811. Dies konnte auch empirisch gezeigt werden, vgl. Birky und Ball 1988.12. Die Diskussionen um das Gottesbild gesun<strong>der</strong> Menschen zentrieren sichmehr um Fragen des allgemeinen Gotteserlebens und <strong>der</strong> religiçsen AttributeGottes in den verschiedenen Religionen. Ein Beispiel für diese Diskussionenfindet sich bei Schellenbaum 1981.13. Genannt seien hier Gorsuch 1968, Hark 1984, Preston und Viney 1986 undDçrr 1987, aber auch eigene, bisher nicht verçffentlichte wissenschaftlicheUntersuchungen.14. Der Begriff <strong>der</strong> kognitiven Dissonanz wurde geprägt von Festinger (1954).15. vgl. dazu Rogers 1992: «Dissonance and Christian formation»16. Ringel 198517. Strauch 198418. Ruthe 199119. Jeremia 17,920. Eigentlich ist in <strong>der</strong> Psychoanalyse von «Objekten» die Rede; es müssendies nicht nur Menschen sein. Eine gute Übersicht über Objektbeziehungund Gottesbild findet sich bei Spero 1985 und 1990.Anmerkungen zu Kapitel 101. Jesaja 66,132. Eine umfassende Darstellung aus theologischer und <strong>ps</strong>ychologischer Sichtfindet sich bei Heinrichs 1982.3. vgl. Psalm 25; 73 und an<strong>der</strong>e, Hiob 42,54. Feuerbach 1967, S. 97f. und 128.5. Freud 1923, S. 302 und 303.


14311Mçglichkeiten undGrenzen <strong>der</strong> TherapieWelche Mçglichkeiten gibt es, Menschen zu helfen, diean <strong>Konflikt</strong>en zwischen Neurose und Religiosität leiden?Wie lässt sich die übermächtige Gewissensangstberuhigen, die zwanghafte Ausrichtung an überhçhtenund verzerrten <strong>Glaube</strong>nsidealen? Wie lassen sich frühkindlichePrägungen heilen, und wie kann man Eltern helfen, ihre Kin<strong>der</strong> zueiner gesunden Frçmmigkeit zu erziehen? Welche Psychotherapiekann Abhilfe schaffen? Muss <strong>der</strong> Therapeut selbst gläubig sein,o<strong>der</strong> ist es sogar von Vorteil, wenn er vçllig unbelastet von persçnlicherReligiosität ist? Mit an<strong>der</strong>n Worten: Sind «religiçse Neurosen»überhaupt ein Betätigungsfeld für Seelsorger, o<strong>der</strong> tragen diese nurnoch zur Verstärkung <strong>der</strong> Problematik bei?Es <strong>wird</strong> nicht mçglich sein, eine einfache Anleitung zur Auflçsungjeglicher religiçs-neurotischen <strong>Konflikt</strong>situation zu geben.Etwas ist aber bereits deutlich geworden: Religiçs gefärbte Neurosensind nur eine von vielen mçglichen inhaltlichen Prägungen neurotischerErlebnisweisen. So muss auch die Frage nach Therapie undSeelsorge dieser Stçrungen in den grçßeren Zusammenhang <strong>der</strong>Therapiefähigkeit von Neurosen im Allgemeinen gestellt werden.Voraussetzungen einer TherapieWelches sind nun die Voraussetzungen für eine Therapie? In <strong>der</strong><strong>ps</strong>ychotherapeutischen Erfahrung haben sich verschiedene Eigenschaftenherauskristallisiert, die eine Therapie beson<strong>der</strong>s erfolgversprechendmachen. Diese werden mit dem Akronym YAVIS 1 um-


144schrieben, das die Eigenschaften eines «therapiefähigen» Patientenbeschreibt:Y = jung (engl. young)A = attraktiv (gute Beziehung zwischen Patient und Therapeut)V = verbalisierungsfähig (kann seine Probleme in Worte fassen)I = intelligentS = erfolgreich in Arbeit und Lebensbewältigung (engl. successful)<strong>Wenn</strong> wir nun allgemein von <strong>der</strong> Therapiefähigkeit reden, so gilt eszu unterscheiden zwischen schweren und leichteren Zustandsbil<strong>der</strong>n.Patienten mit leichteren neurotischen Stçrungen o<strong>der</strong> mitakuten Krisen kçnnen durch eine Psychotherapie o<strong>der</strong> eine therapeutischorientierte Seelsorge wertvolle Hilfen erfahren. Obwohl siedas Leben äußerlich recht gut bewältigen, leiden sie oft an ihrerCharakterstruktur, die ihnen die Beziehungen zu an<strong>der</strong>n erschwert 2und ihnen die unbeschwerte Freude am Leben und am <strong>Glaube</strong>n vergällt.Doch die YAVIS-Bedingungen allein reichen nicht. Es braucht nochweitere Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie, nämlich:&&&&Leidensdruck.Bereitschaft und Fähigkeit zur Verän<strong>der</strong>ung.Mut und Kraft, Verletzungen hinter sich zu lassen und sich angstauslçsendenSituationen zu stellen.Bereitschaft, falsche Gottesbil<strong>der</strong>, klischeefçrmige Erwartungenan Mitchristen und falsche For<strong>der</strong>ungen an sich selbst zu hinterfragenund zu verän<strong>der</strong>n.Leidensdruck und Verän<strong>der</strong>ungVerän<strong>der</strong>ung ist nur mçglich, wenn jemand unter seiner Problematikleidet und die Ursachen wirklich angehen mçchte. Oft braucht eseine innere Erschütterung, ein Zerbrechen an den überhçhten undverzerrten Idealen, bevor man sich eingesteht, dass man so nichtweiterleben kann und will. Diese Erfahrung <strong>wird</strong> als «Leidensdruck»bezeich<strong>net</strong>. Erst wenn dieser ein gewisses Maß erreicht, entsteht da-raus auch die zweite Voraussetzung für Therapiefähigkeit, nämlichdie Bereitschaft zur Verän<strong>der</strong>ung: Es hat keinen Sinn, wenn ein Seelsorgero<strong>der</strong> ein Therapeut einen Ratsuchenden auf seine «pathologische»Frçmmigkeit anspricht und versucht, ihn zu verän<strong>der</strong>n,ohne dass dieser dazu bereit ist. Mehr noch: Die Infragestellungvon <strong>Glaube</strong>ns-Einstellungen kann gerade das Gegenteil bewirken,nämlich einen Vertrauensverlust mit Therapieabbruch.Nicht immer lässt es die reale Situation zu, die Vorstellungen <strong>der</strong>Therapeuten in die Tat umzusetzen. Oftmals versuchen säkulareund auch christliche Therapeuten, ihren Patienten Ideale zu vermitteln,die sie in neue <strong>Konflikt</strong>e stürzen. Ein Beispiel: Eine 30-jährigeFrau klagt darüber, dass sie Mühe damit habe, beim Besuch <strong>der</strong> betagtenEltern diese in den Gottesdienst ihrer Brü<strong>der</strong>gemeinde zubegleiten. Sie hätte jeweils in <strong>der</strong> Nacht zuvor Magenschmerzenund schlafe schlecht, weil sie wisse, dass sie in <strong>der</strong> Gemeinde einKopftuch anziehen müsse und Menschen treffe, von denen sie alsJugendliche verletzt worden sei. Der Therapeut rät ihr: «Tun Sienur das, was für Sie auch innerlich stimmt. <strong>Wenn</strong> Sie sich nichtwohlfühlen, dann sagen Sie Ihren Eltern freundlich, aber bestimmt:Ich mçchte nicht mit euch in den Gottesdienst gehen.» Doch diesesIdeal <strong>der</strong> Selbstbestimmung stürzt die Patientin in neue Loyalitäts-<strong>Konflikt</strong>e, die sie etwa folgen<strong>der</strong>maßen beschreibt: «Ich weiß, dassmeinen Eltern viel am Gottesdienstbesuch liegt. Eigentlich mçchteich ihnen das doch zuliebe tun. Warum bin ich nicht fähig, mich zuüberwinden? Ich bin eine Versagerin!»Bereitschaft zur Vergebung145Therapiefähigkeit beinhaltet auch den Mut und die Kraft, Verletzungenhinter sich zu lassen. Die meisten Menschen, die in eine Therapiekommen, leiden darunter, dass sie verletzt wurden und Unrechterlebten – von an<strong>der</strong>n, durch ihr eigenes Versagen, durch dasSchicksal o<strong>der</strong> sogar durch Gott. Es reicht nicht, sich diese Verletzungen,die Wut und den Schmerz bewusst zu machen. Im Grundegenommen geht es hier auch um die Bereitschaft zur Vergebung.Das Thema <strong>wird</strong> selten aufgegriffen in <strong>der</strong> therapeutischen Literatur.3 Nur ganz wenige Psychologen haben es unternommen, in einerFachzeitschrift über ihre Erfahrungen einer therapeutischen Anwen-


146dung <strong>der</strong> Vergebung zu berichten. 4 Und doch ist Vergebung manchmal<strong>der</strong> einzige Weg <strong>zum</strong> Neuanfang.Dabei geht es nicht nur um eine geistliche Übung, son<strong>der</strong>n umdas reife Eingeständnis, dass man selbst Verantwortung für sein Lebenübernimmt; dass man nicht an<strong>der</strong>n die Schuld für die eigenenProbleme zuschiebt und alte Verletzungen bewusst loslässt. Vergebenbedeutet nicht unbedingt Vergessen. 5 Vergebung heißt vielmehr:Ich will die Schuld nicht mehr zurechnen. Ich will mein Lebenmit Gottes Hilfe im Hier und Jetzt führen und nicht bloß meineVergangenheit für meine gegenwärtigen Schwierigkeiten verantwortlichmachen.Oft fehlt es neurotischen Menschen allerdings an <strong>der</strong> Kraft undan <strong>der</strong> Fähigkeit, sich in diesem Sinne zu verän<strong>der</strong>n. In ihren sensiblenSeelen haben sich die Erinnerungen <strong>der</strong>art tief eingeprägt, dassman menschlich kaum einen Weg sieht, wie sie sie tilgen sollen. Diesbezieht sich nicht nur auf religiçse Aspekte, son<strong>der</strong>n auf das Lebenim Allgemeinen. Ich denke dabei an eine 40-jährige Patientin, die aneiner schweren neurotischen Depression mit ausgeprägter Magersuchtlitt. Sie konnte sich an Szenen in ihrem Büro-Alltag erinnern,die fünfzehn Jahre zurücklagen. «Ich sehe meinen Chef noch heutevor mir, als ob es gestern gewesen wäre, wie er mir eine Akte nach<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auf den Tisch legte. Er merkte gar nicht, wie sehr ermich überfor<strong>der</strong>te und verletzte. Jetzt kann ich einfach nicht mehr!»Doch es braucht nicht nur eine allgemeine Bereitschaft zur Verän<strong>der</strong>ung,son<strong>der</strong>n auch speziell im Bereich des <strong>Glaube</strong>ns eine Offenheit,falsche Gottesbil<strong>der</strong>, klischeefçrmige Erwartungen an Mitchristenund falsche christliche For<strong>der</strong>ungen an sich selbst zuhinterfragen und zu verän<strong>der</strong>n.Eines ist aus diesen therapeutischen Überlegungen deutlich geworden:Menschen mit religiçs-neurotischen Problemen brauchendie sachkundige Begleitung durch Therapeuten bzw. durch Seelsorger,die über persçnliche Erfahrungen mit <strong>Glaube</strong>n im heilendenund befreienden Sinne verfügen. Dieser Zusammenhang wurde treffendvon Prof. Klosinski in Worte gefasst, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong> Behandlungvon Patienten und Familien aus einem religiçsen Hintergrundbeschäftigte. Er schrieb: «Es <strong>wird</strong> darauf ankommen, dass <strong>der</strong> betreffendeTherapeut <strong>der</strong> religiçsen Dimension auch in seinem eigenenLeben eine wichtige Funktion beimisst, ohne in dogmatischem Den-ken zu erstarren und vorschnell über religiçs An<strong>der</strong>sdenkende negativzu urteilen.» 6Die Grenzen <strong>der</strong> Therapie147«Zwei Jahre lang bin ich regelmäßig in Therapie gegangen. Ich habeversucht, meine Kindheit aufzuarbeiten, meine Träume zu deutenund meine Komplexe zu verstehen. Jetzt habe ich aufgehçrt. DieTherapie hat mir zwar geholfen, mich selbst besser zu verstehen,aber ich habe meine ¾ngste immer noch.» Aussagen dieser Artkann man immer wie<strong>der</strong> von neurotischen Patienten hçren. 7 Siereflektieren die durch empirische Forschung belegte Erfahrung,dass nur zwei Prozent <strong>der</strong>jenigen Patienten, die an einer ausgeprägtenneurotischen Stçrung leiden, regelmäßig in einer Psychotherapiebleiben. 8 Es liegt in <strong>der</strong> Natur neurotischer Stçrungen, dass sie einerklassischen Psychotherapie nur begrenzt zugänglich sind, ja dasseine rein <strong>ps</strong>ychologische Therapie von vielen als wenig hilfreich erlebt<strong>wird</strong>. Die besten therapeutischen Ergebnisse sind bei vorübergehendenBelastungsreaktionen und Krisen bei einer ansonsten stabilenGrundpersçnlichkeit zu erwarten.Das mag sehr resigniert klingen. Und doch ist es allen <strong>ps</strong>ychotherapeutischenSchulen gemeinsam, dass es ihnen leichter fällt, dieProbleme zu beschreiben, als Lçsungen zu offerieren o<strong>der</strong> gar Heilungzu vermitteln. Durch populärwissenschaftliche Bücher, die dieAlltagsnçte gesun<strong>der</strong> Menschen beschreiben, <strong>wird</strong> suggeriert, seelischeGesundheit sei machbar, wenn man sich nur lange genug therapierenlasse. Es <strong>wird</strong> die Illusion vermittelt, je<strong>der</strong> Mensch kçnnesich vollumfänglich entfalten, konfliktfrei in Begegnungen einlassenund ein erfülltes Leben ohne Schwierigkeiten und Schmerzen führen,wenn er nur wolle. 9 Gerade schwer neurotische Menschen erfüllendiese Voraussetzungen nicht. Sie fühlen sich in einer Psychotherapieoft nicht ernst genommen und brechen sie deshalb ab. Vieleher suchen sie ihren Hausarzt auf, <strong>der</strong> sie auch in ihren kçrperlichenBeschwerden ernst nimmt und versucht, diese zu lin<strong>der</strong>n.Häufig werden auch Internisten und Frauenärzte konsultiert, ummçgliche hormonelle Stçrungen abzuklären und therapieren. Dieseelische Not, die Einsamkeit und Resignation kommt dann oft nuram Rand zur Sprache. So sind dann oft die Angehçrigen und nicht


