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Rundbrief 2 2012 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit eV

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ISSN 0940-866548. Jahrgang / Dezember <strong>2012</strong>5,00 Euro<strong>Rundbrief</strong> 2<strong>2012</strong>Nachbarschaftsheime Bürgerzentren Soziale <strong>Arbeit</strong>In dieser Ausgabe:Nachbarschaftsheime und Gemeinwesenarbeit- Eine Erwiderung zum Festgespräch 60 Jahre VskA- Ein Plädoyer <strong>für</strong> mehr Gemeinwesenarbeit in NachbarschaftshäusernInternationale <strong>Arbeit</strong>- Bericht von der Vorstandssitzung des IFS in Bristol- IFS Europe gegründetFinanzierung von Leistungen Dritter durch Mittel der öffentlichen HandAuszüge aus einer DiplomarbeitBesondere Veranstaltungen- Das Rückkehrfest im Nachbarschaftshaus Wiesbaden- Das Fest der Nachbarn - Rückblick <strong>2012</strong> und Ausblick 2013- Kreative Vielfalt – der 2. bundesweite Tag der SoziokulturNachruf Norbert BurgerDie jüdische Settlementbewegung in Mitteleuropaim ersten Drittel des 20. JahrhundertsMittelhof e.V. - gelebte Werte und Traditionen heute<strong>Verband</strong> <strong>für</strong><strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.<strong>Verband</strong> <strong>für</strong> <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.1


Vorwort<strong>Rundbrief</strong> 2 / Dezember <strong>2012</strong>Liebe Leserinnen und Leser,seit dem 01.05.2010 bin ich als Geschäftsführerin des <strong>Verband</strong>es <strong>für</strong> <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong><strong>Arbeit</strong> tätig.Als „die Neue“ fühlte ich mich, so lange ich nicht bei allen Mitgliedsorganisationenwenigstens einmal vor Ort war. Die Treffen und Gespräche am Rande derjährlichen Mitgliederversammlungen und unsere 60-Jahrfeier waren zum Kennenlernenviel zu wenig. Die Zusammenführung von Landesgruppe und Bundesverbandsowie die Ausgründung der Tochtergesellschaft hielten mich dann dochintensiver in Berlin fest, als ich es mir gewünscht hätte. Im Mai 2011 reisteich immerhin zu 20 Jahren Labyrinth, einem Projekt unserer MitgliedsorganisationISSA, Initiative <strong>für</strong> <strong>sozial</strong>pädagogische und sozio<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong>, nachGreifswald, und im März <strong>2012</strong> zum 35. Geburtstag des Bürgerhauses Oslebshausenin Bremen. Und im Oktober <strong>2012</strong> bereiste ich endlich alle weiteren14 Mitgliedsorganisationen in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Ich nutzte die Reise, um die Kolleginnen und Kollegen vor Ort undihre <strong>Arbeit</strong>sbedingungen kennenzulernen und die Mitgliederbefragung <strong>2012</strong>zu vervollständigen. In diesem <strong>Rundbrief</strong> finden Sie als fortlaufende BildleisteFotoimpressionen der Reise, die Ergebnisse der Befragung werden ausführlichim nächsten <strong>Rundbrief</strong> im Rahmen der Dokumentation der Jahrestagung Stadtteilarbeit<strong>2012</strong> vorgestellt. Die Jahrestagung 2013 soll übrigens in Köln stattfinden.Auch das war ein Ergebnis der Reise. Außerdem laden wir alle Mitliederund deren Kooperationspartner herzlich ein, sich am Europäischen Fest derNachbarn zu beteiligen, das am Freitag, dem 31.05.2013, stattfinden wird.Bis dahin ist es aber noch ein Weilchen hin, zum Glück! Ich wünsche Ihnen undIhren Familien ein gesundes, glückliches und erfolgreiches Jahr 2013 mit wenigerBürokratie, mehr Raum <strong>für</strong> inhaltliche <strong>Arbeit</strong> und Konzeptentwicklung. Undvor allem <strong>für</strong> Begegnungen!Mit herzlichem GrußBirgit Monteiro, GeschäftsführerinDer <strong>Rundbrief</strong> wird herausgegeben vom<strong>Verband</strong> <strong>für</strong> <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.Tucholskystr. 11, 10117 BerlinTelefon: 030 280 961 03Fax: 030 862 11 55E-Mail: bund@sozkult.deInternet: www.vska.deRedaktion: Birgit MonteiroGestaltung: Gabriele HulitschkeDruck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, BerlinDer <strong>Rundbrief</strong> erscheint halbjährlichEinzelheft: 5 Euro inkl. VersandTitelbild:Das Bürgerhaus Oslebshausen in Bremenfeierte mit einem Frühlingsempfang am16.03.<strong>2012</strong> sein 35-jähriges Jubiläum.Seite4811121618192132InhaltsverzeichnisDieter OelschlägelNachbarschaftsheime und GemeinwesenarbeitMarkus RungeEin Plädoyer <strong>für</strong> mehr Gemeinwesenarbeit in NachbarschaftshäusernBericht und FotosRückkehrfest <strong>2012</strong> NBH WiesbadenAuszug aus der Diplomarbeit von Roman Spohn„Finanzierung von Leistungen Dritter durch Mittel der öffentlichen Hand“Vanessa Schwartz, Renate WilkeningBericht von der Vorstandssitzung des IFS in BristolEröffnung IFS Büro in BerlinProf. SchneiderKreative Vielfalt / Zweiter „Tag der Soziokultur“BerichtDas Fest der Nachbarn - Rückblick <strong>2012</strong> und Ausblick 2013Nachruf Norbert BurgerDieter OelschlägelDie jüdische Settlementbewegung in MitteleuropaIngrid AlberdingMittelhof e.V. - gelebte Werte und Traditionen heute3


Dieter OelschlägelNachbarschaftsheime undGemeinwesenarbeitIm vorigen Jahr feierte der <strong>Verband</strong> <strong>für</strong> <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong><strong>Arbeit</strong>, ehemals <strong>Verband</strong> Deutscher Nachbarschaftsheime,seinen 60. Geburtstag. Dabei wurdeauch im Gespräch zwischen Sabine Beikler, GeorgZinner und Herbert Scherer die Geschichte des <strong>Verband</strong>esnachvollzogen. Zu Recht wurde in diesemGespräch auch die Rolle der Gemeinwesenarbeit im<strong>Verband</strong> behandelt. Allerdings wurde sie von denGesprächsteilnehmern etwas verkürzt und einseitigdargestellt. Das ist von den Erfahrungen und demBlickwinkel der Diskutanten her verständlich. Wennich als Vertreter der „jungen, radikalen Sozialarbeiter-und Studentenbewegung“ (Herbert Scherer), der1970 in Heerstraße Nord in der Gemeinwesenarbeitangefangen hat, die Geschichte aus meiner Sicht– inzwischen habe ich mich intensiv mit Gemeinwesenarbeitpraktisch und theoretisch beschäftigt –darzustellen versuche, ist das sicherlich auch einepersönliche Sicht, aber doch der Versuch, aus derzeitlichen Distanz das Verhältnis GWA und Nachbarschaftsheimeaus einer anderen Perspektive zuerzählen (Dieter Oelschlägel 1991 und 2002).In der Nachkriegszeit gab es zunächst nur eine literarischeRezeption amerikanischer, englischer und niederländischerAnsätze von GWA in Westdeutschland,obwohl aus den USA einige ehemalige Mitarbeiterinnender SAG Berlin-Ost zurückkehrten, wie Magda Kelber,Elisabeth von Harnack und Herta Kraus. Letzterer verdankenwir den ersten Beitrag über GWA, der in einerdeutschen Fachzeitschrift erschien (Kraus 1951).Praktische Beispiele aus dieser Zeit kennen wir kaum.Ausländische Hilfsorganisationen, besonders die Quäker,beteiligten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeitam Aufbau von Nachbarschaftsheimen, die durchVerteilung von Sachspenden und Lebensmitteln,Unterstützung von Flüchtlingen und Evakuierten, Aufbauvon Selbsthilfe-Werkstätten usw. die unmittelbareNot zu bekämpfen versuchten und wie die Settlementsin den Nachbarschaften Selbsthilfe anregten. 1951schlossen sich 14 solcher Einrichtungen zum „<strong>Verband</strong>deutscher Nachbarschaftsheime“ zusammen.Das Personal der ausländischen Hilfsorganisationenwurde zurückgezogen, hatte aber die fachlich-methodischeDiskussion angestoßen. Wenn auch verschiedentlichbehauptet, GWA war das noch nicht, sondernbis Mitte der sechziger Jahre eher <strong>sozial</strong>pädagogischeGruppenarbeit.Der <strong>Verband</strong> Deutscher Nachbarschaftsheime stiegaber bald in die noch junge, kaum entwickelte GWA-Diskussion ein. In der damals regelmäßig erscheinendenBroschüre „Unsere Nachbarschaftsheime“konnte man 1963/64 lesen: „Die dritte Methode<strong>sozial</strong>er <strong>Arbeit</strong> schließlich, die ‚Community organization‘,die in den angelsächsischen Ländern und in denNiederlanden recht lebendig praktiziert wird, sollte inZukunft in den deutschen Nachbarschaftsheimen entwickeltwerden. Für solche Gemeinwesenarbeit bietensie mit ihren in die Nachbarschaft hineinreichendenKontakten gute Ansatzpunkte“ (Unsere Nachbarschaftsheime1964/64, 35). Und 1965 schrieb W.Hartwieg, Beiratsmitglied des <strong>Verband</strong>es, in der Zeitschrift„Soziale <strong>Arbeit</strong>“, in der auch der erste Artikelder GWA erschienen war, einen Beitrag „Das Nachbarschaftsheimals Ausgangspunkt <strong>für</strong> <strong>sozial</strong>e <strong>Arbeit</strong>im Gemeinwesen“, der diesen Gedanken unterstrich.Gerade die Nachbarschaftsheime, so Hartwieg, seienein guter Ausgangspunkt einer <strong>Arbeit</strong> im Gemeinwesen.„Was in den Nachbarschaftsheimen geschieht,hat Zielsetzungen und Auswirkungen, die denen einerGemeinwesenarbeit nahe kommen. Sie sind offen <strong>für</strong>die Nöte aller Menschen in der Nachbarschaft. Siehaben das Prinzip der verantwortlichen Mitwirkung derBürgerschaft.“ (Hartwieg 1965,203f.)So wurde der „<strong>Verband</strong> deutscher Nachbarschaftsheime“bis in die 80er Jahre zu einem wesentlichenFaktor der GWA-Entwicklung in Theorie und Praxis.Einerseits förderte er die Diskussionen durchTagungen (z.B. 1964 Einzelhilfe – Gemeinwesenarbeit,1965 Nachbarschaftsheime und Gemeinwesenarbeit)und seit 1964 durch den <strong>Rundbrief</strong>, derdas Thema GWA von Anfang an behandelte und überweite Strecken die Fachzeitschrift <strong>für</strong> GWA in Deutschlandwar; andererseits initiierte und trug der <strong>Verband</strong>selbst GWA-Projekte in Berliner Neubauvierteln (Tegel-Süd, Märkisches Viertel, Heerstr. Nord), aber auch in„klassischen“ Nachbarschaftsheimen, wie dem Mittelhofin Berlin oder Frankfurt-Bockenheim.Klaus Niestroy, Mitarbeiter in Frankfurt-Bockenheim,beschrieb die Wendung der (vieler) Nachbarschaftsheimezur GWA so: „Nachbarschaftsheimarbeit soverstanden, wäre dann nicht mehr ausschließlichSozialarbeit, sondern sie hätte in gleich starkemMaße die Begriffe Bildung und Kultur mit einzubeziehen.Gemeinsam an den Problemen eines Stadtteilszu arbeiten, hieße aber gleichzeitig Zusammenarbeitmit anderen Institutionen, Gruppen und interessiertenengagierten Kräften eines geographischen Gebietesanzustreben. Bürger, die ihre Bedürfnisse äußern, diegemeinsam an der Verbesserung ihrer Lebensverhältnissemitwirken, die Entscheidungsprozesse und ihrZustandekommen durchschauen lernen, werden langfristigauch fähig, Erfolge und Misserfolge ihrer Bemühungeneinzuschätzen und daraus Konsequenzen zuziehen.“ (Niestroy 1974 , 110) Ähnlich hat das auchGeorg Zinner im Interview gesagt: „Das (die GemeinwesenarbeitD.Oe.) hat sehr zur Philosophie der Gründungder Nachbarschaftsheime gepasst, dass mandie Bürger dazu ermuntern wollte, ihre eigenen Interessenund Angelegenheiten in die Hand zu nehmen“(Interview <strong>Rundbrief</strong> 2011/2/8).Aber von Beginn an gab es im Zusammenhang derGWA im <strong>Verband</strong> heftige Kontroversen über die Einschätzungder gesellschaftlichen Entwicklung und wasdenn die Rolle und Aufgabe der GWA und GemeinwesenarbeiterInnenzu sein habe.Einig war man sich noch im Fazit der Tagung „Gemeinwesenarbeitund Kommunalpolitik“ von 1969: „Der kritischeGemeinwesenarbeiter muss notwendigerweise den lokalbegrenzten Rahmen des Gemeinwesens überschreitendurch Herstellung der Vermittlung und Übernahme politischrelevanter Rollen in Kommune und <strong>Arbeit</strong>splatz,d.h. heute vor allem durch Motivation zu politischemEngagement“ (zit. nach: Oelschlägel 2002,12). Für vieleKolleginnen und Kollegen in den Nachbarschaftsheimenwar das damals ein großer Schritt, wie viel mehr noch <strong>für</strong>die Vorstände und <strong>Arbeit</strong>sausschüsse.Unter dem Einfluss der Studentenbewegung (Randgruppenstrategie,Organisationsfrage) radikalisiertesich auch ein Teil der Gemeinwesenarbeiter, auch im<strong>Verband</strong>. Insofern ist die Kritik von Georg Zinner undHerbert Scherer berechtigt. Aber die Gemeinwesenarbeiter,auch im <strong>Verband</strong>, bestanden nicht nur ausdem Typ, „der abstraktes politisches Agieren derkonkret <strong>sozial</strong>pädagogischen <strong>Arbeit</strong> vorzog“ (Zinner1988,284) und man kann auch nicht verallgemeinerndsagen: „…die Gemeinwesenarbeit ist um 1970unter die Schirmherrschaft der jungen, radikalenSozialarbeiter- und Studentenbewegung geraten, unddas ist ihr nicht unbedingt gut bekommen“ (Interview<strong>Rundbrief</strong> 2011/8). Vielmehr standen – schon auf derTagung 1969, dann aber im <strong>Verband</strong> über mehrere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrgenerationenhaus Stadtteilhaus Biberach an der Riß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.stadtteilhaus-biberach.deBirgit Monteiro, Geschäftsführerin des VskA,und Sabrina Blum, Stadtteilhaus Gaisental45


