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Rundbrief 1/2009: Dokumentation Fachtagung Familiennetze

Rundbrief 1/2009: Dokumentation Fachtagung Familiennetze

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<strong>Familiennetze</strong><br />

Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008<br />

veranstaltet vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.<br />

vom 07. - 08. November 2008<br />

im Bürgerhaus Am Schlaatz<br />

Schilfhof 28<br />

14478 Potsdam


2<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

4 - 13<br />

Anfangsplenum<br />

Anfangsplenum: Dr. Lore-Maria Peschel-Gutzeit<br />

Familie 2008 – zwischen Generalverdacht und Heiligenschein<br />

Herbert Scherer, Verband für sozial-kulturelle Arbeit:<br />

Das Familienthema als Herausforderung für die Nachbarschafts- und Stadtteilarbeit<br />

14 - 31<br />

Einfach gut<br />

32 - 47<br />

Verhindern<br />

48 - 63<br />

Zwischentöne<br />

Workshop: Einfach gut - Niedrig schwellige Zugänge in der Arbeit mit Familien<br />

Barrierefreie Bildung in der Kindertagesstätte als Türöffner für lebenslanges Lernen<br />

Workshop: Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verschiedene Wege im Kinderschutz<br />

Workshop: Zwischentöne<br />

Generationendialoge und Generationenverantwortung<br />

64 - 77<br />

SOS - Eltern in Not<br />

78 - 91<br />

Eltern in die ...<br />

91 - 101<br />

Diese Typen ...<br />

Workshop: SOS- Eltern in Not<br />

Hilfe und Selbsthilfe<br />

Workshop: Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Lernen, einmischen, verändern für die Zukunftschancen der Kinder<br />

Workshop: Schaut Euch diese Typen an<br />

Stadtteilzentren, Bürgerhäuser - Ansprüche, Profile, Förderprogramme<br />

102 - 111<br />

Nachttöpfe und ...<br />

112 - 129<br />

Heute ratlos ...<br />

130 - 145<br />

Pass-genau?<br />

Workshop: Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

Zum Verhältnis von familiärer und öffentlicher Erziehung<br />

Workshop: Heute ratlos, morgen super?<br />

Das weite Feld der Erziehungsratgeber – Trends und Moden<br />

Workshop: Pass-genau?<br />

Familienbilder und Rollenklischees im interkulturellen Kontext<br />

146 - 149<br />

Abschlussplenum<br />

Abschlussplenum<br />

Wohin geht die Reise?<br />

150 - 151<br />

Teilnehmerliste


Familien-Netze - Vorwort zur <strong>Dokumentation</strong><br />

Mit der Tagung Familien-Netze hatten wir uns zweierlei vorgenommen: Zum einen wollten<br />

wir den Wissensstand zum Familienthema aktualisieren, zu dem es offenbar einen<br />

erheblichen gesellschaftlichen Klärungs- und Handlungsbedarf gibt, zum anderen ging<br />

es darum, mit dem Erfahrungsaustausch über eine Querschnittsaufgabe der Nachbarschaftshäuser<br />

Menschen aus deren unterschiedlichen Arbeitsfeldern gleichberechtigt<br />

zusammenzubringen und dadurch unser eigenes Netzwerk zu stärken. Wir hoffen,<br />

dass Ihnen die Lektüre der <strong>Dokumentation</strong> den Eindruck vermitteln kann, dass beides<br />

in einem erfreulichen Maße gelungen ist.<br />

Die <strong>Dokumentation</strong> orientiert sich in ihrem Stil am Charakter der Tagung: im Mittelpunkt<br />

steht der lebendige Austausch in den Arbeitsgruppen, den wir in weiten Teilen<br />

wortgetreu wiedergeben. Power Point Präsentationen und schriftliche Diskussionsvorlagen<br />

werden ausschließlich als Hintergrundmaterial benutzt. Wir versprechen uns<br />

davon, unseren Leserinnen und Lesern einen möglichst unverstellten Eindruck vom<br />

Geschehen und das Gefühl zu vermitteln, sie seien selbst dabei gewesen.<br />

Wir bedanken uns herzlich bei allen, die uns bei der Durchführung der Tagung und bei<br />

der Aufbereitung der Materialien für die <strong>Dokumentation</strong> geholfen haben: Theo Fontana<br />

und Joachim Toll für die Mitwirkung bei der Vorbereitung, allen Moderatorinnen und<br />

Moderatoren für die Leitung der Workshops, Gitty Czirr und Margot Weblus für die Bearbeitung<br />

der Tonaufzeichnungen, den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bürgerhaus<br />

Am Schlaatz für die Logistik und natürlich allen Impulsgeberinnen und –gebern für ihre<br />

Bereitschaft, freimütig und kompetent über ihre Arbeit zu berichten.<br />

Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit hat beschlossen, <strong>2009</strong> seine Jahrestagung erneut<br />

in Potsdam durchzuführen. Vorgesehen ist, dass Ost und West, Jung und Alt, Sozialkultur<br />

und Soziokultur, Gemeinwesenarbeit und Quartiersmanagement, Eingeborene und<br />

Migranten etc. aufeinander treffen, um Erfahrungen und unterschiedliche Sichtweisen<br />

auszutauschen, aber auch auszuloten, was ‚zusammen gehört‘ ...<br />

Vorankündigung<br />

Jahrestagung Stadtteilarbeit <strong>2009</strong><br />

6. und 7. November <strong>2009</strong> / Potsdam<br />

„Was zusammen gehört“ –<br />

9 Begegnungen mit Workshopcharakter<br />

Wenn die <strong>Dokumentation</strong> bei Ihnen den Gedanken auslöst: „da wäre ich gern dabei<br />

gewesen“, sollten Sie die Chance in diesem Jahr nutzen. Wir hoffen, Sie am 6. und<br />

7. November <strong>2009</strong> in Potsdam begrüßen zu können.<br />

Mit freundlichem Gruß<br />

Herbert Scherer<br />

Geschäftsführer


Anfangsplenum<br />

Inputs:<br />

Dr. Lore-Maria Peschel-Gutzeit<br />

“Familie 2008 –<br />

zwischen Generalverdacht und Heiligenschein”<br />

Herbert Scherer, Verband für sozial-kulturelle Arbeit:<br />

“Das Familienthema als Herausforderung für die<br />

Nachbarschafts- und Stadtteilarbeit“<br />

Herbert Scherer: Ich begrüße Frau Dr. Lore-Maria Peschel-<br />

Gutzeit. Sie ist praktizierende Rechtsanwältin und war<br />

Justizsenatorin in Berlin und Hamburg. Wir sind gespannt<br />

darauf, von ihr etwas über die „Familie 2008 – zwischen<br />

Generalverdacht und Heiligenschein” zu erfahren.<br />

Lore-Maria Peschel-Gutzeit: Ich bedanke mich herzlich<br />

für die Einladung. Das Thema ist etwas provokativ, man<br />

könnte auch reißerisch sagen: Die Familie 2008 unter<br />

Generalverdacht oder mit Heiligenschein. Ich habe das<br />

so verstanden, dass unter Generalverdacht vor allem<br />

Kindesvernachlässigung und Kindesmissbrauch ausgedrückt<br />

werden sollen, während mir bei Heiligenschein<br />

einfällt, die Familie, wie bei Ludwig Richter dargestellt, als<br />

Hort des Friedens, der Harmonie, sozusagen allein selig<br />

machend. Wir alle, die Sie hier Fachfrauen und Fachmänner<br />

sind, wissen, dass beides nicht stimmt, weder ist es<br />

gerechtfertigt, die Familie unter Generalverdacht zu nehmen,<br />

noch ist es richtig zu sagen, in der Familie ist alles<br />

okay, alles paletti.<br />

Wir wissen, dass die Familie eben auch kein Paradies ist.<br />

Die allermeisten Familien haben mehr oder weniger große<br />

Probleme und auch Konflikte, die sie aber ebenfalls zum<br />

allergrößten Teil selbst lösen, wenn auch mit Hilfe von<br />

außen, was auch in Ordnung ist. Der allergrößte Teil der<br />

Eltern versorgt die Kinder gut und fördert ihre eigenen Kinder<br />

nach Kräften. Dabei verzichten Eltern auf vieles, damit<br />

die Kinder vorankommen.<br />

In diesen ganzen Zusammenhängen wäre es einfach ungerechtfertigt,<br />

ja unverantwortlich, die Institution Familie unter<br />

Generalverdacht zu stellen, dafür gibt es keinen Grund.<br />

Aber es gibt auch Familien, das wissen Sie, die Sie alle<br />

Fachleute sind, leider nur zu gut, die die Anforderungen<br />

nicht schaffen, die auch ihre Kinder nicht bestmöglich fördern,<br />

usw. Was sagt unsere Rechtsordnung? Wie gestaltet<br />

sie das Familienleben? Wie weit gibt sie dem Staat Eingriffsmöglichkeiten?<br />

Wo verlangt die Rechtsordnung vom<br />

Staat, dass er eingreift?<br />

Dazu möchte ich etwas sagen und habe das Thema mit<br />

folgendem Untertitel konkretisiert:<br />

Das Spannungsverhältnis zwischen der verfassungsrechtlichen<br />

Stellung der Familie und dem gesellschaftlichen<br />

Wandel, dem sie unterworfen ist *<br />

A. Verfassungsrechtliche Stellung der Familie<br />

Unsere Bundesverfassung, das Bonner Grundgesetz vom<br />

23.5.1949, hat in Art. 6 Abs. 1 Ehe und Familie den besonderen<br />

Schutz des Staates zugesichert und damit dem<br />

Staat - vor allem dem Bundesgesetzgeber - die Aufgabe<br />

gestellt, Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen zu bewahren<br />

und durch geeignete Maßnahmen zu fördern; es<br />

hat darüber hinaus das Verbot ausgesprochen, Ehe und<br />

Familie als elementare<br />

Lebensgemeinschaft in Bestand und Entfaltung zu stören.<br />

Diesen Schutz genießen alle in Deutschland lebenden<br />

Bürgerinnen und Bürger, die eine Ehe eingehen wollen<br />

oder geschlossen haben, aber auch alle Eltern und Elternteile,<br />

alle Kinder und Verwandte einer Familie.<br />

**in verkürzter Form auch veröffentlicht in der Zeitschrift „Vorgänge“ 2008, Heft 3


Lange war umstritten, ob durch Art. 6 Abs. 1 GG nur oder<br />

doch in erster Linie die bürgerliche, legale Ehe geschützt<br />

ist oder auch andere Verbindungen, die - jedenfalls dann,<br />

wenn Kinder geboren werden - als Familie im Sinne des<br />

Grundgesetzes anzusehen und entsprechend zu schützen<br />

sind. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht schon<br />

am 14.11.19731 entschieden, dass eine auf natürlicher<br />

und rechtlicher Bindung beruhende Familie unabhängig<br />

davon, ob eine Ehe ihren Kern bildet, eine lebenswichtige<br />

Funktion für die menschliche Gemeinschaft bildet, so<br />

dass auch ihr der Schutz aus Art. 6 Abs. 1 GG einschließlich<br />

aller sozialstaatlicher Förderung zukommt.<br />

Auch die Verfassung der ehemaligen Deutschen Demokratischen<br />

Republik2 stellte Ehe, Familie und Mutterschaft<br />

unter den besonderen Schutz des Staates. Sie gewährte<br />

jedem Bürger der DDR das Recht auf Achtung, Schutz und<br />

Förderung seiner Ehe und Familie. Kinderreiche Familien<br />

und alleinstehende Eltern hatten das Recht auf besondere<br />

Fürsorge und Unterstützung.<br />

Art. 6 GG schützt in seinem Abs. 2 das Elternrecht, in Abs.<br />

4 die Mutter und Abs. 5 enthält das Gebot, uneheliche Kinder<br />

den ehelichen gleichzustellen.<br />

B. Die gesellschaftliche Situation bei Inkrafttreten<br />

der Bundesverfassung<br />

Im Mai 1949, als das Bonner Grundgesetz in Kraft trat,<br />

hatte Deutschland den zweiten Weltkrieg gerade erst<br />

vier Jahre hinter sich gelassen. Deutschland lag in Trümmern,<br />

real, aber auch ideell. Ganze Generationen von<br />

Bürgerinnen und Bürgern standen vor dem Nichts, zu<br />

denken ist nur an Millionen von Flüchtlingen, von Vertriebenen,<br />

von Menschen, die durch Bombenangriffe<br />

alles verloren hatten, an Millionen Kriegsgefangene.<br />

Wegen der flächendeckenden Zerstörung von Städten<br />

und Gemeinden gab es kaum Arbeit, die öffentliche Verwaltung<br />

lag zum Teil noch bei den Besatzungsmächten,<br />

Deutschland erhielt erst allmählich seine Souveränität<br />

zurück.<br />

In dieser Situation gab es nur eine Institution, an die sich<br />

die Menschen halten, in der sie Schutz und Beistand finden<br />

und ihr Überleben sichern konnten: Die Familie. Diese<br />

war rechtlich geprägt durch das gesellschaftliche Verständnis<br />

des 19. Jahrhunderts. Das seit dem 1.1.1900<br />

geltende Bürgerliche Gesetzbuch hatte die einheitliche<br />

Zivilehe eingeführt und das Verhältnis von Eheleuten und<br />

Kindern in absolut patriarchalischer Weise geregelt: Der<br />

Ehemann entschied allein in allen Angelegenheiten, die<br />

das eheliche Kind betrafen, aber auch allein über Wohnsitz<br />

und Einkommen der Familie. Er verfügte allein über<br />

das Vermögen und Einkommen, auch Arbeitseinkommen<br />

der Ehefrau, er war der alleinige gesetzliche Vertreter der<br />

ehelichen Kinder. Die Mutter hatte zwar eine sogenannte<br />

Nebengewalt, der Inhaber der elterlichen Hauptgewalt war<br />

jedoch der Vater, und im Streitfalle entschied er, er hatte<br />

den sogenannten Stichentscheid. Scheiterte eine Ehe, so<br />

wurde sie aus Verschulden geschieden. Ehebruch war ein<br />

absoluter Scheidungsgrund, wer schuldig geschieden wurde,<br />

verlor alle Ansprüche und musste seinerseits, wenn er<br />

leistungsfähig war, Unterhalt an den anderen Ehegatten<br />

bezahlen. Uneheliche Kinder waren mit ihrem Vater, der<br />

Erzeuger genannt wurde, nicht verwandt, die uneheliche<br />

Mutter hatte eine eingeschränkte elterliche Gewalt über<br />

ihr eigenes Kind.<br />

Diese rechtlichen Regelungen hatten den ersten Weltkrieg<br />

überdauert, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und<br />

den zweiten Weltkrieg. Viele Männer kehrten aus dem<br />

Krieg zurück und übernahmen wie selbstverständlich<br />

wieder Führung und Alleinentscheidung in der Familie,<br />

auch wenn ihre Ehefrauen während des Krieges und der<br />

Abwesenheit des Mannes alle häuslichen und beruflichen<br />

Aufgaben allein gelöst hatten. Die ehelichen Kinder blieben<br />

nach wie vor der alleinigen gesetzlichen Vertretung<br />

des Vaters ebenso unterworfen wie seiner Alleinentscheidungsbefugnis<br />

über Wohnung, Schulausbildung, Berufsausbildung,<br />

usw. Die Situation im Jahre 1949 war - mit<br />

einem Wort - sehr ähnlich derjenigen von Effi Briest, deren<br />

Schicksal Theodor Fontane in seinem 1890 begonnenen<br />

Roman so eindrucksvoll geschildert ist: Ein Seitensprung,<br />

der Jahre zurücklag, führte dazu, dass Effi Briest nicht nur<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008


Anfangsplenum<br />

Anfangsplenum<br />

allein schuldig geschieden wurde, sondern dass sie ohne<br />

einen Pfennig das Haus des Mannes verlassen musste und<br />

dass jegliche Verbindung zu ihrer Tochter beendet wurde.<br />

C. Die Entwicklung seit 1949<br />

Was die Gesellschaft in Deutschland im Jahre 1949 unter<br />

Ehe und Familie verstand, unterscheidet sich grundlegend<br />

von heutiger gesellschaftlicher Anschauung. Die gesellschaftlichen<br />

Veränderungen und der Wandel von moralischen<br />

und sozialethischen Anschauungen haben in den<br />

letzten 50 Jahren nicht nur die Lebenswelt von Ehe und<br />

Familie tiefgreifend verändert, sondern auch die Auffassung<br />

über die Beziehung der Geschlechter zueinander.<br />

I. Demographische Entwicklung<br />

Ein Blick in den demographischen Entwicklungsprozess<br />

macht dies deutlich.<br />

Die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig (1980:<br />

496.603; 2001: 389.561), die Zahl der Ehescheidungen<br />

steigt (1980: 156.425; 2001: 197.468; 2004: 214.000).<br />

2001 wurden 734.475 Kinder geboren, davon 183.816<br />

nichtehelich (25%). Anfang des Jahres 2002 gab es in<br />

Deutschland rund 22,5 Mio. Familien, 12,7 Mio. davon<br />

hatten Kinder, während es alleinerziehende Eltern 2,15<br />

millionenfach gab. Jede 4. Familie mit Kindern hatte also<br />

nur einen Elternteile. Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften<br />

wurde im Jahre 1999 auf ca. 2,1 Mio.<br />

geschätzt3.<br />

II. Rechtliche Veränderungen<br />

Diesen, sich bereits 1949 bei Inkrafttreten des Bonner<br />

Grundgesetzes abzeichnenden tiefgreifenden gesellschaftlichen<br />

Veränderungen galt es, durch gesetzliche<br />

Regelungen zu entsprechen, sie nachzuvollziehen oder<br />

aber auch sie vorauseilend zu prägen.<br />

Das ist seit 1949 in vielfältigster Weise geschehen, dieser<br />

Prozess hält bis heute an.<br />

1. Entscheidend hierfür war außer dem tatsächlichen<br />

gesellschaftlichen Wandel das Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgrundsatzes<br />