148zuletzt auch Seelsorger und engagierte Christen diejenigen, die hierHilfe anzubieten versuchen.Hilfen für Menschen mit religiçs gefärbtenneurotischen <strong>Konflikt</strong>en<strong>Wenn</strong> wir nun versuchen, ein Programm zur Hilfe für Menschen zuentwerfen, die an seelischen <strong>Konflikt</strong>en im Spannungsfeld von<strong>Glaube</strong> und Lebensproblemen leiden, so müssen wir ein Angebotauf drei Ebenen anbieten:1. persçnliche Beziehung und Beratung2. Erziehungsberatung3. Beratung <strong>der</strong> VerkündigerIch mçchte mich in diesem Buch auf die seelsorglich-therapeutischeBegleitung beschränken, <strong>zum</strong>al an an<strong>der</strong>er Stelle bereits umfangreicheHinweise für eine ausgewogene und hilfreiche christliche Erziehunggegeben wurden. 10 Wie also kann man Menschen hilfreich begegnen,die darüber klagen, dass sie unter einer Erziehung o<strong>der</strong>Verkündigung gelitten haben, die ihren Bedürfnissen nicht gerechtwurden und sie in <strong>Konflikt</strong>e zwischen <strong>Glaube</strong>n und Alltagsleben gestürzthaben? Tabelle 11–1 gibt einen kurzen Überblick.Tabelle 11–1: Acht Hinweise <strong>zum</strong> Umgang mit Menschen, diean religiçs-neurotischen <strong>Konflikt</strong>en leiden.1. Annahme und Einfühlung.2. Den Lebensstil als Ganzes sehen.3. Bewusstmachen von Zusammenhängen und Entkoppelnvon Projektionen.4. Unterstützende Therapie: Konkrete Hilfe für den Alltag geben.5. Eigenverantwortlichkeit vor Gott und Menschen betonen.6. Ermutigen <strong>zum</strong> Leben mit Grenzen.7. Biblische Lehre zur Entzerrung von unflexiblen o<strong>der</strong> einseitigen<strong>Glaube</strong>nssätzen anbieten.8. Selbstprüfung des Seelsorgers bzw. Therapeuten.Annahme und EinfühlungDie wichtigste Voraussetzung für jedes helfende Gespräch ist eineGrundhaltung <strong>der</strong> Annahme und <strong>der</strong> Einfühlung. Als Jesus denMenschen begeg<strong>net</strong>e, die unter dem Joch einer pharisäischen Gesetzlichkeitstanden, da «jammerten sie ihn». Er nahm die Menschenernst in ihrem Leiden, selbst dort, wo sie gefangen waren in demZwiespalt zwischen einem offensichtlich falschen Verhalten undden gnadenlosen religiçsen Konsequenzen einer alttestamentlichenGesetzlichkeit. So stellte er sich zwischen die Ehebrecherin und diePharisäer, die sie zur Steinigung schleppen wollten. Diese Haltung<strong>der</strong> Barmherzigkeit und <strong>der</strong> bedingungslosen Annahme in <strong>der</strong> erstenBegegnung bedeutet nicht, dass man in späteren Schritten nichtauch eine Analyse <strong>der</strong> Lebensmuster macht und ¾n<strong>der</strong>ungen vorschlägt.Aber sie bietet die Grundlage je<strong>der</strong> erfolgreichen Beziehung,nämlich das Vertrauen: Ich werde angenommen, so wie ich bin; mitmeinen Erfahrungen, mit meinen Verletzungen, mit meinen ¾ngsten,mit meinen Hemmungen, mit meinen unerfüllten Wünschen.Bedingungslose Annahme bedeutet in diesem Zusammenhangauch, dass man nicht gleich in religiçsen Kategorien denkt. Hinterdem vor<strong>der</strong>gründigen Problem verbirgt sich oft ein tragisches Einzelschicksal,das weit über «verzerrte», «falsche» o<strong>der</strong> «verbogene»Religiosität hinausgeht.Den Lebensstil als Ganzes sehen149Gerade weil Lebensprobleme gewçhnlich über die bloßen religiçsenAspekte hinausgehen, sollte <strong>der</strong> Berater nicht an den religiçsen Fragestellungenstehenbleiben, auch wenn sie vielleicht vom Ratsuchendenbetont werden. Das vor<strong>der</strong>gründig präsentierte Problem<strong>der</strong> «mangelnden Heilsgewissheit» kann eine allgemeine Verunsicherungbedeuten, vielleicht eine <strong>zum</strong> Grübeln und Zweifeln neigendePersçnlichkeits-Struktur, die sich auch in an<strong>der</strong>en Lebensbereichenauswirkt. Der Therapeut sollte also in einem erstenGespräch versuchen, sich ein Bild des ganzen Menschen in seinerEntwicklung, in seinen Beziehungs- und Denkmustern, seiner Leistungsfähigkeit(Haushalt, Arbeit, Schule) und seiner emotionalenEmpfindens- und Ausdrucksfähigkeit zu machen.


150Mit <strong>der</strong> Zeit lernt man dann die Person und ihre Lebensumständebesser kennen, so dass man damit beginnen kann, Zusammenhängebewusst zu machen. Im Gespräch erarbeitet <strong>der</strong> Therapeut o<strong>der</strong> <strong>der</strong>Seelsorger Werthaltungen, Ursachenzuschreibungen o<strong>der</strong> Beziehungsängste.Im Bereich des religiçs-neurotischen Spannungsfeldesgilt es dann abzuklären, inwieweit <strong>Glaube</strong>nsfragen im Vor<strong>der</strong>grundstehen o<strong>der</strong> aber nur als Begleiterscheinung auftreten. Ich plädierealso für eine Entkoppelung von Lebensproblemen, Persçnlichkeits-Struktur und «ekklesiogenen» Erklärungen bzw. Projektionen. 11 Oftzeigt sich, dass (in Abwandlung eines Freud-Zitates 12 hinter «ekklesiogenemElend» ein ganz gewçhnliches Lebensunglück steht.Ein Beispiel: Eine 35-jährige Frau sucht wegen chronischer Erschçpfung,Nie<strong>der</strong>geschlagenheit und Überfor<strong>der</strong>ung mit ihrendrei Kin<strong>der</strong>n eine seelsorgliche Therapeutin auf. Sie kommt aus einerengen religiçsen Familie, und <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung nach neigtenbeide Eltern zur Schwermut. Der Vater erwartete ständig den Weltuntergangund versagte sich und seinen Kin<strong>der</strong>n viele Lebensfreuden.Mehr noch: In ihrer Kirche wurde gelehrt, dass man durch einbeson<strong>der</strong>es «Heiligungs-Erlebnis» frei werden kçnnte von jedemsündigen und fleischlichen Impuls. Das kleine Mädchen ging mitin die Versammlungen und sehnte sich danach, einmal keine Gedankendes Wi<strong>der</strong>spruchs mehr gegen die Eltern haben zu müssen.Doch immer wie<strong>der</strong> «versagte sie». Durch Bravsein und Helfen versuchtesie, ihr Versagen gut<strong>zum</strong>achen, im ständigen Bemühen, dieEltern und letztlich Gott gnädig zu stimmen (obwohl sich die Elternihr gegenüber nie übermäßig ablehnend verhielten).Später, in <strong>der</strong> Jugendgruppe, hatte sie längst an<strong>der</strong>e Christen kennengelernt,die mit ihrem <strong>Glaube</strong>n Freude und Freiheit ausstrahlten.Rein verstandesmäßig wusste sie, dass ihr Heil nicht durch Gutestunerkauft werden konnte. Doch sie blieb weiterhin eine sehr überbesorgtesensible Frau. <strong>Wenn</strong> eines ihrer Kin<strong>der</strong> weint, lässt sie allesliegen, um es zu beruhigen. Nicht einmal aufs WC geht sie dann.Immer wie<strong>der</strong> fragte sie fast verzweifelt: «Warum reagiere ich so?Warum reibe ich mich in meinem Helfertrip auf?» Es wäre einfachgewesen, die Überbesorgtheit auf ihre religiçse Erziehung zurückzuführen.Doch hinter ihrem überbesorgten helfenden Verhaltensteht eine Grundangst vieler Mütter, wie wir sie auch bei nicht-religiçsenPatienten beobachten: die (zwanghafte) Angst 13 , eines ihrerKin<strong>der</strong> kçnnte Schaden erleiden. Würde etwas passieren, so würdesie sich ein Leben lang Vorwürfe machen. In <strong>der</strong> Beratung konnte sieallmählich lernen zu sagen: «Ich bin überängstlich und sensibel, undich muss lernen, mich mehr um mich selbst zu kümmern. Ich darfGott vertrauen, dass er die Kin<strong>der</strong> bewahrt, auch wenn ich mal kurzauf die Toilette gehe.» Sie lernte zu unterscheiden zwischen falschenIdealen, die sie in <strong>der</strong> Kindheit gelernt hatte, und ihrem persçnlichenStil, sich Verantwortung aufzuladen, die sie letztlich gar nichttragen konnte. Die Entkoppelung dieses Lebensstils von dem unbewusstenGedanken, Gott verlange dies von ihr, half ihr <strong>zum</strong> Teil dieÜberängstlichkeit abzubauen und ein ausgewogeneres <strong>Glaube</strong>nslebenzu entwickeln. Dennoch blieb sie auch weiterhin eine Person,die übermäßig an Sorgen, ¾ngsten und Zwängen litt.Konkrete Hilfen für den Alltag geben151Oftmals werden ganz konkrete Fragen an den Seelsorger und Therapeutenherangetragen, die das Spannungsfeld zwischen <strong>Glaube</strong> und«Neurose» bestimmen. «Ist es wirklich meine Christenpflicht, meinebetagten Schwiegereltern jedes Wochenende zu uns einzuladen? Ichkann manchmal fast nicht mehr neben den vier lebhaften Kin<strong>der</strong>n.Aber mein Mann mçchte das so.» – «Darf ein Christ sich selbst befriedigen,o<strong>der</strong> ist das Sünde? Ich leide so darunter, dass ich immerwie<strong>der</strong> falle. Dabei sollte ich doch als Jugendleiter ein Vorbildsein.» – «Ich kann aus gesundheitlichen Gründen meine Haare nichtmehr lang tragen, aber in meiner Gemeinde werde ich abgelehnt,wenn ich sie schneide! Wem muss ich mehr gehorchen? Ich mçchteja auch meine Freunde nicht verlieren!» – «Unser Sohn leidet anAIDS. Wir sind schlechte Eltern und schlechte Christen – wir habenvçllig versagt. Und in unserer Kirche ist das eine furchtbare Schande.Wir haben alle Kirchenämter zurückgegeben.»Hier <strong>wird</strong> <strong>der</strong> Seelsorger und <strong>der</strong> Therapeut hineingeworfen indie vielfältigen Lebensschicksale leiden<strong>der</strong> Menschen. Ich bin zurückhaltend,die oben genannten <strong>Konflikt</strong>e gleich als «Neurosen»zu bezeichnen. Viel eher würde ich von <strong>ps</strong>ychischen Reaktionen aufLebensprobleme sprechen. Gerade diese praktischen Probleme erfor<strong>der</strong>nvom Therapeuten und vom Seelsorger viel Einfühlungsvermçgenin die Situation des Einzelnen und in sein gesellschaftliches(subkulturelles) Umfeld. Er kann und darf nicht <strong>zum</strong> billigen Brief-