Jahre wie in der GWA in Deutschland überhaupt –unterschiedliche Konzepte der GWA nebeneinander: GWA als Koordination traditioneller Methoden derSozialarbeit sowie der im Gemeinwesen arbeitendenInstitutionen, Verbände und Organisationen zur gegenseitigenUnterstützung aller im Gemeinwesen Tätigen GWA als <strong>sozial</strong>pädagogische Strategie: Bürger werdendurch Einsatz des Gemeinwesenarbeiters/derGemeinwesenarbeiterin in die Lage versetzt, selbstständigund gemeinsam <strong>für</strong> die Befriedigung eigenerBedürfnisse und <strong>für</strong> die Verbesserung ihrer Lebensverhältnissezu sorgen. Gemeinwesenarbeit als politische Strategie, diedurch aggressive Intervention, um eine FormulierungC.W. Müllers aufzugreifen, um mögliche Veränderungendes Machtpotenzials im Stadtteil, vielleichtsogar in der Gesellschaft zu erreichen.Das ist alles etwas holzschnittartig dargestellt, aberdie Positionen waren damals so. Wichtig ist, dassdiese Positionen im <strong>Verband</strong> lange Zeit gleichwertignebeneinander bestehen konnten. Ich weiß aus eigenerErfahrung u.a. in Heerstraße Nord, dass Vertreterder unterschiedlichen Positionen in fruchtbarem Dialogin den Projekten zusammenarbeiteten.Ein wesentliches Ergebnis der Tagung von 1969 war dieGründung einer Organisation der Gemeinwesenarbeiter.Die Tagungsteilnehmer beschlossen einstimmig, eineSektion GWA zu bilden. Diese Sektion gab sich mit demSektionsteil des <strong>Rundbrief</strong>es ein eigenes Organ. 1971hatte die Sektion bereits 154 Mitglieder. Die Gemeinwesenarbeiterund Gemeinwesenarbeiterinnen sahendort die GWA als eine (berufs-)politische Alternative zureinzelfallorientierten Sozialarbeit, verstanden aber dieSektion GWA auch als eine gute Möglichkeit <strong>für</strong> vieleregional arbeitenden Kollegen, Erfahrungen auszutauschenund zu bewerten und Diskussionen systematischzu führen. Die Sektion bestand bis 1979, der GWA-Teildes <strong>Rundbrief</strong>s bis 1988.Es wäre lohnenswert, die Geschichte der GWA der60er und 70er Jahre anhand der vielen Projekte des<strong>Verband</strong>es zu betrachten, wie sie in zahlreichen Beiträgenim <strong>Rundbrief</strong> dieser Jahre dargestellt wurden.Aber es bleibt nur der Raum, zusammenfassend<strong>für</strong> diese Zeit festzustellen: Schon früh stellte sichheraus, das GWA nicht „an sich“ kritisch ist. Neben derpolitischen GWA, die Widerstand von unten, aus denQuartieren heraus organisieren wollte, gab es ebensoProjekte, die sich der nachbarschaftlichen Hilfe undSelbsthilfe im Stadtteil verschrieben hatten. Gemeinwesenarbeitbildete immer – und nicht nur im <strong>Verband</strong>– ein Kontinuum, an dessen einen Ende ein systemkritischer,konfliktorientierter, zu Zeiten auch <strong>sozial</strong>revolutionärerAnsatz stand, der aber nicht die ganzeGWA war, wie die Kritiker im <strong>Rundbrief</strong> das meinten,und an dem anderen Ende ein staatstragender harmonischerAnsatz: „Während die eine (idealtypische)Position zentrale Aspekte wie Autonomie, Selbstorganisationund Handlungsfähigkeit unauflösbar mit denstrukturellen Voraussetzungen verbindet, blendet dieandere Position ökonomische und <strong>sozial</strong>strukturelleZwänge im Wesentlichen aus und/oder rückt die <strong>sozial</strong>eEbene, insbesondere die (moralische) Dispositionder Akteurinnen und Akteure in den Focus des Nahraumdiskurses“(Stövesand 2009,79).1973/74 führte die bis dahin tiefste Wirtschaftskriseseit 1929 weltweit, die „Ölkrise“, in Deutschland zumEnde vieler Reformen, die Geld kosteten. Im <strong>Verband</strong>wurde das deutlich durch die Liquidierung des Sanierungsprojektesdes Nachbarschaftsheimes Frankfurt-Bockenheim, auch die Vorhaben im Märkischen Viertelund in Tegel in Berlin mussten die <strong>Arbeit</strong> einstellen.Seit 1972 war auch eine innenpolitische Veränderungwirksam geworden, die durch den „Radikalenerlass“und die damit verbundenen Berufsverbote deutlichspürbar wurde. Diese Rücknahme bildungs- und<strong>sozial</strong>politischer Reformen und die innenpolitischenTurbulenzen führten zu Beunruhigungen und Kontroversenim <strong>Verband</strong>. Die Diskussion um eine Stellungnahmedes <strong>Verband</strong>es zu den Berufsverboten stellteihn vor eine Zerreißprobe.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbarschaftswerk Freiburg e.V.C.W. Müller schreibt zu dieser Zeit: „GWA, insbesonderein ihrer aggressiven, konfliktorientiertenForm, hatte die Reformpolitik der späten 60er undder frühen 70er Jahre provokativ und zuverlässigbegleitet. Wirtschaftskrise und nachlassende Experimentierfreudevon Gemeinden und Verbänden,Berufsverbote und Einschränkungen im Sozial- undBildungsbereich begannen nun wieder zu greifenund (vielleicht allzu rasch) eine allgemeine Mutlosigkeitzu verbreiten“ (Müller 1988, 131). 1975 führteder <strong>Verband</strong> noch einmal ein internationales Seminarzu Fragen der GWA durch. Unter dem Eindruckder Erfahrungsberichte der Kolleginnen und Kollegensaßen einige von ihnen abends in einer Kneipezusammen und verfassten die „Todesanzeige“ <strong>für</strong>die GWA, vorschnell, wie die weitere Geschichte derGWA zeigte.Gar nicht traf zu, was Herbert Scherer – Mitte der80er Jahre zum <strong>Verband</strong> gekommen – darüber sagte:„… eigentlich ist es traurig, dass die Gemeinwesenarbeittheatralisch beendet wurde und die Akteuresich in die Hochschulen zurückgezogen haben, umvon da aus mit kritischem Blick die real existierendeNachbarschaftsheimarbeit zu bewerten“ (Scherer2011,9). Ich gehörte damals zu denjenigen, diediese Todesanzeige verfassten und weiß, dass vielevon uns weiterhin in der Praxis der GWA blieben,etliche auch als Mitarbeiter oder Leiter von Einrichtungendes <strong>Verband</strong>es oder gar Vorsitzender desBundesverbandes wurden.Mit der GWA war es auch nicht zu Ende. GWA alsdritte Methode und auch als in sich geschlossenes<strong>Arbeit</strong>sfeld hatte zwar an Bedeutung verloren, esgab gewissermaßen als Nachfolge der Studentenbewegungeine Zunahme von Selbsthilfegruppen,Stadtteilinitiativen und neuen <strong>sozial</strong>en Bewegungen,deren Einfluss das Bewusstsein <strong>für</strong> den <strong>sozial</strong>enRaum geschärft hat und der GWA neue Impulse gab,die bis heute wirksam sind.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.nachbarschaftswerk.deLiteratur:W. Hartwieg: Das Nachbarschaftsheim als Ausgangspunkt<strong>für</strong> <strong>sozial</strong>e <strong>Arbeit</strong> im Gemeinwesen“, in:Soziale <strong>Arbeit</strong> 14/1965/5/197 – 204Hertha Kraus: Amerikanische Methoden derGemeinschaftshilfe – Community Organization forSocial Welfare, in: Soziale Welt 1951/184 – 192C. Wolfgang Müller: Wie Helfen zum Beruf wurde.Band 2: Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit1945 - 1995 Weinheim und Basel 1988Klaus Niestroy: Tendenzen der Nachbarschaftsarbeit– Formen und Entwicklungsschritte konzeptionellerVeränderungen unter Berücksichtigung pädagogischerund politischer Faktoren.Diplomarbeit am Fachbereich Erziehungswissenschaftder Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurtam Main 1974Dieter Oelschlägel: Rückblick in die Zukunft II.Kontinuitäten und Visionen, in: <strong>Rundbrief</strong> 2001/2und 2002/1, 11-14Dieter Oelschlägel: <strong>Verband</strong>sgeschichte –Zeitgeschichte: 90 Jahre Nachbarschaftsheime –40 Jahre <strong>Verband</strong> <strong>für</strong> <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong>, in:<strong>Verband</strong> <strong>für</strong> <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> (Hrsg.): Sozial<strong>kulturelle</strong><strong>Arbeit</strong> Bestandsaufnahme der <strong>Arbeit</strong> in denNachbarschaftsheimen, Bürgerzentren und Gemeinwesenprojekten.Köln 1991, 5 - 20Herbert Scherer in: Gesprächsrunde zur 60-jährigenGeschichte, in: <strong>Rundbrief</strong> 2011/2/8-13Sabine Stövesand: Sozialraumorientierte <strong>Arbeit</strong> inHamburg, in: Standpunkt Sozial 2009/2/77-83Unsere Nachbarschaftsheime 1963/1964Georg Zinner: Sozial<strong>kulturelle</strong> Gemeinwesenarbeit– Geschichte und Renaissance in der Bundesrepublik,in: Blätter der Wohlfahrtspflege135/1988/12/283 - 285Georg Zinner in: Gesprächsrunde zur 60-jährigenGeschichte, in: <strong>Rundbrief</strong> 2011/2/8-13Geschäftsführer Mathias Staenke67


Markus RungeEin Plädoyer <strong>für</strong> mehr Gemeinwesenarbeitin NachbarschaftshäusernGemeinwesenarbeit, verstanden als aktivierende<strong>sozial</strong>e <strong>Arbeit</strong> im Gemeinwesen im Sinne einer Geh-Struktur, die Interessengruppen von Menschen aufbautoder im Aufbau begleitet, spielte in den 70erund 80er Jahren in den Nachbarschaftsheimen Berlinseine wesentliche Rolle. Menschen, die sich <strong>für</strong>ihr Wohn- und Lebensumfeld engagieren wollten, wurdenin der Gestaltung ihres Wohnumfeldes und derEntwicklung ihrer Nachbarschaft unterstützt und zuEigeninitiative anregt. Es gab dabei viele Beispiele<strong>für</strong> Gemeinwesenarbeit, die von den Nachbarschaftshäusernausging und sich <strong>für</strong> die Menschen in denWohnquartieren jenseits der Interessen der Organisationeinsetzte (Beispiele siehe Kasten).Dass Gemeinwesenarbeit im oben verstandenenSinn aktuell wieder stärker gefragt ist, zeigen diezahlreichen Debatten um die <strong>sozial</strong>e Stadt, um <strong>sozial</strong>eStadtentwicklung und <strong>sozial</strong>en Zusammenhaltund um die Stärkung der Nachbarschaften. Gemeinwesenarbeitsetzt an am zunehmenden Auseinanderfallender Gesellschaft, zielt darauf ab, zwischenden verschiedenen Lebenswelten und Gruppen imStadtteil Verbindungen herzustellen und Politikverdrossenheitzugunsten nachbarschaftsbezogenembürgerschaftlichen Engagement aufzuheben. In derKollektivierung und Veröffentlichung von Interessenmarginalisierter Bevölkerungsgruppen kann Gemeinwesenarbeiteine emanzipatorische Kraft sein, dieden Menschen wieder mehr Selbstbestimmung alshandelnde Subjekte ermöglicht.Warum aber, frage ich mich, finden sich in den NachbarschaftshäusernBerlins heute trotz dieser hohenAktualität so wenig Gemeinwesenarbeitsansätze imSinne solcher Geh-Strukturen?* Haben sich die Nachbarschaftshäuser zu so etabliertenwohlfahrtsstaatlichen Organisationen entwickelt,dass <strong>für</strong> sie die hinausgehende <strong>Arbeit</strong> mitInteressengruppen im Stadtteil nicht mehr passenderscheint, weil diese <strong>Arbeit</strong> die Gefahr in sich birgt,gegenüber Politik und Verwaltung unbequem zu sein?* Ist es die fehlende Trennung von Zuständigkeitenzwischen Komm- und Gehstrukturen in den Nachbarschaftshäusern,die MitarbeiterInnen mit dem Titel„Stadtteilarbeiter/Gemeinwesenarbeiter“ eher dieOrganisation der Komm-Strukturen, der Nachbarschaftstreffsetc. betonen lässt und unfrei macht,stärker hinauszugehen und in den direkten Kontaktmit den Menschen im Stadtteil zu kommen?* Ist es tatsächlich so, wie Thomas Mampel undGeorg Zinner es auf der Jahrestagung Stadtteilarbeit2009 proklamierten, dass die KitaleiterInnenund Jugendarbeiter im Stadtteilzentrum Steglitzund die Kitas im NBH Schöneberg (Quelle <strong>Rundbrief</strong>1/2010)selbst Stadtteil- und Gemeinwesenarbeitmachen oder entspringt dies nicht eher einemWunschdenken, welches sich aber mangels Zeit undRessourcen so gar nicht realisieren lässt?* Sind es tatsächlich nur fehlende Ressourcen, die in denNachbarschaftshäusern zu einer stärkeren Gewichtungder Organisation der Infrastruktureinrichtungen führenanstelle der hinausgehenden stadtteilbezogenen <strong>Arbeit</strong>?* Oder sind es andere Aspekte, wie das Unspezifischeder Gemeinwesenarbeit (welches eher Generalistenanstatt Spezialisten fordert), das fehlendeEinlassen auf offene Prozesse oder das Unpolitischeder <strong>sozial</strong>en <strong>Arbeit</strong>, das zu weniger Gemeinwesenarbeitin Nachbarschaftshäusern führt?Seit mehr als 10 Jahren bin ich neben meiner <strong>Arbeit</strong>im Nachbarschaftshaus Urbanstraße <strong>für</strong> das ThemenfeldStadtteil- und Gemeinwesenarbeit in der Lehrean einer Berliner Hochschule <strong>für</strong> Soziale <strong>Arbeit</strong> tätig.Viele Studierende fragen mich, wo gute Orte derUmsetzung von Gemeinwesenarbeit zu finden sind.Nachbarschaftshäuser erscheinen mir besondersgeeignete Einrichtungen da<strong>für</strong> zu sein. Aktuell abertue ich mich schwer damit, viele Nachbarschaftshäuserals gute Orte der Stadteil- und Gemeinwesenarbeitzu benennen.Alle drei Hochschulen der Sozialen <strong>Arbeit</strong> in Berlinhaben Professuren <strong>für</strong> Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit,die mit fachlich sehr kompetenten an Kooperationeninteressierten Kolleginnen und Kollegen besetztsind und an Praxiszugängen im Bereich der StadtteilundGemeinwesenarbeit interessiert sind.Schaut man aktuell auf die Internetseiten derBerliner Nachbarschaftsheime und Stadtteilzentren,findet man wenig Anzeichen da<strong>für</strong>, dass sichGemeinwesenarbeit als Methode der <strong>sozial</strong>en <strong>Arbeit</strong>im Sinne einer hinausgehenden <strong>Arbeit</strong> mit Interessengruppenaus Bürgerinnen und Bürgern, die sichin die Gestaltung ihres Wohnumfeldes aktiv einbringenwollen, gehalten hat.Im Organigramm des Nachbarschaftsheimes Schöneberg(http://www.nbhs.de/uploads/media/NBHS_Organigramm_A4_11_2011.pdf) finden sichunter der Überschrift Stadtteilarbeit Stichworte wieEhrenamtliches Engagement, Selbsthilfetreffpunktund Beratung, Kontaktstelle Pflegeengagement,Stadtteilzeitung, Community Care sowie Rechtsberatung!Nimmt man sich das Jahrbuch 2008/09 desNBH Schöneberg zur Hand, findet man dort unterdem Titel „Stadtteilarbeit in Zahlen“ Angaben zuehrenamtlichen BetreuerInnen, zu BesucherInnendes Nachbarschaftsheimes, TeilnehmerInnen vonSelbsthilfegruppen und an Kursangeboten.Im Nachbarschaftsheim Neukölln gibt es das Bürger/innenbüro „Mitreden in Neukölln“ als Anlaufstelle<strong>für</strong> alle Interessierten im Stadtteil, die sich über Mitbestimmungsmöglichkeitenin Neukölln informierenwollen. Hier erhalten Bürgerinnen und Bürger Informationenüber bestehende Netzwerke in ihrer Umgebungund über Beteiligungsmöglichkeiten wie Initiativen,Vereine und Gremien in ihrem Kiez.Im NBH Mittelhof gibt es noch einen Stadtteilarbeiter,der allerdings in erster Linie <strong>für</strong> die Kontaktstelle Pflegeengagementzuständig ist und im Rahmen seinerStadtteilarbeit beinahe nur Infostände des NBH Mittelhofim Stadtteil betreut.In vielen Nachbarschaftszentren, z.B. der Fabrik OsloerStraße, der Kiezspinne oder dem Nachbarschaftshausam Lietzensee, finden sich die Begriffe Stadtteil- oderGemeinwesenarbeit aber auch gar nicht (mehr)!Das Nachbarschaftshaus Urbanstraße bildet unterallen Nachbarschaftshäusern Berlins sicherlich eineAusnahme, da es in den letzten 2 Jahrzehnten einenbesonderen Gemeinwesenarbeitsschwerpunkt entwickelthat. Hier gibt es aktuell neben einer Gebietsbeauftragung<strong>für</strong> ein Quartiersmanagementgebietweitere GemeinwesenarbeiterInnen, zuständig <strong>für</strong>3 Stadtteile mit jeweils mehr als 10.000 EinwohnerInnen(weitergehende Informationen in der Broschüre„Stadtteile aktiv gestalten“).Aber es gibt aktuell auch eine erfreuliche Informationaus dem Freizeithaus Weißensee, welches zum Oktober<strong>2012</strong> eine Stadtteilarbeiterin eingestellt hat. Dieintensiven Veränderungen der Bevölkerungsstrukturin Weißensee in den letzten 5 Jahren gaben den Ausschlagda<strong>für</strong>, als Nachbarschaftshaus stärker in denStadtteil hinein arbeiten zu wollen.Was sich in den Nachbarschaftshäusern Berlins inden letzten 20 Jahren überwiegend entwickelt hat,sind erfolgreiche und zweifelsohne wichtige Komm-Strukturen bzw. Infrastruktureinrichtungen, wie Nachbarschaftstreffs,Bürgerbüros und Kontaktstellen. Die. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K.I.O.S.K. Freiburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.rieselfeld.org. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .89