aus Art. 3 Abs. 2 GG. Alles<br />

Familienrecht, das dem Gleichberechtigungsgrundsatz<br />

widersprach, trat am 31.3.1953 außer Kraft. Der Deutsche<br />

Bundestag hatte es nicht vermocht, bis zu diesem<br />

Tag neues, verfassungskonformes Recht für Ehe und<br />

Familie zu schaffen, und so entstand im gesamten Familienrecht<br />

eine große Lücke, die erst vier Jahre später im Juli<br />

1957 durch das Gleichberechtigungsgesetz4 geschlossen<br />

wurde. Zwar führte das Gleichberechtigungsgesetz von<br />

1957 im ehelichen Güterrecht die sogenannte Zugewinngemeinschaft<br />

ein und schaffte zugleich die ausschließliche<br />

ehemännliche Verwaltung und Nutznießung des<br />

Frauenvermögens ab. Auch versuchte das Gleichberechtigungsgesetz,<br />

die ehelichen Eltern in ihrem Verhältnis zu<br />

den ehelichen Kindern gleichzustellen. Aber der Deutsche<br />

Bundestag konnte sich nicht entschließen, die Gleichberechtigung<br />

in der Stellung der Eltern zu ihren Kindern wirklich<br />

durchzusetzen. So enthielt das Gleichberechtigungsgesetz<br />

noch immer den sogenannten Stichentscheid des<br />

Vaters und dessen alleinige gesetzliche Vertretung für das<br />

eheliche Kind. Schon ein Jahr später erklärte das Bundesverfassungsgericht<br />

durch Urteil vom 29.7.19595 diese<br />

beiden Regelungen für nichtig. Wiederum entstand eine<br />

erhebliche Lücke im Gesetz, die erst mehr als 20 Jahre<br />

später, durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der<br />

elterlichen Sorge6 geschlossen wurde.<br />

2. Im Familienrecht fanden weitere tiefgreifende Reformen<br />

statt, die hier nur in ihren wesentlichen Teilen genannt und<br />

auch nur skizziert werden können.<br />

a) Das Nichtehelichengesetz<br />

So trat am 1.7.1970 das Gesetz über die rechtliche Stellung<br />

der nichtehelichen Kinder7 in Kraft. Erst seit dem<br />

1.7.1970 hießen Kinder, deren Eltern bei der Geburt nicht<br />

miteinander verheiratet waren, nicht mehr uneheliche<br />

Kinder, sondern nichteheliche Kinder. Von diesem Tag an<br />

waren sie mit ihrem Vater verwandt mit der Folge, dass<br />

sie legale Beziehungen auch zur Vaterfamilie hatten. Und<br />

das wiederum hatte zur Folge, dass sie erbberechtigt


waren. Allerdings war das Erbrecht der nichtehelichen<br />

Kinder anders ausgestaltet als das ehelicher Kinder. Die<br />

Mutter blieb die alleinige Inhaberin der elterlichen Gewalt,<br />

wie sie seinerzeit noch hieß, ihre Zuständigkeit blieb aber<br />

beschränkt: Soweit es um die gesetzliche Vertretung des<br />

Kindes ging, war die Mutter zwar Inhaberin der elterlichen<br />

Gewalt. Sie konnte jedoch das Kind bei der Geltendmachung<br />

von Unterhaltsansprüchen, bei der Klärung der<br />

Abstammungsfrage und bei Erbansprüchen nicht selbst<br />

vertreten, sie erhielt hierfür vom Vormundschaftsgericht<br />

einen Amtspfleger gestellt.<br />

b) Das Eherechtsreformgesetz<br />

Am 1.7.1977 trat das Erste Eherechtsreformgesetz8<br />

in Kraft, welches die sogenannte Schuldscheidung abschaffte<br />

und statt dessen die Zerrüttungsscheidung einführte,<br />

die bis heute gilt. Das neue Ehescheidungsrecht<br />

brachte auch erstmals den Versorgungsausgleich, also<br />

das Rentensplitting bei Scheidung der Ehe. Da es eine<br />

Schuldscheidung seit nunmehr 30 Jahren nicht mehr gibt,<br />

mussten die Scheidungsfolgen an anderen Kriterien als<br />

an der Scheidungsschuld festgemacht werden. Das galt<br />

vor allem für das Unterhaltsrecht, aber auch für die Verteilung<br />

der elterlichen Gewalt. So erhält seit dem 1.7.1977<br />

im Falle der Scheidung derjenige Ehegatte Unterhalt, der<br />

sich nicht selbst erhalten kann, vorausgesetzt, der andere<br />

Ehegatte ist leistungsfähig. Dies gilt vor allem für Zeiten<br />

der Betreuung eines gemeinsamen Kindes, darüber hinaus<br />

in Fällen von Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit.<br />

Da es eine Schuldscheidung nicht mehr gibt, kann seither<br />

Unterhalt wegen der alleinigen Schuld an der Zerrüttung<br />

der Ehe auch nicht mehr versagt werden. Um dennoch ein<br />

schuldhaftes Verhalten erfassen zu können, führte das<br />

Gesetz eine sogenannte Billigkeitsklausel ein, in welcher<br />

ein schuldhaftes, unehrenhaftes, schädigendes Verhalten<br />

des einen Ehegatten gegenüber dem anderen Ehegatten<br />

zusammengefasst ist. Diese Klausel ermöglicht es, Unterhalt<br />

zu kürzen oder gänzlich zu versagen.<br />

c) Das Sorgerechtsgesetz<br />

Seit dem 1.1.1980 ist das rechtliche Verhältnis von Eltern<br />

und ehelichen Kindern zueinander reformiert worden: Das<br />

Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge9 hat die Beziehungen<br />

von Eltern zu ehelichen Kindern demokratisiert.<br />

Seither sind die Eltern verpflichtet, bei der Pflege und<br />

Erziehung der Kinder die wachsende Fähigkeit und das<br />

wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem,<br />

verantwortungsbewusstem Handeln zu berücksichtigen.<br />

Darüber hinaus sind sie verpflichtet, mit dem Kind,<br />

soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist,<br />

Fragen der elterlichen Sorge zu besprechen und mit dem<br />

Kind Einvernehmen anzustreben. Das Sorgerechtsreformgesetz<br />

hat auch endlich die absolute Gleichstellung der<br />

Eltern in der gesetzlichen Vertretung gebracht, die seit<br />

dem Jahre 1958 zwar von der Rechtsprechung so behandelt<br />

wurde, es fehlte jedoch an einer entsprechenden gesetzlichen<br />

Regelung.<br />

Das Sorgerechtsgesetz von 1980 brachte auch zum ersten<br />

Mal eine Vorschrift, nach welcher entwürdigende Erziehungsmaßnahmen<br />

unzulässig sind, sowie die Bestimmung,<br />

dass in Angelegenheiten der Ausbildung und des<br />

Berufs die Eltern insbesondere auf Eignung und Neigung<br />

des Kindes Rücksicht zu nehmen haben.<br />

Soweit es das sogenannte Umgangsrecht, also das Besuchsrecht<br />

zwischen Kind und abwesendem Elternteil<br />

angeht, blieb das Sorgerechtsgesetz von 1980 noch bei<br />

einer Unterteilung zwischen ehelichen und nichtehelichen<br />

Kindern: Während der abwesende eheliche Elternteil nach<br />

der Trennung die Befugnis zum persönlichen Umgang mit<br />

dem Kind behielt, hatte der nichteheliche Vater das Recht,<br />

sein Kind zu sehen, nur dann, wenn entweder die Mutter<br />

dem zustimmte oder aber das Vormundschaftsgericht ihm<br />

dieses Recht einräumte.<br />

d) Das Kindschaftsrechtsreformgesetz<br />

Seit dem 1.7.1998, dem Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes10,<br />

unterscheidet das Gesetz nicht<br />

mehr zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern.<br />

Beide Begriffe sind aus dem Gesetz verschwunden. Als<br />

Konsequenz folgt daraus, daß eheliche wie nichteheliche<br />

Kinder generell gleich behandelt werden. So haben sie<br />

identische Unterhaltsansprüche gegen den anderen El-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008


Anfangsplenum<br />

Anfangsplenum<br />

ternteil, der sie nicht betreut. Erstmals können seit dem<br />

1.7.1998 auch Eltern eines nichtehelichen Kindes gemeinsam<br />

sorgeberechtigt sein, allerdings nur, wenn die Mutter<br />

zustimmt, während die Eltern eines ehelichen Kindes mit<br />

der Geburt des Kindes gemeinsam sorgeberechtigt werden<br />

und dies auch bleiben, wenn sie sich trennen. Zwar<br />

lässt das Gesetz die familiengerichtliche Übertragung der<br />

alleinigen elterlichen Sorge auf einen der beiden ehelichen<br />

Elternteile zu, jedoch nur, wenn das Kind zustimmt<br />

oder aber wenn besondere Gründe dies erfordern. Der<br />

Regelfall ist also seit 1.7.1998, dass alle in einer Ehe<br />

geborenen Kinder beiden Eltern gleichmäßig zugeordnet<br />

sind und dies auch bleiben, falls die Eltern sich trennen<br />

oder scheiden lassen. Für nichteheliche Eltern gilt dies so<br />

noch nicht. Es ist jedoch zu erwarten, dass sich auch hier<br />

im Laufe der Zeit eine absolute Angleichung der Rechtsstellung<br />

der Eltern herausbilden und sodann gesetzlich<br />

normiert werden wird.<br />

Seit dem 1.7.1998 sind auch alle Kinder gleichmäßig erbberechtigt,<br />

die nichtehelichen Kinder sind erbrechtlich<br />

jetzt gänzlich den ehelichen gleichgestellt.<br />

e) Das Gewaltächtungsgesetz<br />

Seit Inkrafttreten des Gewaltächtungsgesetzes am<br />

3.11.200011 hat das Kind ein ausdrückliches Recht auf<br />

gewaltfreie Erziehung.<br />

f) Das Unterhaltsrechtsänderungsgesetz<br />

Am 1.1.2008 ist das Unterhaltsrechtsänderungsgesetz12<br />

in Kraft getreten. Die Regeln für den sogenannten<br />

nachehelichen Unterhalt sind erheblich verändert,<br />

das gilt auch für den Betreuungsunterhalt des nichtehelichen<br />

Elternteils sowie für den Kindesunterhalt. Seither<br />

haben nur Kinder den absoluten Vorrang vor allen<br />

anderen Verwandten, soweit es um Unterhaltszahlungen<br />

geht. Dies gilt für minderjährige Kinder und solche Kinder,<br />

die zwar volljährig sind, aber noch zur Schule gehen<br />

(privilegierte Volljährige). Rangmäßig müssen alle<br />

Erwachsenen zurücktreten, insbesondere auch kinderbetreuende<br />

Elternteile finden sich gemeinsam im zweiten<br />

Unterhaltsrang wieder. Sie haben untereinander<br />

denselben Rang, also eine geschiedene Mutter ebenso<br />

wie eine Mutter in aktueller Ehe oder aber auch die nicht<br />

verheiratete Mutter.<br />

Entscheidendes Kriterium der neuen Regelung ist die gesteigerte<br />

Eigenverantwortung des geschiedenen, unterhaltsbedürftigen<br />

Ehegatten. Zwar bestand der Grundsatz<br />

der Eigenverantwortung schon seit dem 1.7.1977, er hat<br />

sich aber in der Rechtsprechung nicht wirklich durchgesetzt.<br />

Daran hat auch das erste Unterhaltsänderungsgesetz<br />

von 1986 Entscheidendes nicht verändert. Jetzt aber ist<br />

das Gesetz so formuliert, dass generell im Unterhaltswege<br />

nur noch ehebedingte Nachteile ausgeglichen werden, Ziel<br />

der Unterhaltsregelungen nach einer Scheidung ist nicht<br />

mehr, dem unterhaltsbedürftigen Ehegatten den Ehestandard<br />

zu sichern. Das Gesetz enthält seit dem 1.1.1980<br />

Vorschriften, die eine Befristung und Herabsetzung des<br />

nachehelichen Unterhalts ermöglichen und erleichtern,<br />

erste Gerichtsentscheidungen machen deutlich, dass die<br />

Gerichte von diesen Beschränkungsmöglichkeiten auch<br />

entschlossen Gebrauch machen werden.<br />

D. Zusammenfassung und Ausblick<br />

Diese stark verkürzte tour d´horizon der gesetzlichen Entwicklung<br />

seit 1949 zeigt, dass der besondere Schutz, den<br />

Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG genießen, zwar vom<br />

Bundesgesetzgeber und vom Bundesverfassungsgericht<br />

gewahrt und gewährleistet wird. Jedoch hat der Inhalt dieser<br />

Schutz- und Förderungsbestimmung einen deutlichen<br />

Wandel erfahren: Wenn einerseits die Zahl der Eheschließungen<br />

zurückgeht, die Zahl der Scheidungen steigt, aber<br />

auf der anderen Seite immer mehr Menschen unverheiratet<br />

zusammenleben und Kinder haben, müssen Staat und<br />

Gesellschaft diese neuen Lebensformen nicht nur akzeptieren,<br />

sie müssen ihr auch einen sozialen Mindestschutz<br />

gewähren. Auf diesem Wege schreiten Gesetzgebung und<br />

Rechtsprechung fort: So ist der Schutz der nichtehelichen<br />

Mutter im Unterhaltsrecht seit dem 1.1.1980 gegenüber<br />

der ehelichen Mutter deutlich verstärkt worden. Die Rechtsprechung,<br />

die bisher das nicht legalisierte Zusammenleben<br />

von heterosexuellen Paaren kaum geschützt hat, geht


dazu über, diese Haltung aufzugeben. Aus hiesiger Sicht<br />

ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann für nichteheliche,<br />

gefestigte Lebensgemeinschaften insgesamt ein gewisser<br />

Mindestschutz gesetzlich eingeführt wird. Denn derzeit<br />

besteht das etwas skurrile Faktum, dass heterosexuelle<br />

Partner heiraten können, homosexuelle Partner sich offiziell<br />

verpartnern können mit der Folge, dass sie eheähnliche<br />

Wirkungen für ihre Partnerschaft haben, während die<br />

nichteheliche Lebensgemeinschaft heterosexueller Partner<br />

bisher kaum geschützt ist. Dies ist jedenfalls dann,<br />

wenn Kinder aus einer solchen Verbindung hervorgehen,<br />

nicht tolerabel. Denn in diesen Fällen wird fast stets einer<br />

der beiden Partner sozial schwächer oder bedürftig sein,<br />

wenn und soweit er oder sie die gemeinsamen Kinder über<br />

Jahre versorgt hat.<br />

Betrachtet man das neue Unterhaltsrecht, so nehmen<br />

Gesetz und Rechtsprechung in Kauf, dass ein großer Teil<br />

geschiedener Eheleute, zumeist Frauen, sich weder aus<br />

eigener Kraft erhalten noch durch Unterhalt des anderen<br />

Ehegatten ihren Unterhalt sichern können. Das bedeutet<br />

im Endeffekt, dass diese geschiedenen Eheleute von der<br />

Allgemeinheit unterhalten werden müssen. Man könnte<br />

diese Wandlung im Verständnis von Ehefolgen so bezeichnen,<br />

dass Staat und Gesellschaft hier familiäre Aufgaben,<br />

nämlich Sicherung der nachehelichen Existenz,<br />

übernehmen.<br />

Das Bonner Grundgesetz wahrt die Grenzen zwischen familiärer<br />

Autonomie und staatlichem Eingriff nicht nur, es<br />

hat diese Grenzen durch Art. 6 sehr scharf gezogen. Stets<br />

sind die Eltern „zuvörderst“ zuständig für Erziehung und<br />

Ausbildung der Kinder, eine staatliche Erziehung hat das<br />

Bonner Grundgesetz auf jeden Fall verhindern wollen. Hierüber<br />

besteht auch Einigkeit. Dennoch gibt es eine Entwicklung,<br />

die im Jugendhilferecht die Kompetenzen der<br />

Jugendämter allmählich gestärkt haben und wohl weiter<br />

stärken werden. Durch das Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz13,<br />

in Kraft seit dem 1.10.2005, haben die Jugendämter<br />

wieder die eigene Aufgabe und Zuständigkeit erhalten,<br />

Risikolagen für Kinder selbständig einzuschätzen und<br />

im Falle, dass die Eltern die Gefährdung nicht beseitigen<br />

können oder wollen, haben die Jugendämter die Pflicht,<br />

die Familiengerichte von sich aus anzurufen. Dieser neue<br />

§ 8a SBG VIII fängt erst an, sich allmählich auszuwirken.<br />

Noch sind viele Jugendämter unsicher darin, wie sie die<br />

entsprechende Gefährdungslage sachverständig einzuschätzen<br />

haben und welche Folgerungen zu ziehen sind.<br />

Immerhin lässt sich konstatieren, dass durch eine solche<br />

Regelung die Grenzen zwischen familiärer Autonomie und<br />

staatlichem Eingriff zugunsten des staatlichen Eingriffs<br />

verschoben sind.<br />

Hierher gehören auch Überlegungen, die kindlichen Vorsorgeuntersuchungen<br />

zur Pflicht der Eltern zu machen.<br />

Bisher ist eine solche<br />

obligatorische<br />

Untersuchung aus<br />

verfassungsrechtlichen<br />

Gründen, Art.<br />

6 Abs. 2 GG, stets<br />

verneint worden.<br />

Ähnliche Überlegungen<br />

sind anzustellen,<br />

wenn es um<br />

die Einführung einer<br />

eventuellen Kindergartenpflicht, jedenfalls für das letzte<br />

Jahr vor der Einschulung, geht. Auch hier muss stets abgewogen<br />

werden zwischen der elterlichen Erziehungsautonomie<br />

einerseits und dem Bedürfnis und Interesse der<br />

Gesellschaft andererseits, Kinder bestmöglich zu fördern.<br />

Ist man mit seinen Überlegungen so weit gediehen, ist<br />

es nur noch ein kleiner Schritt zu der Initiative, die seit<br />

einigen Jahren von Abgeordneten des Deutschen Bundestages<br />

und gesellschaftlichen Gruppen verfolgt wird:<br />

Die Aufnahme von eigenen Kindergrundrechten in unsere<br />

deutsche Bundesverfassung. Durch solche eigenen<br />

Kindergrundrechte soll nicht nur der bessere Schutz von<br />

Kindern ermöglicht werden, darüber hinaus soll den Kindern<br />

ein eigenes Grundrecht auf bestmögliche Förderung<br />

und Bildung und ein Recht auf Teilhabe an allen Entscheidungen,<br />

die sie selbst betreffen, durch einen solchen<br />

Grundgesetzartikel eingeräumt werden.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008