152kasten-Onkel werden, <strong>der</strong> sagt, was «man darf» und was «man nichtdarf». In diesen Situationen gilt es, den Menschen ganz praktisch zurSeite zu stehen und ihnen zu helfen, selbst Antworten zu entwickeln,die sie von ihrer persçnlichen Situation und von ihrem <strong>Glaube</strong>n hertragen kçnnen.In manchen Fällen ist es hilfreich, wenn <strong>der</strong> Therapeut einen Seelsorger<strong>der</strong>jenigen Gemeinde hinzuzieht, <strong>der</strong> eine Person angehçrt.Oftmals haben Menschen eine unberechtigte Angst davor, in ihrerGemeinde nicht verstanden zu werden, obwohl das Gegenteil zutrifft.So erfuhren die Eltern des AIDS-kranken Sohnes nach demBeizug eines Predigers ihrer Gemeinschaft eine vçllig an<strong>der</strong>e Reaktion,als sie erwartet hatten: Als sie ihre Nçte zugaben, wurden sie vonihren Freunden mit einer <strong>der</strong>artigen Liebe gestützt und begleitet,dass sie später diese Zeit als eine <strong>der</strong> wertvollsten Erfahrungen inihrem Leben bezeich<strong>net</strong>en. 14Praktische Unterstützung stellt also nicht den <strong>Glaube</strong>n als solchenin Frage, son<strong>der</strong>n hilft den Ratsuchenden, ihren Weg zu finden …&&&&in Familien-Beziehungen (Grenzen <strong>der</strong> Nächstenliebe, Loyalität).bei Leistungsansprüchen (verinnerlichte o<strong>der</strong> von außen kommendeAnsprüche).in <strong>der</strong> Sexual-Ethik (zwischen Freiheit und Leistungsdruck).im Umgang mit problematischen religiçsen Einschränkungen.Dabei besteht die Gefahr, dass <strong>der</strong> Therapeut vom Ratsuchenden in dieRolle des Schiedsrichters, des Hilfs-Ichs gedrängt <strong>wird</strong>. Nicht <strong>der</strong> Ratsuchende,son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Therapeut soll Entscheidungen für ihn fällen.Dahinter steht oft ein «neurotisches» Absicherungsbedürfnis. «<strong>Wenn</strong>mein Arzt, Dr. A., es so sieht, kann es nicht falsch sein!» – «<strong>Wenn</strong> esmeine Seelsorgerin, Frau S., so sieht, dann ist es biblisch und richtig.»Der o<strong>der</strong> die Ratsuchende muss daher ermutigt werden, Eigenverantwortlichkeitvor Gott und Menschen zu übernehmen.Therapeutisches Ziel: ReifePersçnliche und geistliche Reife bedeutet, mit einem Maß von Ungewissheitzu leben. Selbst ein Theologe wie Paulus, <strong>der</strong> mit Jesus inenger persçnlicher Beziehung stand, gab einmal zu: «Unser Wissenist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.» 15 Reifebedeutet demnach auch, Spannungen zwischen Ideal und Realität,zwischen Wunsch und Wirklichkeit auszuhalten. Es ist die Verantwortungjedes Einzelnen, Entscheidungen in den Spannungsfel<strong>der</strong>nseines Lebens zu treffen.Nicht immer kann Nächstenliebe und persçnliches Wohlergehenin vçlligem Einklang stehen. Je<strong>der</strong> geht das Risiko ein, von an<strong>der</strong>nmissverstanden zu werden. Das kann <strong>Konflikt</strong>e mit dem <strong>Glaube</strong>nbringen. Gar nicht so selten müssen Menschen auch von nicht-religiçsenBekannten hçren: «Und das will ein Christ sein!» Hier gilt esden Ratsuchenden zu ermutigen, zu seinen Grenzen zu stehen, auchwenn an<strong>der</strong>e versuchen, ihn bei seiner «religiçsen Schwachstelle» zutreffen. Im Zusammenleben ist oft eine «Kompromissbildung» zwischenBeziehung und Bedürfnisbefriedigung nçtig. Reife bedeutet,dass man sich im Zusammenleben anpassen kann, in dem subtilenGleichgewicht von Durchsetzung und Nachgeben. Und <strong>der</strong> reifeMensch <strong>wird</strong> nicht nur seinen unerfüllten Wünschen nachtrauern,son<strong>der</strong>n Erfüllung in an<strong>der</strong>en Bereichen seines Lebens suchen. Reifeist nicht Selbstverwirklichung, son<strong>der</strong>n Leben in <strong>der</strong> Realität dieserWelt im Wissen um Gottes Durchtragen und Begleiten.Dies führt uns zu einem weiteren wichtigen Punkt: Seelsorgerund Therapeut müssen auch um die Grenzen wissen, die geradeschwer «neurotischen» Menschen gesetzt sind. Sie kçnnen sich nichtimmer so entfalten und verän<strong>der</strong>n, wie man dies wünschen würde.Leben mit Grenzen153Die Erfahrung lehrt uns, dass es leichtere und schwerere neurotischeStçrungen gibt. Menschen mit leichteren Stçrungen kçnnen das Lebenbesser bewältigen, sich besser ausdrücken und sind offener fürEinsicht und Verän<strong>der</strong>ung. Bei ihnen kann auch <strong>der</strong> religiçse Anteilan <strong>der</strong> Entstehung von Lebenseinstellungen besser herausgearbeitetund therapeutisch angegangen werden. Sie sind eher in <strong>der</strong> Lage,alte Muster abzulegen und bewusst neue, funktionale Grundhaltungenaus biblischer Sicht zu entwickeln.Ganz an<strong>der</strong>s schwer neurotische Menschen, die seit Jahren unterausgeprägten ¾ngsten, Zwängen und Depressionen leiden und dadurchzunehmend in ihrer Fähigkeit eingeschränkt werden, zu ar-


154beiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten und das Leben zu genießen.Auch wenn sie deutlich glaubensgeprägte neurotische Denkweisenzeigen, so muss die Stçrung doch in einem grçßeren Zusammenhangeiner ausgeprägten neurotischen Gesundheitsstçrung gesehenwerden. Ihre Lebenskraft ist wie ein Wildbach, gefangen in den Klüften,die er sich über Jahrhun<strong>der</strong>te ins Felsgestein <strong>der</strong> Alpen gegrabenhat. Menschlich sieht man oft kaum einen Weg, wie das Wasser einneues Bett finden soll.Manchen Menschen gelingt es, in einer Krise all das Verkrusteteherauszuschreien, die düsteren Felsen wegzusprengen und in neuerForm ein ausgeglicheneres und erfüllteres Leben anzufangen, gleicheinem wild schäumenden Bergbach, <strong>der</strong> seinen Weg in die grünenMatten eines Tales findet. An<strong>der</strong>e finden ein Ja zu ihren Grenzenund erleben dadurch eine spürbare Erleichterung. Wesentliche Aufgabe<strong>der</strong> Betreuer ist es, diese Grenzen <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>barkeit anzunehmen,ohne einen Menschen vçllig fallen zu lassen. Vielmehrsind Seelsorger und Therapeuten dazu aufgefor<strong>der</strong>t, neue Strategienzu entwickeln, die dahin gehen, «die Schwachen», auch die «Schwachenim <strong>Glaube</strong>n», mit Barmherzigkeit anzunehmen und sie mitihren Grenzen zu tragen.155Gegen Letzteres werden Sie sich mit einem wie<strong>der</strong>genesenen Seelenlebenbesser zur Wehr setzen kçnnen» (Freud 1895).13. Der ängstliche Zwangsgedanke, es kçnnte einem Menschen Schaden zugefügtwerden, wenn man nicht etwas dagegen macht, ist recht häufig anzutreffen,auch bei nicht-religiçsen Menschen. Aus diesem Grund werdenZwangsstçrungen heute zu den Angst-Syndromen gerech<strong>net</strong>. Die Patientenwissen zwar, dass ihre ¾ngste unsinnig sind, aber sie kçnnen nichtdagegen angehen. Die ¾ngste werden unter erschwerten Umständen oftnoch verstärkt.14. Powell et al. 1991, S. 35215. 1. Korinther 13,9Anmerkungen zu Kapitel 111. nach Schofield 19642. Über die Schwierigkeiten einer therapeutischen Seelsorge bei Persçnlichkeitsstçrungenhat Nydam 1991 berichtet.3. vgl. den hervorragenden Übersichtsartikel von Pingleton 19894. Worthington und DiBlasio 1990, Hope 1987, Benson 19925. Smedes 19846. Klosinski 19907. vgl. beispielsweise Hemminger und Becker 19858. vgl. Kapitel 49. vgl. Zilbergeld 198310. vgl. Dieterich und Stoll et al. 1991, Strauch 1984, Ringel und Kirchmayr1985, A. Pfeifer 199011. vgl. dazu auch Spero 1976, S. 365: «The general goal is to separate theintra<strong>ps</strong>ychic conflict from its religious defense system.»12. Sigmund Freud schrieb einmal an eine Patientin: «Ich zweifle ja nicht, dasses dem Schicksale leichter fallen müsste als mir, Ihr Leiden zu beheben;aber Sie werden sich überzeugen, dass viel damit gewonnen ist, wenn esuns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln.


15712 Konsequenzenfür Verkündigung undSeelsorge«Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage undsprich zu ihnen: So spricht Gott <strong>der</strong> Herr: Wehe den Hirten Israels,die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herdeweiden? […] Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heiltihr nicht, das Verwundete bindet ihr nicht, das Verirrte holt ihrnicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke abertretet ihr nie<strong>der</strong> mit Gewalt.Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen,spricht Gott <strong>der</strong> Herr. Ich will das Verlorene wie<strong>der</strong> suchenund das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbindenund das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten;ich will sie weiden, wie es recht ist.»Hesekiel 34,2.4.15–16Was kçnnen die Hirten des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts dazu beitragen,dass die Schafe geweidet werden und sich lagernkçnnen? Was braucht es, um Krankes zu heilenund Verwundetes zu verbinden? Das sind die Fragen,denen wir uns in diesem letzten Kapitel zuwenden wollen.Pfarrer und Prediger, Jugendleiter und Sonntagsschullehrer habeneine beson<strong>der</strong>e Verantwortung. Ihre Vermittlung des Evangeliumskann wesentlichen Einfluss nehmen auf die Entstehung o<strong>der</strong>Vorbeugung von Spannungen zwischen <strong>Glaube</strong> und Neurose.<strong>Wenn</strong> das Wort Gottes nur in dogmatischer Weise gepredigt <strong>wird</strong>,ohne die existenziellen Nçte <strong>der</strong> Zuhçrer zu berücksichtigen, dannkann die vermeintliche Frohbotschaft zur bedrohenden Angstmache


158werden. <strong>Wenn</strong> nur geistliche Richtlinien vermittelt werden, dannverkommt die Predigt zur blutleeren Ansammlung von Worthülsen,die keine praktische Bedeutung mehr haben. <strong>Wenn</strong> Christsein nurnoch in Aktivismus und Pflichterfüllung besteht, ohne Oasen <strong>der</strong>Ruhe und <strong>der</strong> Besinnung anzubieten, dann kommt es über kurzo<strong>der</strong> lang zur Überfor<strong>der</strong>ung. <strong>Wenn</strong> die Autorität und die Bibelauslegungeines einzelnen Predigers o<strong>der</strong> Gruppenleiters <strong>zum</strong> absolutenMaßstab <strong>wird</strong>, dann besteht die Gefahr <strong>der</strong> Abhängigkeit und <strong>der</strong>Manipulation.Dort, wo Kirchen und ihre Oberhirten Gesetze aufgestellt haben,die dem biblischen Evangelium nicht entsprechen, dort muss einUmdenken einsetzen, ein Trauern über die Versäumnisse einervolks- und evangeliumsfernen Verkündigung. So haben Ringel undKirchmayr 1 Konsequenzen für die Erneuerung des kirchlichen Lebensgefor<strong>der</strong>t, die auch für den evangelischen Leser wertvolleDenkanstçße geben kçnnen. Die Kirche und ihre Vertreter müsstenechte Trauerarbeit leisten und dürften sich nicht hinter Kritik-Abwehrund Verdrängung <strong>der</strong> Schattenseiten verstecken. Die beidenAutoren plädieren für eine «betroffene Anteilnahme am vielfältigenElend des Volkes», ohne die es keine Bekehrung <strong>der</strong> Kirche gebe.Religionsvermittlung dürfe nicht mehr nur vernunftbetont sein,son<strong>der</strong>n müsse den Menschen auch in seiner Gefühlswelt ansprechen.Es gehe um die Fçr<strong>der</strong>ung einer personalen Gewissensbildung,die dazu anrege, von <strong>der</strong> «Freiheit eines Christenmenschen»Gebrauch zu machen.Belastende VerkündigungOftmals wurden Spannungsfel<strong>der</strong> erzeugt, indem Lehren verkündigtwurden, die nur einen Teil <strong>der</strong> biblischen Wahrheit wie<strong>der</strong>geben.Die Sehnsucht nach Vollkommenheit kann die Botschaft von<strong>der</strong> Gnade vçllig in den Hintergrund drängen. Der Wunsch nachGottes Führung kann vçllig vergessen lassen, dass man eigeneEntscheide zu treffen hat. Die Betonung des Gehorsams unterdrücktoft die persçnliche Freiheit in Christus, und die gefühlsbetonteInanspruchnahme gçttlicher Kraft und gçttlichen Siegeslässt vergessen, dass wir noch immer im diesseitigen «Jammertal»leben.In ihrem Buch «Toxic Faith» beschreiben die Autoren Arterburnund Felton 2 folgende Formen des Denkens und Empfindens, dieAusdruck eines verzerrten <strong>Glaube</strong>nslebens sind:Denken in Extremen«Ich darf mir keine Blçße geben. Entwe<strong>der</strong> bin ich vollkommengeheiligt o<strong>der</strong> aber ein vçlliger Versager!»Falsche Schlussfolgerungen«<strong>Wenn</strong> ich gesündigt habe, bin ich verloren!» – «Gott sorgtnicht mehr für mich, weil er mein Gebet für eine neue Arbeitsstellenicht erhçrt hat!»Falsches Filtern des Gehçrten und Gelesenen«Wo ich auch in <strong>der</strong> Bibel lese, finde ich nur Anklagen gegenmich.» – «Diese Predigt hat mich nur noch trauriger gemacht.Ich konnte nichts Positives mitnehmen!»Entwertung des Positiven«<strong>Wenn</strong> die Leute mir Komplimente machen, sind sie doch nuraus Mitleid <strong>net</strong>t zu mir. Und überhaupt, wenn ich etwas kann,dann ist es Gott, <strong>der</strong> es gewirkt hat!»Verdrängen des Negativen«Ich weiß, dass meine Beziehung zu diesem Mann eigentlichEhebruch ist. Aber <strong>der</strong> Herr kennt meine emotionalen Bedürfnisseund kann mich ja brauchen, diesen Mann für den <strong>Glaube</strong>nzu gewinnen!»Gefühle als Grundlage des <strong>Glaube</strong>ns«Ich bin doch eine Enttäuschung für alle – für meine Eltern,meinen Ehemann und meine Kin<strong>der</strong>. So kann Gott mich nichtannehmen!»Tyrannei <strong>der</strong> Sollte-Sätze«Ich sollte eigentlich mehr Besuche im Altersheim unserer Kirchemachen!» – «Ich sollte mehr Geld für die Mission o<strong>der</strong> einHilfswerk spenden!» – «Ich sollte intensiver in <strong>der</strong> Fürbitte159