Auszug aus der Diplomarbeit von Roman Spohn„Finanzierung von Leistungen Dritterdurch Mittel der öffentlichen Hand“.Rahmenbedingungen, Risiken undNebenwirkungen unterschiedlicherFinanzierungsformen“6. Allgemeine Probleme bei Finanzierungen durchMittel der öffentlichen Hand und LösungsansätzeNeben den in den vorangegangenen Kapiteln genanntenSchwierigkeiten und Unwegsamkeiten gibt esnoch eine Reihe allgemeiner Probleme, die immerwieder im Zuge einer Finanzierung Dritter durch Mittelder öffentlichen Hand auftreten. Meine eigenengesammelten Erfahrungen decken sich dabei mit denin Presse und Literatur viel diskutieren Themen indiesem Bereich. Dabei konnte ich feststellen, dassdiese Probleme landesübergreifend existieren undauch unabhängig von der Art, Summe und Größe dergeförderten Projekte auftreten.6.1 Das Prinzip der JährlichkeitProjekte, die eine Förderung aus Mitteln der öffentlichenHand bekommen, sind an den Grundsatz derJährlichkeit gebunden. Sie müssen daher alle Ausgabenbis zum Ende des Jahres tätigen. Bei einerFehlbedarfs- oder Festbetragsfinanzierung gibt esnoch die Zweimonatsfrist, d.h. bis spätestens EndeFebruar des Folgejahres müssen die Ausgabengetätigt sein. Projekte, die jahresübergreifend sind,werden deshalb derzeit haushaltstechnisch in zweiProjekte aufgeteilt, um diese Regelung einzuhalten.Diese Problematik drängt den Zuwendungsempfängerdazu, fast illegal zu handeln, wenn er dazu genötigtwird, eine Vorabrechnung <strong>für</strong> noch nicht erbrachteLeistungen zu machen.Die Erteilung einer endgültigen Bewilligung <strong>für</strong> einProjekt kann sich über Monate verzögern (z.B. durchverspätete Zuwendungsbescheide), so dass derZeitplan des Projektantrages nicht mehr eingehaltenwerden kann. Problematisch ist die Jährlichkeitder Förderungen auch deshalb, weil <strong>für</strong> Projektträgernicht das Kalenderjahr maßgeblich ist, sondern derProjektzeitraum. Aufgrund dieser Schwierigkeiten undder häufigen Verzögerungen bei der Bewilligung vonZuwendungsmitteln finden die meisten Veranstaltungenerst in der zweiten Jahreshälfte statt und inden ersten Monaten werden dann keine Veranstaltungendurchgeführt. Das ist aber weder <strong>für</strong> die Besuchernoch <strong>für</strong> die Wirtschaftlichkeit eines Projekteseine sinnvolle Verteilung.Als Lösungsmöglichkeit bietet sich hier an, dass Projekteauch jahresübergreifend durchgeführt werdenkönnten. Besonders wichtig ist es aber, dass der Verwaltungsaufwand<strong>für</strong> Zuwendungsgeber und Zuwendungsnehmererheblich reduziert wird. Nur so könnenVerzögerungen innerhalb des Zuwendungsförderungsprozessesvermindert werden. Dies wäre durch ein<strong>eV</strong>erschlankung und Standardisierung des Zuwendungsverfahrenserreichbar. Weitere Möglichkeitenim Umgang mit der Problematik der Jährlichkeit wärenim Folgenden: Zuwendungsmittel, die nicht verbrauchtwurden, könnten nach einer Antragstellung ins Folgejahrübernommen werden. Hierbei ist nicht gemeint,dass daraus eine Folgeförderung <strong>für</strong> das Projekt entsteht,sondern es gibt einem Projekt die Möglichkeit,auch nach Beendigung der Zuwendungsförderung dieMittel noch wirtschaftlich und zweckentsprechendeinzusetzen. Des Weiteren könnte der ZuwendungsgeberZuwendung aussprechen, die auf einer mehrjährigenBewilligung basieren. Hier würde sich dannwieder eine institutionelle Förderung anbieten.Grundsätzlich sind die Zuwendungen zeitnah zu verwenden.Diese Art der Mittelverwendung sollte nocheinmal neu überdacht werden, um im Zuge der o.g.Probleme die strenge zeitliche Bindung, in der Mittelverwendet werden müssen, etwas zu lockern. Eineweitere Möglichkeit wäre, wenn eine mehrjährigeFörderung gewünscht wird, einen ähnlichen Weg zugehen, wie es im Zuge der EFRE-Förderung geschieht.Bei der EFRE-Förderung, die über 3 Jahre läuft, werdendie Gesamtzuwendungsmittel, die ein Projekt erhält,in sogenannte „Jahresscheiben“ aufgeteilt. Das istein ungefährer Richtwert, wie viel Zuwendungsmittelin einem Jahr durch den Zuwendungsnehmer abgerufenwerden können. Dabei gestaltet sich der Mittelabrufals relativ flexibel. Der Abruf hat keine zeitlicheBindung, d.h. er kann zu jeder Zeit in den 3 Jahrenerfolgen. Wichtig dabei ist nur, dass die Gesamtzuwendungssummealler 3 Jahre am Ende nicht überschrittenwird. 16.2 Bearbeitungszeiten der Anträge und VerwendungsnachweiseEin großes Problem, mit dem sich die Zuwendungsempfängerkonfrontiert sehen, sind die oft verspätet ausgestelltenBewilligungsbescheide. Das liegt vor alleman der langen Bearbeitungszeit der Zuwendungsanträgedurch den Zuwendungsgeber. Das ist aber in Hinblickauf die Mitarbeiter des Projektes immer wieder ein Problem.Viele Aufgaben müssen erledigt werden, damitdie Maßnahme starten kann. Aber ohne einen Zuwendungsbescheiderhält das Projekt keine Zuwendungsmittelund daher kann es auch die Mitarbeiter <strong>für</strong> dasProjekt nicht bezahlen. So verzögert sich der Start derMaßnahme weiter und man kommt wieder auf Problemewie im Kapitel 6.1 beschrieben zurück.Zu spät ausgestellte Zuwendungsbescheide sind auchdeshalb problematisch, da sie immer dann ein Projektblockieren, wenn keine Vorschussbescheide 2 erteiltwerden und die Eigenmittel nicht ausreichen, um dieanfallenden Kosten zu decken. Damit ist das Projektgezwungen, seine <strong>Arbeit</strong> einzustellen, da diese einfachnicht mehr finanziert werden kann.1 Vgl. Webseite des Bundesnetzwerkes BürgerschaftlichenEngagements 17.09.2011 18.45 Uhr2 Ein Vorschussbescheid, ist ein Bescheid, der nur <strong>für</strong> einenkurzen Zeitraum gültig ist. Dies sind meist die ersten dreiMonate zu Beginn eines Zuwendungsjahres. Er wird dann späterdurch den endgültigen Zuwendungsbescheid ersetzt.Die Antragstellung an sich gestaltet sich <strong>für</strong> einenmöglichen Zuwendungsnehmer mehr als schwierig.Die Zuwendungsgeber haben verschiedene Formen,wie ein Antrag zu stellen ist, wie die Mittel abzurufensind und wie der Nachweis über die Mittelverwendungzu erbringen ist. Die Einarbeitung in dieseverschiedenen Formen ist <strong>für</strong> viele Antragsteller sehrschwierig und bedeutet Mehrarbeit. Denn die meistenProjekte können sich durch eine Zuwendung alleinenicht finanzieren. Sie sind daher gezwungen, weitereFörderungen zu beantragen.Auch die Prüfung der Abrechnungen wird <strong>für</strong> Zuwendungsempfängerzunehmend schwieriger. Wie genauwird abgerechnet und wie lange dauert es, bis dasErgebnis der Prüfung vorliegt? Das alles verunsichertdie Zuwendungsnehmer zusehends. Gerade die sehrlange Bearbeitungszeit der Verwendungsnachweisprüfungempfinden viele Projekte als sehr störend. Teilweisehaben die Prüfungen eine Rücklaufzeit von 2Jahren und mehr. Damit sehen sich die Zuwendungsnehmerauch immer wieder mit dem Problem konfrontiert,etwaige Nachfragen seitens der Prüfstelle, nochJahre nach Beendigung einer Maßnahme beantwortenzu müssen. Das erweist sich in der Praxis dannteilweise als sehr schwierig. Umso wichtiger ist es,in diesem Zusammenhang noch einmal zu erwähnen,dass eine lückenlose Dokumentation der Ausgabenund Einnahmen seitens des Zuwendungsempfängersein sehr wichtiger Punkt ist.Mögliche Vorschläge zur Vereinfachung des Ablaufeseines Zuwendungsjahres wären zum einen, dass vonder Antragsprüfung bis zur Erstellung des Bescheidesnicht mehr als 2 Monate vergehen. Sollte diese inbegründeten Fällen nicht möglich sein, müssten Vorschussbescheidevermehrt eingesetzt werden. Damitkann das Projekt schon beginnen und die Bewilligungsstellehat genug Zeit, den Antrag bis zu Endedurchzuprüfen. Dies würde auch die Belastung aufSeiten des Zuwendungsgebers verringern, dem damitder Druck genommen wird, relativ zeitnah die Anträgevollständig prüfen zu müssen. Dadurch könnten schon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbarschaftsheim Darmstadt e.V.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.menschenskinder-darmstadt.de1213


im Vorfeld einer Maßnahme verschiedene Fehler ausgeschlossenwerden, die sonst erst später oder garnicht gefunden worden wären.Zum anderen sollte der Prüfzeitraum von Verwendungsnachweisenneu geregelt und verkürzt werden.Dieser ist, wie schon beschrieben, bisher einfach zulang. Dies könnte, wie schon in Kapitel 6.1 erwähnt,durch die Einführung von Zwischenverwendungsnachweisenverkürzt werden.Des Weiteren sollten die Rahmenbedingungen vonZuwendungsvergaben einheitlich gestaltet werden,sodass der Antragsteller, egal bei welcher Institutioner einen Förderantrag stellt, immer die gleichenBedingungen vorfindet. 36.3 Problematik der EigenmittelWie schon an verschiedenen Stellen meiner <strong>Arbeit</strong>erwähnt, wird vom Zuwendungsnehmer erwartet,dass er in ein gefördertes Projekt Eigenmittel einbringt.Was genau aber Eigenmittel sind, wird nichtweiter definiert. Dazu gehören auf jeden Fall Mitgliedsbeiträgeund Spenden. Was aber ist mit Einnahmen,die aus dem Verkauf von Eintrittskarten gewonnenwerden?Oft haben die Zuwendungsmittel nur ihre eigeneehrenamtliche <strong>Arbeit</strong>skraft, die sie in ein Projekt miteinbringen. Aber wie genau kann diese als Eigenmittelgewertet werden? Ist es überhaupt möglich, unbareEigenmittel einzubringen? Das sind offene Fragen, dienicht näher definiert sind und damit dem Antragstellerdie <strong>Arbeit</strong> unnötig erschweren.Eine weitere Frage in Bezug auf die Eigenmittel ist,warum ein Zuwendungsnehmer überhaupt Eigenmittelmit einbringen muss. Er übernimmt Aufgaben, andenen das Land Berlin ein hohes Interesse hat, dass3 Vgl. Webseite des Bundesnetzwerkes BürgerschaftlichenEngagements 12.09.2011 13.45 Uhrdiese erfüllt werden. Ein Verein übernimmt also Aufgabenund Tätigkeiten anstelle des Landes Berlin.Warum muss dann ein Projekt eigene Mittel nachweisen,um diese Aufgabe zu übernehmen?Viele Projekte können nicht realisiert werden, weilsie nicht die nötigen Eigenmittel erbringen können.So scheitern oft sehr gute und wichtige Maßnahmenschon bei der Antragstellung, da viele Vereine denWeg der Antragstellung von Fördermitteln gar nichterst einschlagen.Eine anders gewählte Finanzierungsform würdebei der Problematik Abhilfe schaffen. Anstatt einerFehlbedarfsfinanzierung wird eine Festbetragsfinanzierunggewählt. Dann wird der zu erbringendeEigenmittelanteil genauer definiert und entsprechendfestgelegt. Sollte eine Festbetragsfinanzierung nichtmöglich sein, müsste der zu erbringende Eigenmittelanteilso gering wie möglich angesetzt werden. DieFestlegung bestimmter Summen, die als Eigenmitteleinzubringen sind, wurde im Rahmen des 3. Folgevertrages„Stadtteilzentren“ nicht getätigt. Hier genügtedas bloße Vorhandensein von Eigenmitteln, egal inwelcher Höhe.Des Weiteren sollte es möglich gemacht werden, dasehrenamtliche Engagement des Zuwendungsnehmersals Eigenmittel mit in den Finanzierungsplan aufzunehmen.Die Tatsache, dass Menschen ehrenamtlichin einem Projekt tätig werden möchten, sollte stärkerberücksichtigt und bewertet werden. Denn dasist auch eine Art von Leistung, die zur erfolgreichenDurchführung eines Projektes erbracht wird. 46.4 Zuwendungsfähige Ausgaben und nichtzuwendungsfähigeAusgabenImmer wieder werden im Zuge einer ZuwendungsnachweisprüfungAusgaben als nicht zuwendungsfähig4 Vgl. Webseite des Bundesnetzwerkes BürgerschaftlichenEngagements 11.10.2011 19.25 Uhrbemängelt. Das hat natürlich <strong>für</strong> das Projekt immerzur Folge, dass es eine Rückzahlung leisten muss, dieder Höhe der nicht anerkannten Ausgaben entspricht.Das liegt vor allem daran, dass <strong>für</strong> den Zuwendungsnehmerder Begriff der „zuwendungsfähigen Ausgaben“nicht immer eindeutig definiert ist. Oft stellt sich<strong>für</strong> den Zuwendungsnehmer die Frage, was denn nungenau zuwendungsfähige Ausgaben sind und warumüberhaupt zwischen zuwendungsfähigen und nichtzuwendungsfähigen Ausgaben unterschieden wird.Bei der Prüfung von Ausgaben in einem Verwendungsnachweiswerden oft folgende Ausgaben nicht anerkannt:VersicherungenEs sind grundsätzlich nur die Versicherungen zuwendungsfähig,die gesetzlich vorgeschrieben sind. Dazuzählen die Kfz-Versicherung, Krankenversicherung,Rentenversicherung oder auch <strong>Arbeit</strong>slosenversicherung.Private Versicherungen, wie Rechtschutzversicherungen,sind nicht förderfähig. Aber genau solch<strong>eV</strong>ersicherungen benötigt der Zuwendungsnehmer, umsein Projekt ordnungsgemäß und risikofrei durchführenzu können.Kredit-, Beratungs- und SteuerberatungskostenKosten <strong>für</strong> WirtschaftsprüferOft auch eigene Kosten, die <strong>für</strong> das Projekt notwendigsind wie:projektbezogene PersonalkostenSach- und BürokostenEin weiteres Problem, das bei den nicht zuwendungsfähigenAusgaben auftritt, ist das Verbot der Bildungvon Rücklagen oder Rückstellungen. Daraus ergibtsich ein großes Problem. Die Privatwirtschaft bildetRücklagen, um unvorhergesehene Ereignisse im finanziellenBereich besser abfedern zu können. Warum istdas <strong>für</strong> einen Zuwendungsgeber nicht zulässig? Eskann immer wieder zu unvorhergesehenen Kostenkommen. Wie soll dann ein Projekt diesen Ausgabenbegegnen? Was passiert, wenn eine Rechnung <strong>für</strong>eine erbrachte Leistung erst nach Beendigung desProjektes eintrifft? Wie wird die bezahlt?Um diesem Problem der zuwendungsfähigen Ausgabenzu begegnen, müsste der Begriff an sich gemeingültigerund zeitgemäßer definiert werden. Dabei istes wichtig, die Aufgaben, die ein Projekt übernimmt,genau zu bestimmen. Daraus kann man dann ableiten,welche Ausgaben da<strong>für</strong> notwendig sind undauch gefördert werden. Des Weiteren könnte man<strong>für</strong> bestimmte Ausgabepositionen Pauschalbeträgefestlegen, die dann dort verwendet werden können.Dies würde sich besonders <strong>für</strong> die Bewirtschaftungsausgabenanbieten. Hier könnte der Zuwendungsnehmerdann mit einer festen Größe arbeiten,die nur darin reglementiert ist, dass sie <strong>für</strong> dieseKostenart zu verwenden ist. Was dort <strong>für</strong> Ausgabengetätigt werden, wird dann nur noch in Bezug auf dieKostenart geprüft.Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist, dass den Projektendie Erlaubnis erteilt wird, Rücklagen undRückstellungen zu bilden 5 . Die Höhe der zu bildendenRücklagen könnte man prozentual an der Zuwendungssummeanpassen. Damit wäre es den Projektenmöglich, auch noch Rechnungen zu begleichen, dienach Beendigung des Zuwendungsjahres anfallen.Sollte das Projekt dann wieder eine neue Förderungerhalten, könnte man die nicht verbrauchten Rücklagenmit der neuen Zuwendungssumme verrechnen.Dazu könnte man nach Ablauf eines halben Zuwendungsjahresdie Zuwendungssumme noch einmalentsprechend anpassen oder die letzte Mittelauszahlungverringern.5 Vgl. Webseite des Bundesnetzwerkes BürgerschaftlichenEngagements 09.09.2011 11.35 Uhr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbarschaftsheim Frankfurt a.M.-Bockenheim e.V.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.jungentreff-bockenheim.dewww.maedchenbuero.de1415