10<br />

Anfangsplenum<br />

Anfangsplenum<br />

Die Diskussion steht erst am Anfang. Da für jede Grundgesetzänderung<br />

eine 2/3 Mehrheit im Bundestag erforderlich<br />

ist, wird es nach hiesiger Einschätzung auch noch<br />

längere Zeit dauern, bevor mit einer solchen Grundgesetzänderung<br />

gerechnet werden kann. Interessant ist aber die<br />

Entwicklung und die Bewegung, die eine solche Initiative<br />

zeigt: Macht sie doch deutlich, dass es viele Kritiker in unserem<br />

Lande gibt, die den Schutz, aber auch die Förderung<br />

von Kindern nicht für ausreichend verfassungsrechtlich<br />

geregelt halten und die darüber hinaus dafür plädieren,<br />

50 Jahre nach Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes<br />

die absolute Elternautonomie jedenfalls dann in Frage zu<br />

stellen, wenn es um Schutz, Förderung und Beteiligung<br />

von Kindern geht.<br />

Herbert Scherer:<br />

Gerade sind wir bei<br />

spannenden Fragen<br />

angekommen,<br />

die uns in den<br />

Nachbarschaf tseinrichtungen<br />

aus<br />

einer anderen Perspektive<br />

begegnen.<br />

<strong>Familiennetze</strong> haben<br />

wir zum Thema<br />

dieser Tagung gemacht, wir wenden uns dem Thema<br />

Familie zu. Jetzt könnten die Kritiker sagen: Nachbarschaftsheime<br />

sind ja immer konjunkturbewusst. Sobald<br />

eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird, wie jetzt die<br />

Familie, schon sind sie auch auf diesen Zug aufgesprungen.<br />

Wie Hase und Igel, die sind schon immer da, wenn<br />

es ein neues Thema gibt.<br />

Ich denke, so ist das mit multifunktionalen Einrichtungen,<br />

wenn es neue Themen gibt, haben sie immer auch etwas<br />

damit zu tun.<br />

Aber die Familienfrage ist mehr als das, sie ist für Nachbarschaftsheime,<br />

für Sozialarbeiter, vielleicht so etwas wie<br />

eine Gretchenfrage, ein Lackmustest. Es geht nämlich eigentlich<br />

um die Frage, die Frau Peschel-Gutzeit am Schluss<br />

angesprochen hat: Welche Rolle haben diejenigen, die<br />

über Erziehung meinen besser Bescheid zu wissen? Welche<br />

Verpflichtungen haben sie auch ggf. einzugreifen in<br />

dieses komplizierte Verhältnis zwischen Rechten verschiedener<br />

Beteiligter? Es geht letztlich um das Verhältnis der<br />

professionellen Helfer, Erzieher und Bildner, Lehrer zum<br />

Beispiel, zu anderen Systemen, zu konkurrierenden Systemen.<br />

Will man mit ihnen die Verantwortung teilen? Oder<br />

geht es um Dominanz? Oder geht es darum, wer eigentlich<br />

verantwortlich ist, wenn etwas schief geht?<br />

Das zieht sich ja durch. Es ist nicht nur eine Frage gegenüber<br />

den Familien, sondern das ist eine Frage gegenüber<br />

dem bürgerschaftlichen Engagement, gegenüber der Ehrenamtlichkeit,<br />

werden diejenigen, die auf dem gleichen<br />

Feld auftauchen, das die professionelle Sozialarbeit für<br />

sich reklamiert, Konkurrenten oder Partner? Insofern ist<br />

der Umgang mit dem Thema Familie exemplarisch oder<br />

auch ein Indikator dafür, wie man mit diesen weiter gehenden<br />

Fragen umgeht.<br />

Da die meisten Beschäftigten in Nachbarschaftsheimen<br />

Sozialarbeiter sind, haben sie mit dem Familienthema<br />

noch ein besonderes Problem: Die professionelle Sozialarbeit<br />

hat es ja gerade beim Thema Familie vor allem<br />

mit den Familien zu tun, bei denen vieles schief geht. Sie<br />

haben deswegen einigen Anlass, die Dinge so zu sehen,<br />

dass sie sagen: Da müssen wir doch irgendwie eingreifen.<br />

Wir müssen doch eigentlich den unfähigen Eltern die Kinder<br />

entreißen, um ihnen etwas Gutes zu tun. Gerade, weil<br />

sie mit eher überforderten Familien zu tun haben, ist das<br />

nahe liegend.<br />

Folgerichtig gibt es – aus der Sicht von Sozialarbeitern<br />

– zum Beispiel häufig eine Unterstützung der Forderung<br />

nach verpflichtenden Eltern-Kursen, nach gerichtlicher<br />

Anordnung von Familienberatungen, nach Eingriff. Das<br />

Problem der Jugendämter heute, dass sie wieder mehr als<br />

etwas Bedrohliches von Familien wahrgenommen werden,<br />

die Schwierigkeiten haben, führt dazu, dass oft Hilfen, die<br />

angeboten werden, Hilfen, die vorgehalten werden, von<br />

denen, die sie besonders brauchen, nicht wahrgenommen<br />

werden, weil sie vor den Eingriffsrechten, die dort neu for-


muliert werden, Angst haben. Und dabei geht es nicht nur<br />

um die Bedrohung durch den Eingriff, sondern auch um<br />

die Haltung, um die Haltung der Besserwisser, die für die<br />

Menschen, die Probleme haben, nicht immer hilfreich ist.<br />

Das ist eine Tradition, die mir in meiner professionellen<br />

Laufbahn, solange ich Berührung mit Sozialarbeit habe,<br />

an vielen Stellen begegnet ist. Das erste Mal war es 1975<br />

in einem öffentlichen Kindergarten, als ich ein Praktikum<br />

machte. Ich habe registriert, wie die Erzieherinnen über<br />

die Eltern geredet haben, wie sie die Kinder vor diesen<br />

Eltern bewahren wollten, wie sie nicht mit Eltern kooperieren<br />

wollten, weil sie die Eltern für unfähig hielten. Ende der<br />

70-er Jahre, Anfang der 80-er Jahre, habe ich das in der<br />

Jugendfreizeitarbeit erlebt, wo wir, als die Leute, die dort<br />

gearbeitet haben, die Jugendlichen in ihrem Protestverhalten<br />

gegen die Familie gestärkt haben, bis wir zu einer<br />

etwas differenzierteren Haltung gefunden haben, als es<br />

um die Frage ging: Wer hilft ihnen? Wer hilft ihnen dann,<br />

wenn sie zum Beispiel in den Beruf gehen, wenn die Schule<br />

zu Ende ist? Welche Netze brauchen sie, wenn es um so<br />

etwas geht? Und wo klar war, dass aus den Familien mehr<br />

Unterstützung kam als von uns, die wir auch getrennt waren<br />

von den beruflichen Feldern, mit denen die Eltern und<br />

die Familie etwas zu tun hatten.<br />

Ich habe es dann in den 80-er Jahren erlebt bei der heftigen<br />

Diskussion über die neue Systematik des Jugendhilfegesetzes,<br />

wo die Sozialarbeiter als Profession gegen die<br />

Konstruktion der Hilfen zur Erziehung gewettert haben.<br />

Hilfen zur Erziehung war eine völlig neue Systematik im<br />

Recht, vorher ging es darum, dass die Jugendämter ein<br />

Eingriffsrecht hatten, jetzt sollte Jugendhilfe die Erziehungskompetenz<br />

der Eltern stärken. Deswegen heißt es<br />

auch Hilfen zur Erziehung. Heute lachen die Träger der<br />

Hilfen zur Erziehung darüber, wenn sie das hören, das haben<br />

sie längst vergessen.<br />

In den 90-er Jahren, als es eine neue Familienorientierung<br />

auch seitens der Regierung gab, zusammen mit der konservativen<br />

Wende, gab es in unseren Reihen eine andere<br />

Argumentation. Es ging eher darum zu sagen: Der Staat<br />

will sich seiner Verantwortung entledigen. Das hing damit<br />

zusammen, dass wir uns üblicherweise als Wahrnehmer<br />

staatlicher Aufgaben gesehen haben, also wir hatten den<br />

Unterschied zwischen<br />

Staat und<br />

Gesellschaft noch<br />

nicht so richtig<br />

verinnerlicht. Die<br />

Wendung hin zur<br />

Familie, zum Begriff<br />

Familie, in der öffentlichen<br />

Debatte<br />

stand damals unter<br />

Ideologieverdacht.<br />

Nach dem, was Frau Peschel-Gutzeit heute gesagt hat, ist<br />

das verständlich.<br />

Andererseits gab es in den 90-er Jahren den Beginn dessen,<br />

womit wir es heute zu tun haben und was erneut die<br />

Frage Familie auf die Tagesordnung setzt, nämlich des<br />

massiven Rückgangs der Geburtenrate, neben der Verunsicherung,<br />

die in Deutschland wahrscheinlich mit der<br />

Vereinigung zusammenhängt, und die heute dazu geführt<br />

hat, dass wir in der demografischen Situation noch sehr<br />

viel schärfer dastehen als vergleichbare andere Länder.<br />

Wir haben eine Problemlage, die Reaktionen erfordert, die<br />

in der Politik reflektiert wird. Da geht es nicht nur um die<br />

Sicherung der Rente, das ist sozusagen die Stammtisch-<br />

Variante. Es geht letztendlich um die Frage des Zusammenlebens<br />

zwischen den Generationen, zwischen den<br />

Menschen, in der Familie und anderswo.<br />

Was ist denn eigentlich für uns Familie? Ich denke, wir<br />

müssen darüber neu nachdenken. Das ist nicht unabhängig<br />

vom Zeitgeist, wahrscheinlich haben wir auch selber<br />

sehr widersprüchliche Assoziationen, wenn wir an Familie<br />

denken. Die Familie wird einerseits gesehen als Zwangsgemeinschaft,<br />

die ich mir nicht aussuchen kann. Das sind<br />

Zusammenhänge, in die ich hineingeboren wurde. Auf der<br />

anderen Seite ist Familie ein Netzwerk. Ein Netzwerk, das<br />

über Differenzen hinweg andauert, die Familie besteht,<br />

ohne dass ich mich beweisen muss, ohne dass ich meine<br />

Zugehörigkeit erwerben muss. Das sind Extreme, das<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 11


12<br />

Anfangsplenum<br />

Anfangsplenum<br />

Schwanken zwischen<br />

Extremen,<br />

vielleicht sind es<br />

aber auch nur zwei<br />

Seiten derselben<br />

Medaille und in<br />

unterschiedlichen<br />

Lebensphasen wird<br />

es unterschiedliche<br />

Dinge geben, die<br />

im Vordergrund stehen.<br />

Zum Beispiel Jugendliche, die sich lösen müssen,<br />

die sehen das sicher anders, als Kinder oder als ältere<br />

Menschen, die eher auf die unterstützenden Funktionen<br />

dieser Netzwerke angewiesen sind. Was steht im Vordergrund?<br />

Welche unserer Erfahrungen nehmen wir wie wahr<br />

und wie geben wir sie weiter?<br />

Ich denke, wir müssen damit leben und wir müssen es<br />

schaffen, beide Aspekte zu betrachten. Das Spannungsverhältnis<br />

macht es gerade aus, es geht immer um beides,<br />

es geht nicht um die Dominanz einer dieser Sichtweisen,<br />

sondern es geht um das Aushalten dieser Widersprüchlichkeit,<br />

darum, in dieser Widersprüchlichkeit die Potenziale<br />

zu entdecken und zu entfalten.<br />

Durch das, was Frau Peschel-Gutzeit uns über die neuen<br />

Definitionen erzählt hat, die das Verfassungsgericht zum<br />

Familienbegriff formuliert hat und die sich allmählich auch<br />

in der Gesellschaft durchsetzen, ist es einfacher geworden.<br />

Das entspannt. Es ist klar, auch in dem, was die Fachleute<br />

sagen, geht es nicht um die traditionelle konservative<br />

Kleinfamilie, sondern es geht um alles, was Zusammenleben<br />

zwischen den Generationen in engen Netzen umfasst,<br />

egal, wie es im Einzelnen aussieht. Das ist auch gut so,<br />

weil es den Blick öffnet für das, was Familie sein kann.<br />

Und dann steht im Vordergrund nicht die Zwangsveranstaltung,<br />

sondern der liebevolle Zusammenhalt. Das Wichtige<br />

daran ist, dass Menschen zusammen sind, ohne eine<br />

Leistungserwartung, einfach da sein und gewollt werden.<br />

Ich denke, dieser Aspekt ist verdammt wichtig in unserer<br />

Leistungsgesellschaft, Beziehungen, die eben nicht auf<br />

Leistung und Gegenleistung beruhen, auf dem Austausch<br />

von Waren und Dienstleistungen oder auf Bezahlung.<br />

Solche kleinen Gemeinschaften, wie es eine gute Familie<br />

sein kann, dazu gehört, sich trotzdem zu akzeptieren,<br />

sich manchmal auch aus dem Weg zu gehen und nichts<br />

desto weniger in irgendeiner Form zusammenzuhängen.<br />

Die Notwendigkeit von kleineren Einheiten ist unbestritten<br />

angesichts von Globalisierung, Monetarisierung aller<br />

Beziehungen, aber auch angesichts von Virtualisierung,<br />

mit der wir jetzt gerade in der ganzen Welt zu tun haben.<br />

Die kleinen Zusammenhänge, die kleinen Netze, die Art<br />

des Umgangs miteinander, Lösungen im Nahbereich finden,<br />

dort, wo man selbst etwas bewegen kann, und nicht<br />

auf höhere Wesen oder auf den Staat oder andere Retter<br />

setzen, das hat auch etwas mit Demokratie zu tun,<br />

mit Selbstverantwortung und Selbstbestimmung.<br />

Familien leben übrigens davon, dass sie heterogen<br />

sind, dass Menschen aus verschiedenen Generationen,<br />

Menschen verschiedener politischer Anschauungen,<br />

aus verschiedenen beruflichen Zusammenhängen und<br />

Zuordnungen, unterschiedlicher Bildungsniveaus, Lebensumstände<br />

und sozialer Lage und nicht zuletzt unterschiedlichen<br />

Geschlechts etwas miteinander zu tun<br />

haben. Dieses muss nicht ausschließlich die Familie<br />

sein, es muss so etwas wie Familie sein, Ersatzfamilien<br />

können das auch leisten. Es geht um eine bestimmte Art<br />

von Beziehung zueinander, geprägt von leben und leben<br />

lassen, von Toleranz und Respekt, und von einer Beziehung,<br />

die nicht von Leistung oder Geld geprägt ist. Gute<br />

Nachbarschaft hat vieles davon.<br />

Anders als die Familie, die einfach da ist, im Guten und<br />

im Schlechten, ist Nachbarschaft machbar. Das ist eine<br />

unserer Aufgaben, solidarisches Zusammenleben, Freude<br />

aneinander, Hilfe, wo es Not tut, Respektieren und<br />

in Ruhe lassen, wenn es das Beste ist, sorgfältig hinsehen<br />

– trotz allem, eine Kursbestimmung zwischen den<br />

Extremen Einfluss und Gleichgültigkeit. Wenn wir das<br />

Familienthema so aufgreifen, sind wir sicherlich einerseits<br />

sehr aktuell, weil es ein aktuelles Thema ist. Andererseits<br />

aber doch nicht Mainstream, weil Mainstream<br />

schwankt zwischen dem Generalverdacht und dem<br />

Nichtzutrauen und Überfordern, also diese Mischung, einerseits<br />

nichts zutrauen, andererseits alles zuschieben.