160verharren!» – «Die an<strong>der</strong>n sollten <strong>net</strong>ter zu mir sein!» – «DerPfarrer sollte sich mehr um mich kümmern!»Leben mit Hyper-Verantwortlichkeit«<strong>Wenn</strong> etwas in unserer Gemeinde nicht gut läuft, bin ich dafürverantwortlich und muss es verbessern!» – «<strong>Wenn</strong> unsere 26-jährigeTochter Probleme hat, bin ich daran schuld!» – «<strong>Wenn</strong>mein Mann fremdgeht, dann habe ich etwas falsch gemacht!»Seelsorger und Verkündiger sollten hellhçrig für diese Sätze werdenund immer wie<strong>der</strong> im Einzelgespräch und in <strong>der</strong> Predigt auf biblischeAusgewogenheit im Leben ihrer Zuhçrer hinwirken. Ausgewogenheit,dieses Wort macht gerade den eifrigen und aktivenChristen Angst. Sie wollen doch echte Hingabe, brennenden Eifer,Zeichen und Wun<strong>der</strong>, eine Krafterweisung Gottes in unserer sogleichgültigen Zeit. Umso mehr braucht es geistliches Urteilsvermçgenund die Bereitschaft, sich den Bedürfnissen <strong>der</strong> «Schafe» anzupassen.Ein ausgewogenes Evangelium bedeutet:&&&&kein mittelmäßiges Evangelium, aber ein Evangelium <strong>der</strong> Mitte inJesus Christus.kein kraftloses Evangelium, aber ein Wort auch für die Kraftlosen.keine billige Situationsethik, aber ein Wort Gottes in die Situationdes Einzelnen hinein.keine egoistische Selbstbezogenheit, aber eine gesunde Rückbesinnungauf den Wert, den Gott jedem Menschen gegeben hat.Aus <strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> Themen, an denen sensible Menschen beim<strong>Glaube</strong>n leiden, mçchte ich vier Bereiche näher betrachten und versuchen,Hinweise für eine biblische Ausgewogenheit zu geben.Leben aus GnadeDer depressive, ängstliche und zwanghafte Mensch neigt dazu, sichselbst Gesetze zu machen. Je grçßer die innere Unsicherheit, destostärker verspürt er das Bedürfnis, sich an klaren Regeln und Formenfestzuhalten. In seinem Hang zur Selbstabwertung steht er in <strong>der</strong>Gefahr, sich ständig überhçhte Ideale vor Augen zu stellen und ineine regelrechte «Sollte-Tyrannei» zu verfallen. Der gläubigeMensch leitet viele seiner Regeln und Gesetze von <strong>der</strong> Bibel o<strong>der</strong>von geistlichen Autoritätspersonen ab. Oft macht er sich in seinerneurotischen Persçnlichkeitsstruktur selbst Gesetze, die er aber mitverzerrten o<strong>der</strong> aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelversenbegründet. Beispiele:&&&&«<strong>Wenn</strong> ich nicht täglich mindestens eine Stunde Stille Zeit mache,dann kann <strong>der</strong> Tag nicht gelingen!»«Ich muss festhalten am Lobpreis und an den Verheißungen,sonst kommt mein Krebs wie<strong>der</strong>. Ich darf nicht auf Schmerzenachten o<strong>der</strong> darauf, dass wie<strong>der</strong> ein Knoten wächst. Nur so kannich geheilt werden!»«Um meinen Schülern ein Vorbild als Christ zu sein, muss ichihnen den bestmçglichen Unterricht geben und mir ausreichendZeit für sie nehmen, auch wenn ich selbst dabei zu kurz komme.»«Ich muss vçllig rein von sexuellen Regungen und Gedanken sein,wenn ich am Tisch des Herrn teilnehmen will!»Alle diese Gesetze erscheinen auf den ersten Blick achtenswert, jamehr als das, sie erscheinen sogar biblisch begründbar. Zur nie<strong>der</strong>drückendenBürde werden sie erst dort, wo ein Mensch nicht mehrdie Kraft hat, diese Gesetze einzuhalten:&&&&161Wo die Kin<strong>der</strong> ins Gebet einer Mutter hineinplatzen und die StilleZeit keine Stunde dauern kann.Wo die Besorgnis über die erneut wachsenden Knoten in <strong>der</strong>Brust so groß <strong>wird</strong>, dass die «geheilte» Frau eben doch <strong>zum</strong> Arztgeht.Wo <strong>der</strong> Lehrer in <strong>der</strong> katholischen Internatsschule merkt, dass ereben doch nicht allen Schülern gerecht werden kann.Wo es in <strong>der</strong> Nacht zu einem «feuchten Traum» kommt o<strong>der</strong> einPlakat die Sinne trotz aller geistlichen Vorkehrungen aufreizt.Diese Menschen müssen lernen, dass Gottes Gnade grçßer ist als ihrkleinmütiges Herz, das sie verdammt, weil sie sich außerstande sehen,die Gesetze einzuhalten. Die Anliegen mancher Verkündiger,keine «billige Gnade» zu verkaufen, darf das Evangelium von <strong>der</strong>Gnade Gottes nicht klein machen. In Verkündigung und Einzelseel-


162sorge gilt es, die Gnade in den richtigen Kontext <strong>der</strong> Herzenshaltungzu stellen. Wir dürfen das Gericht getrost Gott überlassen, denn erallein weiß, was in den Herzen <strong>der</strong> Menschen ist.Gnade, das ist liebende Vergebung und unverdiente Annahme, sowie sie <strong>der</strong> verlorene Sohn erfuhr. Gnade ist aber auch Vergebungund unverdiente Annahme, wie sie <strong>der</strong>jenige in Anspruch nehmendarf, <strong>der</strong> «7 mal 70 Mal» sündigt. Gnade lässt sich erst dann verstehen,wenn wir Gott besser kennen und wenn wir Gnade auch inunserem Leben erfahren haben.Gott ist von seinem Wesen her ein Gott <strong>der</strong> Gnade 3 , ein Gott, vondem <strong>der</strong> Psalmist sagt: «Sein Zorn währet einen Augenblick undlebenslang seine Gnade.» 4 Durch den stellvertretenden Tod Jesu amKreuz dürfen wir noch einen Schritt weitergehen: Wir stehen nichtwegen unserer guten Werke gut vor Gott da, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> gläubigeMensch ist «gerechtfertigt durch Gnade». 5 Diese Gnade kann mansich letztlich nicht verdienen. Selbst <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> ist ein Gnadengeschenk.6Wie leicht kann ein emotional stabiler, in <strong>der</strong> Bibel gegründeterMensch diese Wahrheiten mit dem Kopf annehmen! In <strong>der</strong> Theorieist alles klar. Doch es liegt gerade im selbstunsicheren und zweifelndenWesen vieler «neurotischer» Menschen, dass die Wahrheit nicht denWeg vom Kopf ins Herz findet. Und manchen von ihnen kann auchdie Erinnerung an «gnadenlose» Kindheitserfahrungen, an Strafeohne Mçglichkeit zur Wie<strong>der</strong>gutmachung im Weg stehen. O<strong>der</strong> dieErfahrung, von einem Liebhaber «gnadenlos» verlassen worden zusein, weil er eine an<strong>der</strong>e hatte, die ihm besser gefiel. Diese Verletzungen,die Erfahrungen von Unbarmherzigkeit gilt es ernst zu nehmen.Ihnen muss <strong>der</strong> Seelsorger und <strong>der</strong> christliche Therapeut mit Geduldbegegnen und ihnen Kraft, Trost und Hoffnung «durch die Gnade» 7zusprechen. Ein sehr hilfreiches Buch hat <strong>der</strong> amerikanische SeelsorgerDavid Seamands unter dem Titel Heilende Gnade verfasst. 8Eigenverantwortung in Verantwortung vor GottLeben nach dem Willen Gottes – dieses Ziel ist jedem Christen von <strong>der</strong>Bibel her vorgegeben. Doch wie erfahre ich den Willen Gottes? Dasist eine Frage, die viele junge Christen umtreibt. Viele gläubige Menschenstreben danach, die Beziehung zu Gott spürbar und direkt zu er-leben: sein Führen durch den Heiligen Geist; sein Reden im Lesen desWortes Gottes; seine Eingebung durch Weissagungen im Gottesdienst.Die alten Quäker warteten oft in gespannter Stille, bis sie innerlich ergriffenwurden von dem Reden Gottes. Diese meditativen, emotionalerfahrbaren Formen des Hçrens auf Gott sind ein wesentliches Elementin <strong>der</strong> Frçmmigkeit hingegebener Christen. Dabei <strong>wird</strong> das RedenGottes stark verbunden mit inneren Gefühlen. Doch geradebeim schwermütigen und zweifelnden Menschen ist das Gefühlslebengestçrt, so dass es sein kann, dass er nicht die ersehnte Bestätigung seines<strong>Glaube</strong>ns erhält, obwohl er o<strong>der</strong> sie mit Ernst und Hingabe versucht,die Voraussetzungen für die Führung Gottes zu erfüllen.Die Frage nach dem Willen Gottes kann deshalb dysfunktionalerstarren, wo sie Gefühlsregungen und mçgliche «Zeichen» verwechseltmit verantwortungsvollem Planen, Abwägen und Handelnauf dem Hintergrund des <strong>Glaube</strong>ns. Der <strong>Konflikt</strong> wurde an zweiBeispielen (Entscheidung für einen Beruf und Partnerwahl in Kapitel8) illustriert. Unreife Christen kçnnen in ihrem Bemühen, sichGottes Führung zu unterstellen, in Passivität o<strong>der</strong> Kritiklosigkeit beiwichtigen Lebensentscheiden verfallen.Welche Botschaft brauchen sie also in Seelsorge und Verkündigung?Bei ihnen <strong>wird</strong> es darum gehen, nicht allein auf ihre Gefühlezu sehen, son<strong>der</strong>n Verantwortung im biblischen Sinn zu übernehmen.Verantwortung bedeutet …&zu erkennen, dass Gott uns mit einem Willen und einer Verantwortungausgestattet hat, selbst zu verstehen, «was <strong>der</strong> Wille Gottesist». 9& aktiv Pläne zu machen und sich mit an<strong>der</strong>en zu beraten.10& eine Frage anhand christlicher Grundwerte zu prüfen und danneine Entscheidung zu treffen. 11& Bei unvorhersehbaren ¾n<strong>der</strong>ungen offen für neue Entwicklungenzu sein und Gott zuzutrauen, dass er auch aus einer neuen Situationdas Beste machen kann.Zur Freiheit seid ihr berufen163«Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lassteuch nicht wie<strong>der</strong> das Joch <strong>der</strong> Knechtschaft auflegen!» 12 So enga-