Vanessa Schwartz, Renate WilkeningBericht von der Vorstandssitzungdes IFS in BristolDer Vorstand des IFS traf sich dieses Jahr zwei Mal,um über die Visionen und Aufgaben des IFS zu diskutierenund zu entscheiden.Der Vorstand hat entschieden, dass die „HelsinkiDeklaration“, die 2005 verabschiedet wurde, nachwie vor Grundlage der <strong>Arbeit</strong> ist und Vision und Missiondes IFS dokumentiert.Die Vorstandstreffen des IFS sind jeweils an lokal<strong>eV</strong>eranstaltungen in den Ländern der Mitgliedsorganisationengekoppelt, wie z.B. im Frühjahr an die SchwedischeKonferenz „Democracy, Inclusion, Youth“ inStockholm.Das zweite IFS-Vorstandstreffen im Herbst dieses Jahresfand daher im Rahmen der Locality-Konferenz vom06.-07.11. in Bristol statt. Locality ist ein nationalesNetzwerk in Großbritannien, das sich 2011 aus denzwei Netzwerken Developement Trusts Association(DTA) und British Association of Settlements and SocialAction Centers (BASSAC) zusammengeschlossen hat.Das Netzwerk besteht aus über 700 Organisationen,die zusammen eine starke Bewegung <strong>für</strong> <strong>sozial</strong>e Veränderungenin Großbritannien bilden.600 Teilnehmer <strong>sozial</strong>er Organisationen aus aller Welttrafen sich in Bristol, um sich untereinander auszutauschen,miteinander zu vernetzen und voneinander zulernen. Als kleine Auftaktveranstaltung gab es am Montagabendein informelles „Meet and Greet“ in einemmaritimen Restaurant direkt am Avon. Ein Großteildes IFS-Vorstandes nahm teil und wir hattten die Gelegenheit,Joanna Holmes (Vorstand Locality) und SteveWyler (Geschäftsführer Locality) kennen zu lernen.Der offizielle Auftakt fand am Dienstagmorgen im Plenarsaaldes Hotels statt. Joanna Holmes (VorstandLocality) begrüßte die Teilnehmenden und bat LordVictor Adebowale (Turning Point) ans Rednerpult, derals erster Referent über die Belastbarkeit von Communities(Kommunen und Gemeinden) sprach unddarüber, dass eine belastbare Kommune nicht nurüberlebensfähig sei, sondern auch über Fertigkeiten,Energie, Ressourcen und Antrieb verfüge, einenstarken, gesunden und vibrierenden Ort zu schaffen,an dem die Menschen gerne leben und arbeiten. FundierteKenntnisse und praktische Beispiele darüber,wie sich Communities belastbarer machen können,wurden am Nachmittag in 2 zweistündigen Blöcken inverschiedenen Workshops, Diskussionen und Exkursionendargeboten.Der zweite Tag begann <strong>für</strong> den IFS-Vorstand bereitsschon vor der eigentlichen Locality-Konferenz. Daserste Vorstandstreffen hatte als Schwerpunkt die Etablierungeiner IFS Europa Gruppe innerhalb des weltweitenIFS-Netzwerkes. Eine Präsentation, die vonder <strong>Arbeit</strong>sgruppe IFS Europa vorbereitet wurde, gabdem gesamten Vorstand Aufschluss über Inhalte,Umfang und Ziele von IFS Europa. Neben IFS Europawerden noch weitere Regionen (IFS Lateinamerika,IFS Afrika, IFS Asien-Pazifik) stärker vernetzt, um denweltweiten IFS-<strong>Verband</strong> zu festigen. Nach einer intensiven90-minütigen Besprechung endete das erste IFS-Meeting und die eigentliche Konferenz konnte beginnen.Zum Thema „Dinge anders machen“ gab es am Vormittagvier spannende Reden zu innovativen Ansätzen derGemeinschaftsarbeit bei Locality, die inspirierende Ideenhervorbrachten. Ein stark besuchter und sehr interessanterWorkshop ging um das Thema „Lokales Essen“.Hier wurden Projekte mit lokalen Bauernhöfen vorgestelltund Lebensmittelunternehmen, die von der Communityselbst betrieben werden und sowohl das Wachsen, alsauch Ernten und Verkaufen der eigenen Lebensmittelselbst mitbestimmen. Gerade vor dem Hintergrund einesansteigenden Bewusstseins von gesundem Essen wardieser Workshop informativ und wertvoll.Im Abschlussplenum wurde die Konferenz von DavidRobinson (Community Links) mit seiner Rede überdie fünf Schlüsselprinzipien der Locality-Bewegunggeschlossen. Während die meisten Konferenzteilnehmer_innenim Anschluss nach Hause fuhren, traf sichder IFS-Vorstand ein weiteres Mal, um über Themenund Beschlüsse zu sprechen. Am Abend wurde <strong>für</strong> di<strong>eV</strong>orstandsmitglieder ein Essen mit dem Vorstand vonLocality veranstaltet. Ein Anliegen dieses Treffens wares, Locality <strong>für</strong> die Mitgliedschaft im IFS zu gewinnen.Der Donnerstag war ausschließlich <strong>für</strong> das letzteund längste IFS-Vorstandsmeeting vorgesehen, dasim „Barton Hill Settlement“ am Rande Bristols stattfand.Im obersten Stockwerk des Hauses mit einerPanoramaaussicht auf Bristol tagte der Vorstand ineiner sechsstündigen Sitzung. Auf der Agenda standenu.a. die Satzungsänderung, Mitgliederbeiträgeund Projekte <strong>für</strong> 2013. Michael Zisser (IFS-Präsident),der aufgrund des Sturmes in New York nichtmitreisen konnte, wurde über Skype zur Satzungsbesprechungeingeladen. Am Ende der Sitzung musstesich der Vorstand schweren Herzens von zwei langjährigenMitgliedern verabschieden: Clare Gilhoolyund Jan Buijze verlassen nicht nur den Vorstand,sondern auch den IFS-<strong>Verband</strong>. Daher wurden sienoch mit Geschenken und wertschätzenden Wortenvom Vorstand verabschiedet. Sie werden beim nächstenIFS-Vorstandstreffen im Sommer 2013 in Lyonnicht mehr mit dabei sein.Vanessa Schwartz, Renate Wilkeninghttp://www.ifsnetwork.org/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .IFS Europe gegründetund Office in Berlin eröffnet.Der Vorstand unseres internationalen DachverbandesIFS hat auf seiner letzten Vorstandssitzung im November<strong>2012</strong> in Bristol beschlossen, ein IFS Europa Büroin Berlin zu eröffnen. Dieses Büro koordiniert dieAktivitäten der IFS Europe Group, der zurzeit 36 europäischeMitgliedsorganisationen angehören. Das IFSEurope Office ist <strong>für</strong> die nächsten zwei Jahre im Nachbarschaftszentrumufafabrik zuhause und arbeitet mit12 Wochenstunden.Hintergrund ist der tiefe Wunsch und das Bedürfnisder europäischen IFS-Mitglieder, sich miteinanderintensiv und konzentriert um europäische Themenzu kümmern. Dazu gehören z.B. <strong>sozial</strong>e Entwicklungin Städten und Gemeinden, Jugendarbeitslosigkeit,Armut, Wirtschaftskrise.Die Mitglieder des IFS Europe erschließen gemeinsamRessourcen, entwickeln Programme <strong>für</strong> internationaleBegegnungen und führen diese durch.Ein weiteres Ziel ist es, politisch auf der Ebene der EUEinfluss zu nehmen, und einen Beitrag zu leisten zurVerbesserung der Lebensbedingungen.Renate Wilkening1617


Das Fest der Nachbarn -Rückblick <strong>2012</strong> und Ausblick 2013Kreative VielfaltBundesweit fand der 2. Tag der Soziokultur unter demMotto "JedeR ist kreativ. Wir haben das Zeug dazu.Du auch!" am Do., dem 18.10.<strong>2012</strong> statt.Zum zweiten Mal gaben Akteure bundesweit einenEinblick in ihre <strong>Arbeit</strong>. Kulturpolitische Prämissen wurdenz.B. im Tollhaus in Karlsruhe gesetzt: Unter demThema „Soziokultur ist MEHR WERT“ diskutierten VertreterInnender LAKS, des Baden-WürttembergischenLandesverbandes, mit kulturpolitischen SprecherInnender Landtagsfraktionen. Doch in den meistenZentren standen künstlerische Angebote auf dem Programm:Konzerte und Lesungen, Tanz und Theater,Kurse und Workshops … Vielfalt und Teilhabe sind inder Soziokultur Programm.Das breite Spektrum von Soziokultur zeigte auch dieAuftaktveranstaltung am 17. Oktober im Berliner RAW-Tempel. Sie gab Raum sowohl <strong>für</strong> den politischen Diskursals auch <strong>für</strong> künstlerische Darbietung und eigeneKreativität. Jugendliche vom Zirkus Zack und ArtistInnendes Vereins zur Überwindung der Schwerkrafte.V., einem der 65 Nutzer des RAW-Tempel, begeistertenmit ihren Darbietungen. Ihre Spielfreude übertrugsich auf das Publikum, das sich auch selbst im Jonglierenübte – und zwar mit Bällen, die den Finanzierungsmixsozio<strong>kulturelle</strong>r <strong>Arbeit</strong> symbolisierten. LarsJohansen, Kabarettist von den Magdeburger „Kugelblitzen“,gab den Auftakt zur Diskussion. Pointiertgeißelte er Thesen des „Kulturinfarkts“, der jüngst inder Kulturpolitik kontrovers diskutierten Publikation.Die Debatte selbst stand unter dem Titel „Von A wieAkquise bis Z wie Zuwendung“. Agnes Krumwiede,MdB (Bündnis 90/Die Grünen), Christoph Poland,MdB (CDU/CSU), Prof. Dr. Wolfgang Schneider, Institut<strong>für</strong> Kulturpolitik der Universität Hildesheim undWiebke Doktor, Agentur fundamente, Duisburg, diskutiertenüber das Pilotprojekt „SaatGut. Fundraising <strong>für</strong>Soziokultur“ der Bundesvereinigung Sozio<strong>kulturelle</strong>rZentren vor dem Hintergrund der Kulturfinanzierung inDeutschland. Wiebke Doktor, die als Fundraiserin dasPilotprojekt begleitet, versteht Fundraising als einenProf. Schneider auf dem 2. Tag der SoziokulturAspekt der Partizipation – als Möglichkeit, Kooperationenaufzubauen und Wirkungsmöglichkeiten <strong>für</strong>Partner aus der Wirtschaft und anderen Bereichen zuschaffen. Gerade die sozio<strong>kulturelle</strong>n Zentren seiendie Kräfte, die neue Wege beschreiten könnten, auchim Hinblick auf alternative Finanzierungsmodelle, soProf. Dr. Wolfgang Schneider. Christoph Poland, MdB(CDU/CSU), betonte, dass jedoch die Kommunennicht aus ihrer Mit-Verantwortung <strong>für</strong> die sozio<strong>kulturelle</strong><strong>Arbeit</strong> vor Ort entlassen werden dürften und diekommunale Zuständigkeit erhalten bleiben müsse.Agnes Krumwiede, MdB (Bündnis90/Die Grünen), kritisierte,dass die breite gesellschaftliche Akzeptanzder Soziokultur sich nicht in der Förderpraxis desBundes widerspiegelt. Mit rund einer Million Euro proJahr - lediglich 0,09 Prozent des gesamten Kulturetats- wird die Soziokultur durch die Bundesregierunggefördert. Sie forderte eine deutliche Erhöhung desFonds Soziokultur und eine Verdoppelung der finanziellenMittel <strong>für</strong> die Bundesvereinigung Sozio<strong>kulturelle</strong>rZentren. Im Konsens schätzten die Diskutanten Soziokulturund ihre Leistungen als unverzichtbar <strong>für</strong> dieGesellschaft ein, gerade auch vor dem Hintergrunddes demografischen Wandels und der inter<strong>kulturelle</strong>nEntwicklung. Nur im Zusammenwirken aller Kräftekönnen die Rahmenbedingungen <strong>für</strong> dieses wichtigePraxisfeld verbessert und stabilisiert werden.Foto Prof. Dr. Wolfgang SchneiderFotograf Andreas CaspariWeitere Informationen auf www.soziokultur.deund www.tag-der-soziokultur.de.Weitere Informationen und Kontakt:Ute Fürstenberg, Mitarbeiterin <strong>für</strong> ÖffentlichkeitsarbeitBundesvereinigung Sozio<strong>kulturelle</strong>r Zentren e.V.,Lehrter Str. 27-30, 10557 BerlinT 030-39 74 45 93 | ute.fuerstenberg@soziokultur.de| www.soziokultur.deDas Fest der Nachbarn hat eine 13-jährige Geschichte.1999 in Paris ins Leben gerufen, weitete es sich imJahr 2000 auf ganz Frankreich aus. 2011 wurde derEuropean Neighbours Day in 1.200 Städten in 33 Länderngefeiert und mobilisierte 12 Millionen Anhänger.Die Akteure sind die Bewohner der Stadt und ihreNachbarn – und das bei einer unkomplizierten, harmonischen,gastfreundlichen und solidarischen Atmosphäre.Das Fest der Nachbarn findet nicht zentral an einemPunkt statt, sondern dezentral an vielen verschiedenenOrten: im Innenhof oder im Garten eines Wohnhausesbzw. an unzähligen Orten, an denen Nachbarnmit Nachbarn feiern. Jeder kann (und konnte) mitmachen,eine Bank raus stellen, Nachbarn einladen zumGespräch oder zum Essen.Ziel ist es, die Bürger Europas enger zusammen zubringen: Seine Nachbarn besser kennen zu lernen istder erste Schritt hin zu einer wahren Gemeinschaft.Das Fest der Nachbarn ist nicht „von oben“ organisiert.Im Gegenteil: Jeder, der Nachbarn hat und somitselbst Nachbar ist, war aufgerufen mitzumachen.Am 01. Juni <strong>2012</strong> fand das Fest der Nachbarn inBerlin statt. Erstmals organisiert durch den <strong>Verband</strong><strong>für</strong> <strong>sozial</strong>-<strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> und seine Mitgliedshäusererreichte es mindestens 4.000 Menschen,verteilt auf 36 Stadtteilfeste in ganz Berlin. Dochnicht nur Mitgliedshäuser des <strong>Verband</strong>es regten dieFeierlichkeiten vor Ort an. Auch andere (gemeinnützige)Vereine, die sich Stadtteilarbeit auf ihre Fahnengeschrieben haben, richteten kleine und großeTreffen vor ihren Fensterläden aus. So lud bspw. einVerein in Berlin-Kreuzberg die vom <strong>Verband</strong> geplanteLuftballonaktion mit politischen Werten auf (Kritikpunktez. B. an der Grenzpolitik der EU, bzw. derAbschiebepraxis, Umgang mit Flüchtlingen etc.).Apropos Luftballonaktion: Beim Fest der Nachbarnfand um 16 Uhr eine große Luftballon-Aktion in allenBerliner Kiezen statt. In ganz Berlin stiegen hundertevon Luftballons gen Himmel, um zu zeigen: Jeder istNachbar, immer und überall! So landete ein Luftballongar in Polen. Eine Rückmeldung ließ auf erfreuteGesichter im angrenzenden Nachbarland schließen:„Hallo, wir haben den Luftballon gefunden.Er ist in Polen in dem Ort Szklarka Przygodzicka (aufDeutsch Glasdorf) am 1. Juni gegen 20 Uhr gelandet.Glasdorf (Szklarka Przygodzicka) befindet sich inder Wojewodschaft Großpolen, 20 km. von der StadtOstrów Wielkopolski entfernt.Ich unterrichte Deutsch in der Grundschule im DorfCzarnylas (auf Deutsch Schwarzwald). Das war einesuper Idee.“ 1Der deutsche Ableger des Festes der Nachbarn fandnicht nur in Berlin Gehör. Auch in Frankfurt (Oder) undHannover wurde gefeiert! Allein in Frankfurt (Oder)fanden 16 Nachbarschaftsfeste an diesem Tag statt– in Hannover waren es immerhin 6 Orte, an denenNachbarn mit Nachbarn feierten. Auch in Münchenging es fröhlich zu:„Beschwingt und vor staunendem Publikum drehensich die Tänzer der Tanzgruppe „Tröpferl“ paarweise zuden Rhythmen volkstümlich bayerischer Musik auf demPlatz vor dem Multi<strong>kulturelle</strong>m Jugendzentrum (MKJZ).Etwas weiter hinten im Hof bereiten türkische Frauenlandestypische Gerichte zu und es duftet verführerischnach warmem Weizenfladen und exotischenGewürzen. Zwischen den Ständen und Bierbänkenspielen Kinder und Jugendliche aus über 25 verschiedenenKulturen miteinander, versuchen extra großeSeifenblasen zu machen, toben sich beim Fußballaus oder drehen am Glücksrad der Caritas.“ 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbarschaftshilfe Frankfurt a.M. Bornheim e.V.www.nachbarschaftshilfe-bornheim.de1819