Gegen den Strom zu schwimmen, das ist insofern eine<br />

vorrangige Aufgabe und in jeder Hinsicht eine Aufgabe<br />

der Nachbarschaftsheime. Segler wissen übrigens, wie<br />

man das macht, sie kreuzen gegen den Wind, Forellen<br />

wissen das auch, sie schwimmen aufwärts, und Paddler<br />

wissen auch, wie man das mit den Trends oder dem<br />

Mainstream machen kann.<br />

Stellen Sie sich einen Fluss vor, an dessen Ufern gibt<br />

es Bunen, also kleine Molen, die in den Flusslauf hinein<br />

reichen. Wenn ein Paddler stromauf fahren will, gegen<br />

den Strom, dann nutzt er die Tatsache, dass es zwischen<br />

den Bunen eine Gegenströmung gibt. So ist es möglich,<br />

Trends wahrzunehmen und trotzdem gegen den Strom<br />

zu schwimmen. Man muss nur an den Ecken aufpassen,<br />

weil da die Strömungen aufeinander stoßen. Das<br />

ist eigentlich der Sinn einer Tagung wie der, zu wir uns<br />

hier heute zusammen gefunden haben, dass wir uns an<br />

diesen Stellen, wo die Strömungen aufeinander stoßen,<br />

sehr deutlich überlegen, wie wir unseren Kurs bestimmen,<br />

damit wir es schaffen, tatsächlich auch immer aufwärts<br />

zu schwimmen.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 13


14<br />

Workshop<br />

Einfach gut<br />

Niedrig schwellige Zugänge in der Arbeit mit Familien<br />

Inputs:<br />

Claudia Grass (Nachbarschaftsheim Schöneberg)<br />

„Das Elterncafé als ein niedrig schwelliges Angebot“<br />

Dorothee Peter (Nachbarschaftsheim Neukölln) /<br />

Keziban Aydin (Diakonisches Werk)<br />

„Stadtteilmütter in Berlin-Neukölln“<br />

Elke Ostwaldt (Outreach Treptow-Köpenick)<br />

„Mobile Jugendarbeit und ‚aufsuchende<br />

Familientherapie‘ - der SOPHIA-Ansatz“<br />

Moderation:<br />

Theo Fontana<br />

Theo Fontana: Als Einstieg vielleicht die Frage, warum<br />

dieses Thema „Niedrig schwellige Angebote an Familien“<br />

so ein Modethema ist. Ich denke schon, es ist eine Antwort<br />

auf Veränderungen. Bei meiner früheren Tätigkeit als<br />

Streetworker war es eher verpönt, mit Familien zusammen<br />

zu arbeiten. Da scheint sich etwas verändert zu haben.<br />

Zuerst eine kleine Vorstellungsrunde. Was verbindet Sie<br />

mit dem Thema?<br />

TN: Das Bürgerschaftshaus in Köln-Bocklemünd, aus<br />

dem ich komme, ist eine unterstützend-helfende Einrichtung.<br />

Wir sind darauf angewiesen, dass wir Kontakt bekommen.<br />

Es gibt beratende Einrichtungen, da kommen<br />

die Menschen hin, um sich beraten zu lassen. Da entsteht<br />

also auch eine bestimmte Gruppensituation, um<br />

diesen Kontakt aufzunehmen und zu entwickeln. Aber<br />

es gibt auch offene Angebote, wie sie von uns gemacht<br />

werden. Da müssen wir gucken, wie wir die Eltern erreichen.<br />

Ich komme aus einem Arbeitsbereich in einem Stadtteil,<br />

der sehr stark von Menschen mit diversen wirklich schwierigen<br />

Hintergründen bewohnt wird. Bei denen ist es überhaupt<br />

nicht gang und gäbe sich Hilfe zu holen oder sich<br />

irgendwo zu engagieren. Es liegt an uns zu gucken, Augen<br />

und Ohren zu öffnen um mitzubekommen, was die Menschen<br />

bewegt, woran es fehlt. Ein Kontakt ist letztendlich<br />

immer nur über die Niedrigschwelligkeit möglich, weniger<br />

über die Ratio. Mit einem Aushang wird die Mittelschicht<br />

angesprochen.<br />

TN: Ich arbeite in einem Nachbarschaftshaus in Hohenschönhausen,<br />

wo die Armut bei Kindern groß ist, ebenso<br />

die Abhängigkeit von Hartz-IV und anderen Geldleistungen.<br />

Wir müssen also zum einen überlegen, wie wir Kindern<br />

helfen wollen. Im Moment gibt es viel Einzelhilfe für<br />

Kinder, aber wir sind der Auffassung, man muss auch<br />

die Eltern stärken. Wir müssen also sehen, wie wir an<br />

diese Zielgruppe heran kommen, wo liegen ihre Bedürfnisse,<br />

über welche Angebote können wir Familien Unterstützung<br />

geben? Es sollte eine gemeinsame Zielsetzung<br />

von Familien und Nachbarschaftseinrichtung entwickelt<br />

werden.<br />

Theo Fontana: Wir hätten das ja genauso auch schon vor<br />

zehn Jahren machen können, aber damals schien das<br />

noch nicht so brennend. Was ist jetzt anders? Vor zehn<br />

Jahren war es noch relativ ungewöhnlich, wenn ein Streetworker<br />

in eine Familie reingeht. Das ist heute offensichtlich<br />

anders. Was ist da passiert? Bei unserem Selbstverständnis?<br />

Bei den sozialen Bedingungen?<br />

TN: Ich komme vom Gemeinwesenverein Haselhorst. Ich<br />

leite seit neun Jahren ein Eltern-Kind-Café und bin eigentlich<br />

von der Ehrenamtlichkeit da reingekommen. Ich<br />

dachte, in unserem Bezirk gibt es viele Sozialhilfeemp-


fänger und Arbeitslose mit ihren Familien und kleinen<br />

Kindern. Es gab keinen Treffpunkt, wo sie sich treffen<br />

konnten, ohne dass sie das Gefühl haben mussten: jetzt<br />

stürzt sich gleich einer auf dich und will dir eine Beratung<br />

aufquatschen. Das Café war also erst mal ein Treffpunkt,<br />

wo sie sich mit ihren Familien, mit ihren Kindern, wohlfühlen<br />

konnten. Später kamen auch die Männer, auch Omas<br />

und Opas. Sie konnten da einfach Kaffee trinken und<br />

wussten, na ja, wenn ich mal was habe, zu der kann ich<br />

gehen, die kenne ich, zu der habe ich Vertrauen, die sagt<br />

mir dann schon was. Und dann konnte man ganz direkt<br />

sagen: Ich habe da zwar keine Ahnung, aber meine Kollegin,<br />

die berät dich, komm, wir machen das mal. Diese<br />

Niedrigschwelligkeit gibt es bei uns seit neun Jahren, die<br />

bewährt sich gut.<br />

Theo Fontana: Habt ihr da eine Veränderung festgestellt<br />

zu der Zeit vor zehn Jahren?<br />

TN: Nein, es ist gleich bleibend voll bei uns. Es wechseln<br />

mal die Mütter, weil die Kinder irgendwann zu<br />

groß werden für meine beiden kleinen Räume. Die<br />

gleich bleibende Grundlage ist das Gefühl: ich kann da<br />

nachmittags hingehen. Das ist eine Vertrauenssache.<br />

Theo Fontana: Es hat sich offenbar gar nicht so viel verändert,<br />

wie ich behauptet habe.<br />

TN: Ich komme vom Pfefferwerk, einem Träger der Jugendhilfe<br />

und Nachbarschaftsarbeit in Berlin, vor allen Dingen<br />

Prenzlauer Berg. Ich würde sagen, Ihre Sichtweise hat<br />

was mit Ihrer Profession als Straßensozialarbeiter zu tun.<br />

In der Nachbarschaftsarbeit haben wir immer schon mit<br />

offenen Treffpunkten und Angeboten für Familien gearbeitet.<br />

Vor allem in der Sozialarbeit in der Jugendhilfe hat seit<br />

ein paar Jahren in fachlicher Hinsicht eine Entwicklung<br />

stattgefunden. Wenn ich mit schwierigen Jugendlichen<br />

arbeite, die schwere Probleme haben, dann muss ich mir<br />

unter Umständen auch die Situation in den Familien und<br />

im Umfeld angucken. Ich glaube, da hat sich professionell<br />

was verändert.<br />

TN: Ich arbeite in einer Selbsthilfe-Kontaktstelle. Ich habe<br />

früher als Familienhelferin gearbeitet. Die Veränderung ist<br />

aber nicht vor zehn Jahren passiert, sondern ich würde sagen,<br />

vor 15 oder 20 Jahren. Damals sind die sozialen Netzwerke<br />

in der Familie langsam kaputt gegangen. Ich glaube,<br />

es gab vor 15, 20 Jahren noch weniger Scheidungen,<br />

auch Cousinen und Cousins, Nichten und Neffen kannte<br />

man noch und traf die, also es gab noch Netzwerke, in<br />

denen man sich gegenseitig unterstützt hat. Dieses größere<br />

Netzwerk Familie ist so nicht mehr vorhanden. Ich<br />

leite inzwischen PEKiP-Kurse, also Eltern-Kind-Kurse. Die<br />

kommen gut bei Menschen an, die sie auch genießen, die<br />

sie aber nicht so brauchten wie Leute, die ernste Probleme<br />

haben. Für die sind diese Angebote offenbar nicht niedrig<br />

schwellig genug.<br />

TN: Ich komme aus einem Eltern-Kind-Zentrum. Mir begegnen<br />

ganz viele Familien mit Problemen, wo ich dann frage:<br />

haben Sie keine Mutter oder Vater mehr? Das haben sie,<br />

aber sie haben keinen Kontakt mehr zu den Eltern oder<br />

Großeltern. Das, was früher in der Großfamilie funktioniert<br />

hat, Erfahrungsaustausch, praktische Unterstützung, das<br />

funktioniert jetzt einfach nicht mehr.<br />

Wir versuchen jetzt Angebote zu machen, die da eingreifen.<br />

Um die annehmen zu können, müssen die Menschen<br />

erst mal Vertrauen zu uns aufbauen. Das braucht Zeit,<br />

braucht Geduld. Da haben wir so eine „Komm-und-geh-<br />

Struktur“ entwickelt. Kommen die Familien nicht, dann<br />

gehe ich und frage, warum sie nicht kommen. Das ist ein<br />

großes Problem, dass die Familien in kleine Einzelteile zersplittert<br />

sind.<br />

TN: Ich bin vom „Kotti e.V.“ am Kottbusser Tor. Bei uns<br />

ist es so, dass ich mittlerweile die dritte Generation im<br />

Haus habe, die ich schon seit ihrer Kindheit kenne. Es gibt<br />

eine verfestigte Perspektivlosigkeit. Das heißt, die Kinder<br />

haben in ihren Familien nicht gesehen, dass Eltern arbeiten<br />

gehen, sie kennen keine Eltern, die morgens aufgestanden<br />

sind, die einer Tätigkeit nachgegangen sind, die<br />

bestimmte Aufgaben übernommen haben. Natürlich liegt<br />

bei uns auch die Sprache im Argen, die Schulbildung, die<br />

einfach sehr schlecht gelaufen ist und weiterhin schlecht<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 15


16<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

läuft. Die Verhältnisse untereinander, die dynamischen<br />

Prozesse, die in den Sozialgruppen ablaufen, das spielt<br />

alles mit eine Rolle. Kinder haben keine Vorbilder. Auch<br />

nicht zur Konfliktlösung.<br />

TN: Ich bin seit 20 Jahren Jugendarbeiterin und arbeite<br />

seit fünf Jahren in … Köpenick. Ich bemerke, dass die<br />

Familien, die Hartz-IV-Bezieher sind, sehr abgeschottet<br />

leben, mehr als die Menschen, die erwerbstätig sind. Das<br />

ist ein Kreislauf. Man denkt, man wäre auf staatliche Hilfe<br />

angewiesen, und guckt nur noch sehr, sehr wenig auf die<br />

Selbsthilfe, die es ja gibt, auf die Ressourcen innerhalb<br />

der Nachbarschaft. All das spielt für sie oft keine Rolle<br />

mehr. Viele Familien haben nicht mehr den Glauben daran<br />

haben, dass sie selbst ihre Schwierigkeiten regeln<br />

können.<br />

TN: Wir arbeiten sehr stark mit ausgegrenzten Leuten,<br />

sehr oft mit Migranten. Die meisten unserer Besucher leben<br />

von Hartz-IV und ähnlichen Leistungen. Gerade Familien<br />

mit ganz wenig Geld und Schulden sind stark damit<br />

beschäftigt, ihr Überleben zu sichern. Das blockiert alle<br />

Kräfte, die irgendwie positiv sein könnten.<br />

Unsere Erfahrung ist, dass unsere soziale Beratung einfach<br />

nur dazu dient, dass die Familien den Kopf frei kriegen,<br />

indem man die aufgehäuften Probleme eins nach<br />

dem anderen gemeinsam löst. Das ist ganz niedrigschwellig.<br />

Man kann sich mal wieder auf ein Ziel orientieren, eine<br />

Perspektive kriegen. Das geht erst, wenn ich wieder weiß,<br />

dass z.B. meine Wohnung sicher ist. Mit solchen Sorgen<br />

befassen sich Familien laufend. Das Ganze stürzt schon<br />

zusammen, wenn das Jobcenter nicht rechtzeitig das Geld<br />

überweist. Eine Perspektive für Kinder, das heißt auch,<br />

dass sie mitmachen können bei Klassenfahrten, Ausflügen<br />

usw. Dafür ist oft kein Geld da. Gerade große Familien<br />

scheitern daran.<br />

Ethnische Netzwerke sind sehr oft Großfamilien-Netzwerke,<br />

tragen häufig auch nicht mehr. Es gibt keinen mehr,<br />

der Arbeit hat und der sagt: da wäre noch was bei mir im<br />

Betrieb. Das riskiert niemand mehr. Denn wenn die Verwandtschaft<br />

nicht funktioniert, ist derjenige womöglich<br />

selber in Gefahr. Das ist ein ganz großes Problem.<br />

Den einzigen Alltag außer Haus haben Schulkinder. Aber<br />

sie haben nicht genügend Geld für die Tagesbetreuung in<br />

der Ganztagsschule, Geld für das Mittagessen, Kitabeiträge.<br />

Wenn das aus dem knappen Familien-Budget rausgeschnitten<br />

wird, ist das oft zu viel.<br />

Hinzu kommen dann noch solche Dinge, dass z.B. Jugendliche<br />

von Ämtern vor den Kopf gestoßen werden. Wir haben<br />

in unserer Beratung immer wieder Jugendliche, die<br />

die Oberschule in der 11. Klasse besuchen, und die vom<br />

Jobcenter eine Aufforderung kriegen, sie sollen sich bitte<br />

eine Arbeit suchen, weil sie die Klassen ja nicht schaffen<br />

würden. Die werden unter Druck gesetzt, Eingliederungsvereinbarungen<br />

zu unterschreiben, und die Schule zu verlassen.<br />

Wenn sie damit alleine bleiben - soll ich jetzt für die<br />

Mathearbeit lernen oder soll ich die 20 Bewerbungen bis<br />

zur nächsten Woche schreiben - ?, resignieren sie häufig.<br />

Daran sehen wir einfach, dass ihnen auch in Institutionen<br />

die Perspektive verwehrt wird, die sie sich gerade erarbeiten<br />

wollen. Andere versuchen es erst gar nicht. Die haben<br />

sich in dieser Resignation eingerichtet. Wenn sie sagen:<br />

ich brauche mich nicht zu bewerben, mich nimmt doch sowieso<br />

keiner, mit dieser Haltung, ist ihnen von vornherein<br />

der Blick verstellt.<br />

Aber diese Haltung ist inzwischen weit verbreitet bei uns.<br />

Das ist eine Situation, die sich in den letzten Jahren verschärft<br />

hat. Wir arbeiten immer schon sehr niedrig schwellig<br />

mit einem ganzheitlichen Ansatz, aber wir merken, dass<br />

der Druck zugenommen hat. Hartz-IV war da die ganz<br />

große Wende, das war noch mal ein richtiger Pflock, der<br />

da eingeschlagen wurde.<br />

Theo Fontana: Wir sind uns sicher einig, dass Niedrigschwelligkeit<br />

schon immer da war, aber heute irgendwie<br />

noch größere Herausforderungen an uns bestehen. Darum<br />

geht es im ersten Impulsreferat.<br />

Claudia Grass: Ich komme vom Nachbarschaftsheim<br />

Schöneberg. Ich bin da zuständig für den Bereich Familienbildung.<br />

Geographisch gesehen liegt das Nachbarschaftsheim<br />

an der Bezirksgrenze von Schöneberg zu Steglitz, in<br />

Friedenau. Das ist klassischerweise ein Wohngebiet, wo<br />

sehr viele sogenannte Mittelschicht-Familien leben, also


ildungsnahe Menschen, die es gewöhnt sind Kurse zu<br />

besuchen. Wir haben auch ein großes Angebot an allen<br />

möglichen Kursen im Eltern-Kind-Bereich, Elternabende<br />

usw. Der Stadtteil Friedenau ist zweigeteilt - diesseits der<br />

Autobahn und jenseits der Autobahn. Jenseits gibt es einen<br />

hohen Migrantenanteil und sehr viele Menschen, die<br />

von Hartz-IV leben. Natürlich entstand auch bei uns die<br />

Frage: wie können wir auch diese Menschen erreichen, die<br />

nicht zu uns kommen?<br />

Es gibt bei uns in der Familienbildung ein Projekt, das ist<br />

vor über zehn Jahren im Rathaus Friedenau entstanden.<br />

Dort gab es leere Räume und die damalige Jugendstadträtin<br />

hatte die Idee, dass es doch toll wäre, wenn die Familien,<br />

die hier ins Rathaus kommen, irgendwo die Kinder<br />

abgeben könnten.Das NBH Schöneberg hat dieTrägerschaft<br />

übernommen, das Bezirksamt hat uns die Räume<br />

zur Verfügung gestellt, wir haben für das Personal und die<br />

Ausstattung gesorgt. So ist das Projekt entstanden, das<br />

„Frieda“ heißt.<br />

„Frieda“ wurde aber nicht so frequentiert, dass da ständig<br />

der Bär tobte. Sondern es war so, dass da zwei ABM-Leute<br />

den ganzen Tag saßen, die nicht recht wussten, was sie<br />

mit ihrer Zeit machen sollten, denn vielleicht kommt mal<br />

ein Kind, aber vielleicht kommt auch mal überhaupt keins.<br />

Dann habe ich gesagt: nee, so geht das nicht, das ist ja<br />

eine Ressourcenverschwendung ohne Ende. Aber was<br />

immer gebraucht wurde, war ein Ort, wo sich Eltern treffen<br />

konnten. In Friedenau gibt es sehr viele schöne Spielplätze,<br />

aber was ist im Winter? Es war immer der Wunsch<br />

der Eltern, einen Ort zu haben, wo sie sich eben auch bei<br />

schlechtem Wetter treffen konnten. Und zwar ohne Anmeldung<br />

wie bei einem Kurs und ohne Verpflichtung, sondern<br />

wo sie spontan hingehen können. Dann haben wir also<br />

das „Frieda“ geöffnet. Und wenn Eltern etwas auf dem Amt<br />

zu regeln haben, können sie da nach wie vor ihre Kinder<br />

abgeben, wie auf einer Art betreutem Spielplatz.<br />

Irgendwann ist daraus die Idee entstanden, dass es einen<br />

Kaffee geben soll. Die Betreuerin kocht eben eine Kanne<br />

Kaffee und die Eltern können da auch einen kriegen.<br />

Dann haben wir aber überlegt, wir könnten ja einmal in der<br />

Woche ein Frühstück anbieten. Das wurde auch sehr gut<br />

angenommen. Eine Sozialarbeiterin vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst<br />

ging von sich aus auf uns zu und<br />

fragte, wann sie zu uns kommen könnte. Ich schlug ihr das<br />

Freitagscafé vor. Sie<br />

ist einfach da und<br />

Eltern wissen, dass<br />

sie zur Beratung da<br />

ist. So ist das ganze<br />

Projekt entstanden.<br />

Es ist also nicht<br />

am Reißbrett in<br />

meinem Kopf entstanden,<br />

sondern<br />

es hat sich Schritt<br />

für Schritt aus dem entwickelt, was an Bedürfnissen kam.<br />

Mittlerweile findet das Freitagscafé – wie der Name schon<br />

sagt – jeden Freitag statt. Auch in den Ferien versuche<br />

ich immer, das durchzuziehen, weil das Problem ist, wenn<br />

Eltern es einmal geschlossen vorfinden, dann kommen<br />

sie nicht mehr. Es ist also auch eine gewisse Herausforderung,<br />

weil das nicht mit Hauptamtlichen bestückt wird,<br />

sondern immer mit irgendwelchen MAE-Kräften, ÖBS und<br />

was gerade für Programme laufen. Jetzt haben wir gerade<br />

die Kommunal-Kombi.<br />

Das Prinzip dieses Freitagscafés beruht auf Niedrigschwelligkeit<br />

und auf zwei für mich ganz wichtigen Säulen. Die<br />

eine Säule ist, dass es keinerlei Verbindlichkeit erfordert.<br />

Die Leute können kommen, sie müssen sich nicht anmelden,<br />

sie können auch nach zehn Minuten wieder gehen, sie<br />

können drei Mal kommen oder nur einmalig, sie können<br />

jede Woche kommen. Wir hatten früher bei uns im Haus an<br />

die 20 sogenannte Eltern-Kind-Gruppen. Davon gibt es heute<br />

höchstens noch zwei. Wir haben festgestellt, dass dieses<br />

Bedürfnis, sich in einer festen Gruppe zu treffen, einfach<br />

so nicht mehr besteht. Oder wenn, dann wollen die Eltern<br />

richtig eine fachliche Anleitung, also dann wollen sie einen<br />

Kurs oder PEKiP oder Eltern-Kind-Turnen usw. Aber dieses<br />

regelmäßige Treffen in einer festen Gruppe war ein Auslaufmodell.<br />

Ich denke, dass wir mit diesem Freitagscafé etwas<br />

abdecken, das den Menschen, die sich nicht verpflichten<br />

wollen, die lieber spontan entscheiden wollen, entgegenkommt.<br />

Manche verabreden sich ja auch mit anderen Eltern,<br />

es kommen übrigens auch zunehmend Väter.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 17