164giert warnte <strong>der</strong> Apostel Paulus die Gemeinde <strong>der</strong> Galater vor religiçserGesetzlichkeit und Einengung. Damals waren es die orthodoxenJuden, die nur in <strong>der</strong> vçlligen Einhaltung des Gesetzes denWeg zu Gott sahen. Ja, sie waren davon überzeugt, <strong>der</strong> Messiaskçnne erst wie<strong>der</strong>kommen, wenn alle Juden das Gesetz einhielten.Diese unterschwellige Angst, das Heil zu versäumen, ist es auch, diegesetzliche Christen aller Zeiten dazu bewog, sich selbst an strengeRegeln zu halten und sie an<strong>der</strong>n ebenfalls aufzuerlegen. Dabei gehtes ihnen ernsthaft um das Wohl <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n, die sie vor einer «Vermischungmit <strong>der</strong> Welt» bewahren wollen. Doch was «weltlich» ist,das än<strong>der</strong>t sich erfahrungsgemäß mit <strong>der</strong> Kultur.Die Anfor<strong>der</strong>ungen an Versammlungsbesuch, äußere Erscheinungund Lebensführung kçnnen sehr ausgeprägt sein. 13 Gerade inkleinen, unabhängigen Gruppierungen kçnnen Leiter und ¾ltesteeinen <strong>der</strong>art starken Einfluss ausüben, dass sich kein Gemeindeglieddagegen aufzulehnen wagt. Wo die «Gabe <strong>der</strong> Prophetie» mehr alsdie Auslegung <strong>der</strong> Bibel betont <strong>wird</strong>, kann unter geistlichem Deckmantelregelrechter <strong>ps</strong>ychischer Terror ausgeübt werden. Hält mansich nicht an Regeln, so kçnnen zwei Dinge die Folge sein: Man setztsein Seelenheil aufs Spiel, und man schließt sich aus <strong>der</strong> Gemeinschaftaus. Oftmals werden in diesen Gruppen die «Fehlbaren» vorden ¾ltestenrat geladen und eingehend ermahnt. Da ist es schoneine Sünde, wenn man es wagt, an<strong>der</strong>e christliche Bücher zu lesen(die nicht aus dem gemeindenahen Verlag stammen) o<strong>der</strong> gar dieseltsamen Endzeit-Offenbarungen eines leitenden Bru<strong>der</strong>s anzuzweifeln.Man muss nicht einmal neurotisch sein, um sich dabei unfrei undbedrückt zu fühlen. Umso stärker erleben sensible Menschen dieBelastung, <strong>zum</strong>al sie gleichzeitig loyal zu ihren <strong>Glaube</strong>nsgeschwisternsein mçchten und sich selbst Vorwürfe machen, sie hätten sich«zu sehr mit <strong>der</strong> Welt eingelassen». Es gibt aber auch Menschen, diesich in die äußeren Regeln fügen, ohne gefühlsmäßig in <strong>Konflikt</strong>damit zu kommen. Auch hier gilt: Einengende Gebote machen nichtunbedingt krank.So sind es diejenigen, für die das Spannungsfeld zwischen Gesetzund Freiheit <strong>zum</strong> inneren Kampf <strong>wird</strong>, die ihre Probleme in dieBeratung einbringen:&&&&165«Vor kurzem ging ich mit meiner Freundin ins Kino und schautemir einen romantischen Film an. Nun wurde ich von unseremGruppenleiter zur Rede gestellt: Das Kino sei weltlich, und ichdürfe mich nicht mit <strong>der</strong> Welt einlassen, wenn ich wirklich Jesusnachfolgen und in <strong>der</strong> Gemeinde mitmachen wolle.» (Eine23-jährige Frau)«Ich liebe schçne Klei<strong>der</strong>. Aber bei uns gilt es, bescheiden undunauffällig zu erscheinen. Zudem haben wir gerade ein neuesMissionsprojekt, das viel Geld braucht. Ich habe immer einschlechtes Gewissen, wenn ich mein Geld für unnçtige Dingeausgebe.» (Eine 40-jährige Chefsekretärin)«In unserer Gemeinde ist es Brauch, durch ein Zeugnis Gott zuverherrlichen. Ich fühle mich immer schuldig, weil ich nichts zuberichten habe, was die an<strong>der</strong>n ermutigen kçnnte.» (Ein 45-jährigerMann)«Unser Pfarrer hat kein Verständnis für Frauen, die arbeiten gehen.Es sei asozial gegenüber den Kin<strong>der</strong>n und zudem unbiblisch.Jetzt wurde mir eine Teilzeitstelle angeboten, doch ich habe Hemmungen,sie anzunehmen. Was <strong>wird</strong> <strong>der</strong> Pfarrer denken? Undwenn meine Kin<strong>der</strong> doch Schaden nähmen?» (Eine 38-jährigealleinerziehende Mutter von zwei Schulkin<strong>der</strong>n)Die Reihe <strong>der</strong> Beispiele kçnnte fortgesetzt werden mit vielfältigenAnfor<strong>der</strong>ungen, Regeln und Verboten, die im Namen des <strong>Glaube</strong>nsaufgestellt werden, ohne biblisch begründbar o<strong>der</strong> gar heilsentscheidendzu sein.Aus <strong>der</strong> Gnade leben, in Verantwortung handeln, das bedeutetauch Freiheit für die persçnliche Lebensgestaltung in Anspruch zunehmen. Hier einige Grundprinzipien:a) Ein Christ ist durch Jesus Christus frei vom Gesetz. Er kann nichtsan Werken hinzufügen, um sich seine Seligkeit zu verdienen. KeineMissions-Spende, keine Wallfahrt und kein Fasten kann ihn bei Gottbesserstellen. Geistliche Übungen haben nur dann ihren Wert, wennsie aus Freiheit und Liebe zu Christus geschehen.b) Ein Christ ist frei in dem, was er isst, wie er sich kleidet und wie ersein Geld ausgibt. Niemals dürfen ¾ußerlichkeiten, wie Speisegesetzeund heilige Tage, <strong>zum</strong> dominierenden, ja heilsentscheidenden


166Faktor im Leben eines Christen werden. Immer wie<strong>der</strong> <strong>wird</strong> dieseTatsache in <strong>der</strong> Bibel betont: «Das Reich Gottes ist nicht Essen undTrinken, son<strong>der</strong>n Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem HeiligenGeist», schrieb Paulus den Rçmern. 14 Den Korinthern gab ergar den Ratschlag, sich nicht in unnçtige Gewissenskonflikte zustürzen, obwohl es bekannt war, dass viele Tiere in den Gçtzentempelngeschlachtet wurden: «Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft<strong>wird</strong>, das esst, und forscht nicht nach, damit ihr das Gewissen nichtbeschwert.» 15c) Freiheit und Verantwortung gehçren zusammen: Meine Freiheithat dort ihre Grenzen, wo sie die Freiheit des an<strong>der</strong>n einschränktund das Gebot <strong>der</strong> Liebe verletzt. «Alles ist erlaubt, aber nicht allesdient <strong>zum</strong> Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemandsuche das Seine, son<strong>der</strong>n was dem an<strong>der</strong>n dient.» 16 WahreReife bedeutet demnach, innere Freiheit zu haben, und dennochRücksicht auf an<strong>der</strong>e zu nehmen und ihre Grenzen zu respektieren.Der Kampf zwischen Geist und FleischDer chinesische Evangelist Wang Ming-tao beschreibt in seiner Autobiografie17 eine kleine von einem norwegischen Missionar gegründeteGemeinschaft, die eine beson<strong>der</strong>e Lehre <strong>der</strong> Heiligung verbreitete,mit dem Ziel, «sündlos» zu werden. Ich habe bewusst einBeispiel aus einem an<strong>der</strong>en Land und einer an<strong>der</strong>en Zeit gewählt.Es sei dem Leser überlassen, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.«Er listete alle im Neuen Testament aufgezeich<strong>net</strong>en Sünden auf,im Ganzen dreiundachtzig, und hängte diese Liste im Versammlungsraumauf. Er hielt die Leute an, die Liste jeden Tag zu lesen.Dadurch, so sagte er, würden die Menschen nach und nach vonihren Sünden frei und somit heilig werden.»Eine konsequente Heiligungslehre dieser Art zieht Menschen an,die unter sich und ihrer Unvollkommenheit, unter ihrem Fleisch,leiden. Sie hoffen, hier eine Lçsung finden, endlich frei zu werdenvon dem, was sie noch trennt von Gott. Zuerst scheint die Methodezu funktionieren. Sie schaffen es, über Tage und vielleicht sogar überWochen, ein «Leben ohne Sünde» zu führen. Doch dann schleichtsich eines Tages wie<strong>der</strong> die Schlange des Neides, <strong>der</strong> Skorpion einesunkontrollierten Wutausbruchs o<strong>der</strong> die heimtückische Krake desGrolls ins Herz ein. Der Kampf gegen die Sünde geht erneut losund bindet viele Kräfte.Sensible Menschen haben es noch schwerer: Viele «neurotische»Menschen leiden an ihrer Kraftlosigkeit, an ihrem Mangel, Freudezu empfinden, und an ihren Hemmungen und ¾ngsten. Alle geistlichenPatentrezepte, Schwachheit, Versagen und Sünde auszurottenund zu überwinden, sind letztlich <strong>zum</strong> Scheitern verurteilt, ob sienun pietistisch-wortbetont o<strong>der</strong> charismatisch-emotional sind.Eine Frçmmigkeit, die nur sündlose Vollkommenheit, Freudeund Sieg betont, <strong>wird</strong> letztlich bedrückend und unbarmherzig. Sieleug<strong>net</strong> die Tatsache, dass auch <strong>der</strong> erlçste Mensch noch Teil <strong>der</strong>gefallenen Schçpfung ist. Gerade depressive und ängstliche Menschenkennen das «ängstliche Harren <strong>der</strong> Kreatur». Trotz ihres Wollens,trotz ihrer Hingabe an Gott, «seufzen wir in uns selbst undsehnen uns nach <strong>der</strong> Kindschaft, nach <strong>der</strong> Erlçsung unseres Leibes»18 . Hier geht es nicht nur um Rheuma und Krebs, um Armutund Schicksalsschläge. Hier geht es auch um seelische Schwachheit,um innere Gehemmtheit und pathologische Zweifelsucht, um dasLeiden an den Verletzungen <strong>der</strong> Kindheit und um sexuelle Impotenz.Der Seelsorger muss sich bewusst sein, dass er den Kampf zwischenFleisch und Geist, zwischen Erlçsungswunsch und Schwachheit,nie vçllig auflçsen kann. 19 Damit sind wir schon bei den Grenzen<strong>der</strong> Seelsorge angelangt; Grenzen, die gerade in Hinblick auf dieSeelsorge an «neurotischen» Menschen beson<strong>der</strong>s wichtig sind.Die Grenzen <strong>der</strong> Seelsorge167Manche Leser mçgen am Ende dieses Buches enttäuscht sein. Vielleichthatten sie sich Patentrezepte erwartet, geistliche Durchbrüche,<strong>ps</strong>ychologische Offenbarungen, seelsorgerliche Heilung für den sensiblenMenschen, <strong>der</strong> am <strong>Glaube</strong>n leidet. Und nun <strong>wird</strong> so viel vonGrenzen gesprochen! Und doch <strong>wird</strong> nur <strong>der</strong>jenige Seelsorger in <strong>der</strong>Begleitung neurotischer Menschen durchhalten kçnnen, <strong>der</strong> sich<strong>der</strong> Grenzen bei sich und seinen Ratsuchenden bewusst ist. Ichmçchte vier Grenzen herausheben:


1681. Die Grenzen <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung: Der Seelsorger kanndie Vergangenheit nicht rückgängig machen. Da sind vielleichtschwere Erfahrungen mit gläubigen Menschen o<strong>der</strong> Bedrückungdurch eine eng geführte Frçmmigkeit und Verkündigung. Je nach<strong>der</strong> Problemkonstellation kann es lange dauern, bis diese Verletzungenin den Hintergrund treten und den Weg für Verän<strong>der</strong>ungen freimachen. Oft bleiben Narben zurück.2. Der Rahmen christlicher Gemeinschaft: Seelsorge findet im Rahmenchristlicher Gemeinschaft statt. Sie kann sich nicht <strong>der</strong> Tatsacheentziehen, dass Gemeinschaft nicht nur Wärme, Geborgenheit undHalt vermittelt, son<strong>der</strong>n beim neurotischen Menschen auch angstauslçsendeEinengung, konflikthafte Beziehungen und Leistungsdruckdurch Vergleich mit an<strong>der</strong>en bedeuten kann.3. Die Grenzen <strong>der</strong> Ethik: Der Seelsorger sollte Offenheit und Einfühlungin ein individuelles Schicksal zeigen, selbst wenn die Personkein einwandfreies Leben führt (vgl. Jesus und die Samariterin amJakobsbrunnen, Jesus und die Ehebrecherin). Er hat aber auch ethischeWegweiser-Funktion. Deshalb kann er die Grundlinien christlicherEthik nicht beliebig aufweichen und den Wünschen und Lebensformeneines Ratsuchenden anpassen. Beson<strong>der</strong>e Problemeergeben sich in <strong>der</strong> Beratung bei Partnerschaftsproblemen (Mischehe,Scheidung, Wie<strong>der</strong>heirat) und sexualethischen Fragen (<strong>zum</strong>Beispiel Homosexualität, Perversionen) sowie in <strong>der</strong> Abtreibungsfrage.Oft sind es also nicht unbegründete subkulturelle Regeln, son<strong>der</strong>nauch notwendige ethische Grenzziehungen, an denen sich neurotischeMenschen reiben. Ihnen fällt es beson<strong>der</strong>s schwer, dieSpannung zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen «Geist»und «Fleisch», zwischen Gesetz und Gnade auszuhalten.4. Freiheit und Verantwortung des Einzelnen: Der Seelsorger kanndem Einzelnen nicht die Aufgabe abnehmen, für sich persçnlichseinen Weg zwischen Idealen und Bedürfnissen, Versuchungen undSchwächen zu finden. So muss er den Mut haben, den Ball, den ihm<strong>der</strong> Ratsuchende zuwirft, immer wie<strong>der</strong> zurückzuspielen und seinGegenüber zu eigenen Schritten zu ermutigen.Hilfreiche VerkündigungImmer wie<strong>der</strong> wurde ich im Anschluss an Seminare über «Neuroseund Religiosität» von Pfarrern und Predigern gefragt: Wie kann mandenn noch das Evangelium verkünden und dabei allen Zuhçrerngerecht werden? Steht man als Verkündiger nicht ständig in <strong>der</strong> Gefahr,etwas zu sagen, das bei einigen Zuhçrern Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>Konflikt</strong>eund falsche Interpretationen hervorrufen kann? Ich mussteden Fragenden <strong>zum</strong> Teil recht geben. Und doch gibt es Prediger,denen man ihre Liebe und ihre Barmherzigkeit für die Schwachenabspürt, obwohl sie ein klares Evangelium verkünden. Und es gibtan<strong>der</strong>e, die offenbar nur im Mief ihrer theologischen Studierstubeleben und gar nicht um die Nçte wissen, die sensible Menschenhaben.So ist also eine sorgfältige Selbstprüfung auch für den Verkündigervonnçten. Fragen Sie sich immer wie<strong>der</strong>, welches EvangeliumSie verkündigen: Vermittle ich ein Evangelium <strong>der</strong> Freiheit, o<strong>der</strong>gibt es auch in meiner Verkündigung unnçtige Einengung? Predigeich ein Evangelium, das Jesus im Zentrum hat, o<strong>der</strong> vermittle ichmeinen Zuhçrern ¾ußerlichkeiten und Aktivitäten, Gefühls- undDurchhalteparolen als Grundlage ihres <strong>Glaube</strong>ns?Wie gehe ich mit dem Spannungsfeld um, dass die einen Ermahnungund Zurechtweisung brauchen, während an<strong>der</strong>e gerade an diesenErmahnungen leiden? Welche Mçglichkeiten gibt es, in <strong>der</strong> Gemeindeden verschiedenen Gruppen gerecht zu werden? Es isthilfreich, bei je<strong>der</strong> Predigtvorbereitung an drei verschiedene Zielgruppenunter den Zuhçrern zu denken, wie sie in 1. Thessalonicher5,14 beschrieben werden:a) Die Unordentlichen, d. h. diejenigen, die bewusst sündigen,das Negative ausblenden und Zurechtweisung brauchen.b) Die Verzagten, d. h. die Selbstunsicheren und Nie<strong>der</strong>gedrückten,die ¾ngstlichen und Depressiven, die des Trostesund <strong>der</strong> Ermutigung bedürfen.c) Die Schwachen, d. h. diejenigen, die an bleibenden kçrperlichenund seelischen Grenzen leiden, die es nçtig haben,getragen zu werden, und immer wie<strong>der</strong> die Botschaft vonGottes Treue und Durchtragen auch in <strong>der</strong> Schwachheithçren müssen.169


170Wi<strong>der</strong> eine falsche PsychologisierungSo sehr die Berücksichtigung neurotischer Menschen und ihrer Nçtein <strong>der</strong> Verkündigung zu begrüßen ist, so besteht darin auch eineGefahr. Immer häufiger sind es <strong>ps</strong>ychologische Aspekte, die eineüberzeugte Verkündigung des Evangeliums verwässern. So beklagtHenri Nouwen zu Recht:«Die meisten Seelsorger behandeln in ihrer Verkündigungheute <strong>ps</strong>ychologische o<strong>der</strong> soziologische Fragen, auch wenn siediese in einen Rahmen von Bibelzitaten einspannen. Echtes theologischesDenken – das Denken im Sinne Christi – ist in unsererSeelsorge kaum zu finden. Ohne solide theologische Reflexionaber werden unsere Seelsorger in Zukunft wenig mehr als dilettantischePsychologen, Soziologen und Sozialarbeiter darstellen.Sie werden sich selber verstehen als Ermçglicher, Erleichterer, alsVerhaltensmodelle, als Vater- und Mutterfiguren, große Brü<strong>der</strong>o<strong>der</strong> Schwestern und so weiter, und damit reihen sie sich imGrunde bloß ein in die zahllose Schar <strong>der</strong> Männer und Frauen,die es sich <strong>zum</strong> Broterwerb gemacht haben, ihren Mitmenschenzu helfen beim Versuch, mit den Problemen und Spannungenihres Alltagslebens fertig zu werden. Aber das hat kaum etwas mitchristlicher Verkündigung zu tun …» 20Es wäre eine Illusion zu meinen, das Evangelium ließe sichjemals so verkündigen, dass es bei keinem mehr Anstoß erregte.Keine Verkündigung kann jemals die Grundprobleme <strong>der</strong> Angstund <strong>der</strong> Schuldgefühle bei sensiblen Menschen aus <strong>der</strong> Welt schaffen.Vielmehr kann das Wort von <strong>der</strong> Vergebung durch den TodJesu am Kreuz Befreiung schenken für die, die nicht wissen, wohinmit ihrer Schuld. Die Botschaft von Jesus, dem Erlçser und wie<strong>der</strong>kommendenHerrn, kann inmitten <strong>der</strong> Angst dieser Welt innerenFrieden und tiefe Hoffnung vermitteln. <strong>Wenn</strong> Jesus sagt:«Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt», so meinte er damitvielleicht auch die stoische Schicksalsergebenheit, diesen Vorläufereiner säkularisierten Seelsorge seiner Zeit. Die Psychotherapie,auch in ihrer seelsorglichen Psychologisierung, steht in <strong>der</strong> Gefahr,zur Ersatzreligion zu werden, zur «verkappten Theologievom heilen Menschen», wie es <strong>der</strong> Psychologe J. Bopp 21 einmalformuliert hat.Erlauben Sie mir, ein Bild zu gebrauchen: Ich liebe Orientteppi-che. Ich liebe ihre herrlichen Farben und Muster. In Indien habe ichselbst gesehen, in welch mühseliger, oft jahrelanger Arbeit ein solchesKunstwerk Knoten um Knoten entsteht. Doch um einen Orientteppichzu bewun<strong>der</strong>n, darf man nicht nur seine Fransen o<strong>der</strong>seine Hinterseite betrachten. Genauso ist es auch mit dem Bild, daswir uns von einer <strong>Glaube</strong>nsgemeinschaft o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Religiositäteines Menschen machen. In eine Psychotherapie kommen nur diejenigen,die durch ihre ¾ngste und Zwänge, ihre <strong>Konflikt</strong>e und ihrVersagen, kurz: durch ihr neurotisches Leiden (innerlich) an denRand einer Gemeinschaft gedriftet sind – sozusagen in den Fransenbereich<strong>der</strong> Kirche. Wer nur ihre Nçte und <strong>Konflikt</strong>e in <strong>der</strong> aktuellenSituation betrachtet, <strong>der</strong> bekommt nicht das volle Bild <strong>der</strong> Schçnheiteiner persçnlichen Gottesbeziehung im Rahmen <strong>der</strong> christlichenGemeinschaft. Er sieht nur die notvollen Randsituationen, dienicht das Ganze wi<strong>der</strong>spiegeln. Unser Anliegen aber soll es sein, einumfassendes Bild zu erhalten. Bei allem Verständnis für die Nçtesensibler Menschen müssen wir uns hüten, das Evangelium nurnoch in seinen <strong>ps</strong>ychologischen Fransen zu verkünden und darüberdas Zentrum zu vergessen.Erforsche mich, Herr …171Der Seelsorger bleibt nicht unberührt von den notvollen Erzählungenseiner Ratsuchenden. Oft steht er in <strong>der</strong> Gefahr, mit hineingezogenzu werden in die Hoffnungslosigkeit depressiver Menschen, inden Zorn auf diejenigen, die sein Gegenüber verletzt haben. SeinWunsch nach Hilfe für den angstgeplagten Menschen kann so großwerden, dass er versucht, alle angstbesetzten Themen auszublenden,auch wenn er damit wesentliche biblische Wahrheiten preisgibt. SeinMitleid mit einer Frau, die keine Liebe in ihrem Leben erfährt, kannes ihm schwermachen, die Grenzen <strong>ps</strong>ychischer und kçrperlicherDistanz zu wahren.Doch da geschieht noch etwas an<strong>der</strong>es: <strong>Wenn</strong> Menschen von ihrenZweifeln und von ihren unerfüllten Wünschen berichten, sokçnnen diese auch im Seelsorger verwandte Saiten anklingen lassen.Nicht wenige Therapeuten sind daran zerbrochen, dass ihnen in <strong>der</strong>Eheseelsorge eigenes Versagen und eigene <strong>Konflikt</strong>e bewusst wurden.Ihren Ratsuchenden ermutigten sie dazu, sich seine Bedürfnisse


172einzugestehen, zu sich zu stehen, sich durchzusetzen und bewusstdas Gespräch mit dem Ehepartner zu suchen. Aber wie stand es inihrem eigenen Leben?So sollte sich <strong>der</strong> seelsorgliche Therapeut mit dem Psalmistenbetend vor Gott fragen: «Herr, erforsche mein Herz und siehe, wieich’s meine!» Es gilt immer wie<strong>der</strong> einzuhalten und zu fragen:Welche <strong>Konflikt</strong>e weckt <strong>der</strong> Ratsuchende in mir? Wo rate ich ihm,sich etwas zu gçnnen, während ich mich ständig verausgabe? Worate ich ihm, sich vor übermäßiger Verantwortung zu distanzieren,aber ich vernachlässige meine Familie, weil ich mich nicht abgrenzenkann?Doch manchmal muss er sich auch fragen: Verstehe ich die religiçseWelt meines Ratsuchenden? Sehe ich nur das Negative an seinerGemeinde, o<strong>der</strong> spüre ich auch etwas von <strong>der</strong> Gemeinschaft unddem Halt, den er dort erlebt? Wo projiziere ich meine Ideale undmeine Frustrationen auf ihn o<strong>der</strong> sein (religiçses) Umfeld? 22 Wosollte ich eigentlich mich selbst in meinem <strong>Glaube</strong>n in Frage stellen?Die Gespräche mit den Ratsuchenden kçnnen dann zur Herausfor<strong>der</strong>ungwerden, das eigene geistliche Leben neu zu überprüfen.Lebe ich selbst aus <strong>der</strong> Gnade? Lebe ich selbst in <strong>der</strong> Freiheit? Lebeich selbst in Verantwortung vor Gott, o<strong>der</strong> lasse ich mich fremdbestimmenvon den Erwartungen, die an mich gestellt werden? Wiegehe ich mit meinem persçnlichen <strong>Konflikt</strong> zwischen Geist undFleisch um?Seelsorge, die aus dem Herzen kommtWohl eines <strong>der</strong> hilfreichsten Bücher zur Selbstprüfung des Seelsorgersist die kleine Schrift von Henri Nouwen: Seelsorge, die ausdem Herzen kommt. 23 Nouwen, einst anerkannter Professor fürSpiritualität an den berühmten Universitäten Harvard und Yale,zog sich von allen Ehren und Einladungen zurück in eine kleineWohngemeinschaft von kçrperlich und seelisch behin<strong>der</strong>ten Menschen.Dort teilte er sein Leben mit ihnen; er aß mit ihnen undspielte mit ihnen; er fütterte diejenigen, die selbst nicht essenkonnten, und er versuchte ihnen in einfachsten Worten etwasvon <strong>der</strong> Liebe Jesu nahezubringen. Es war eine vçllig neue Weltfür ihn, in <strong>der</strong> we<strong>der</strong> intellektuelle Brillanz noch rhetorische Be-gabung zählten. Doch diese Erfahrung half ihm klarer zu sehen,was wirklich zählt im Leben und in <strong>der</strong> Seelsorge. Als er danngebeten wurde, in Washington vor Priestern und geistlichen Führerneinen Vortrag über Menschenführung in <strong>der</strong> Kirche des 21.Jahrhun<strong>der</strong>ts zu halten, da wählte er einen ganz einfachen Text alsGrundlage für sein Referat. Er sprach über die Begegnung Jesu mitPetrus am See Genezareth, damals nach all den Wirren <strong>der</strong> Gefangennahme,nach seiner Verleugnung und nach <strong>der</strong> Auferstehungdes Herrn. Drei Versuchungen seien es, die heute an denmo<strong>der</strong>nen Seelsorger herankämen:&&&Die Versuchung, ein unentbehrlicher Mensch zu werden.Die Versuchung, ein beliebter Mensch zu werden.Die Versuchung, ein mächtiger Mensch zu werden.173Er plädierte dafür, wie<strong>der</strong> ganz neu ein Leben des Gebets zuentwickeln, sich eigene Schwäche und Schuld einzugestehen undbewusst über Gottes Wort nachzudenken. «<strong>Wenn</strong> Seelsorger nurMenschen sind, die gut fundierte Meinungen zu den brennendenFragen unserer Zeit haben, ist das zu wenig. Ihr Dienst muss in<strong>der</strong> ständigen, innigen Beziehung <strong>zum</strong> menschgewordenen Wort,zu Jesus, verwurzelt sein; das ist die unentbehrliche Quelle, aus<strong>der</strong> Sie Ihre Worte, Ratschläge und Wegweisungen schçpfen müssen.»24Der Seelsorger und Verkündiger unserer Zeit muss nicht ein <strong>ps</strong>ychologischgebildeter Übermensch sein. Viel wichtiger als alles Wissensind Demut, Liebe und Barmherzigkeit für diejenigen Menschen,die mühselig und beladen sind, die ein zerbrochenes Herz und einzerschlagenes Gemüt haben. Nicht immer werden wir alle ihre Problemelçsen kçnnen, aber vielleicht kçnnen sie durch uns etwas von<strong>der</strong> Liebe Gottes spüren.«Das Geheimnis <strong>der</strong> Seelsorge besteht darin, dass wir ausgewähltworden sind, damit unsere begrenzte und sehr bedingte Liebe <strong>zum</strong>Durchgangstor <strong>der</strong> grenzenlosen und bedingungslosen Liebe Gottes<strong>wird</strong>.»Henri Nouwen 25