Dennoch: Am meisten wurde in Berlin gefeiert. Fastalle Berliner Stadtteilhäuser und Nachbarschaftszentrenhaben sich beteiligt. Herr Mario Czaja, Senator<strong>für</strong> Gesundheit und Soziales, ließ es sich nicht nehmen,die Schirmherrschaft <strong>für</strong> das Fest der Nachbarnzu übernehmen.Was in Berlin geschah, kann nur auszugsweise vorgestelltwerden: 3Im Kiez-Treff West fand ein öffentliches Training derLine-Dance Gruppe „Two Towers“ statt. Die Gruppebesteht aus Bewohner/innen aus Marzahn NordWest.An diesem Tag haben ca. 50 Personen teilgenommen.Das Training fand im Freien statt und wurde von Bürgerinnenund Bürgern verfolgt.Kinder der Kita „Kiek mal“ und Besucher des Nachbarschafts-und Familienzentrums hatten den ganzenTag Gelegenheit, sich an Murmelbahnen auszuprobieren.Beim gemeinsamen Experimentieren, Bauen undKugeln/Murmeln gingen Erwachsene und Kinder inden Dialog. Nachbarn des Hauses hatten gemeinsammit den Kita-Kindern und Teilnehmern verschiedenerProjekte des Hauses viel Spaß und viele spannendeAha-Erlebnisse.Eva Högl, Mitglied im Deutschen Bundestag, war ihrBesuch beim Fest der Nachbarn sogar ein Eintrag inihrem Online-Tagebuch wert.„Bei meinen Besuchen (beim Fest der Nachbarn) habeich hervorgehoben, dass es europäische Werte wieSolidarität sind, die vor Ort in unseren Kiezen täglichgelebt werden. Diese Bedeutung Europas <strong>für</strong> unserLeben gerät leider in solch schwierigen europäischenZeiten wie jetzt allzu oft in Vergessenheit.“ 4Nun gilt es zu hoffen, dass das Fest der Nachbarn in2013 (mindestens) genauso großartig wird. Ziel istes, noch mehr Leute zu erreichen, in Berlin, aber auchbundesweit… und natürlich in ganz Europa!Weitere Informationen erhalten Sie im Internet unterwww.das-fest-der-nachbarn.de.(Endnotes)1 Mail vom 04.06.<strong>2012</strong> aus Polen2 Aus: Wochen-Anzeiger München vom 04.06.<strong>2012</strong>3 Stimmen aus der Auswertung des Fests der Nachbarn<strong>2012</strong>4 Vgl. http://blog.eva-hoegl.de/?p=4707,zuletzt eingesehen am 31. August <strong>2012</strong>. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Norbert Burger ist totWir trauern um unser langjähriges VorstandsmitgliedNorbert Burger, der am 16. Mai <strong>2012</strong> im Alter von79 Jahren gestorben ist.Er lernte den <strong>Verband</strong> als Vertreter des Quäker Nachbarschaftsheimskennen. Schnell wurde er in den Vorstandgewählt und war dort lange Jahre aktiv. HerrBurger war federführend bei der Ausarbeitung derSatzung des <strong>Verband</strong>es. Als Jurist war er hier<strong>für</strong> prädestiniert.Seine Erfahrungen als Jugendlicher in derNazizeit und vor allem seine intensive Prägung durchdie im Quäker Nachbarschaftsheim Köln arbeitendenenglischen und amerikanischen Helfer flossen in denAufbau des <strong>Verband</strong>es und seiner Strukturen ein.Herr Burger war jedoch nicht nur bei der Satzung aktiv.Er hat den <strong>Verband</strong> auch auf vielen anderen Felderngefördert und seine Richtung mitbestimmt. Einseitigepolitische Aktivitäten, wie die oftmals zur Debatte stehendenpolitischen Resolutionen hat er immer abgelehnt.Überparteilichkeit war ihm ein Anliegen. Er warein sehr sachlicher, kritischer, interessierter und fordernderDiskussionsteilnehmer.Herr Burger war mit zunehmender beruflicher Belastungweniger in der Lage, im <strong>Verband</strong> aktiv mitzuarbeitenund wechselte in den Beirat, dem er dann viele Jahreangehörte.Auch danach noch bis in sein letztes Lebensjahr hater sich immer wieder nach dem <strong>Verband</strong> erkundigt.Dieser <strong>Verband</strong> war ihm ein Herzensanliegen, der jaauch mit seiner Hilfe die Idee von Nachbarschaftszentrenin Deutschland stark gemacht hat.14Dieter OelschlägelDie jüdische Settlementbewegung in Mitteleuropaim ersten Drittel des 20. JahrhundertsZwei Mal schon habe ich im <strong>Rundbrief</strong> über das Jüdische Volksheim im Berliner Scheunenviertel berichtet(Oelschlägel 1994 und 2005). Im zweiten Text waren auch bereits einige Anmerkungen zu jüdischen Settlementsin Wien, Hamburg und Berlin gemacht worden. Inzwischen sind die Forschungen weiter gediehen, undich kann zur Entwicklung der jüdischen Toynbeehallen und Volksheime in Europa einiges erzählen.Eine ausführlichere Darstellung des jüdischen Volksheimes in Berlin folgt dann im nächsten Jahr.Jüdische Kreise in Europa und den USA griffen dieIdee der Gründung von Settlements gern auf, „wobeikennzeichnend ist, dass die christlich-<strong>sozial</strong>e Settlementideein einen jüdischen Kontext, versehen mitmodernen jüdischen Erziehungs- und Bildungswerten,übertragen wurde“ (Haustein, Waller 2009, 3). DieSettler nahmen Abstand vom Almosengeben undunterstützten die Selbsthilfekräfte der Menschen undsetzten sich damit von der traditionellen Wohlfahrtspflegeder damaligen Zeit ab. Das entsprach derjüdischen Tradition, die die höchste Stufe der Wohltätigkeitdarin sieht, die Armen in die Lage zu versetzen,die Hilfe anderer Menschen entbehren zu können. „Esist der Geist, der in der Tiefe des jüdischen Herzensschlummert, dass die Armut dieselben Rechte habe,wie der Reichthum. Kein Wunder, dass sich Judensofort <strong>für</strong> das Institut des Settlements begeisterten.“(Die Welt 1901/24, 24)In London gründete Lily Motagu (1873 – 1963) 1893den West Central Jewish Girls Club, der jüdische<strong>Arbeit</strong>ermädchen als Zielgruppe hatte und sich anSettlement-Prinzipien orientierte, ebenfalls wird vomStepney Jewish Bnai Brith Settlement berichtet (vgl.Malleier 2005, 20).Am meisten wissen wir aber über das 1919 errichteteBernhard Baron St. Georges Jewish Settlementim Londoner Osten. Es wurde von dem jüdischenSozialreformer Basil Henriques (1890 – 1961) undseiner Frau Rose Louise (1889 – 1977) gegründet,die über dieses Settlement 1929 in der Zeitschrift<strong>für</strong> Jüdische Wohlfahrtspflege schreibt. Dort wirdanschaulich beschrieben, wie das Jüdische Settlementunter ärmlichen räumlichen Bedingungen beispielhafteStadtteilarbeit leistete: <strong>sozial</strong>e Beratung,Gesundheits<strong>für</strong>sorge, Clubarbeit <strong>für</strong> Kinder undJugendliche, Zusammenarbeit mit Lehrern, VortragsundBildungsarbeit <strong>für</strong> Erwachsene, Gestaltung derhohen jüdischen Feiertage.„Wenn man gefragt wird, was der eigentliche Sinn derganzen Settlementsarbeit ist, so müsste man etwaFolgendes antworten: die Kinder zu religiöser Toleranzzu erziehen, Vaterlandsliebe und Treue zu ihrem Landin ihnen zu erwecken und ihnen die Verpflichtungenbewusst zu machen, die sie als Juden unter Nichtjudenhaben.“ (Henriques 1929, 338)Auf dem Festland haben sich nach dem Vorbild derjüdischen Settlementbewegung zwei Stränge entwickelt:Zum einen die jüdischen Volksheime, die derIdee der Settlements am nächsten kamen, in Berlin,Hamburg, Breslau, Wien und anderen Städten, zumanderen die Toynbeehallen, die sich auf die LondonerToynbee Hall beriefen und sich ausschließlich derVolksbildung widmeten. Solche Toynbeehallen entstandenin Wien, Prag und in vielen anderen Städten.„Dient die Toynbeehalle dazu, dass unseren Armendas geistige Brot gereicht werde, so ist der Wirkungskreisder Settlements größer. Im Bereich des Volksheimeswird nicht nur <strong>für</strong> die geistigen, sondern auch<strong>für</strong> die körperlichen und wirtschaftlichen Bedürfnisseeiner, je nach Anlage des Settlements, größeren oderkleineren Menge gesorgt“ (Die Welt 1901/24 S.8). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbarschaftshilfe Frankfurt a.M. Bornheim e.V.www.nachbarschaftshilfe-bornheim.de2021


Es kamen allerdings auch Juden, die kein Interessean den Vorträgen hatten. Die Art der Auseinandersetschrieb1901 die Wiener jüdische Wochenzeitschrift„Die Welt“ und Martin Philippson ergänzte 1910:„Der Belehrung und Unterhaltung der unteren Klassendurch die Gebildeten dienen die Toynbeehallen,die von jüdischer Seite in mehreren großen Städtengegründet werden und in denen allabendlich währendder Wintermonate viele Hunderte jüdischer Armer wohligenAufenthalt, warme Getränke, sowie fesselndeund bildende Unterhaltung finden“ (Philippson 1910,S. 154/146). Die Toynbeehallen wurden besondersvom Orden B’nai B’rith 1 unterstützt und getragen, aberauch die Zionisten schrieben sie sich auf die Fahne:„Der Zionismus entfaltet auch … Toynbeehallen, woder Großstadtarbeiter abends eine helle, gewärmteHalle vorfindet und ihm ein wissenschaftlicher, religiöser,musikalischer Vortrag geboten wird (so in Wien,Mannheim, Amsterdam, Lemberg, Brünn, Olmütz etc)“(Was will der Zionismus? 1906, S.19).In Wien hat es beides gegeben: Toynbee-Halle undVolksheim. Der Wiener Anglist und glühende ZionistDr. Leon Kellner 2 hatte 1898 während eines EnglandaufenthaltesToynbee-Hall und das PassmoreEdwards Settlement besucht und war tief beein-1 Die Großloge Bne’Brith („Söhne der Brüder“) wurde1843 in New York als Bund junger jüdischer Männermit dem Ziel gegründet, hohe, edle Menschheitszielezu verwirklichen, so auch die Not der Armen zu lindern.1882 entstand auch die erste Loge Bne’Brith inDeutschland, in Berlin. Auch hier standen <strong>sozial</strong>e Aufgabenim Vordergrund: Waisen<strong>für</strong>sorge, Erholungs<strong>für</strong>sorgeetc. In der Weimarer Zeit gab es ca. 80 Logen.In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gründeten sichin einigen westdeutschen Großstädten die Bne’Brith-Logen wieder.2 Dr. Leon Kellner (1859 – 1928) war Anglist undLiteraturhistoriker, ordentlicher Professor in Czernowitzund Wien und langjähriger englischer Sekretär desösterreichischen Bundespräsidenten. Er war ein namhafterZionist, enger Mitarbeiter und Freund TheodorHerzls.druckt. Im November 1900 rief Kellner zur Gründungeiner Jüdischen Toynbee-Halle in Wien auf. Der Aufrufwurde in mehreren jüdischen Zeitungen publiziert. Am2.12.1900 wurde die Jüdische Toynbee-Halle Wien inder Webergasse 13 in der Brigittenau eröffnet. DerAndrang war so groß, dass die Eröffnungsfeier dreimalhintereinander stattfinden musste (vgl. Die Welt1900/49/12f.). In den Statuten hieß es: „Der Vereinhat den Zweck unbemittelten, wissensbedürftigenJuden in Wien in einem hierzu eingerichteten Saale(Toynbeehalle) unentgeltliche bildende und unterhaltendeBelehrung zu bieten. Politische Diskussionensind ausgeschlossen“ (Malleier 2005b, 113).Ernst Müller 3 , ein Zeitgenosse, erinnert sich später:„Ich glaube, es war in jenem Herbst, dass in denjüdischen Vierteln der Brigittenau und Leopoldstadteine gewisse volkstümliche Bewegung einsetzte, veranlasstdurch die vom Anglisten Leon Kellner nachenglischem Muster gegründete „Jüdische Toynbeehalle“.Es war gewiss nicht nur die warme Stube undder von jungen Mädchen gereichte Tee, weshalb sichMassen von Menschen anstellten, sondern auch einegewisse volksfreundliche Wärme, in stark nationalistischemGewande.“"Die Mittuenden waren außer Kellner York Steiner, dergerne seine eigenen zionistischen Skizzen vorlas, Dr.Kahn, ein in jeder Beziehung strenggläubiger Zionist,…und der Psychoanalytiker Dr. Sadger. Es wurden Vorträge,auch aus klassischer jüdischer Dichtung, oderpopuläre Vorträge gehalten, und Kellner regte mich an,wenn ich da war, den Abend am Klavier einzuleiten.“(E. Müller in: Lichtblau 1997, 491)Diese Erinnerungen zeigen deutlich, dass der Bildungsgedankeim Vordergrund der Toynbee-Hallen-<strong>Arbeit</strong>stand. Entsprechend verliefen auch dieAbendveranstaltungen. Es begann um halb sieben miteinem Vortrag, der etwa 45 Minuten dauerte, danach3 Ernst Müller (1880 – 1954) zionistischer Journalist,emigrierte 1939 nach Londonwurden in einer Pause Tee und Brot oder Gebäckgereicht und anschließend gab es eine Diskussionzum Vortrag. Oft ergänzten auch noch musikalischeDarbietungen das Programm. Inhaltlich liefen dieseAbende – mindestens in der ersten Jahren – nacheinem bestimmten Schema ab: montags behandelteman zumeist ein medizinisches Thema, dienstags waroffener Diskussionsabend zu allgemeinen Fragen,mittwochs und sonntags stand ein Thema aus derjüdischen Geschichte oder Kultur auf dem Programm,donnerstags gab es Vorträge aus der Naturwissenschaft,freitags wurde die Bibel erklärt und samstagsgab es meistens ein Konzert oder eine Lesung. 1901stand in der Welt eine Übersicht zu einigen „charakteristischenThemen“:I. Naturwissenschaftliches: Elemente der Mechanik – Elementeder Astronomie – Einige Hauptgesetze der Optik –Das Auge – Der Kreislauf des Blutes – PsychologieII. Medicinisches: Antisepsis und Asepsis – Was istKrankheit? – Das Wasser als Heilmittel – Die Gefahrendes Alkoholismus – Hygiene des MundesIII. Geschichte und Literatur: Alexander der Große –Die Juden im vorchristlichen Italien – Die Caesaren –Die Ahasver-Sage - Unsere Ahnen bei der Unterhaltung– Die Agadisten – Die Prager Judenstadt – JüdischeKunst – Juda Halevy – Shakespeare –Hamlet – Mendelssohn– Nathan der Weise – Morris Rosenfeld –Deutsche und SpaniolenIV. Ethisches: Nächstenliebe – Kants Ethik – AltjüdischeRechtsethik – Die Ethik des TalmudV. Juridisches: Der Prozess – Die Todesstrafe – DieCivilehe – Der Prozess Calas – Der Prozess vonDamaskusVI. Discussionsthemen: Jüdische Dienstboten –Jüdische Frauen-Erwerbsvereine –Warum geben dieJuden Mitgift? – Sind die Juden anmassend? – DieJuden und der Wucher – Jüdische Armenpflege – WelcheErwerbszweige stehen den Juden offen?“ (DieWelt 1901/15/11)Die Veranstaltungen waren sehr gut besucht, so dassman eine Person abstellen musste, sie den Einlassregelte und oft auch Interessierte abweisen musste.Wer waren die Menschen, die sich diese Vorträgeanhörten?„Das Publikum der Toynbee-Halle besteht fast zurHälfte aus Frauen, verheirateten und ledigen. Nichtalle sind arm. Eine Frau, die zu den fleißigstenBesucherinnen gehört, hat uns mit einer reichlichenSpende überrascht. Alle Altersstufen von 20 bis 70sind vertreten; jungen Leuten unter 20 Jahren ist derEintritt verboten. An gutem Betragen und Intelligenzstehen die Frauen den Männern keineswegs nach; anden Diskussionen haben sich arme <strong>Arbeit</strong>erinnen insachlicher Weise beteiligt. Das männliche Publikumbesteht aus Handels-Angestellten – grösstes Kontingent!- , kleinen Gewerbsleuten, Handwerkern, Hausierern,Dienstmännern; an Sonntagen haben wirauch Soldaten bemerkt … Aus den Diskussionen istdie Landsmannschaft unserer Gäste zu erkennen; wirhaben Polen, Ungarn, Böhmen, Russen und Norddeutschegehört.“ (Kellner 1901, 294)Es waren vor allem Juden aus Galizien, die in die Leopoldstadtgekommen waren und die Toynbee-Hallebesuchten. Sie nutzten die Vorträge dazu, sich in der<strong>für</strong> sie neuen großstädtischen Umgebung zurechtzufindenund Probleme lösen zu helfen, mit denensie konfrontiert waren. So gehörten Vorträge überdie Bekämpfung der Tuberkulose, die zu der Zeit alsVolksgeißel der Wiener galt, ebenso zu den von ihnenbesuchten Vorträgen wie die über die „Hygiene derKleinwohnung“ oder über die Pflege und Erziehungder Säuglinge.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürgerschaftshaus Bocklemünd e.V. in Köln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.buergerschaftshaus.dePädagogische Leitung: Bernd Giesecke, rechts2223