18<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

Dann hat sich das weiterentwickelt. Es gab diese Sozialarbeiterin<br />

vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, die<br />

einmal im Monat gekommen ist, das war ein fester Freitag.<br />

Dann überlegte ich, dass es doch gut wäre, wenn da eine<br />

Ansprechperson von der Erziehungsberatung wäre. Vor<br />

Jahren hatte ich schon mal Kontakt mit der Erziehungsberatung<br />

vom Bezirk aufgenommen und angefragt, ob sie<br />

sich vorstellen könnten, bei uns im Nachbarschaftsheim<br />

regelmäßig eine Beratung anzubieten. Damals haben<br />

die die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, um<br />

Gottes Willen, wir werden ja sowieso schon überrannt, wir<br />

können das gar nicht alles, also da war nichts zu machen.<br />

Aber jetzt auf einmal ging es. Solche Kooperationen sind<br />

offenbar sehr personenabhängig. Es gab eine Mitarbeiterin<br />

dort, die das Modell toll fand und es machen wollte. Sie<br />

hat das dann mit ihrer Vorgesetzten gesprochen, dann war<br />

das in Ordnung. Einmal im Monat – jeden ersten Freitag<br />

– ist sie da. Sie ist einfach nur da. Sie drängt niemandem<br />

ein Gespräch auf, sie will auch niemand beraten, der nicht<br />

beraten werden will. Die Leute wissen, dass sie da ist, das<br />

wird ausgehängt. Was an diesem Konzept wichtig ist, das<br />

ist die Regelmäßigkeit. Dass die Eltern verlässlich wissen,<br />

dass es regelmäßig stattfindet.<br />

Dann haben wir es noch erweitert. Einmal im Monat gibt<br />

es ein sogenanntes Expertengespräch, also immer am<br />

letzten Freitag im<br />

Monat kommt irgendjemand,<br />

der<br />

ein gesundheitsoder<br />

erziehungsrelevantes<br />

Thema<br />

bespricht. Das<br />

kann Erste Hilfe am<br />

Kind sein, gesunde<br />

Ernährung, Bewegungsentwicklung<br />

oder „Kreatives Kinderzimmer“, da hatten wir eine Architektin,<br />

wir haben alles Mögliche im Angebot. Diese Experten<br />

sind bei dem Freitagscafé einfach da. Je nachdem, wie<br />

voll es dann ist, und ob es überhaupt geht, sagen sie ein<br />

paar Sätze, machen also einen kurzen Input. Dann stellen<br />

die Eltern Fragen und die Experten beantworten die. Das<br />

ist natürlich sehr, sehr wuselig. Da sind zum Teil 20 Elternteile<br />

mit ihren Kindern, real also 40 Personen, da geht<br />

schon was ab. So wie wir jetzt reden, das wäre dort völlig<br />

unmöglich. Aber trotzdem denke ich, es ist eine Möglichkeit,<br />

denn ins Elterncafé kommen tatsächlich auch Eltern,<br />

die sonst eben zu irgendwelchen anderen Gruppen oder<br />

Kursen überhaupt nicht kommen würden.<br />

Was ich als unheimlich positiv empfinde, das ist eben die<br />

Kooperation mit den verschiedenen Ämtern, einmal dem<br />

Gesundheitsamt über diese Sozialarbeiterin, mit dem<br />

Jugendamt, das ist die Diplompädagogin von der Erziehungsberatungsstelle.<br />

Das erweist sich als sehr effizient,<br />

weil z.B. auch die Sozialarbeiterin vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst<br />

ihre Hausbesuche ins Café bestellt. Für<br />

viele Eltern ist das immer noch so: Amt, was wollen die<br />

von mir? Die Sozialarbeiterin schreibt alle an, die ein Kind<br />

kriegen, alle Eltern werden angeschrieben und bekommen<br />

ein bestimmtes Informationsmaterial, und es liegt in dem<br />

Brief auch immer ein Flyer von dem Freitagscafé mit drin.<br />

Mitarbeiter der Ämter nutzen das Café also auch für sich<br />

als Möglichkeit, mit Eltern ins Gespräch zu kommen, Eltern<br />

miteinander ins Gespräch zu bringen.<br />

Es gibt dann ein Frühstücksbuffet, das kostet 2 Euro, was<br />

nun auch nicht die Welt ist. Wenn jemand keine 2 Euro<br />

hat, dann ist niemand weggeschickt worden und hat trotzdem<br />

was zu essen gekriegt. Das ist natürlich kein Super-5-<br />

Sterne-Gourmet-Frühstück mit Lachs, aber es gibt immer<br />

alles, es gibt Brötchen, Belag, was Frisches, Kaffee und<br />

Tee.<br />

Das ist das Konzept von dem Frieda-Freitagscafé. Wir haben<br />

dieses Konzept in abgewandelter Form noch an zwei<br />

anderen Standorten, einmal in dem Jugend- und Familienzentrum<br />

in der Jeverstraße. Da ist es immer montags und<br />

Mittwochnachmittag bei uns in der Holsteinischen Straße.<br />

Da ist es auch ein kleines Café, das täglich von 11 bis 20<br />

Uhr geöffnet ist, und Mittwochnachmittag findet da eben<br />

auch ein Elterncafé statt.<br />

Wir haben festgestellt, dass das Frieda-Freitagscafé mit<br />

Abstand am allerbesten läuft. Ich führe das darauf zurück,<br />

dass diese Räume – es sind zwei wirklich sehr, sehr große<br />

Räume – am angenehmsten sind, weil sich die Kinder da<br />

bewegen können. Diese Räume sind mit Teppichboden


ausgelegt, aber sie dürfen nicht mit Schuhen begangen<br />

werden. Da sind sehr viele Eltern mit ganz kleinen Kindern,<br />

die können sie da einfach rumkrabbeln lassen. Es ist<br />

sehr zentral gelegen, das spielt auch eine wichtige Rolle,<br />

also man kann es sehr gut erreichen.<br />

Wichtig ist auch, dass so ein Ort mit seinen besonderen<br />

Angeboten bekannt gemacht werden muss. Wir treffen immer<br />

wieder Leute, die sagen: ach, das wussten wir ja gar<br />

nicht, ach, das gibt es hier. Wir müssen also immer wieder<br />

kreativ werden, wie wir das an die Frau und an den Mann<br />

bringen können, was wir da machen.<br />

Theo Fontana: Es ist eigentlich nicht überraschend, dass<br />

gerade solche niedrig schwelligen Angebote step by step<br />

entstehen. Ich denke, das hängt irgendwie miteinander<br />

zusammen. Gibt es ähnliche Projekte und vielleicht Fragen<br />

oder Ergänzungen, um das von verschiedenen Seiten<br />

zu beleuchten?<br />

TN: Unser Café hat sich in der Zwischenzeit so entwickelt,<br />

dass ich straffällig gewordene Jugendliche nachmittags<br />

betreue, die da ein bisschen abwaschen und sauber machen<br />

müssen und/oder – je nachdem, wie sie bei den<br />

Kindern ankommen – mit den Kindern spielen. Wir haben<br />

drei Räume: unten das Café, ein paar Stufen höher<br />

zwei Räume, einen Seminarraum und einen Kuschelraum.<br />

Über ein Jahr habe ich eine Schülerpraktikantin, die jeden<br />

Dienstag kommt und mit den Kindern ein bisschen<br />

bastelt und malt. Je nachdem, wie viele Kinder gerade da<br />

sind und wozu die Kinder Lust haben, das entscheiden sie<br />

selbst, was sie machen wollen. Sie dürfen aber auch Höhlen<br />

bauen und toben.<br />

Unten ist ein regelrechtes Café draus geworden, zu Anfang<br />

gab es immer noch selbstgebackenen Kuchen von mir,<br />

aber jetzt ist dafür keine Zeit mehr, jetzt gibt es den Tiefgefrorenen.<br />

Sie kaufen bei mir Kaffee und Kuchen, aber zu<br />

Einkaufspreisen. Eigentlich hat sich das Café selbst entwickelt,<br />

wir machen um 15 Uhr auf, ab 16 Uhr dürfen die<br />

Kinder Süßigkeiten kaufen.<br />

Ich habe im Durchschnitt 40 Personen jeden Dienstag da.<br />

Die Eltern sind meistens Mütter, aber es kommen auch<br />

drei oder vier Väter. Die erkundigen sich schon von sich<br />

aus, wo kann ich zur homöopathischen Früherziehung, wo<br />

ist Eltern-Kind-Turnen oder fragen nach Eltern-Trainingskursen,<br />

die ich auch anbiete. Manchmal kommen Fragen,<br />

die man diskutieren kann, manchmal auch nicht. Wenn<br />

die Eltern wollen, lade ich auch jemand von irgendeiner<br />

Beratungsstelle ein. Wir hatten schon mal die Schuldner-<br />

Beratung da für allgemeine Fragen zur Schuldenfalle.<br />

Manche sagen skeptisch: hä, da gibt es ein Eltern-Kind-<br />

Café, das habe ich ja noch nie gesehen.<br />

Theo Fontana: Wie ist das mit den Müttern und Vätern?<br />

Kommen Väter?<br />

Claudia Grass: Es sind auf jeden Fall mehr Mütter, aber<br />

ich habe schon den Eindruck, dass – seit es die Elternzeit<br />

gibt – oft mehr Väter kommen. Das liegt aber natürlich<br />

auch an der Zeit, vormittags von 10 bis 12 Uhr, da können<br />

ja nur diejenigen, die in der Elternzeit sind. Nachmittags,<br />

wenn der Indoor-Spielplatz bis 18 Uhr geöffnet ist, kommen<br />

durchaus öfter mal Väter mit ihren Kindern. Aber in<br />

dem Freitagscafé sind höchstens 10 bis 20 % Väter.<br />

TN: Ich baue gerade für den Malteser-Hilfsdienst ein Familienzentrum<br />

als Nachbarschaftszentrum in Neukölln auf.<br />

Meine Frage: Wie haben Sie die Eltern erreicht?<br />

Claudia Grass: Die meisten Eltern fragen unsere MAE-Frau<br />

nicht, was sie macht, sondern sie ist da und sie weist die<br />

Eltern ein. Das heißt, die Eltern kommen rein, sie begrüßt<br />

sie und sagt, guten Tag, Sie wollen zu unserem Elterncafé.<br />

Wenn die Eltern noch nie da waren, erklärt sie die Regeln,<br />

nämlich, dass sie die Schuhe bitte ausziehen sollen, wo<br />

sie den Kinderwagen hinstellen können, dass sie den bitte<br />

abschließen, weil auch schon welche geklaut wurden. Solche<br />

Sachen erklärt sie. Dann hat sie ihr Frühstücksbuffet,<br />

also die Eltern wollen von der in dem Sinne gar nichts.<br />

Es ist ja so, dass jeden Freitag eine kompetente Person<br />

da ist, entweder die Sozialarbeiterin vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst<br />

oder die Diplompädagogin von der<br />

Erziehungsberatung.<br />

Ich habe auch fast regelmäßig Praktikantinnen von den<br />

Fachhochschulen. Denen lege ich es immer nahe, da<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 19


20<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

freitags hinzugehen, weil sehr viel von dem, was ich mache,<br />

ist koordinierende und organisatorische Tätigkeit, Gremienarbeit<br />

usw. ist, während das Freitagscafé was richtig<br />

Anschauliches ist. Da sind die Praktikantinnen auch total<br />

scharf drauf, weil sie da endlich die Eltern mitkriegen und<br />

welche Fragen sie haben. Ich möchte dann einen kleinen<br />

Bericht von den Praktikantinnen, sie sollen ihren Besuch<br />

dokumentieren. Das ist für mich auch gut, weil ich da nicht<br />

jeden Freitag hingehen kann, das kriege ich zeitlich einfach<br />

nicht hin. Aber ich habe damit ein Feedback und Eindrücke<br />

darüber, welche Themen anstanden.<br />

Die Sozialarbeiterin vom Gesundheitsdienst und die Erziehungsberaterin<br />

sind konstante Personen, also es entsteht<br />

dann schon – was auch absolut notwendig ist – ein<br />

Vertrauensverhältnis. Die MAE-Kraft deckt quasi nur den<br />

äußeren Rahmen ab. Sie ist nicht als Ansprechperson für<br />

inhaltliche Fragen da.<br />

TN: Wie erreicht ihr die Eltern?<br />

Claudia Grass: Entweder über unser Programmheft, das<br />

hat eine Auflage von ca. 14.000 Stück. Dann natürlich<br />

über unsere Stadtteil-Medien, über die Sozialarbeiterin<br />

vom Kinder- und Jugend-Gesundheitsdienst, die neuen Eltern<br />

die Infobroschüre und unser Angebot fürs Freitagscafé<br />

schickt. Ganz viel kommt auch über Mundpropaganda,<br />

das ist ein ganz wichtiges Medium. Natürlich auch über<br />

Gremienarbeit, ich sitze in diversen Gremien, vor allem,<br />

wenn die lokal organisiert sind, verschiedene Fachgruppen,<br />

da gebe ich das Angebot auch weiter. Ich gebe auch<br />

Informationen ins Jugendamt, viele kennen das Frieda-<br />

Projekt noch nicht. Man denkt immer, die wissen alle davon,<br />

aber das ist nicht so.<br />

TN: Ich komme vom Familienzentrum „Tausendfüßler“ in Kaltenkirchen,<br />

das ist in Schleswig-Holstein. Wir sind seit sechs<br />

Jahren Familienzentrum mit Kindertagesstätte und seit zwei<br />

Jahren Mehrgenerationenhaus. Ich kann bestätigen, dass<br />

sich unsere Niedrigschwelligkeit auch nach und nach ergeben<br />

hat, sie ist mit der konkreten Nachfrage gewachsen.<br />

Mit der Eröffnung der Kita haben wir einen Bereich mit<br />

Elterncafé eingerichtet. Morgens, wenn die Eltern kamen<br />

und die Kinder gebracht haben, hatten sie die Möglichkeit,<br />

Kaffee und Tee zu trinken, so um 9 Uhr. Das hat sich dann<br />

ausgeweitet, dass wir ein Eltern-Frühstück angeboten haben,<br />

was sehr erfolgreich angenommen wurde. Zunächst<br />

ist das nie begleitet worden, aber wir haben das Prinzip<br />

der offenen Bürotüren, also jederzeit kann jemand zur<br />

Kita-Leitung kommen, wir lassen Störung gerne zu. Das<br />

bringt natürlich mit sich, dass wir unsere Arbeit nicht geschafft<br />

haben. Es fängt immer mit der Frage an: Ich habe<br />

da mal eine Frage, meine Nachbarin, meine Freundin, die<br />

hat das Problem … Wir haben die Menschen dann soweit<br />

begleitet, dass sie Antworten nicht mehr unbedingt von<br />

uns brauchten, sondern auch zu einer Fachberatung gehen<br />

konnten.<br />

Nach und nach haben wir - auch durch das Mehrgenerationenhaus<br />

- dieses Angebot erweitern können. Wir haben<br />

nachmittags das Café, wo Menschen aller Altersklassen<br />

kommen können, von 0 bis 99. Das Elternfrühstück haben<br />

wir ausgeweitet, es wird zwei Mal im Monat von einer<br />

Kinder- und Jugendärztin begleitet, die einfach da ist,<br />

aber später auch Fachvorträge anbieten kann oder kleine<br />

Seminare, wenn das gewünscht wird. Sie hat auch einen<br />

Kummerkasten, die Eltern können da Briefe einwerfen<br />

und sie steht dann auch für persönliche Einzelgespräche<br />

zur Verfügung.<br />

Nächster Schritt ist, dass die Erziehungs- und Lebensberatung,<br />

die es bei uns im Ort gibt, auch für einen Tag zu<br />

uns ins Haus kommt. Angehörige der Mittelschicht gehen<br />

dort hin, wenn sie Probleme haben. Aber die Familien,<br />

die es tatsächlich benötigen, die trauen sich nicht<br />

hin. Elternberatung, Erziehungsberatung, dann kommt<br />

womöglich als nächstes vom Jugendamt ein Fürsorger.<br />

Die sind dann bei uns im Haus und stellen sich auch<br />

beim Elternfrühstück vor, das ist also niedrig schwellig,<br />

da können Eltern ins nächste Büro reingehen, ohne dass<br />

es auffällt. So entwickeln wir step by step. Wir möchten<br />

gerne eine Familien-Hebamme ins Haus holen, wir<br />

haben mittlerweile auch eine Beratung für Senioren<br />

und für deren Angehörige. Wir holen das alles ins Haus,<br />

anstatt sie zu externen Beratungen zu schicken, wo sie<br />

eine erhebliche Angstschwelle überwinden müssten, da<br />

hinzugehen.