174175Anmerkungen zu Kapitel 121. Ringel und Kirchmayr 19852. Arterburn und Felton 19913. 1. Petrus 5,10; Nehemia 9,17; 2. Mose 22,264. Psalm 30,65. Rçmer 3,24; Titus 3,76. Epheser 2,8–9; Apostelgeschichte 18,277. 2. Korinther 12,9; 2. Thessalonicher 2,168. Seamands 19909. vgl. Epheser 5,10 und 1710. Sprüche 15,22; Entscheidungswege bei Paulus, vgl. 1. Korinther 16,5ff.; 2.Korinther 1,15–17; 2,12–1311. Epheser 5,10; Rçmer 12,212. Galater 5,113. vgl. dazu das bereits erwähnte Buch von Enroth: Churches that abuse14. Rçmer 14,1715. 1. Korinther 10,25; vgl. auch 1. Korinther 816. 1. Korinther 10,23–2417. vgl. Ming-tao 1991, S. 104ff.18. Rçmer 8,18–2519. Rçmer 7,18–2520. Nouwen 1989, S. 64f.21. Bopp 198522. vgl. dazu die Studie von Peteet (1981) über die Gegenübertragungsmusterin <strong>der</strong> Therapie mit religiçsen Patienten23. Nouwen 198924. Nouwen, S. 3325. Nouwen, S. 45Anhang:Der religiçse Wahn – wie kçnnenwir ihn verstehen?Es gibt wohl keine Form krankhafter Religiosität, die so viel çffentlicheAufmerksamkeit erregt wie <strong>der</strong> religiçse Wahn. DieDiskrepanz zwischen großartigen Offenbarungen und wirremVerhalten, zwischen heiligen Worten und unheiligemVerhalten, zwischen mystischen Erlebnissen und anstçßigem Gebarenverursacht mitleidige Ablehnung im besten Fall und religiçse Unruhenim schlimmsten Fall, oftmals auch ein allgemeines Vorurteil gegenüberdem <strong>Glaube</strong>n mit dem Unterton: «Da sieht man, was <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong>anrichten kann!»Es war schon lange mein Wunsch gewesen, dem Phänomen desreligiçsen Wahns in einer Studie nachzugehen. Dies wurde im Jahr2006 mçglich, als in einer Lizentiatsarbeit insgesamt 43 Fälle vonreligiçsem Wahn nachuntersucht wurden, die wir über 20 Jahre anunserer Klinik gesammelt hatten.Hier ist ein typisches Beispiel, wie über einen religiçsen Wahnberichtet <strong>wird</strong>: «Keine wirklich gute Idee hatte <strong>der</strong> Taiwanese ChenChung-ho während eines Zoobesuchs: Der 46-Jährige sprang, voneiner ‹inneren Stimme getrieben›, in die Lçwengrube und versuchtesich als Tierprediger. Eine Augenzeugin: ‹Er stellte sich mit ausgebreitetenArmen vor die zwei Raubkatzen und rief: Jesus retteteuch! Vor allem <strong>der</strong> Lçwe fand keinen Gefallen am Bekehrungsversuch:Er ging auf den Mann los und biss ihn in den Arm und insBein – ließ dann aber ab von ihm. Er wurde nur leicht verletzt.›»In unserer Sammlung fand ich folgendes Beispiel: «Ein 30-jährigerMann suchte die Klosterkirche in M. auf, wo ihm Gott dreimalin Form eines Lichts am Fenster begeg<strong>net</strong> sei. Dann verbrannte erGeld in <strong>der</strong> Kirche. Anschließend fuhr er mit dem Auto weg, wobei


176er von Lastwagen und an<strong>der</strong>n Autos Zeichen erhalten habe. Er ließdas Auto mit steckendem Schlüssel stehen, war zwei Tage zu Fußunterwegs und übernachtete im Freien. Er habe den Auftrag vonGott gehabt, die Menschen rund um das Atomkraftwerk Gçsgenvor schädlichen Strahlungen zu schützen. Deshalb sei er <strong>zum</strong> Zaundes Kraftwerks gegangen. Dort habe er in ein Gefäß uriniert undseinen Urin tropfenweise an dem Zaun deponiert, um einen Schutzwallzu schaffen.»Betrachtet man diese Geschichten, so kommen uns verschiedeneThemen entgegen: Da ist einmal die Gottesbegegnung in Lichtform,dann ein Ritual, das wir eher aus dem Buddhismus kennen, nämlichdas Geldverbrennen. Des weiteren hat <strong>der</strong> junge Mann den Eindruck,er erhalte von an<strong>der</strong>en Zeichen, die seinem Leben einenSinn o<strong>der</strong> einen Auftrag geben kçnnten. Befremdlich ist nun dasungewçhnliche und bizarre Verhalten, das folgt. Da ist einerseitsdas Gefühl, einen Auftrag von Gott zu haben, an<strong>der</strong>erseits aber einewirre Idee, die eher im Bereich grüner Politik anzusiedeln wäre (genausogut kçnnte man von einem «grünen Wahn» sprechen). Undschließlich sind die Mittel, die den Schutzwall errichten sollten, vçlligjenseits aller Realitäten.Der Mann wurde übrigens festgenommen und in eine <strong>ps</strong>ychiatrischeKlinik gebracht. Nach einer Behandlung mit Medikamentenkonnte er wie<strong>der</strong> klar denken und konnte sich von den oben beschriebenenIdeen eindeutig distanzieren. Gleichzeitig ließ aberauch <strong>der</strong> <strong>Glaube</strong> wie<strong>der</strong> nach. Fazit: Die religiçsen Ideen kçnnensehr wirr und unstet sein und haben mit einer gesunden Religiositätnichts gemeinsam.Tabelle A-1: Unterschiede zwischen <strong>Glaube</strong> und WahnGLAUBEGruppenverankerungGemeinschaftZulassen von ZweifelVertrauenInhalt oft transzendent,inspirierend und trçstendPsychopathologischunauffälligWAHNSingularität – pathologischer Ich-BezugVereinsamung, fehlende KommunikationUnkorrigierbarkeitVertrauensverlustInhalt oft bedrohlichWeitere <strong>ps</strong>ychopathologische AuffälligkeitenWas ist also <strong>der</strong> Unterschied von Wahn und Religiosität? Die Tabelleauf Seite 176 gibt einen kleinen Überblick. Der çsterreichische PsychiaterLenz (1973) hat einmal treffend geschrieben: «Im Falle desWahnes <strong>wird</strong> man immer eine Erstarrung und einen Freiheitsverlustmit dem Bilde des Defektes <strong>der</strong> Persçnlichkeit finden. Im Falle eines<strong>Glaube</strong>nserlebnisses <strong>wird</strong> man aber eine lebendige, d. h. variable, <strong>der</strong>Situation angepasste und auch mehr Freiheit besitzende und in sichvollkommenere Persçnlichkeit finden.»Häufigkeit und Kennzeichen des Wahns177Die Häufigkeit des religiçsen Wahns ist von Studie zu Studie unterschiedlich.Man kann aber von circa 10–20 Prozent aller Schizophreniekrankenausgehen, die im weitesten Sinne Wahnideen äußern,die auch religiçse Elemente enthalten. Dabei ist allerdings wichtig,nicht gleich jede religiçse ¾ußerung eines schizophrenen Menschenals Wahn abzutun. Der britische Forscher Siddle hat gezeigt, dass inseiner Stichprobe zwar nur 23 Prozent einen religiçsen Wahn hatten,aber 68 Prozent einen gewissen <strong>Glaube</strong>n, <strong>der</strong> auch von <strong>der</strong> «normalen»Umwelt geteilt würde. Ja, für viele Menschen mit einer schweren<strong>ps</strong>ychischen Krankheit ist es sogar eine große Hilfe, in ihrer Notim Gebet zu Gott zu kommen o<strong>der</strong> die Unterstützung von gläubigenMenschen zu erfahren (vgl. Mohr et al. 2006).Eine arabische Studie hat gezeigt, dass über 40 Prozent <strong>der</strong> Patienten«religiçse Strategien» benutzten, um gegen die quälenden Wahnideenanzukämpfen. Das reicht vom Zitieren von Koransuren bis hin<strong>zum</strong> Gebieten gegen dämonische Kräfte. – Ich habe hier bewusst einBeispiel aus einer an<strong>der</strong>en Religion genommen, doch kçnnen wir¾hnliches auch in <strong>der</strong> evangelischen Frçmmigkeit finden.Was ist denn nun das Kennzeichen eines Wahns? Als Wahn bezeich<strong>net</strong>man eine befremdliche Überzeugung, bei <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> betroffeneMensch nicht korrigieren lassen will (Unkorrigierbarkeit).Dies steht im Gegensatz zur Fähigkeit des gesunden Menschen,selbst an lieb gewordenen Überzeugungen zweifeln zu kçnnen. Daszweite Kriterium ist die Beweisführung. Der Wahnkranke «weiß eseinfach» – auch wenn es keinen logischen Beleg gibt. Dann ist eseben eine Eingebung <strong>der</strong> Mutter Gottes o<strong>der</strong> die Botschaft eines