zung mit diesen Gästen zeigte deutlich die Akkulturationsbestrebungender Leitung der Toynbee-Halle. ImJahr 1902, so hieß es in einem Jahresrückblick LeonKellners, der in der „Welt“ unter dem Pseudonym LeoRafaels schrieb:„Voriges Jahr hatten wir nämlich das allerniedrigsteMenschenmaterial in die Toynbee-Halle gelassen, uman ihm einen Erziehungsversuch zu machen. Wir hattenWochen hintereinander arbeitsscheue, skandalsüchtige,rücksichtslose Burschen geduldet und unsvon ihnen allerlei Schabernack gefallen lassen, in derHoffnung, sie würden mit der Zeit durch die Toynbee-Halle zu besseren Sitten bekehrt werden. Diese Hoffnungging leider nur an einigen wenigen Rowdies inErfüllung; die übrigen mussten in diesem Winter vonunserer Anstalt ferngehalten werden.“(Leo Rafaels 1903/8/5)In den Sommerhalbjahren ersetzten regelmäßigeKurse in Hebräisch, Französisch, Englisch, Stenographieund Buchhaltung die Vortragsabende. Sonntagsnachmittags wurden Ausflüge in die Umgebung Wiensunter fachlicher Begleitung von Naturforschern unternommen.Ebenfalls am Sonntag wurden Kindernachmittageangeboten. Deren Teilnehmerzahl war auf120 begrenzt.Die Toynbee-Halle stand in den ersten Jahren unterzionistischer Leitung. 1904 wurde sie aus finanziellenGründen von den liberalen Juden der B`nai B`rith Loge„Eintracht“ übernommen.Die Toynbee-Halle wechselte mehrere Male innerhalbder Brigittenau ihren Standort, bis sie schließlich1914 im „Josefine Mendl Wohlfahrtshaus“ in derDenisgasse ihren endgültigen Ort fand. Während desersten Weltkriegs wurde die Toynbee-Halle zu einerBetreuungsstelle <strong>für</strong> Flüchtlingskinder umfunktioniert.In der Nachkriegszeit lag die Tätigkeit danieder. Inder „Jüdischen Presse“ wurde Anfang 1927 bekanntgegeben, dass der Verein „Jüdische Toynbee-Halle“seine Tätigkeit „in der vor dem Krieg üblichen Weise wiederaufnimmt“ (Jüdische Presse 13/1927/2/17). DieToynbee-Halle bestand trotz finanzieller Schwierigkeitennoch bis in die dreißiger Jahre und wurde gemeinsammit dem Orden B`nai B`rith 1938 aufgelöst.In Wien gab es auch ein Volksheim „Beth HaAm“ 4 . Eswurde 1912 in der Wiener Leopoldstadt vom „JüdischenVolksverein <strong>für</strong> die Leopoldstadt“ gegründet.„Das Volksheim, das mit einem Lesesaal, einer Versammlungshalle,einem Rechtsschutzbureau undeinem Kreditinstitute in Verbindung stehen wird, sollein Wahrzeichen jüdischer Regeneration und Selbsthilfeund ein Brennpunkt öffentlichen jüdischenLebens werden“ (Die Welt 1910/44/1169). SeinenStatuten zufolge sollte die Förderung des Zusammenlebensder Juden in den westlichen Bezirken Wiensdurch die Veranstaltung von Kursen, Vorträgen undDiskussionsabenden sowie durch gesellige Zusammenkünfteerreicht werden. Das Motto des Jahresberichtes1912 – „Eine Stunde Wissenschaft und guteWerke in dieser Welt sind seliger als alle Freuden derkünftigen Welt“ (Hödl 1994, 165) - zeigt, dass dieUnterschiede zur Toynbee-Halle nicht sehr groß waren,dass das Volksheim vielleicht sogar als zionistischeFortsetzung der Toynbee-Halle gesehen werden kann.Im Volksheim haben zahlreiche zionistische Vereineihre Heimat gefunden, wie der „Jüdische Volksverein<strong>für</strong> die Josefstadt“, der „Jüdische Nationalverein <strong>für</strong>Österreich“, die Verbindung jüdischer Akademiker„Theodor Herzl“ und der Verein „Nes Zionah“. DieRedaktion der „Jüdischen Zeitung“ hatte ebenfallsihren Sitz dort.1919 entstand im Volksheim die erste Wiener Erziehungsberatungsstelle.In eine Vortragsreihe AlfredAdlers brachten Eltern ihre Kinder zur Erörterung vonErziehungsschwierigkeiten mit. Daraus entwickeltesich eine „Beratungsstelle <strong>für</strong> Erziehung“. DiesesModell strahlte auf viele Wiener Schulen aus.4 Beth Ha Am (hebr.) = Haus des VolkesVon Wien aus strahlte die Idee der Toynbee-Hallen nachganz Europa aus. Bereits 1901 konnte man in der„Welt“ lesen, dass in Brünn und Drohobycz Toynbee-Hallengegründet worden sind und sich außerordentlichenZuspruchs erfreuten (Die Welt 1901, 4/14 und 7/11).In Brünn bekam die Toynbee-Halle eine Lesehallemit Zeitschriften und eine Bibliothek, von Drohobyczberichtet die „Welt“: „Selbstverständlich ist unsereToynbee-Halle ein Volksheim im kleinen Stile, den siemuß den localen Verhältnissen angepasst sein“(Die Welt 1901/6/12).1905 berichtet dieselbe Zeitschrift aus Krakau, dasses nach längerem Bemühen und einigen Widerständengelungen sei, eine Toynbee-Halle zu gründen, undselbst in der Kleinstadt Jamnitz in Mähren hat ein„Comite` … den ersten derartigen Abend veranstaltet,der sehr befriedigend ausgefallen ist.“(Die Welt 1901/44/13)Von der Toynbee-Halle in Prag las man zum ersten Malin der „Welt“ 1901:„Zugunsten des Fonds einer zu begründendenToynbee-Halle in Prag veranstaltet die dortige Vereinigung‚Fraternitas’ einen Unterhaltungsabend.Mehrere Damen des zionistischen Frauenvereinshabe diese Woche die Wiener Toynbee-Hallebesucht, um deren Einrichtung kennen zu lernen.“(Die Welt 1901/7/11). Ein Jahr später, 1902,fand die konstituierende Versammlung statt mitUnterstützung vieler jüdischer Vereine. Ziel war es,„neben der Verbreitung der Bildung auch eine Nivellierungder Standesunterschiede zu schaffen“ (DieWelt 1902/6/12). Während des ersten Weltkriegesmusste die Toynbee-Halle ihre <strong>Arbeit</strong> einstellen, inihren Räumen richtete der Orden B´nai B´rith eineSchule <strong>für</strong> Flüchtlingskinder ein. Zu Beginn der 20erJahre wurde vor allem unter dem Einfluss GustavFlussers 5 , der in der Loge Bohemia des Ordens5 Gustav Flusser (1885 – 1940) lehrte an der Univer-B`nai B`rith aktiv war und es 1928 bis zu ihremPräsidenten schaffte, die <strong>Arbeit</strong> der Toynbee-Hallewieder aufgenommen und regelmäßige Vortragsabende<strong>für</strong> Erwachsene, Kindernachmittage sowieWeiterbildungskurse abgehalten. Namhafte in- undausländische Referenten waren zu Gast. Die Aufgabeder Toynbee-Halle war Gustav Flusser zufolge„das Hervorrufen des jüdischen Bewusstseins inallen Kreisen der Prager jüdischen Bevölkerung, insbesondereder heranwachsenden jüdischen Jugend,die kräftige Betonung der jüdischen Idee, die Verbreitungder jüdischen Sprache und Literatur unddie Vertiefung in die wichtigsten Abschnitte unsererGeschichte“ (Flusser 1923, 143 in: Koeltzsch, S.7).1926 schrieb Flusser in einem Rückblick, dass sichein ständiges Publikum herausgebildet habe, alteund junge Männer vor allem, die zum großen Teilaus der unteren Schicht des Prager Mittelstandesstammten (vgl. Koeltzsch, S.7).1903 reiste Bertha Pappenheim 6 zum ersten Malnach Galizien und Weißrußland „zum Zwecke, Informationenüber den jüdischen Mädchenhandel unddessen Bekämpfung einzuziehen“ (Pappenheim,Rabinowitsch 1904, 67), der damals die jüdischenOrganisationen in Deutschland beunruhigte. In einemReisebericht schrieb sie auch über Toynbee-Hallen,dort „wird die gesellschaftliche Erziehung des Volkesgefördert … und bekommen die besitzenden Klassendie Möglichkeit, sich dem Volk zu nähern … So gibt eszionistische Toynbeehallen in Lemberg und Tarnopol“(ebda. S.92ff.)sität Prag Mathematik und Betriebswirtschaftslehre.Er war auch <strong>sozial</strong>demokratischer Abgeordneter imParlament. 1940 verhungerte er im KonzentrationslagerBuchenwald.6 Bertha Pappenheim (1859 – 1936), jüdische Sozialarbeiterinund Frauenrechtlerin, gründete 1904 denJüdischen Frauenbund. 1907 eröffnete sie das Mädchenheimin Neu-Isenburg und war 1917 maßgeblichan der Gründung der Zentralen Wohlfahrtsstelle derJuden in Deutschland beteiligt.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quäker Nachbarschaftsheim e.V. in Köln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.quaeker-nbh.de2425


Seit 1901 gibt es auch in Lemberg eine Toynbee-Halle.„Gegründet im größten Judenzentrum Galiziens, wardie Toynbee-Halle dazu bestimmt, ein seit langemtief empfundenes Bedürfnis zu befriedigen. In hellenScharen strömten sie herbei, die doppelt Elenden, diejüdischen Proletarier, Männer und Frauen, um sich anden Samstag- und Sonntag-Abenden (den einzigenfreien in der Woche) geistig zu zerstreuen. Hier konntensie sich Belehrung holen in den verschiedenstenZweigen menschlichen Wissens, hier konnten sie ihrOhr an musikalischen, gesanglichen und deklamatorischenProduktionen ergötzen und zur Abwechslungbei humoristischen Vorträgen einmal lachen.“(Die Welt 1903/6/7) 1904 berichtete Marta Baer-Issachar über zionistische Kulturarbeit in Galizien undhob beispielhaft die Lemberger Toynbee-Halle hervor.Sie hatte 5917 Besucher bei 45 Vorlesungen, die vonjüdischer Geschichte, Hygiene, naturwissenschaftlichen,soziologischen und literarischen Themen handelten.Wichtig waren auch die Kindernachmittage,die jedes Mal mit einem Abendbrot endeten.„An allen modernen Bestrebungen <strong>für</strong> Galizien, auchan der durch den Orden Bnei Brith, respektive durchdessen Organ, das Jüdische (U.O.B.B.) Komitee zurBekämpfung des Mädchenhandels eingeleitetenwirtschaftlichen Hilfsaktion nimmt die Leitung derAnstalt verständnisvollen Anteil; zur Unterstützungdieser Bewegung hat sie jetzt eine jüdisch-deutscheBroschüre herausgegeben, die in einer Auflage von7000 Exemplaren erschien. Der Inhalt war eineÜbersicht über den Mädchenhandel und über dieSchritte, die zu seiner Bekämpfung getan sind. Fernererschien im August im Verlage der Toynbeehalleein zweisprachiges Plakat, das in kurzen Zügendie Hauptleitsätze zur Verhütung der Tuberkuloseeinschärft. Die jüdische Toynbeehalle in Lembergwar die erste Anstalt in ganz Österreich, die einenderartigen Schritt zu Bekämpfung der Tuberkulosetat, derselbe ist von großer Wichtigkeit, wenn manbedenkt, dass ein Siebentel aller Todesfälle in Galizienauf die Tuberkulose zurückzuführen ist. Und dasleider gerade die jüdische Bevölkerung ein starkesKontingent zu dieser Ziffer stellt.“(Baer-Issachar 1904, 380)Marta Baer-Issachar bedauerte es, dass die Toynbee-Hallenin Galizien keinen Kontakt untereinanderhatten und kündigte Abhilfe durch einen Zusammenschlussan. Der <strong>Verband</strong> galizischer Toynbee-Hallenwurde allerdings erst 1911 gegründet. Da gehörtenihm außer Lemberg und Krakau 18 Toynbee-Hallen an.Im Jahr 1919 waren es 25, darunter auch Drohobycz,Brody und Tarnopol (vgl. Die Welt 1919/13/412).Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, war dieStadt in der Habsburger Monarchie, die den höchstenAnteil an jüdischer Bevölkerung aufwies. 1890waren es 32 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es gabein blühendes jüdisches Leben. An der Franz-Joseph-Universität waren um die Jahrhundertwende fast 50Prozent der Studenten Juden. Auch Leon Kellner,der Gründer der Wiener Toynbee-Halle war seit 1904außerordentlicher Professor <strong>für</strong> Anglistik dort, 1908wurde er zum ordentlichen Professor ernannt undlehrte, bis der Erste Weltkrieg auch nach Czernowitzkam. „Freilich sah sich Kellner nicht nur der Wissenschaft,sondern in herausragendem Maße auch demjüdischen Volk verpflichtet, dessen Schicksal er sichseit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als eingeistiger wie politischer Führer widmete“ (Pils 2008,28). Er war auch in Czernowitz politisch tätig, gründeteeine Handwerkerbank und regte die Gründungeiner Toynbee-Halle wie in Wien an. 1910 wurde einTrägerverein gegründet, der die <strong>Arbeit</strong> schon begann.Das Ehepaar Markus und Anna Kisslinger ließ sichvon Kellner zum Bau der Toynbee-Halle bewegen.1913 wurde sie eingeweiht. Sie war ein imposantesGebäude in der Türkengasse mit einem großen Saalund etlichen Nebenräumen.„Anfangs wurde diese Gründung von politischen Gegnernals politisch-tendenziös missdeutet und vielfachoffen angegriffen, nach und nach hörten jedoch dieOffensiven auf, als auch die Gegner die „Toynbeehalle“bei ihrer <strong>Arbeit</strong> beobachten und so ihren wahrenZweck erkennen konnten.“ (Die Welt 1912/8/241)Zur Toynbee-Halle gehörte ein Lehrlingsheim, in welchem80 Lehrlinge Aufnahme fanden. Allerdings wurdenach dem Ersten Weltkrieg das Heim 1920 aufgelöst.Es gab auch eine Volksbibliothek, eine hebräischeSchule samt Kindergarten, und das Büro des zionistischenLandeskomitees fand ebenfalls in der Toynbee-HalleUnterkunft (vgl. Die Welt 1913/44/1503).Zusammen mit den <strong>für</strong> die Toynbee-Hallen üblichenVortragsabenden wurde so der Vereinszweck des„Vereins Toynbee-Halle“ erfüllt, „der sich zur Aufgabegesetzt hat, wissensbedürftigen Juden im VereinshauseBelehrung und bildende Unterhaltung zu bieten,die notleidenden Schichten der jüdischen Bevölkerungwirtschaftlich zu fördern, sowie die Bestrebungen zuunterstützen, welche geeignet sind, der jüdischenBevölkerung in geistiger und sittlicher Hinsicht zu nützen.Der Zweck soll erreicht werden durch Abhaltungbelehrender Vorträge und Vorlesungen, durch Unterrichtskurse,durch eine Bibliothek und Lesehalle unddurch Jugend<strong>für</strong>sorge“, wie das KuratoriumsmitgliedDr. Meyer Ebner referierte (Die Welt 1912/8/242).Für das restliche Europa sind nur wenige Spuren zufinden. Es sind vor allem kurze Meldungen in der Wienerzionistischen Zeitung „Die Welt“.So meldete sie 1902: „Auf Veranlassung der Section‚B`ne Zion David“ Bukarest wurde nach dem Musterder Wiener Toynbee-Halle eine gleiche Institution inBukarest gegründet“ (Die Welt 1902/12/14). 1906wurde in Jasny (Rumänien) ebenfalls eine Toynbee-Halle errichtet (Die Welt 1906/12/13).In Paris gründete der Wiener Arzt Alexander Marmorek(1865 – 1923) eine Jüdische Volksuniversität (Universite`Populaire Juive) ebenfalls nach dem Muster derWiener Toynbee-Halle, von der „Die Welt“ im Jahre1908 schreibt: „Man kann ohne einen Schatten vonÜbertreibung sagen, dass die Jüdische Volksuniversitätnach allen Richtungen … eine segensreiche Einrichtungist. Sie bietet den Einwanderern, wenn auchnur <strong>für</strong> wenige Stunden, ein Heim. Sie gibt ihnen dieMöglichkeit, die Landessprache zu erlernen. Dies letztereist von einer nicht zu unterschätzenden Wichtigkeit<strong>für</strong> das Leben hier. Nirgends stört die Unkenntnisder Landessprache so wie hier … Dann kommt dieeigentliche Tätigkeit der Universität: die Vorträge, diein die Geschichte und Technik einführen, die Geselligkeit,der jüdische Einfluß usw.“ (Die Welt 1908/10/8)Und schließlich noch eine kurze Meldung aus Holland:„Unsere holländischen Gesinnungsgenossen rüstenwacker zur Wintercampagne. Einen Theil ihrer Thätigkeitwerden sie der Gründung von Toynbee-Hallennach dem Muster der Wiener Halle widmen. Schonin den nächsten Tagen wird eine von Zionisten insLeben gerufene Toynbee-Halle in Gravenshage eröffnetwerden. Ebenso soll die von dem HolländischenZionistenbund in Amsterdam begründete Toynbee-Halle noch im Laufe des October ihre Thätigkeit beginnen.Weitere Gründungen stehen in allernächster Zeitbevor.“ (Die Zeit 1901/40/13).Jüdische Toynbee-Hallen in Deutschland„Von gutem Instinkt geleitet hat Professor Kellnerdie Toynbeehallen-Institution als eine <strong>für</strong> die Judenäusserst passende sehr rasch erkannt und sie beidenselben eingeführt. Ihre erfolgreiche Entwicklungund Verbreitung ist vielleicht mit den altbewährtenguten Eigenschaften der jüdischen Gemeinschaft, diesich den <strong>sozial</strong>en Pflichten der öffentlichen Belehrungund Wohltätigkeit nie entzog, in Zusammenhang zubringen. Ohne weiteres lassen sich diese Veranstaltungennicht auf die jüdischen Verhältnisse übertragen,weil die Juden zum grossen Teile nicht jeneProletarierschichten besitzen, <strong>für</strong> die der englischePhilanthrop die edlen Erholungsabende einrichtete.Daher entstehen unter demselben Namen verschiedeneInstitutionen, die mehr oder weniger von demenglischen Muster abweichen. So heben die einenhauptsächlich das Moment der Volksaufklärung her-. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Bürgerhaus Stollwerck in Köln. . . . . . . . . ....... ........... ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . Bürgerzentrum . . . . . . . . . . . Vingst . . . . . in . . Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.buergerhausstollwerck.dewww.buergerzentrum-vingst.de2627