TN: Das sind ja genau die Eltern, die man erreichen muss.<br />

Denn im Umgang der Eltern mit ihren Kindern liegt ja sehr<br />

viel im Argen. Wie erreicht man, dass der Umgang mit den<br />

Kindern sinnvoller wird?<br />

Claudia Grass: Die Eltern, die zu uns kommen, kommen<br />

mit ihren eigenen Kindern. Eltern sehen natürlich auch,<br />

wie andere mit ihren Kindern umgehen. Dieses Hinsehen<br />

ist ein wichtiger Lernfaktor, den darf man nicht vernachlässigen.<br />

Lernen geschieht, ohne dass man Eltern Vorschriften<br />

über das macht, was man nicht darf.<br />

TN: Ich komme vom Nachbarschaftszentrum „Bürger für<br />

Bürger“ aus Berlin-Mitte. Unser Projekt hat einen ganz interessanten<br />

Standort, ich bin genau zwischen zwei Sozialräumen.<br />

Links von mir ist der Wedding mit einer ähnlichen<br />

Problematik wie in Kreuzberg oder Neukölln. Rechts von<br />

mir ist Alt-Mitte, was in den letzten Jahren durch Sanierungsmaßnahmen<br />

zunehmend ein voller Sozialraum geworden<br />

ist, wo viele junge Familien wohnen. Auch von der<br />

Einkommenslage her treffen da manchmal zwei Welten<br />

aufeinander.<br />

Bei dem niedrig schwelligen Angebot Mutter-Kind-Gruppe<br />

habe ich bisher dieses Jahr überwiegend studierte Mütter<br />

gehabt, die mit ihren Kindern bis ca. 2 Jahre kommen.<br />

Das hat sehr gut funktioniert, weil die gerne so einen Treff<br />

haben wollten, wo sie sich austauschen und gegenseitig<br />

helfen können. Dann haben wir noch einen anderen in<br />

Angriff genommen. Wir haben unter anderem ein Angebot<br />

für Nachhilfeunterricht für Schüler, davon haben inzwischen<br />

95 % einen Migrationshintergrund. Die Eltern,<br />

deren Kinder zu uns kommen, haben überwiegend ein<br />

großes Interesse daran, dass ihre Kinder alle Chancen<br />

haben. Die meisten kümmern sich sehr engagiert. Sie<br />

versuchen ihre Kinder nach Mitte in die Schule zu kriegen,<br />

weil sie eben nicht möchten, dass die Kinder mit 90<br />

oder 95 % Anteil Kindern nichtdeutscher Herkunft in eine<br />

Klasse gehen. Wir wollen jetzt ein Angebot entwickeln, wo<br />

Eltern und ihre Kinder am Nachmittag einmal pro Woche<br />

zum gemeinsamen Spielen kommen können. Gibt es dazu<br />

schon Erfahrungen in der Altersgruppe der Schulkinder?<br />

Denn wir haben bemerkt, dass Eltern trotz allem ihre Kinder<br />

vor dem Fernseher parken. Die Kinder lesen kaum<br />

zu Hause, die spielen kaum was miteinander, die singen<br />

nicht. Deshalb denken wir, dass da ein Bedarf ist.<br />

Claudia Grass: Wir haben ja auch einen sehr großen Kinder-<br />

und Jugendbereich. Ich weiß, dass es in einzelnen<br />

Schulen mit Ganztagsbetreuung solch ein Angebot gibt.<br />

Es gibt ja auch dieses Projekt FuN, Familie und Nachbarschaft,<br />

das geht in diese Richtung. Da geht es auch darum,<br />

dass Spieleinheiten angeboten werden, weil es auch<br />

stimmt, dass Eltern und Kinder wieder miteinander spielen<br />

lernen müssen.<br />

Meine Frage dabei ist immer: Ja, kommen die dann? Wie<br />

muss man das verpacken, wie muss das Schleifchen aussehen,<br />

damit sie auch wirklich kommen? Wenn man jetzt<br />

ausschreibt, dass Eltern mit ihren Kindern zum Spielen<br />

kommen können, da wüsste ich nicht, ob sich die Eltern<br />

davon angesprochen fühlen oder nicht. Wir Sozialpädagogen<br />

denken, das ist ein offensichtlicher Bedarf, aber diejenigen,<br />

die den Bedarf haben, die wissen manchmal gar<br />

nicht, dass sie diesen Bedarf haben.<br />

TN: Die meisten Leute, die zu uns kommen, planen ihre<br />

Zeit nicht besonders, d.h., sie kommen spontan. Das erfordert<br />

von uns Offenheit für diese Spontanität. Wenn wir mal<br />

an bestimmten Tagen sagen, dass wir heute über was informieren,<br />

dann kommen genau die Eltern, die es betrifft.<br />

Das Angebot muss aber mit ihnen gemeinsam entwickelt<br />

werden. Man hört sich um, wo Eltern Bedenken haben,<br />

was sie nicht wissen, worauf sie achten sollten. Ihre Belange<br />

müssen aufgegriffen werden. Das ist kein Programm,<br />

das ich ein halbes Jahr vorher schaffen könnte und einen<br />

Referenten schon lange vorher organisiere. Wenn ein Bedürfnis<br />

da ist, muss es relativ schnell umgesetzt werden,<br />

d.h. ich habe maximal ein bis zwei Wochen Vorlauf. Da<br />

machen wir bestenfalls einen Flyer, damit auch noch drei<br />

andere aus der nächsten Umgebung davon erfahren.<br />

Eine andere Sache ist die Teilnahme von Eltern an unseren<br />

Unternehmungen. Wenn Feste sind, wenn wir einen<br />

Ausflug machen, dürfen Eltern mitkommen, weil die Eltern<br />

bestimmte Erfahrungen genauso wenig wie die Kinder haben.<br />

Wir planen keinen Eltern-Kind-Ausflug, sondern die<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 21


22<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

Mutter von einem Kind hat spontan Lust mitzukommen.<br />

Wenn ein Platz frei ist, kann sie kommen. Sie riskiert es<br />

also auch, dass sie dann nicht mitgenommen wird. Wenn<br />

wir für die Kita einen Bus gebucht haben, wenn die Schularbeitsgruppe<br />

in den Ferien ins Museum geht und in die<br />

Führung passen nur 20 Leute, dann können eben nicht<br />

15 Eltern mit, sondern nur die, die einen freien Platz bekommen.<br />

Das Niedrigschwellige bringt es mit sich, zunächst mit dieser<br />

Flexibilität umzugehen, um allmählich dahin zu kommen:<br />

wir müssten uns mal verabreden. Oder dass ich sagen<br />

kann: am Freitag habe ich genug Helfer da, es macht<br />

jetzt einer der Erzieher die Betreuung der Schularbeitshilfe,<br />

da habe ich Zeit, mit euch zu sitzen. So stellen sich<br />

Kontakte leicht her, aber nicht auf der Ebene von Verbindlichkeit<br />

mit festem Programm. Über die Flexibilität kommt<br />

mit der Zeit eine Kontinuität da rein.<br />

TN: Wir sind eine pädagogische Einrichtung am Kotti. Wir<br />

machen einmal im Monat Lesen und eine Spielstraße. Wir<br />

haben festgestellt, dass wir das nur in den Wintermonaten<br />

machen können, weil in den Sommermonaten keiner<br />

kommt. Während es in den Wintermonaten sehr gut angenommen<br />

wird. Wir arbeiten mit der Bücherei am Kottbusser<br />

Tor zusammen. Die stellen uns Bücher und die<br />

Materialien zur Verfügung. Nächste Woche haben wir Märchentage<br />

und wir machen einen Teil davon, für Kinder aus<br />

der Umgebung. Wir<br />

arbeiten auch mit<br />

den Schulen. Leute<br />

von uns machen in<br />

der Jens-Nydahl-<br />

Grundschule die<br />

Schulstation, in der<br />

Nürtingen-Grundschule<br />

haben wir<br />

das Schülerhaus,<br />

mit dem wir kooperieren.<br />

Die stellen die Spiele zur Verfügung, die man<br />

ausprobieren kann. Natürlich kommen mehr Schüler als<br />

Eltern, das ist klar, aber auf diese Weise erreichen wir<br />

auch Eltern.<br />

Im Frühjahr ist dann hierfür kaum ein Bedarf vorhanden,<br />

so dass wir diese Angebote einfach eingestellt haben. Aber<br />

diese Kooperationen mit der Bücherei und mit den Schulstationen<br />

funktionieren gut und sind auch erfolgreich.<br />

TN: Sie sagten, dass Sie Kindern die Teilnahme an einem<br />

Museumsbesuch oder an Ausflügen ermöglichen und stellen<br />

Eltern, die selber so was noch nie gesehen haben, frei,<br />

dass sie auch mitgehen. Ich finde es ganz wichtig, dass<br />

auch Eltern einen Bezug dazu bekommen. Und der Bedarf<br />

ist da.<br />

TN: In ein Museum zu gehen, das kostet aber Geld. Ich<br />

bin mit den Kindern immer im Dahlemer Museum gewesen,<br />

mindestens einmal im Monat. Das kann ich mir gar<br />

nicht mehr leisten, weil die Eintrittspreise so hoch sind. In<br />

Amerika ist es selbstverständlich, dass Familien einfach<br />

ins Museum reingehen, da wird kein Geld genommen. Und<br />

hier ist es üblich, dass immer bezahlt wird. In den Sommermonaten<br />

können die Familien ohne Geld gar nichts<br />

unternehmen.<br />

TN: Ich habe Sponsoren gefunden, die es in den letzten<br />

drei Jahren erreicht haben, dass der Museumsbesuch für<br />

Kinder unter 18 Jahren frei ist. Da Bildung in aller Munde<br />

ist, muss man einfach einen Vorstoß machen, um solche<br />

Dinge gemeinsam mit Sponsoren oder der Stadt zu bewerkstelligen.<br />

Und Donnerstags haben die meisten Städtischen<br />

Museen in Berlin von 18 bis 22 Uhr freien Eintritt.<br />

TN: Es hat sich bei unserem Nachbarschaftshaus bewährt,<br />

dass wir einen großen Garten haben. Da haben<br />

wir ein Schwimmbecken für die Kinder, da kommen auch<br />

spontan Leute mit ihren Kindern, wenn sie gerade vorbeigehen.<br />

Das ist aber wirklich ein Angebot für Familien, nicht<br />

für einzelne Kinder. Dadurch schließen wir manche Kinder<br />

aus, aber wir erreichen die Familien.<br />

Wichtig ist aber auch das Rausgehen aus dem Familienzentrum.<br />

Wir gehen einmal in der Woche in die Turnhalle<br />

und machen Familiensport, weil es keinen Familiensport<br />

für 1 ½-Jährige bis 4-Jährige gibt. Aber wir wollen eben<br />

gesunde Aktivitäten von Anfang an. Die Kinder fordern


das ein und die Eltern machen nach und nach auch mit.<br />

Weil auch da gilt, nur im Familienverbund gehen wir in die<br />

Turnhalle. Wir fahren mit den Familien weg. In der letzten<br />

Stadtteilkonferenz haben wir über den Bürgerhaushalt<br />

ein Projekt Familienhilfe geschaffen, da kriegen Familien<br />

eine Fahrradwerkstatt. Also wenn wir das Geld für eine Familienferienfahrt<br />

nicht zusammenkriegen, bieten wir die<br />

Fahrräder an, damit die Eltern das Grundstück verlassen<br />

und gucken können, was im Umfeld ist. So schaffen wir<br />

den Zugang für Mütter und Väter.<br />

Theo Fontana: Wir kommen jetzt zum nächsten Impulsreferat,<br />

zu dem Projekt Stadtteilmütter in Berlin-Neukölln.<br />

Dorothee Peter: Ich bin eine der Koordinatoren von dem<br />

Stadtteil e.V. Insgesamt sind wir sechs Koordinatorinnen.<br />

Die Stadtteilmütter starteten 2004 als kleines Projekt im<br />

Schillerkiez in Neukölln, mit unserer Projektleitung. Es<br />

wurden drei Kurse angeboten, zwei türkischsprachige Kurse,<br />

den dritten Kurs deutschsprachig. Das Projekt wurde<br />

evaluiert und parallel wurden Befragungen in den Kitas<br />

und Schulen duchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass<br />

50 % der Migrantenkinder unter 6 Jahren in Neukölln nicht<br />

in die Kita gehen, d.h. 50 % der Kinder unter 6 Jahren<br />

waren zu Hause.<br />

Parallel wurden zahlreiche Defizite festgestellt in Familien<br />

mit Migrationshintergrund, das heißt, Sprachdefizite, gerade<br />

in den türkisch- und arabischsprachigen Familien.<br />

Es begann als Pilotprojekt und im September 2006 ist<br />

das Projekt in die Modellphase gegangen. Das heißt, wir<br />

wurden angestellt, drei arabischsprachige und drei türkischsprachige<br />

Koordinatorinnen, wovon eine wieder ausgeschieden<br />

ist. Wir wurden dann in die Quartiersgebiete<br />

eingeteilt, ich bin für den Körnerpark zuständig und für<br />

das Rollbergviertel.<br />

Es gibt die Sprachschwierigkeiten der Kinder und eben<br />

die Überforderung der Eltern. Im Schillerkiez war der erste<br />

Kurs zur Ausbildung von Stadtteilmüttern so angelegt,<br />

dass gerade Mütter an diesem Kurs teilgenommen haben,<br />

die weniger als fünf Jahre in Deutschland leben, daher<br />

fast nur türkisch sprachen.<br />

Das Vorbild für unser Projekt kam aus Rotterdam. Wir haben<br />

es abgewandelt für die Arbeit mit Müttern. Die Kinder<br />

sind gar nicht mit dabei, sondern die Mütter sollen ohne<br />

die Kinder erreicht werden. Ich habe jetzt zwei Kurse gemacht,<br />

betreue insgesamt 19 Frauen. Insgesamt haben<br />

wir 140 Stadtteilmütter für die neun Quartiersgebiete ausgebildet.<br />

93 von ihnen sind in einer ÖBS-Maßnahme 30<br />

Stunden lang beschäftigt. 40 dieser 140 Mütter arbeiten<br />

auf Honorarbasis.<br />

Diese Stadtteilmütter wurden erst einmal zusammengesucht.<br />

Jede Koordinatorin war in ihrem eigenen Quartiersgebiet<br />

dafür zuständig, dass sie bestimmte Frauen akquiriert.<br />

Ich bin in die Kitas und Schulen gegangen, überall<br />

dorthin, wo sich Frauen treffen, Frauenfrühstück, auch in<br />

die Beratungsstellen, habe in Wartezimmern Platz genommen,<br />

geguckt, wo es Schulstationen gibt, um herauszufinden,<br />

wo die Mütter überhaupt sind. Es mussten Frauen<br />

sein, zu 80 % türkisch-arabischsprachig, weil das Projekt<br />

so angelegt war, bis 20 % durften es Frauen mit einem<br />

anderen Migrationshintergrund sein, d.h. auch polnische,<br />

russische, tamilische Frauen. Wir durften ausnahmsweise<br />

auch deutsche Mütter zu den Kursen einladen, aber nur,<br />

wenn sie noch mit einem Fuß in einer arabisch-türkischen<br />

Migrantenfamilie sind.<br />

Wir konzentrieren uns auf arabische und türkische Familien,<br />

deren Problematik war ja vor einigen Jahren in den<br />

Medien. Gewalt hat eine große Rolle gespielt, Sprachdefizite<br />

usw., die Kinder kommen in die Schule und können<br />

kein Deutsch. Das war mitunter ein Grund für die Senatsverwaltung,<br />

das Bezirksamt und für das Jobcenter Neukölln<br />

mit der Diakonie Oberspree-Neukölln, wo ich auch<br />

angestellt bin, wir sind die Träger, in Kooperation zu gehen<br />

und dieses Projekt als Pilotprojekt zu starten.<br />

Es ging zunächst darum, geeignete Mütter zu finden. Es<br />

müssen Mütter sein, weil „Stadtteilmütter“ nun mal der<br />

Oberbegriff ist. Es gab natürlich sehr viele Anfragen von<br />

Frauen, die auch Deutschkenntnisse und teilweise auch<br />

eine gute Schulbildung hatten, die auch hier aufgewachsen<br />

sind, aber unser Konzept war, dass es Mütter sein<br />

mussten, die zum größten Teil arbeitslos sein oder arbeitslos<br />

gemeldet sein mussten, weil sie sonst nicht in diese<br />

ÖSB-Maßnahme gepasst hätten. Alle anderen, wo der<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 23


24<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

Ehemann arbeitet und sie auch in Teilzeitbeschäftigung<br />

ist, dürfen als Honorarkräfte arbeiten. Das heißt, nach der<br />

Ausbildung zu Stadtteilmüttern dürfen sie zu einer Mutter<br />

gehen, die ein Kind unter 6 Jahren hat. Das heißt, sie haben<br />

bestimmte Grenzen einzuhalten.<br />

Das Konzept ist so angelegt: Migrationshintergrund muss<br />

gegeben sein, die Familien, die aufgesucht werden, müssen<br />

mindestens ein Kind zwischen 0 und 6 Jahren haben.<br />

Die dritte Bedingung ist, sie muss in den Quartiersgebieten<br />

wohnen, wo die Stadtteilmutter tätig ist.<br />

Das wird sich nächstes Jahr vermutlich ändern, wir warten<br />

noch drauf. Ganz wichtig ist auch, die Stadtteilmütter sind<br />

sechs Monate lang von ihrer jeweiligen Koordinatorin qualifiziert<br />

worden, also ich habe, wie gesagt, zwei Durchläufe<br />

gemacht, 2006 und 2007. Das hat ein halbes Jahr gedauert,<br />

zwei Mal in der Woche, je vier Stunden, dienstags und<br />

donnerstags, im Nachbarschaftsheim Neukölln.<br />

Dort haben wir die Ausbildung gemacht, parallel dazu haben<br />

wir Referenten und Experten eingeladen, haben die<br />

vernetzt mit den Schulen und Kitas, aber natürlich auch<br />

mit dem Kinderschutzbund, mit der Suchtberatungsstelle<br />

und auch mit Wildwasser, weil auch Missbrauch an Mädchen<br />

ein Problem ist. Wir arbeiten eng zusammen mit der<br />

Integrationsbeauftragten, mit der Gleichstellungsbeauftragten,<br />

mit Behindertenbeauftragten, also wir sind mit<br />

diversen Institutionen und Vereinen vernetzt. Jede Koordinatorin<br />

für sich muss dafür sorgen, dass sie mit dem<br />

eigenen Quartiersmanagement vernetzt ist und mit allen<br />

Institutionen, die es dort gibt. Wo gibt es Hausaufgabenhilfe?<br />

Wo gibt es Beratungsstellen? Wo findet die Familie<br />

das, wofür sie Bedarf hat? Das kann natürlich auch ein<br />

Angebot für kostenlosen Musikunterricht sein.<br />

Wir wollen gerade an die Familien rankommen, die eben<br />

nicht aus der Mittelschicht sind. Vornehmlich ist es so,<br />

dass die Stadtteilmütter selber nicht aus der Mittelschicht<br />

kommen, zum größten Teil sind die Frauen Heirats-Migrantinnen.<br />

Natürlich haben wir auch welche, die hier geboren<br />

sind, Kopftuchträgerinnen, oder eben angereist sind aus<br />

anderen Ländern, aus den verschiedensten Situationen<br />

heraus. Das heißt, für die ÖBS-Maßnahme musste der erste<br />

Arbeitsmarkt verwehrt sein, sonst hätten sie gar nicht<br />

in das Programm gekonnt.<br />

Wir hatten anfangs150 Frauen. Einige Stadtteilmütter sind<br />

uns – Gott sei Dank – verloren gegangen, weil sie Arbeit in<br />

ihren alten Berufen gefunden haben. Das freut uns natürlich.<br />

Jede Stadtteilmutter, die bei uns bleibt, das freut uns<br />

natürlich auch, weil sie 30 Stunden lang als Stadtteilmutter<br />

arbeitet und versucht, die Familien zu erreichen, die<br />

nirgends hingehen, auch nicht zu einer Beratungsstelle.<br />

Wir gehen zu diesen Frauen.<br />

Die Stadtteilmütter arbeiten genauso wie ich auch gearbeitet<br />

habe, um die Frauen selber zu finden. Sie gehen überall<br />

hin, auch ins Nachbarschaftsheim, da war ich auch und<br />

habe dort Stadtteilmütter gefunden, die ich dann ausgebildet<br />

habe. Nachdem die Stadtteilmütter dann ausgebildet<br />

worden waren, haben die genau dasselbe gemacht wie<br />

zuvor ich. Sie gehen jetzt auch in die Kitas, in die Frauengruppen,<br />

die es überall gibt, sie gehen aber auch auf Spielplätze,<br />

zum Kinderarzt, zum Frauenarzt, sie gehen überall<br />

hin, auch ins Einkaufszentrum. Sie arbeiten auch eng mit<br />

unserer Bücherei zusammen, gehen öfter mal dahin, gucken,<br />

ob sie da Mütter treffen und sprechen sie an. Sie<br />

müssen natürlich abfragen, wo sie wohnt, um zu sehen, ob<br />

sie überhaupt infrage kommt. Dann müssen wir natürlich<br />

auch abfragen, ob sie ein Kind zwischen 0 und 6 Jahren<br />

hat. Wir nehmen auch an allen Festen im Kiez teil, so was<br />

wie 48-Stunden-Neukölln, machen unsere eigenen Kiezfeste<br />

natürlich. Bei allem was es gibt, sind wir präsent.<br />

Die Stadtteilmütter haben immer einen Stand mit ihren Flyern,<br />

im besten Fall haben wir auch türkische Spezialitäten,<br />

bieten auch Spiele für die Kinder an, damit die Mütter stehen<br />

bleiben, sprechen sie an. Die Stadtteilmütter haben<br />

ihren roten Schal an, ihre Tasche mit dem Stadtteilmütter-Logo<br />

drauf, sie gehen durch die Straßen und werben<br />

dafür, dass sie mit Informationen zur Verfügung stehen.<br />

In der Ausbildung gab es zehn Themen, zum Beispiel gesunde<br />

Ernährung, Kita-System in Berlin, Schul-System in<br />

Berlin, Suchtvorbeugung. Unser Hauptpunkt ist der Konsum<br />

von Zigaretten, was in diesen Familien ganz problematisch<br />

ist. Es wird überall geraucht, egal ob kleine oder<br />

größere Kinder im Raum sind. Unser Problem sind natürlich<br />

auch Jugendliche. Die Stadtteilmütter sind mit mir zur<br />

Suchtberatungsstelle gegangen, bei Bedarf vermitteln wir<br />

dann auch dahin.