178Engels. Damit verschließt er sich jeglicher weiteren Diskussion. Dasdritte Kriterium ist schließlich ein krankhafter Ich-Bezug.Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Eine 23-jährige Verkäuferinhat die Eingebung, sie sei von Gott beauftragt, zu Friedensverhandlungenin den Nahen Osten zu reisen und den Hamasführer zu bekehren.Die Augen <strong>der</strong> Welt wären dann auf sie gerichtet und dieFernsehberichte würden ihren Erfolg (und Gottes Wirken) in <strong>der</strong>ganzen Welt bekannt machen.Man muss sich bewusst bleiben, dass es ein weites Spektrum zwischennormalen <strong>Glaube</strong>nsüberzeugungen bis hin zu ausgeprägtenWahnideen gibt. Dazu kommt die Frage des Stimmenhçrens, dasnicht nur bei kranken Menschen auftritt. Viele gläubige Menschensagen: «Gott redet zu mir!», und sind deshalb noch lange nichtkrank. Mystiker berichten von Erscheinungen und geistlichen Bil<strong>der</strong>n,die ebenfalls nicht krankhaft sein müssen.Der australische Forscher Peters (1999) hat deshalb noch dreiweitere Kennzeichen krankhafter religiçser Ideen und Phänomenebeschrieben: a) Conviction: die unkorrigierbare Überzeugung. b)Preoccupation – die ausschließliche Beschäftigung, ja das vçllig Eingenommenseinvon einem Thema, das die Person alles an<strong>der</strong>e vernachlässigenlässt. Schließlich c) Distress: die Person erlebt die religiçsenErfahrungen nicht mehr als bereichernd und beglückend,son<strong>der</strong>n als belastend.<strong>Wenn</strong> man nun mit eigenartigen Ideen bei einer Person konfrontiertist und diese auch <strong>ps</strong>ychisch auffällig ist, so hat sich <strong>der</strong> Abklärungspfadvon Siddle (2002) bewährt.Abbildung A-1: Abklärungsschritte eines religiçsen Wahns (nach Siddle 2002)<strong>Glaube</strong> / Attribution <strong>wird</strong> fest geglaubt, kann bizarr sein, ist vernünftigenArgumenten bzw. Zweifeln nicht zugänglich|Weitere Symptome einer Psychose|Religiçser Inhalt (Gott, Teufel, Propheten, Geister, Engel)|Die Ideen sind auch in <strong>der</strong> Subkultur (peer group) des Patienten nicht akzeptabel|Der Lebensstil / die Ziele deuten eher auf eine <strong>ps</strong>ychotische Episode hin als aufeine bereichernde LebenserfahrungDie Deutung <strong>der</strong> bedrohlichen Erfahrung179Am Anfang des religiçsen Wahns steht praktisch immer eine Wahnwahrnehmung,etwa das Hçren einer Stimme, das eigenartige Gefühlim Bauch o<strong>der</strong> eben eine optische Wahrnehmung (auditive,visuelle o<strong>der</strong> somatische Halluzination). Diese verlangt nach einerDeutung: WER steckt dahinter? Warum geschieht das mir (Kausalität)?Welchen Sinn macht die Wahrnehmung? Welchen Zweck hat sie(Finalität)?Es liegt in <strong>der</strong> Natur einer wahnhaften Erkrankung, dass das Gehirnin <strong>der</strong> Beantwortung solcher Fragen (die letztlich alle Menschenbeschäftigen) eine ganz eigenartige, verschrobene und von <strong>der</strong> restlichenWelt abgekoppelte Deutung entwickelt. Ein kurzes Beispiel.Da hat jemand den Eindruck, jemand habe hinter ihm hergerufen:«Du bist doch Dreck. Bring dich um!» Er schaut sich um und kannniemanden sehen – er verfällt in Panik und überlegt, wer ihm soetwas nachrufen kçnnte: Ein Kollege? Eher nicht. Ein bekiffter Passant?Auch eher nicht. Es muss eine abgrundbçse Ursache sein. Vielleichtist es ein Dämon? – Aber warum ich? Was habe ich falschgemacht? Nimmt er diese Stimme ernst, so <strong>wird</strong> er vielleicht anfangen,sich die Ohren zu verstopfen, um sie nicht mehr zu hçren undnicht noch zunehmend auffällig zu werden.Wird die Frage nach dem Wer, Warum und dem Zweck bzw. Sinnauf dem Hintergrund <strong>der</strong> Kultur in religiçsen Begriffen beantwortet,so spricht man von einem «religiçsen Wahn».Die Patienten beginnen dann auch Belege für ihr Erleben zu suchen.So berichtet eine Frau: «… und ich konnt mich an alle Erscheinungenerinnern, und ich wusste, dass das nicht Nervensacheist, son<strong>der</strong>n dass das real ist, weil ich hab mir dann ein Buch übermystische Erscheinungen von <strong>der</strong> Mutter Gottes, über zwei Jahrtausende– und das hab ich mir dann gekauft.» Es <strong>wird</strong> also versucht,die persçnliche Erfahrung in den Kontext publizierter Vorgänge einzubettenund sie «rational» zu begründen.Oft fühlen sich die Menschen zerrissen zwischen Gott und Satan.So berichtet ein gebildeter Marokkaner, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schweiz als Küchengehilfearbeitete: «Ich denke, dass ich einen mächtigen Magierin meinem Dorf beleidigt habe – nun hat er mich verzaubert. Ständighçre ich die Stimme von Allah o<strong>der</strong> das Reden des Sheitan. MitAllah rede ich über Recht und Gerechtigkeit, aber al-Sheitan ver-


180spottet Allah und sagt, dass <strong>der</strong> Koran nicht wahr ist. Ich habe schoneinen Imam aufgesucht, aber es hat nicht geholfen. Die Stimmensind ständig da, obwohl ich fünf Mal am Tag bete. Ich habe keineKraft für die Arbeit und habe alle meine Freunde verloren.»Was sind nun die Faktoren, die zu einem religiçsen Wahn beitragen?In unserer Studie (Gasser 2007) mit 43 Patienten (30 Frauen,13 Männer) fanden sich 72,1 Prozent, die <strong>der</strong> Religion in ihremLeben eine große Bedeutung zuschrieben. Die Bedeutung <strong>der</strong> «persçnlichenReligiosität» <strong>wird</strong> dann als ausgeprägt o<strong>der</strong> stark bezeich<strong>net</strong>,wenn <strong>der</strong> Patient aktives Mitglied einer religiçsen Gemeinschaftist, <strong>der</strong>en Veranstaltungen er regelmäßig besucht, o<strong>der</strong> wenn dieAuswirkungen seines praktizierten <strong>Glaube</strong>ns (<strong>zum</strong> Beispiel durchMitleben in einem Orden) in <strong>der</strong> Lebensgestaltung sichtbar werden.Zwei Patientinnen lebten vor <strong>der</strong> Erkrankung in einem religiçsenOrden, drei in einer Bibelschule, drei weitere in einer christlichenWohngemeinschaft mit. Man kçnnte also sagen, sie wurden von einerreligiçsen Kultur geprägt.Viel weniger deutlich sind die Zahlen bei <strong>der</strong> religiçsen Erziehung,die sich als nicht signifikant erwies: 12 Patienten (28 Prozent) hattenkeine religiçse Erziehung; 14 Patienten (33 Prozent) berichtetenüber regelmäßigen Gottesdienstbesuch in <strong>der</strong> Kindheit und Jugend;13 Patienten (30 Prozent) hatten nur mäßigen kirchlichen Einflussin <strong>der</strong> Erziehung. 13 <strong>der</strong> 31 Patienten (41 Prozent), die <strong>der</strong> Religionim Leben eine große Bedeutung zuschrieben, hatten nach eigenenAngaben auch eine religiçse Erziehung erhalten. 23 <strong>der</strong> untersuchtenPatienten (54 Prozent) zeigten neben dem Wahn Anzeichen einer gesunden(ich-syntonen) Religiosität, die mit <strong>der</strong> umgebenden Kultur<strong>der</strong> religiçsen Gemeinschaft übereinstimmte.Interessant ist das sogenannte «help seeking behavior» – die Art, wieMenschen Hilfe suchten. Dabei <strong>wird</strong> längst nicht immer <strong>der</strong> Arzt aufgesucht.Vielmehr beginn die Suche nicht selten im religiçsen Umfeld(Heilungsgebete, Exorzismus). Für Seelsorger ist es deshalb wichtig,solche Zustandsbil<strong>der</strong> zu erkennen, um sich nicht einer Fehlbehandlungschuldig zu machen. 15 Patienten (35 Prozent) äußerten dieÜberzeugung einer dämonischen Verursachung ihrer Erkrankung.Dabei wurden religiçse Deutungen einer dämonischen Verursachungebenfalls von Patienten beschrieben, die Religion in ihrem Leben alsnicht bedeutend bezeich<strong>net</strong>en. 7 Patienten (16 Prozent) unterzogensich einem «Befreiungsdienst» o<strong>der</strong> einem «Exorzismus».Vier Funktionen des religiçsen WahnsIn <strong>der</strong> genaueren Analyse <strong>der</strong> Krankengeschichten fanden wir vierFunktionen des religiçsen Wahns:&&&&Interpretation (Erklärung) <strong>der</strong> bedrohlichen Erlebnisse.Integration in einen grçßeren Sinnzusammenhang(Begreifen <strong>der</strong> Welt).Entlastung von Schuld o<strong>der</strong> inakzeptablenStrebungen durch «Des-Egoifizierung».Wunscherfüllung/Bedeutung durch das wahnhafte Erleben.181Wird ein Mensch von <strong>der</strong>artig quälenden Stimmen und Erlebnissenheimgesucht, so mçchte er diese wenigstens erklären. «Die Phänomene,die nicht in das eigene Selbst- und Weltbild integriert werdenkçnnen, drängen schmerzhaft nach einer Interpretation.» Und waskann schlimmer sein als eine direkte Bedrohung durch finstereMächte? So hat eine Frau die «Stromschläge im Kçrper» als «dämonischeAngriffe» erklärt. Diese seien die Strafe für frühere Verfehlungenund ein Mittel zur Sühne für die Sünden <strong>der</strong> Menschheit.«Ich muss meinen Leib als Opfer darbringen.» Diese grçßere Bedeutungihres Leidens gibt auch einen grçßeren Sinnzusammenhang,<strong>der</strong> sie <strong>zum</strong> Teil eines gçttlichen Planes macht. Manche Menschensehen ihre Angstvisionen denn auch im Zusammenhang mit denapokalyptischen Prophetien <strong>der</strong> Offenbarung.In dem Geschehen <strong>der</strong> dämonischen Anfechtung liegt auch eineEntlastung: Negativ bewertete und schuldhaft empfundene aggressiveo<strong>der</strong> sexuelle Regungen werden vom eigenen Ich (<strong>der</strong> eigenenVerantwortung) gelçst: «Das bin gar nicht ich, <strong>der</strong> so aggressiv gegenseine Eltern war, das war eine bçse Macht in mir!»Und schließlich erleben wir immer wie<strong>der</strong> Menschen, denen imWahn auch Segnungen und Bedeutung zuteil werden, die sie sonstnicht haben. Da ist eine einfache Frau von einem abgelegenen Bauernhofim Schwarzwald. Seit ihrer Jugend leidet sie an Schizophrenieund lebt bei den Eltern, während die Schwestern eine eigene Familieund herzige Kin<strong>der</strong> haben. Als sie in einem neuerlichen Schub nachmehreren schlaflosen Nächten in die Klinik kommt, ist sie überzeugt,schwanger zu sein. Der Vater aber ist nicht irgendein Mann– sie wähnt sich schwanger von Gott! So erhält sie Bedeutung weit


182hinaus über die an<strong>der</strong>n Frauen im Dorf: Sie ist erwählt, ähnlich <strong>der</strong>Mutter Gottes, eine beson<strong>der</strong>s Geseg<strong>net</strong>e.Fast hätte man Bedenken, ihr dieses Glück durch die medizinischeBehandlung zu nehmen. Doch sie leidet auch unter <strong>der</strong> Last<strong>der</strong> Verantwortung. Unter Medikamenten beruhigt sie sich und sagtmir vier Wochen später mit einem Lachen: «Gelled Sie, Herr Doktor,da hab ich schçn gsponne, wo ich gmeint hab, ich krieg ein Kind vonGott!» Die Realität war immer noch leichter zu ertragen als diewahnhafte Last.Leitlinien zur BehandlungWer Menschen in dieser verzerrten Form <strong>der</strong> Religiosität begeg<strong>net</strong>,ist therapeutisch gefor<strong>der</strong>t. Da ist zuerst einmal <strong>der</strong> Respekt: Wirnehmen den Patienten als leidendes Individuum wahr. Die Religionmag Teil seines Lebens sein, aber sie ist eingebettet in seine gesamteExistenz, die nun von <strong>der</strong> Krankheit überschattet ist. Zum Zweitenbraucht <strong>der</strong> Therapeut in unserer vielschichtigen Gesellschaft mehrdenn je kulturelle Sensibilität: Die religiçsen Ideen sind Teil seineskulturellen Hintergrundes und erfor<strong>der</strong>n eine weitere Klärung: Drückensie seine ¾ngste o<strong>der</strong> seine unerfüllten Wünsche in archetypischerManier aus? Sind sie Teil seiner Subkultur? Sind seine religiçsenÜberzeugungen funktional o<strong>der</strong> dysfunktional?Gibt es Mçglichkeiten, seine Angehçrigen o<strong>der</strong> seine Kollegen fürdie Klärung <strong>der</strong> religiçsen Thematik herbeizuziehen?Und selbstverständlich braucht es eine saubere klinische Diagnostikanhand <strong>der</strong> anerkannten Leitlinien, wie sie etwa im ICD-10 (InternationaleKlassifikation <strong>ps</strong>ychischer Stçrungen, 10. Revision) o<strong>der</strong>im DSM-IV (Diagnostisches und statistisches Manual <strong>ps</strong>ychischer Stçrungen,IV. Revision) dargelegt sind.In <strong>der</strong> Behandlung von Wahnerkrankungen haben sich Medikamenteimmer noch am besten bewährt (Neuroleptika). Es ist deshalbwichtig, <strong>der</strong> Person eine angepasste klinische Behandlung und eineausreichende Dosis von Medikamenten zu geben, um ihr zu einerBeruhigung und Klärung zu verhelfen. Hilfreich ist <strong>der</strong> Einbezugvon Familie o<strong>der</strong> nahestehenden Personen.Und was machen wir mit <strong>der</strong> Religiosität? Der erfahrene Kliniker<strong>wird</strong> die bizarren religiçsen Ideen nicht überbewerten, so interessantsie auf den ersten Blick sein mçgen. Es ist auch nicht nçtig, einemMenschen seinen <strong>Glaube</strong>n auszureden – das <strong>Glaube</strong>nsleben <strong>wird</strong>nach Abklingen <strong>der</strong> Psychose mit <strong>der</strong> Zeit auf ein angepassteres Niveauzurückgehen.Ich mçchte schließen mit einem Zitat meines Lehrers, ProfessorC. Scharfetter:«Das Verhalten Schizophrener ist nie schlechthin verrückt o<strong>der</strong> unsinnig,son<strong>der</strong>n es hat einen Sinn, eine Aufgabe. Diesen Sinn – dieFunktion, die das Verhalten für die Patienten hat – müssen wirherauszufinden versuchen, wenn wir vor <strong>der</strong> Frage stehen, wie <strong>wird</strong>iesen Menschen am besten helfen.»Ausgewählte Literatur zu diesem Anhang183Erichsen F. (1974): «Bemerkungen über das so genannte ‹religiçse› Erleben desSchizophrenen», in: «Der Nervenarzt» 45:191–199.Gasser R. (2007): «Religiçser Wahn. 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