vor und kommen den Volkshochschulen am nächsten.Eine Beispiel <strong>für</strong> letztere sind die von den Zionistenins Leben gerufenen, sehr gut geleiteten und vorzüglichsich entwickelnden galizischen Toynbeehallen …Anders natürlich ist es in Kulturländern. Hier ist dasMoment der Belehrung und Ausbildung erst an weitererStelle in Betracht zu ziehen. Insbesondere inOrten, in denen die Masse der Einwanderer nicht sehrgroß ist. Da handelt es sich nur um eine angenehmeZerstreuung <strong>für</strong> die Zurückgesetzten, die mit irdischenVergnügungen nicht überhäuft sind.“„So ist die in Berlin von den Bnei Brith-Logen diesenWinter errichtete Toynbee-Halle so ziemlich der Typuseiner jüdischen Toynbee-Halle des Westens. Ihre Besuchersind nicht rohe Gesellen, deren Gemüt man durchDarbietung edlen Genusses veredeln soll. Es sindvielmehr gebeugte, elende Gestalten, die <strong>für</strong> einenAugenblick emporzurichten eine lohnende <strong>Arbeit</strong> ist.“(Die Welt 1905/3/6f.), konnte man in einem „BerlinerBrief“ lesen. Dies ist, neben der schon genanntenUnterscheidung in Toynbee-Hallen und Volksheime,eine weitere interessante Differenzierung, derenBerechtigung noch zu untersuchen wäre.Es waren auch in Deutschland die Logen des B`neB`rith-Ordens, die die Toynbee-Hallen gründeten. IhrIdeal war „Juden zu vereinigen zur Förderung hoherund idealer Güter der Menschheit, den geistigen undsittlichen Charakter der Stammesgenossen zu stärken,ihnen die reinsten Grundsätze der Menschenliebe,der Ehre, der Vaterlandsliebe einzuprägen,Wissenschaft und Kunst zu unterstützen, die Not derArmen und Dürftigen zu lindern, die Kranken zu besuchenund zu pflegen, den Opfern der Verfolgung zuHilfe zu kommen…“ (Knappe 2000, S. 268). In diesemSinne entstanden neben anderen Vereinen (z.B.der Montefiore-Verein in Frankfurt) die Toynbee-Hallen.Die Henry Jones-Loge im Hamburg hat zuerst dieseIdeen übernommen und im Jahre 1902 das IsraelitischeGemeinschaftshaus (Toynbee-Halle) eröffnet.In Hamburg gab es schon ein Volksheim, das imSinne der englischen Settler arbeitete. Aber es warstark protestantisch beeinflusst und legte großenWert auf Jugend- und Volksbildung. Es ging den Gründerndes Israelitischen Gemeinschaftshauses abernicht darum, allgemeine volkserzieherische Maßnahmendurchzuführen, sondern ihre Einrichtung sollteein Beitrag zur Förderung jüdischen Gruppengefühlsleisten. „Die <strong>sozial</strong>e Aufrichtung war das wesentlichsteMoment, dem wir unsere Aufmerksamkeitgewidmet haben, zur Überwindung <strong>sozial</strong>er Schädenin den eigenen Kreisen beizutragen“ schrieben sie inihrem ersten Jahresbericht (Maretzki 1907,S.241).Ein Kinderhort wurde 1902 eingerichtet, eine Lesehallefolgte. 1904 zog das Gemeinschaftshaus in dasneu errichtete Logenheim, das vielen jüdische Einrichtungen(Haushaltsschule, rituelles Restaurant,Festsäle und sogar Gelegenheit zum Kegeln) Platz bot(vgl. Hirsch 1996, S.99). Als Israelitisches Gemeinschaftshausexistierte es bis 1912, ab 1914 wurdees als Jüdisches Gemeinschaftsheim weitergeführt.1902 wurde in Mannheim eine Toynbee-Halle eröffnetund drei Jahre lang geführt. „Es stellte sich aberheraus, dass das Publikum, <strong>für</strong> welches eigentlich di<strong>eV</strong>eranstaltung geschaffen war, nicht erschien, es vielmehrdie jüdischen Bürgerkreise waren, welche denüberwiegend größten Teil der der Besucher stellten.Danach wurde seit dem Jahre 1905 der Betrieb eingestellt.“(Maretzki, 1907, S. 242)In Frankfurt am Main befand sich ebenfalls eine Toynbee-Halle„<strong>für</strong> Notleidende“ in der Königswerter Straße26. Zu ihr gehörten eine Wärmestube, ein Lesezimmerund ein Spielzimmer. Sie war täglich von 10 – 12 Uhrund von 15 – 22 Uhr geöffnet. Jeden Sonntagabendfanden um 20 Uhr Unterhaltungsabende statt. Siewar von einer B´ne B´rith-Loge organisiert. „Diesesnach einer Modellorganisation in London organisierteZentrum sollte den Kontakt verschiedener gesellschaftlicherKreise untereinander fördern und wurdebesonders von Ostjuden frequentiert“ (Heuberger,Krake 1988, 189). Die Toynbee-Halle wurde 1932noch erwähnt (vgl. Schiedler 1988, 110).Offenbar nicht von der Settlementbewegung beeinflusst,aber doch nach denselben Prinzipien, gründetendie wohlhabenden Juden Johanna und HermannAbraham in Berlin das „Israelitische Heimathaus“.Der Neubau wurde 1904 in der Gormannstraße 3 eingeweiht,inklusive einer „Anstaltssynagoge“.Das Israelitische Heimathaus umfasste eine Volkskücheund ein Altenheim <strong>für</strong> alleinstehende jüdischeAlte. Ein Mädchenheim „sollte alleinstehenden ordentlichenMädchen ein schützendes Obdach gewährenund Gelegenheit bieten, etwas Nützliches zu lernenund das Gelernte zu verwerten, um sich ernähren zukönnen und ihren Eltern eine Stütze zu sein“ (Jahresberichtnebst Rechnungs-Abschluß <strong>für</strong> das Jahr1902). Eine Koch- und Haushaltungsschule bildetejüdische Mädchen zu tüchtigen Wirtschafterinnen aus.Ein israelitischer Kindergarten nebst Kinderhort nach„Fröbelschem System“ bot auch „Nachhilfe in denSchularbeiten durch geprüfte Kindergärtnerinnen“(ebenda). Es gab auch Unterhaltungsabende, „die vonZeit zu Zeit veranstaltet und durch Darbietungen wieGesangs- , Instrumental- und Deklamationskünstlernin uneigennütziger Weise geboten wurden“ (ebenda).Herman Abraham richtete in der Volksküche eineAbteilung zur Speisung armer (auch christlicher)Schulkinder ein, die sich zu 12 Kindervolksküchen,über ganz Berlin verteilt, ausweiteten.Im November wurde ein „Verein Israelitisches Heimathausund Volksküche“ gegründet. 1903 berichtete„Die Welt“ über die Generalversammlung des Vereins:„Darnach sind im letzten Geschäftsjahr 1903 verteiltworden I. In der Volksküche: 1. Mittagsportionen von10 – 20 Pf. 40 028 Portionen, unentgeltlich 7907 Portionen,zusammen 47 935 Portionen. 2. Abendportionen:von 10 – 20 Pf. 13 254 Portionen, unentgeltlich5542 Portionen, zusammen 18 796 Portionen; das istim ganzen 66 299 Portionen. II. In der Kochschule: 1.Mittagsportionen von 10 – 40 Pf. 33 326 Portionen,unentgeltlich 10 599 Portionen, zusammen 43 924Portionen. 2. Abendportionen von 10 – 30 Pf. 14 305Portionen, unentgeltlich 8070 Portionen, zusammen22 375 Portionen; das ist im ganzen 66 299 Portionenoder in der Volksküche und Kochschule zusammen133 030 Portionen. Während des Berichtsjahresbildete die Anstalt 14 Kochschülerinnen aus. DasAltenheim beherbergte im Jahre 1902 durchschnittlich48 Greise beiderlei Geschlechts. Im Mädchenheimfanden 119 junge Mädchen ihr Unterkommen.Von diesen waren: 20 Schneiderinnen, 25 Verkäuferinnen,22 Wirtschafterinnen, 10 Schülerinnen derHandelsschule und Akademie, 2 Kassiererinnen, 3zur Kur hier, 2 Pflegerinnen, 1 Expedientin, 11 Buchhalterinnen,1 Kunkelstepperin, 3 Putzmacherinnen,4 Lehrerinnen, 2 Stenographistinnen, 3 Musikstudierende,6 Lehrmädchen, 2 Zigarettenarbeiterinnen, 2Zuschneiderinnen.“ (Die Welt 1903/16/8)In einem Aufruf zur Wahl der zionistischen Kandidatenim Berliner Gemeindewahlkampf im November1901 konnte man lesen: „Wer mit uns wünscht,dass eine Volkshalle geschaffen werde, in der sichnach der Mühe des Tages jeder Jude Erholung undgeistige Anregung im jüdischen Sinne finden kann …der wähle die zionistischen Kandidaten“ (Reinharz1981, 59). Das ist wahrscheinlich das erste – undeinzige – Mal, dass deutsche Zionisten während derGemeinderatswahlen sich <strong>für</strong> die Toynbeehallen einsetzten.Die Toynbee-Halle in Berlin wurde dann erst1904 eröffnet, allerdings von den drei Berliner B`neB`rith-Logen, die durch Spenden da<strong>für</strong> 8000 Markaufgebracht haben. „In derselben soll dem ärmstenTeil der Stammesgenossen nach schwerer redlicherTagesarbeit vornehme Zerstreuung, geistiger Genuss,Ablenkung von Sorge und Kummer und Gelegenheitzur Fortbildung geboten werden, ohne dass da<strong>für</strong>irgendwelche Gegenleistung beansprucht wird“ (DieWelt 1904/37/12). Daneben wurden auch Unterhaltungsabendeangeboten und Diskussionen angesetzt.„Allein schon der erste Versuch zeigte, dass es bei dereigentümlichen Zusammensetzung unserer Zuhörerschaftein gefährliches Unternehmen sein würde, daszu Dissonanzen führen musste. Unser Publikum istein fast internationales, ausser Deutschen besuchten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchheimer Selbsthilfe e.V. in Köln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .www.buchheimerselbsthilfe.de2829