Medien, das ist ein ganz großes Thema, insbesondere das<br />

Fernsehen und Videos. Natürlich auch die Rolle des Spiels,<br />

weil das in den Familien verloren geht, weil die Eltern nicht<br />

in der Lage sind, mit den Kindern zu spielen.<br />

Wir haben zehn Ordner, mit denen wir arbeiten. Damit<br />

habe ich auch im Unterricht gearbeitet. In diesen Ordnern<br />

sind die verschiedensten Flyer und Broschüren von ganz<br />

unterschiedlichen Institutionen drin, Krankenkasse, Unfallkasse<br />

etc. Diese Informationen bestellen wir aus dem<br />

ganzen Land und stellen sie als Mappe zusammen. Der<br />

11. Ordner ist ein Adressenordner bzw. der Kiez-Ordner,<br />

das heißt, jedes Gebiet hat einen eigenen kleinen Ordner<br />

mit den Adressen, was es in dem jeweiligen Kiez gibt.<br />

Ein Teil der Ausbildung zu Stadtteilmüttern bestand darin,<br />

die Beratungsstellen aufzusuchen. Natürlich haben wir<br />

auch mal zwischendurch Feste mit den Frauen gefeiert,<br />

um sie einfach zu stärken. Wir machen auch einmal im<br />

Monat Ausflüge. Wir haben uns erst mal Neukölln angeguckt,<br />

was es alles in der Umgebung gibt. Inzwischen<br />

gehen wir auch mal woanders hin. Aber das müssen wir<br />

finanzieren, weil die Frauen nicht die Mittel dafür haben.<br />

Wir hatten auch Frauen, die noch nie im Kino waren, wir<br />

waren auch bowlen. Das ist ein Hit, sage ich Ihnen. Auf<br />

jeden Fall ist es wunderbar zu sehen, dass die Frauen, die<br />

vor fünf oder acht Jahren angereist sind und wirklich nur<br />

in ihrem eigenen Raum waren, durch die Ausflüge so ein<br />

Selbstbewusstsein gewonnen haben. Es ist erstaunlich,<br />

das zu beobachten. Die Gruppen, die ich habe, gehen natürlich<br />

nicht verloren, die erste kenne ich seit 3 ½ Jahren,<br />

die andere seit 1 ½ Jahren.<br />

Das ist zu einer Gesamtgruppe geworden, weil sie nach<br />

der Ausbildung einmal in der Woche Teamsitzung haben,<br />

Gesamt-Team. Dann haben wir auch den Frauentreff, der<br />

im Nachbarschaftsheim stattfindet, jeweils am Mittwochvormittag,<br />

ohne Kinder. Auch die Teamsitzung findet ohne<br />

Kinder statt, das heißt, wenn die Kinder mal krank sind,<br />

dann können die Frauen vielleicht nicht kommen. Über<br />

das, was sie in den Familien erleben, können sie sich mit<br />

den Kolleginnen austauschen.<br />

Sie sind 30 Stunden pro Woche beschäftigt als Stadtteilmutter.<br />

Diese 30 Stunden sind fest gegliedert in einen<br />

Stundenplan. 10 Stunden in der Woche machen sie Familienbesuche.<br />

Sie sprechen mit einer Mutter z.B. über<br />

Unfallvorbereitung, wie das funktioniert. Wenn Bedarf ist,<br />

lässt sie Flyer oder<br />

Broschüren da.<br />

Wenn die Mutter<br />

kein Deutsch<br />

spricht, wird alles<br />

wieder mitgenommen<br />

und nur das,<br />

was wir muttersprachlich<br />

haben,<br />

wird dagelassen.<br />

Es ist so, dass wir<br />

nicht beraten, es ist keine Einzelfallhilfe, es ist einfach nur<br />

die Weitergabe von Informationen und ein Austausch.<br />

Die Stadtteilmutter ist einfach dazu da, dass sie sich als<br />

Mutter mit einer Mutter austauscht, die ihre Wohnung<br />

kaum verlässt. Das ist bei 70 bis 80 % der Fall. Die Stadtteilmutter<br />

geht in ihre eigene Umgebung und guckt, wen<br />

habe ich als Nachbarn, wer geht in den Straßen spazieren,<br />

wer sitzt am Spielplatz und spielt da, welche Kinder sind<br />

da zusammen? Und sie spricht die Mütter an. Das sind<br />

dann nicht die Mütter, die von sich aus interessiert und<br />

aufgeschlossen sind.<br />

Die Stadtteilmütter werden 6 Stunden in der Woche qualifiziert<br />

und zwar beim Beschäftigungsträger, wo sie angestellt<br />

sind. Das heißt, der Arbeitgeber ist ein anderer,<br />

der Träger ist ein anderer, Geldgeber sind wieder andere,<br />

es ist also ziemlich kompliziert in Neukölln gegliedert. Ich<br />

denke, in den anderen Bezirken ist das anders. Wir werden<br />

jetzt ja auch kopiert. Es gibt inzwischen 28 Stadtteilmütter<br />

in Kreuzberg. Und in Steglitz läuft gerade ein Kurs, es soll<br />

auch in anderen Bezirken noch geplant sein.<br />

Nach der Ausbildung bleiben die Stadtteilmütter zusammen<br />

und arbeiten auch gemeinsam 30 Stunden in der<br />

Woche. Sie sind in einem festen Rhythmus, gehen ihrer<br />

Beschäftigung nach, tauschen sich weiterhin aus und sollen<br />

auch mit den Institutionen in Kontakt bleiben. Seit ein<br />

paar Monaten sind wir auch dabei, einige Stadtteilmütter<br />

in den Schulstationen und in den Kitas zu verankern. Das<br />

heißt, die stehen auch jeweils eine Stunde lang mit einem<br />

Tisch und ihren Flyern vor den Kitas, in den Kitas, dahin-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 25


26<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

ter ein Plakat mit den Themen. Sie sprechen Mütter an,<br />

möchtest du mit mir sprechen über diese Themen? Spielt<br />

dein Kind nur alleine mit sich oder sieht es nur fern?<br />

Nachdem die Stadtteilmutter den Kontakt hat, trifft sie<br />

sich 10 Mal über jeweils 2 Stunden mit der Mutter. Wenn<br />

das nicht in der Wohnung stattfinden kann, dann haben<br />

wir auch Ausweichmöglichkeiten.<br />

Manchmal ist der<br />

Ehemann arbeitslos, liegt<br />

auf der Couch, die Schwiegermutter<br />

ist noch da, dann<br />

geht es nicht. Es gibt dann<br />

auch Kitas, natürlich auch<br />

das Nachbarschaftsheim,<br />

wo wir immer Räume zur<br />

Verfügung gestellt bekommen.<br />

Dafür sind wir sehr<br />

dankbar, weil wir sonst den<br />

Kontakt verlieren würden.<br />

In dem Moment, wo die<br />

Frau sagt: Nein, mein Mann<br />

möchte nicht, dass irgendjemand<br />

kommt, das ist einfach nichts für mich, können<br />

wir andere Räume in den Quartieren anbieten, wo wir uns<br />

in Ruhe unterhalten können. Natürlich auch in die Bibliothek,<br />

sie gehen aber auch gerne in Cafés.<br />

Die Stadtteilmütter sind sorgfältig ausgewählt worden.<br />

Jede Koordinatorin hatte für sich die Aufgabe, bestimmte<br />

Frauen auszuwählen. Sie musste natürlich reflektieren,<br />

ich musste auch selektieren, genauso wie meine Kolleginnen<br />

auch. Ich hatte eine Anzahl von 23 Frauen, nur 13<br />

Frauen haben das Zertifikat von mir erhalten – aus den<br />

verschiedensten Gründen, Schwangerschaft oder sie war<br />

nicht reflektiert, bestimmte Sätze sind im Unterricht gefallen,<br />

die im Einvernehmen mit der Demokratie nicht akzeptabel<br />

sind. Das geht natürlich gar nicht, solche Stadtteilmütter<br />

brauchen wir nicht, die im Auftrag des Bezirkes<br />

arbeiten und dann bestimmte Prinzipien vertreten, die wir<br />

als Diakonie, aber auch als demokratische Bürger, nicht<br />

vertreten können.<br />

Das sind die 10 Themen, über die wir 6 Monate gearbeitet<br />

haben, worüber auch die Stadtteilmütter sich weiter<br />

mit den Familien austauschen. Es gibt eine Qualifizierung<br />

PC, die läuft jetzt auch wieder.<br />

TN: Das Projekt hängt mit dem Nachbarschaftsheim Neukölln<br />

zusammen, die Ausbildung wird bei uns gemacht,<br />

dadurch sind die Stadtteilmütter selber mit dem Nachbarschaftsheim<br />

vertraut geworden, kennen die Einrichtung<br />

und haben eine Verbindung zu uns. Wir haben bei uns in<br />

der Einrichtung das Zuckerfest zusammen mit den Stadtteilmüttern<br />

gefeiert. Das war sehr schön. Dadurch bekommen<br />

wir auch Besuch von Müttern, die wir sonst nicht erreichen<br />

würden.<br />

Wir haben im Bereich Familienbildung auch Informationsveranstaltungen,<br />

zum Beispiel zu dem Thema Umstellung<br />

vom Stillen zu fester Nahrung. Da waren die Eltern aus<br />

den Eltern-Kind-Gruppen, die Stadtteilmütter als Multiplikatoren,<br />

aber auch Mütter, die die Stadtteilmütter mitgebracht<br />

haben. Mit ihrer Hilfe hatten wir da eine ganz gute<br />

Mischung zustande gekriegt.<br />

Weil wir festgestellt haben, dass wenige türkische und<br />

arabische Mütter sich an Eltern-Kind-Gruppen, PEKiP-<br />

Gruppen, etc. beteiligen, wollen wir jetzt noch zwei zweisprachige<br />

Gruppen anbieten, deutsch-arabisch und<br />

deutsch-türkisch, die jeweils von einer Stadtteilmutter und<br />

einer Kursleiterin betreut werden. Einerseits können wir<br />

es dann zweisprachig bieten, andererseits die Kontakte<br />

der Stadtteilmütter nutzen.<br />

Dorothee Parker: Ich kann noch ergänzen, dass wir in diesen<br />

2 ½ Jahren ca. 1.300 Familien erreicht haben. Unser<br />

Ziel waren 1.500 Familien.<br />

Theo Fontana: Sie haben ein niedrig schwelliges Angebot<br />

beschrieben, das trotzdem sehr strukturiert wirkt und sehr<br />

professionell aufgezogen ist. Das muss offenbar kein Widerspruch<br />

sein.<br />

TN: Ich habe das Projekt durch die Medien verfolgt. Mich<br />

interessiert, was passiert jetzt, wenn die ÖBS-Finanzierung<br />

endet? Wie geht es dann weiter? Der Bedarf wird ja<br />

nicht weniger, wenn die Familien ein paar Mal aufgesucht<br />

worden sind.


Dorothee Parker: Die Familien werden 10 Mal aufgesucht<br />

und die Mütter sind angehalten, zu dem offenen Frauentreff<br />

mittwochs zu kommen. Das heißt, einmal pro Woche<br />

sind wir drei Stunden im Nachbarschaftsheim. Wir haben<br />

ein Programm, man kann regelmäßig mit uns frühstücken,<br />

jede zweite Woche gibt es ein Treffen, bei dem über ein<br />

bestimmtes Thema diskutiert wird. Oder wir gehen in eine<br />

bestimmte Einrichtung. Und in der vierten Woche im Monat<br />

machen wir einen Ausflug. Das heißt, die Frauen werden<br />

ja auf verschiedene Weise interessiert. Wir feiern da<br />

auch Feste, es muss kein Ausflug sein. Wir hatten einen<br />

Tanzabend … wir dachten, das ganze Nachbarschaftsheim<br />

stürzt zusammen. Ich weiß nicht, wo die alle her kamen,<br />

es war brechend voll. Seit wir ein bestimmtes Thema haben,<br />

das viele interessiert, weiß ich nicht, von woher die<br />

alle anstürmen.<br />

Der Kontakt zu den Frauen bzw. zu diesen Müttern geht nicht<br />

verloren. Manche Stadtteilmütter verzweifeln schon, weil alle<br />

Frauen, die sie besucht haben, immer noch an ihnen hängen<br />

wie Kletten. Es ist dann meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass<br />