die Halle Russen, Oesterreicher, besonders Ungarnund Galizier, dann Rumänen, Bulgaren usw. Vor allemkamen ausser den <strong>Arbeit</strong>ern auch Studenten. Dassdie politischen, <strong>sozial</strong>en und religiösen Ansichtendieser Leute verschieden waren, zeigte sich sofort.Wollten wir das ganze Unternehmen nicht gefährden,so mussten wir die Diskussionsabende aufgeben,zumal es auch ganz besonders schwierig gewesenwäre, indifferente Diskussionsthemen und vor allemtüchtige Diskussionsleiter in genügender Anzahl zustellen.“ (Maretzki 1907, 243)Offenbar gab es Differenzen zwischen den Logenbrüdern,die die Toynbee-Halle führten und den Zionisten,denn die „Jüdische Rundschau“ schrieb 1905: „Solöblich die Institution der Toynbeehalle ist, so dürfenwir doch wohl erinnern, dass wir seinerzeit namensihres Vorstandes ohne jede Veranlassung von der Mitarbeitausgeladen wurden, weil wir Zionisten sind. Dashindert uns nicht, auch allen unseren Gesinnungsgenossenden Besuch und die Mitarbeit angelegentlichzu empfehlen.“ (Jüdische Rundschau 1905/45/559)Im Jahre 1908 zog die Toynbee-Halle von der Kaiserstr.10 in die Gipsstr. 12a. Sie hieß dann auch„Volksbildungs- und Unterhaltungsheim (Toynbeehalle)“.Während des ersten Weltkrieges wurde siezur Unterkunft <strong>für</strong> Notleidende. Erst in den zwanzigerJahren wurde in der „Jüdischen Rundschau“ wiederjährlich von den Semestereröffnungen berichtet.1926 wurde im „Jüdischen Jahrbuch <strong>für</strong> Groß-Berlin“die Mitgliederzahl von ca. 800 angegeben und zumVereinszweck gesagt: „Veranstaltung von unentgeltlichenUnterhaltungs- und Vortragsabenden <strong>für</strong> dieärmere jüdische Bevölkerung, um ihnen Anregungengeistiger und geselliger Art zu bieten, um so die <strong>sozial</strong>enGegensätze zu mildern“ (Jüdisches Jahrbuch <strong>für</strong>Groß-Berlin 1926, 232). Für das Jahr 1928/29 liegtnoch ein Jahresbericht vor, in dem betont wird: „MitGenugtuung können wir konstatieren, dass, trotz allerVerbesserungsvorschläge, das im Jahre 1904 genehmigteStatut noch immer unantastbare Richtschnurunserer Tätigkeit ist, insbesondere in der Richtung,dass die Toynbee-Halle eine Veranstaltung unsererLogen ist und bleibt … Die Jüdische Toynbee-Halleübt auch Wohltätigkeit, indem sie das ganze Jahrhindurch gute alte Sachen zur Verteilung bringt undvielen armen Leuten Sabbath- und Feiertags-Mittagstischbeschafft.“ (25. Jahresbericht)Das Ende der Toynbeehalle kam 1937. Am 19.4.1937informierte die Gestapo die Deutsche Bank, dass die„Jüdische Toynbee-Halle <strong>für</strong> Volksbildung und Unterhaltung“mit sofortiger Wirkung aufgelöst und verbotensei und alle Konten beschlagnahmt seien (vgl.Berliner Zeitung vom 8.10. 1999).Während die Toynbee-Hallen im wesentlichen auf Bildungund Unterhaltung setzten, wurde in den Volksheimendas ganze Erbe der Settler gepflegt. Darübersoll im nächsten <strong>Rundbrief</strong> berichtet werden.Literatur:Marta Baer-Issachar: Zionistische Kulturarbeit inGalizien, in: Jüdische Rundschau 1904/43/360Gustav Flusser: Die jüdische Toynbee-Halle in Prag,in: B´nai B`rith. Monatsblätter der Großloge <strong>für</strong> denCechoslovakischen Staat 2/1923/6/141 – 143 zit.nach Ines Koeltzsch sh. dortSabine Haustein, Anja Waller. Jüdische Settlementsin Europa. Ansätze einer transnationalen <strong>sozial</strong>-,geschlechter- und ideengeschichtlichen Forschung,in: Medaon. Magazin <strong>für</strong> jüdisches Leben in Forschungund Bildung 2009/4/1 - 14Rosa L. Henriques: Das jüdische Settlement in London,in: Zeitschrift <strong>für</strong> jüdische Wohlfahrtspflege1/1929/333 – 338Rachel Heuberger, Helga Krohn: Hinaus aus demGhetto … Juden in Frankfurt am Main 1800 – 1950.Frankfurt am Main 1988Erika Hirsch: Jüdisches Vereinsleben in Hamburg biszum ersten Weltkrieg. Jüdisches Selbstverständniszwischen Antisemitismus und Assimilation. Frankfurt/Main 1996Klaus Hödl: Als Bettler in die Leopoldstadt: galizischeJuden auf dem Weg nach Wien. Wien 19944Leon Kellner: Eine jüdische Toynbee-Halle in Wien, in:Ost und West 1901/4/Sp. 291 - 298Sabine Knappe: Die Wohltätigkeitsarbeit jüdischerLogen als Ausdruck jüdischer Identitätssuche undWunsch nach Akzeptanz. Die Henry-Jones-Loge inHamburg, in: Stefi Jersch-Wenzel (Hg.): Juden undArmut in Mittel- und Osteuropa. Köln,Weimar, Wien2000, S. 265 - 278Ines Koeltzsch: Gustav Flusser. Biographische Spureneines deutschen Juden in Prag vor dem zweiten Weltkrieg.Flusser Studies 05, S.1 – 13 URL: www.flusserstudies.net/pag/05/Gustav-Flusser.pdf(16.12.2008)Ina Lorenz: Die Juden in Hamburg zur Zeit der WeimarerRepublik. Eine Dokumentation. Teil 2. Hamburg1987Elisabeth Malleier: Das Ottakringer Settlement. ZurGeschichte eines frühen internationalen Sozialprojekts,Wien 2005aElisabeth Malleier: Gegen den fremden Kontinentder Armut. Die Anfangsjahre der „Jüdischen Toynbee-Halle“ in der Brigittenau in: Jüdisches Echo. EuropäischesForum<strong>für</strong> Kultur und Politik 2005b, Bd.54 S.112 – 117Louis Maretzki: Geschichte des Ordens Bnei Briss inDeutschland 1882 – 1907. Berlin 1907Ernst Müller in: Albert Lichtblau ( Hrsg.): Als hättenwir dazu gehört: österreichisch-jüdische Lebensgeschichtenaus der Habsburger Monarchie. Wien u.a.:1997Dieter Oelschlägel: Das Jüdische Volksheim in Berlin1916 – 1926, in: <strong>Rundbrief</strong> des <strong>Verband</strong>es <strong>für</strong> <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong><strong>Arbeit</strong> 1994/1/47 - 49Dieter Oelschlägel: Jüdische Settlementbewegungund das Jüdische Volksheim in Berlin, in: <strong>Rundbrief</strong>der <strong>Verband</strong>es <strong>für</strong> <strong>sozial</strong><strong>kulturelle</strong> <strong>Arbeit</strong> e.V.1905/2/18 - 29Bertha Pappenheim und Sara Rabinowitsch: Zur Lageder jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrückeund Vorschläge zur Verbesserung der Verhältnisse.Frankfurt a.M. 1904Martin Philippson: Neueste Geschichte des jüdischenVolkes Band II. Leipzig 1910http://www.archive.org/stream/neuestegeschichte-02phil/neuestegeschichte02phil_djva.txt (17.11.10)Ramon Pils: Leon Kellner zwischen Czernowitz undWien, in: Thomas Brandstätter, Dirk Rupnov, ChristinaWessely (Hrsg.): Sachunterricht. Fundstücke aus derWissenschaftsgeschichte. Wein 2008, S. 25 - 30Leo Rafaels: Die Wiener Toynbee-Halle im drittenJahre, in: Die Welt 1903/8/4-5Jehuda Reinharz (Hrsg.): Dokumente zur Geschichtedes deutschen Zionismus 1882 – 1933.. Tübingen1981Gerhard Schiebler: Jüdische Stiftungen in Frankfurtam Main. Frankfurt/Main 1988Zionistische Vereinigung <strong>für</strong> Deutschland (Hg.): Waswill der Zionismus? Berlin 1906http://www.archive.org/stream/waswillderzioni-00unknoog/waswillderzioni00unknoog_djva.txt(15.11.10)Jüdische Zeitungen:Die Welt. Wien 1900 – 1914Jüdische Presse 1927Jüdische Rundschau 1903 – 1927Neue Jüdische Presse. Frankfurter Israelitisches Familienblatt17/1919Archiv:Archiv Stiftung „Neue Synagoge Berlin – CentrumJudaicum“ :1, 75 A Bc 2, Nr. 298 # 528:Verein Israelitisches Heimathaus und Volksküche –Berlin, Gormannstr. 3, Jahresbericht nebst Rechnungs-Abschluß <strong>für</strong> das Jahr 19021, 75 A Le 1, Nr. 2#4647:25. Jahresbericht der Jüdischen Toynbee-Halle derBerliner Bne=Brith=Logen Oktober 1928 bis ult. März1929. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ....... ........... ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Nachbarschaftsheim Wuppertal e.V.. . WIR . . . in . . der . . . Hasseldelle . . . . . . . . . e.V. . . . in . . Solingen . . . . . . . . . . . . . . . . .www.nachbarschaftsheim-wuppertal.dewww.hasseldelle.de/web3031


Ingrid Alberding(Geschäftsführung Mittelhof e.V.)Mittelhof e.V. - gelebte Werte und Traditionen heuteMit einer breit angelegten Diskussion über eine Standortbestimmungder Vereinsarbeit reagierten Vorstandund Geschäftsführung des „Nachbarschaftsheim MittelhofBerlin e.V.“ im Jahre 2010 auf die zunehmendeUnzufriedenheit in der Mitarbeiterschaft mit demNamen ihres Trägers. Die MitarbeiterInnen in Kindertagesstättenund Schulkooperationen an diversenStandorten in Steglitz-Zehlendorf fanden ihren<strong>Arbeit</strong>sbereich unter dem Label „Nachbarschaftsheim“nicht ausreichend repräsentiert. Hinzu kamder historisch begründete Bezug des Namens mit derVilla in der Königstraße in Zehlendorf. „Da steht dasNachbarschaftsheim, aber wir ALLE sind der MITTEL-HOF.“ So und ähnlich sprachen die KollegInnen undbeteiligten sich lebhaft an der folgenden Debatte. Wersind wir heute und woher kommen wir? Für wen bietenwir unsere Leistungen an und auf welche Weise?Corporate Identity und interne Strukturen waren inder Auseinandersetzung zentrale Themen: Im Laufevon mehr als 60 Jahren hatte sich viel Neues unterdem Dach des Nachbarschaftsheimes eingefunden:Kindertagesstätten in bunter Vielfalt, Schulkooperationenvom Ehrenamtsprojekt über den Schülerclub biszur offenen Ganztagsbetreuung, Jugendfreizeiteinrichtungenund ein Mehrgenerationenhaus. Die Analyseergab ein klares rechnerisches Ergebnis: Wir arbeiteninzwischen unter 24 Dächern mit viel Engagementund Innovationsgeist. Alle Häuser haben eine eigeneSommerfest 2009Identität als Einrichtung, sind aber miteinander ineiner <strong>sozial</strong>räumlichen und thematischen <strong>Arbeit</strong>sstrukturgut vernetzt. Es wurde der Ruf nach einemneuen Vereinsnamen laut: „Das Nachbarschaftsheimist als Trägername nicht vermittelbar“, sagten dieEinen, „Nachbarschaftsheim ist Haltung und Konzept<strong>für</strong> alle“, die Anderen.Es war eine starke, inhaltliche, vielfach auch emotionaleDebatte über die Änderung unseres Vereinsnamens.Mitarbeitende und Vereinsmitglieder warenbeteiligt. Am Ende stand die Verkürzung auf knapp:Mittelhof e.V.Der Weg zu dieser von allen akzeptierten Lösung führtedie Beteiligten aber durch einige Täler der Erinnerungund über manche Hügel der Vergegenwärtigung:Am Punkt „Wo kommen wir her“ wurden die <strong>Arbeit</strong>sprinzipiender ursprünglichen Nachbarschafts- undspäteren Stadtteilzentrumsarbeit noch einmal intensivbehandelt. Die Bedeutung von Selbsthilfe, bürgerschaftlichemEngagement und ehrenamtlicher <strong>Arbeit</strong>wurde von allen gleichermaßen hoch eingeschätzt.Dann die Erkenntnis: „Das machen wir doch auch inallen anderen Häusern“. Menschen Räume <strong>für</strong> ihreAktivitäten zur Verfügung zu stellen, Begegnungenunterschiedlicher Gruppen und zwischen den Genera-Gisela Hübnertionen zu fördern, Gelegenheiten zu schaffen, die sinnvolleBetätigung und Engagement möglich machen,ist nicht nur im Nachbarschaftsheim Mittelhof in derKönigstraße, sondern in allen Einrichtungen des Trägersgängige Praxis. Die aktive Mitarbeit in <strong>sozial</strong>räumlichenGremien, die Nutzung, das Wissen und dieWeitergabe der daraus resultierenden Informationensind strukturell angelegter, selbstverständlicher Teilder <strong>Arbeit</strong> in den unterschiedlichen Teams. Der Leitgedankeder Nachbarschaftsarbeit wurde von Menschenaus Mitarbeiterschaft, Geschäftsführung und Vorstand,die Jahrzehnte im Träger tätig waren, schon immer inneue <strong>Arbeit</strong>sbereiche implementiert. Der „Geist desalten Mittelhof“ sollte in allen Einrichtungen leben, sowurde es gewollt und fortgetragen. Der Effekt einersolchen <strong>Arbeit</strong>sweise ist von einer großen Synergiedynamisiert. Allein hinter den weit über 1000 Betreuungsplätzenin Kitas und Schulen stehen Kinder, ihreEltern, Großeltern, Nachbarn und Freunde. Sie allekönnen auf die eine oder andere Weise durch dieAngebote des Trägers erreicht werden und der Trägerkann durch die Menschen erreicht werden.Der etwas streitbar begonnene Diskurs über den Vereinsnamendrang im Verlauf noch einmal tief in dieChronik des Nachbarschaftsheim Mittelhof und der Entstehungder Nachbarschaftsheimbewegung ein. Einegute Bildungseinheit, insbesondere <strong>für</strong> Mitarbeitendeund Vereinsmitglieder, die noch nicht so lange dabeiwaren, wie diejenigen, die es aufgrund ihrer persönlichenHaltung und Geschichte eigentlich <strong>für</strong> selbstverständlichhielten, dass alle am gleichen Strang ziehen.Das Resümee ließ erkennen, dass im Großen undGanzen von allen am gleichen Strang gezogen wird. Eswurde aber auch deutlich, dass es keine geregeltenVerfahren <strong>für</strong> die Ausgestaltung der Weitergabe dieseswertvollen Hintergrundwissens gibt, aus dem sichLeitbild und <strong>Arbeit</strong>shaltung des Trägers entwickelten.So wurde beschlossen, auf mehreren Ebenen zu reagieren:Informationen über Geschichte und Angebote desTrägers werden in allen Einrichtungen gut sichtbarzur Verfügung gestellt. Alle neuen Eltern in Kitas undSchulen bekommen sie in der obligatorischen Begrüßungsmappeausgereicht. Alle Mitarbeitenden könnenauf Nachfrage über Angebote bzw. Kontaktpersoneninformieren.Und im eigentlichen Nachbarschaftsheim Mittelhof,an dem geschichtsträchtigsten aller Standorte desMittelhof e.V. (so ist der Verein seit 2010 eigetragen),hängt nun an exponierter Stelle im Foyer eine Ausstellungüber die Geschichte des Trägers und wie diealten Werte, Ziele und Traditionen in die „Neuzeit“übertragen wurden. Heutiges Vereinsmitglied undfrühere langjährige Geschäftsführerin, Gisela Hübner,unterstützte bei der Zusammenstellung und eröffnetedie Ausstellung anlässlich der Wiedereröffnung desHauses nach langer Sanierung am 1.6.<strong>2012</strong>. In ihrerRede griff sie die Diskussion des Vereins und ihrepersönliche Haltung zum Ansatz der Nachbarschaftsarbeiteindrucksvoll auf und hatte nicht nur im BezirksbürgermeisterNorbert Kopp und anderen politischenMandatsträgern des Bezirkes, sondern auch in vielenKindern, jungen Familien und älteren Besucherinnenund Besuchern des Hauses aufmerksame Zuhörer.AusstellungDie kleine Ausstellung und weiteres geschichtlichesMaterial sind ständig zu betrachten an den siebenwöchentlichen Öffnungstagen der Villa Mittelhof,Königstr. 42-43, in 14163 Berlin.3233


Auszug aus dem aktuellen Leitbild:Geschichte, Tradition und WertevorstellungSeit mehr als 60 Jahren steht das NachbarschaftsheimMittelhof mit seiner Geschichte und Tradition<strong>für</strong> das friedliche Zusammenleben von Menschenunterschiedlicher Kulturen, Religionen und ethnischerZugehörigkeit. Von Demokratie, Toleranz und Weltoffenheitgeprägte Haltungen und Werte sind durch einhumanistisches Menschenbild bestimmt. So fördertder Mittelhof eine aktive Zivilgesellschaft und dieGleichberechtigung der Geschlechter.Aufgaben und AngeboteDer Mittelhof ist ein offener und lebendiger Ort <strong>für</strong> dievielfältigen Anliegen und Bedürfnisse der Bürgerinnenund Bürger aller Generationen und Kulturen. Er bietetRaum <strong>für</strong> Begegnung, Bildung, Betreuung und Kultur,fördert den partnerschaftlichen Dialog und bildet dieGrundlage <strong>für</strong> kooperatives, vernetzendes und vermittelndesHandeln in der Region.Aufgaben und Ziele orientieren und verändern sich mitden gesellschaftlichen Bedingungen.Grundpfeiler der <strong>Arbeit</strong> bleiben aber immer:• Förderung von Ehrenamt und bürgerschaftlichemEngagement• Unterstützung von Selbsthilfe und Eigeninitiative• Förderung der Generationenbegegnung• Hilfe in Notlagen• Bereitstellung von Ressourcen (Räume, Technik,Wissen)Publikationen zur Geschichte des Mittelhof e.V.:Nachbarschaftsheim Mittelhof 1948,Bericht über die <strong>Arbeit</strong> im Nachbarschaftsheim Mittelhofvom 12. Juni 1947 bis 31. Dezember 1948,Faksimile-druck November 200125 Jahre Mittelhof 1972, Suzanne SeelandDokumentation 1947 bis 1987,40 Jahre „MITTELHOF“ Nachbarschaftsheim BerlinZehlendorfZeitreise: Blick zurück - nach vorn,Jubiläumsschriften zum 60-jährigen Bestehen desNachbarschaftsheim Mittelhof e.V.Betrachtungen von WegbegleiterInnen(Themen: Jugendarbeit, Wendezeiten, Entwicklungvon Kooperationen, <strong>Verband</strong>sarbeit und politischeRichtungen, Wandel von <strong>Arbeit</strong>sfeldern und -methodenusw.)Damals und heute.Einige Erinnerungen an Prinzipien von Gemeinwesenarbeitin Nachbarschaft und StadtteilWeitere Informationen unter:www. mittelhof.orgAls anerkannter Träger der Jugendhilfe vereinigt derMittelhof unter seinem Dach eine Vielzahl von Kindertagesstätten,Betreuungsmodellen in Kooperationmit Schulen und Angebote der offenen Kinder- undJugendarbeit.Der Mittelhof unterstützt Bürgerinnen und Bürgerdarin, Lebensräume selbst zu gestalten und konkretenEinfluss auf ihr jeweiliges Handlungsfeld zunehmen.In allen <strong>Arbeit</strong>sfeldern des Mittelhof ist Mitspracheund Mitverantwortung Grundlage unserer <strong>Arbeit</strong>.Der Mittelhof fördert die Integration und das gegenseitig<strong>eV</strong>erständnis von Menschen mit unterschiedlichenökonomischen und <strong>sozial</strong>en Hintergründen ineinem Bezirk mit großer <strong>sozial</strong>er Streuung.Der Mittelhof gestaltet seine Angebote und Einrichtungenlebendig, attraktiv und kompetent im Sinneder Bedürfnisse der Nutzenden.Die Häuser und Räume sind freundlich, einladend undbedarfsorientiert gestaltet. Sie verfügen über zeitgemäßetechnische Ausstattungen.Bildnachweise:Titelseite: Rainer SchulzSeite: 3, 4 - 15, 19, 21 - 31 / BildleisteFotos: Josina Luzie MonteiroSeite 8: Nachbarschaftshaus UrbanstraßeSeite 11: Nachbarschaftshaus WiesbadenSeite 16/17: Vanessa SchwartzSeite 18: Andreas CaspariSeite 20: ASBSeite 32/33: Agnes Wischhöfer3435


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