sich eine gewisse Barriere aufbaut. Denn es geht natürlich<br />

nicht, dass 20 Familien jeden Tag bei den Stadtteilmüttern<br />

anrufen. Unser Ziel ist, dass sie eben selber dorthin finden<br />

wo sie sich beraten lassen können und nicht nur immer an<br />

der Stadtteilmutter hängen. Das heißt, sie wissen, es gibt in<br />

ihrer Nähe verschiedene Stellen, wo sich Frauen treffen. Im<br />

QM gibt es auch Frauenfrühstück, im Nachbar-QM treffen sich<br />

Frauengruppen, dort können sie auch hingehen. Denn sie sollen<br />

ja alleine aus ihren Haushalten rausgehen.<br />

TN: Ist das Projekt befristet?<br />

Dorothee Parker: Bis Ende <strong>2009</strong> ist es finanziert, das<br />

ist keine Regelfinanzierung, aber das Modellprojekt läuft<br />

natürlich aus. Die Verlängerung für die Stadtteilmütter ist<br />

gelaufen, für uns Koordinatorinnen ist die Verlängerung<br />

leider noch nicht durch, aber ich gehe davon aus, dass<br />

wir auch verlängert werden, denn was sollten die Stadtteilmütter<br />

ohne uns machen?<br />

TN: Die werden selbstständig.<br />

Dorothee Parker: Ja, das wollen sie aber nicht. Und<br />

natürlich überwachen wir diese 24 Stunden Arbeit, die<br />

sie leisten. Es gibt Stundenzettel und ich überprüfe für<br />

meine Teamfrauen, wo waren sie, was haben sie gemacht,<br />

waren sie in der Qualifizierung, kommen sie in<br />

die Teamsitzung, waren sie in der Kita xy. Die 6 Stunden<br />

überwacht der Beschäftigungsträger. Aus meiner Sicht<br />

kann es nicht sein, dass sie ohne pädagogische Leitung<br />

arbeiten. Und sie müssen ja auch irgendwo ihre Sorgen<br />

loswerden.<br />

TN: Ich komme aus Freiburg im Schwarzwald. Ich mache<br />

seit 10 Jahren Kinder- und Jugendarbeit. Wir haben einen<br />

neuen Stadtteiltreff in einem neu gebauten Stadtteil, der<br />

heißt Rieselfeld. Der ist für 12.000 Menschen ausgelegt<br />

und es gibt ihn seit 10 Jahren. Das ist sehr spannend,<br />

weil ich eben von Anfang an mit konzipieren und aufbauen<br />

konnte. Der Stadtteiltreff wird auf Erwachsenenebene<br />

nicht von vielen Migranten besucht, die sich im Stadtteiltreff<br />

engagieren, sondern es kommen eher die Kinder zu<br />

uns. Wir haben 100 Ehrenamtliche, das sind auch eher<br />

keine Migranten. Migranten sind eher angestellt, zum<br />

Beispiel im Gastronomiebereich. Wir haben Mittagstisch,<br />

auch mit Café und Anlaufstelle.<br />

Wir haben ein türkisches Fest veranstaltet, weil diese Zielgruppe<br />

nicht so zu uns ins Haus kommt. Dazu waren etwa<br />

17 türkische Frauen gekommen. Bei Ihrem Projekt würde<br />

mich interessieren, wo sind die Berührungspunkte zu Einheimischen<br />

oder zu Nicht-Migranten, sind sie gewünscht<br />

und im Programm verankert?<br />

Dorothee Parker: Die Stadtteilmütter sind im Nachbarschaftszentrum<br />

eingebunden. Sie sind dort vor Ort, etwa<br />

wenn sie die Ausbildung haben. Danach gibt es dort einen<br />

regelmäßigen Treff einmal in der Woche und gemeinsame<br />

Feste oder Veranstaltungen im Garten, also sie sind mit<br />

präsent in dem Stadtteilzentrum an sich, das ja offen ist<br />

für alle anderen auch.<br />

TN: Also findet ein Austausch statt, das wurde noch nicht<br />

so deutlich.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 27


28<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

TN: Er findet auf einer informellen Ebene statt, ist aber<br />

nicht in irgendeiner Form organisiert. Man bringt Gruppen<br />

zusammen, indem man gemeinsam feiert. Wir haben auch<br />

einen Garten, der im Sommer immer geöffnet ist. Ansonsten<br />

haben wir das Kiez-Café, wo sich auch alle treffen. Da<br />

sind zum Teil auch Stadtteilmütter, aber auch viele andere.<br />

Der Austausch ist nicht organisiert und kommt in der<br />

Projektstruktur nicht vor, aber dadurch, dass es an einem<br />

Ort zusammenkommt, ist er möglich.<br />

TN: Aber das ist von Ihnen gewollt, dass es nicht auch<br />

noch ein Aufgabenbereich ist, den Austausch bzw. die Begegnung<br />

zwischen allen zu schaffen?<br />

Dorothee Parker: Unser Problem ist einfach, dass das<br />

Projekt, das von den verschiedenen Kooperationspartnern<br />

unterzeichnet wurde, zwar ein Integrationsprojekt ist.<br />

Das heißt, es ist so angelegt, dass zu 80 % türkisch- und<br />

arabischsprachige Familien erreicht werden müssen, der<br />

Rest ist offen. Rein deutsche Familien dürfen wir nicht aufsuchen,<br />

das ist im Konzept nicht vorgesehen.<br />

TN: Ich glaube, dass man die Parallelgesellschaft nur erreichen<br />

kann, wenn man Begegnungen initiiert. Das Problem<br />

habe ich ja auch, die türkischen Frauen kommen sonst<br />

nicht oder sie kommen nur an ihrem türkischen Fest, dann<br />

trauen sich aber die deutschen Frauen nicht. Über welches<br />

Thema schafft man es, sie zusammenzukriegen?<br />

TN: Ich habe eine Nachfrage. Es ging darum, dass Mütter,<br />

die angesprochen werden, irgendwann innerhalb von zwei<br />

Jahren an Angebote wie Kindergruppen, Nachbarschaftsheim<br />

usw. herangeführt werden. Das geht aber nur, wenn<br />

ich schon in den Gesprächen innerhalb der Familien Anreize<br />

schaffe, dass diese Begegnung auch wirklich von<br />

diesen Familien gewünscht wird. Also der integrative Teil<br />

sozusagen als Idee ebenfalls da ist.<br />

TN: Es ist die Aufgabe jeder einzelnen Koordinatorin für<br />

sich, wie sie mit ihrer eigenen Gruppe umgeht. Das heißt,<br />

wir gehen überall hin. Wir gehen auch mal an einem normalen<br />

Tag in ein Altersheim, wo nur deutsche Menschen<br />

sind. Es geht nicht darum, dass wir nur an bestimmten<br />

Festlichkeiten teilzunehmen, sondern natürlich feiern wir<br />

auch Weihnachten und Ostern und sonstiges. Natürlich<br />

gehen wir auch in bestimmte Räumlichkeiten, wo man als<br />

muslimische Frau niemals hingehen würde, zum Beispiel<br />

in das Jüdische Museum oder in eine Synagoge.<br />

Wir hatten ja vor dem inhaltlichen Beginn der Kurse eine<br />

gewisse Reflektionsphase, in der die Frauen in einer Probephase<br />

waren. Beim ersten Mal brauchte ich zu ihrer<br />

Auswahl acht Wochen, beim zweiten Mal ging das schon<br />

nach vier Wochen. Ich habe also auch gelernt, genauso<br />

wie meine Kolleginnen, wir hatten vorher keine Kurse geleitet.<br />

Wir mussten erst mal durch Fragen und inhaltliche<br />

Diskussionen prüfen, ob diese Frau überhaupt geeignet<br />

ist. Man sieht es ihnen ja nicht an.<br />

Elke Ostwaldt: Mein Thema ist ein anderes. Outreach ist<br />

das Jugendprojekt des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit,<br />

und das Sofja-Projekt, sozialräumliche Familien- und<br />

Jugendarbeit, gehört dazu. Es war zunächst ein Bundesmodellprojekt<br />

der Diakonie, in dem die soziale Integration<br />

von Jugendlichen und deren Multiproblem-Familien verbessert<br />

werden sollte. Die Diakonie hatte sich überlegt,<br />

dass wir eine Kombination aus mobiler Jugendarbeit, das<br />

bin ich, und Familientherapie, das ist mein Kollege vom<br />

Diakonischen Werk, versuchen. Diese beiden ganz unterschiedlichen<br />

Arbeitsansätze wollten wir zusammenstricken,<br />

um auf der einen Seite für die Jugendlichen positive<br />

Effekte dabei herausholen, auf der anderen Seite eine<br />

spürbare Entlastung für die Familien zu schaffen. Das<br />

war die Grundidee. Dieses Bundesmodellprojekt ging von<br />

2003 bis 2006, dabei war ein Standort Treptow-Köpenick.<br />

Ich bin gefragt worden, ob ich mir das vorstellen könnte.<br />

Als man mir diese Idee erklärt hatte, konnte ich es mir<br />

nicht so ganz vorstellen, weil es mir schwierig erschien.<br />

Man muss den Kontakt zu den Jugendlichen, die besondere<br />

Probleme haben, herstellen, das ist okay. Aber dass<br />

man dann als Streetworker in die Familien selbst reingeht<br />

und mit den Jugendlichen und den Familien über ihre Probleme<br />

spricht, in familiärem Rahmen, das konnte ich mir<br />

erst mal nicht so vorstellen.


Das Gute an dem Ganzen war, dass es ein Bundesmodellprojekt<br />

gewesen ist und wir ausprobieren konnten. Wir<br />

hatten also jetzt erst mal nicht so einen Wahnsinnsdruck,<br />

weil nicht gesagt wurde, wir müßten 10 Familien in drei<br />

Jahren aussuchen, sondern wir hatten einen Spielraum.<br />

Das war sehr, sehr wichtig, weil das Grundprinzip von Sofja<br />

ist, dass der Therapeut und die Sozialarbeiterin im Tandem-Team<br />

arbeiten. Das heißt, die Jugendlichen kommen<br />

zwar über mich, aber in die Familien gehen wir immer gemeinsam.<br />

Am Anfang ging es darum, dass sich das Team trifft und<br />

guckt, ob wir überhaupt miteinander arbeiten können.<br />

Dann haben wir uns ein gemeinsames Methodenrepertoire<br />

erarbeitet. Ich musste mich ein bisschen in die<br />

Methoden der aufsuchenden Familientherapie einarbeiten,<br />

insbesondere in die Methodik der Gesprächsführung.<br />

Der Kollege von der Therapie hat sich in die<br />

Sozialraumbegehung eingearbeitet. Wir beide arbeiten<br />

gemeinsam in Oberschöneweide, in einem ziemlich klar<br />

abgegrenzten Kiez, wo wir die Plätze inzwischen kennen,<br />

an denen sich die Jugendlichen aufhalten, wo er<br />

die Problematik von den Jugendlichen kennt. In der Regel<br />

ist es ungewöhnlich, dass Therapeuten zu den Plätzen<br />

der Jugendlichen gehen, damit vertraut sind, die<br />

Lebenswelt der Jugendlichen kennen.<br />

Wir haben uns eine gemeinsame Haltung erarbeitet. Für<br />

mich war es wichtig, dass ich die Parteilichkeit für die<br />

Jugendlichen nach wie vor behalten kann und eine Stimme<br />

für die Jugendlichen habe. Und mein Kollege eben<br />

die Allparteilichkeit hat, d.h. er ist sowohl für die Eltern,<br />

als auch für die Jugendlichen. Und mit dieser Haltung<br />

sind wir auch immer ins Gespräch reingegangen. Das<br />

ist sehr wichtig, weil unsere Erfahrungen zeigen, dass<br />

die Familiengespräche von den Eltern sehr gut genutzt<br />

werden. Aber es gibt immer wieder die Schwierigkeit,<br />

die Jugendlichen an diesen Prozess zu binden, weil da<br />

ja erst mal nicht so sehr viel Spannendes passiert, da<br />

redet man. Das ist für Jugendliche eine ganz schwierige<br />

Sache, sich zu treffen, dann auch noch mit den Eltern,<br />

dann noch in ihrer eigenen Wohnung und über das zu<br />

reden, worüber man sonst nie redet.<br />

Das war die Herausforderung, vor der wir gestanden haben.<br />

Wir haben dann gemeinsame Arbeitsprinzipien festgelegt.<br />

Das sind: Vertraulichkeit, was gesprochen wird,<br />

bleibt in dem Zimmer, in dem es besprochen wird und<br />

dringt nicht nach außen; die Niedrigschwelligkeit und Freiwilligkeit.<br />

Das gilt für die Familien, mit denen wir arbeiten,<br />

und für die Jugendlichen, wir arbeiten nicht im Zwangskontext,<br />

sondern das ist ein freiwilliges Angebot. Die Familie<br />

kann sagen, das ist gut, oder das gefällt uns nicht, wir haben<br />

da die und die Probleme oder wir möchten das nicht.<br />

Aber wenn sich eine Familie auf diesen Prozess einlässt,<br />

dann ist unsere Erfahrung, dass sowohl die Jugendlichen<br />

als auch die Eltern dabei bleiben, bis man eine Lösung für<br />

das Problem hat.<br />

Das ist teilweise sehr anstrengend – für alle Beteiligten,<br />

auch für die Eltern, für die Jugendlichen insbesondere, das<br />

auch auszuhalten. Aber wir haben erlebt, wenn es uns gelingt,<br />

sowohl die Eltern als auch die Jugendlichen an diesen<br />

Prozess zu binden, dann kommen wir zu sehr, sehr guten<br />

Lösungen, zu ganz praktischen Lösungen. Die Sozialarbeit<br />

macht den praktischen Teil, die Therapie, da musste ich<br />

auch noch eine Menge dazulernen, begleitet den therapeutischen<br />

Prozess<br />

und ist dadurch erst<br />

mal nicht so praxisorientiert<br />

angelegt<br />

wie zum Beispiel<br />

meine Arbeit als<br />

Sozialarbeiterin.<br />

Damit hatte ich am<br />

Anfang ein bisschen<br />

zu kämpfen,<br />

bis ich dann gemerkt<br />

habe, welche Effekte das hatte. Das braucht eben<br />

Zeit. Ein therapeutischer Prozess hat ganz andere Zeit als<br />

ein sozialarbeiterischer Prozess.<br />

Dann haben wir gesagt, wichtig ist der Ort. In der Regel<br />

ist es so, dass wir das in dem Zuhause machen.<br />

Aber wenn es gravierende Probleme zwischen den Jugendlichen<br />

und Eltern gibt oder wenn ein Jugendlicher<br />

sagt: ich möchte nicht, dass es in der Wohnung stattfindet,<br />

dann sagen wir, okay. Wir haben einen kleinen<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 29


30<br />

Workshop Einfach gut<br />

Einfach gut<br />

Beratungsraum oder wir nutzen einen ruhigen Raum im<br />

Jugendzentrum, um die Beratungen dort zu machen, damit<br />

die Jugendlichen einen neutralen Raum haben, und<br />

die Eltern auch.<br />

Für mich selber ist dieses Übertreten der Schwelle, also<br />

zu den Jugendlichen in die Wohnung zu gehen, ein sehr<br />

heikles Thema. Ich weiß sowieso schon so viel von denen,<br />

aber das dann auch noch zu sehen, in ihre Intimsphäre<br />

zu gehen, in die Privatsphäre, das war so ein Ding, wo ich<br />

gedacht habe, das ist kaum für mich vorstellbar.<br />

Wir haben 3 ½ Jahre in diesem Bundesmodellprojekt<br />

gearbeitet. Wir haben auch sehr viele Qualifizierungen<br />

gemacht, Supervision. Es haben sich für uns ein paar<br />

Grundsätze herausgestellt: Sofja arbeitet lebenswelt- und<br />

sozialraumorientiert, d.h. Ausgangspunkt unserer Arbeit ist<br />

die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen. Wir arbeiten<br />

lösungs- und ressourcenorientiert, d.h. wir gehen davon<br />

aus, dass in den Familien Ressourcen vorhanden sind. Die<br />

sind verborgen und die Eltern spüren sie vielleicht noch<br />

nicht so, aber man kann sie auf jeden Fall aktivieren. Wir<br />

arbeiten präventiv, d.h. meistens bevor das Kind ganz in<br />

den Brunnen gefallen ist. Und es bietet maßgeblich Hilfe<br />

zur Selbsthilfe.<br />

Das Ziel ist, dass die Familie so gestärkt aus diesem<br />

Prozess rausgeht, dass sie eine Idee davon gekriegt hat,<br />

wie der Weg sein<br />

könnte, Lösungen<br />

zu finden. Das ist<br />

das Ziel. Und dass<br />

man sich in der<br />

Nachbarschaft andere<br />

sucht, Väter,<br />

Mütter, Nachbarn,<br />

die mithelfen können<br />

gemeinsam zu<br />

überlegen, wie sie<br />

an diese Probleme herangehen. Denn Probleme mit Kindern,<br />

ob klein oder groß, ob Jugendliche, haben fast alle<br />

Eltern, egal, ob Mittelschicht-Eltern oder Unterschicht-Eltern.<br />

Es ist ja immer nur die Frage: wie komme ich zu einer<br />

Lösung und welche Wege gibt es?<br />

Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche von 11 bis 17 Jahren<br />

und deren Familien. In der Regel ist es so, dass der<br />

Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen über mich läuft,<br />

das heißt, es ist eine Hilfe, die auf Vertrauen aufbaut. Vertrauen<br />

ist unheimlich wichtig. Das heißt, es gibt den Kontakt,<br />

es ist eine tragfähige Beziehung zu den Jugendlichen<br />

aufgebaut worden. Und wenn ich sehe, die sind soweit und<br />

sagen: Wir haben im Moment so einen Stress zu Hause,<br />

könntest du nicht vermittelnd eingreifen, dann sage ich,<br />

okay, ich komme mit nach Hause und wir gucken mal. Das<br />

ist der Kontakt zu den Jugendlichen, und darüber entsteht<br />

der Kontakt zu den Eltern.<br />

In der Regel ist es so, dass die Eltern so einen Druck haben<br />

– aus den unterschiedlichsten Gründen -, dass sie<br />

ganz schnell eine Lösung finden müssen, und auch bereit<br />

sind, sich darauf einzulassen. Es gibt sehr viele Familien,<br />

die massiv unter Druck stehen. Entweder geht das Kind<br />

nicht mehr zur Schule, die kriegen einen Brief nach dem<br />

anderen von der Schule, sie wissen nicht mehr, wie schaffen<br />

wir es, dass unser Kind wieder zur Schule geht? Der<br />

geht einfach nicht, der schwänzt. Das andere ist natürlich<br />

die Alkohol- und Suchtproblematik, wobei wir die Erfahrung<br />

gemacht haben, bei Jugendlichen, die sehr drogenabhängig<br />

sind, da können wir nichts mehr lösen, da muss<br />

ein anderes Angebot ran. Sofja hat also auch ganz klar<br />

seine Grenzen.<br />

Es sind maßgeblich Probleme innerhalb der Familie, bei<br />

denen man sich hinsetzen muss, weil es so viel Stress<br />

gibt, der Junge oder das Mädchen sind von Zuhause abgehauen,<br />

es gibt keine guten Kontakte mehr untereinander,<br />

das sind so die Probleme, bei denen Eltern sich auf diesen<br />

Prozess einlassen, und wo Jugendliche dann sagen:<br />

vielleicht haben wir ja was davon, dass wir uns auf diesen<br />

Prozess einlassen, vielleicht gibt es eine Lösung für unsere<br />

familiären Probleme.<br />

Nachdem das Modellprojekt ausgelaufen war, wir unsere<br />

Erfahrungen gemacht und auch aufgeschrieben hatten,<br />

hatten wir hier in Treptow-Köpenick das große Glück, dass<br />

dieses Projekt regelfinanziert wird. Es gibt eine Stelle, die<br />

mein Kollege und ich uns teilen, und es arbeiten zwei relativ<br />

große Träger sehr eng miteinander zusammen, was ja<br />

eher ungewöhnlich ist. Die teilen sich jetzt die Gelder. Es


klappt einfach, weil unser Team gut funktioniert. Es gibt<br />

eine Kontinuität seit fünf Jahren, was auch schon Wirkung<br />

hat. Es gibt Sofja jetzt auch in Neukölln, unter teilweise<br />

großen Schwierigkeiten der Kollegen, weil sie dort diese<br />

Vorlaufzeit, die wir hatten, nicht haben.<br />

Wir arbeiten aber nicht nur mit Eltern und Jugendlichen.<br />

Gestern hatten wir eine Runde von Kids. Ein Mädchen hat<br />

mich angerufen, es gab ein Problem, sie wollte nicht, dass<br />

das jetzt mit ihrer Mutter besprochen wird, sondern mit<br />

ihrem Freundeskreis. Der Therapeut war dann damit konfrontiert,<br />

dass da plötzlich zehn Jugendliche saßen, keine<br />

Mutter, die natürlich eine ganz andere Absicht verfolgt.<br />

Eine wichtige Voraussetzung ist weiterhin, dass man sich<br />

auf gleicher Augenhöhe begegnet. Sozialarbeit sagt, okay,<br />

ich akzeptiere das, was die Therapie macht, die Therapie<br />

sagt, okay, das ist nicht nur ein bisschen praktisch vor sich<br />

hingewurstelt, sondern wir akzeptieren uns gegenseitig.<br />

Ganz wichtig ist eine gemeinsame Haltung und gemeinsame<br />

Arbeitsprinzipien, Respekt und Achtung vor den Jugendlichen<br />

und vor den Eltern. Das finde ich ganz wichtig.<br />

Egal, wie manchmal der Umgangston ist. In einigen Familien<br />

muss man ja manchmal wirklich sehr deutlich werden,<br />

auch in Bezug auf Kinderschutz, aber die Familie und die<br />

Jugendlichen sind erst mal so zu nehmen, wie sie sind, wir<br />

haben sie zu respektieren und zu achten. Aber dann sind<br />

auch klare Ansagen zu machen, wenn man Missstände<br />

sieht. Aber das Ziel muss gemeinsam mit ihnen entwickelt<br />

werden. Dass sie das spüren, dass man sie akzeptiert, das<br />

glaube ich schon.<br />

Für mich ist auch dieses Hilfe-zur-Selbsthilfe-Prinzip wichtig.<br />

Es ist ein großes Ziel für mich, Hilfe zur Selbsthilfe zu<br />

leisten und die Familie darin zu bestärken und zu unterstützen,<br />

dass sie sich auch selber helfen können. Dass<br />

sie nicht nur arm und schwach sind, sondern dass sie<br />

durchaus auch Stärken haben. Diese Stärken zu spüren<br />

und zu sehen, sie haben Kompetenz und Fähigkeiten, die<br />

sie nutzen können, dass sie merken, dass sie nicht das<br />

Jugendamt dazu brauchen, sondern es selbst schaffen,<br />

wieder die Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen,<br />

während die Jugendlichen es schaffen, die Verantwortung<br />

für ihr eigenes Leben zu übernehmen.<br />

TN: Ihr entscheidet selbst zusammen mit den Betroffenen,<br />

was ihr zusammen macht? Jugendliche können auf dich<br />

zugehen und sagen: ich habe ein Problem?<br />

Elke Ostwaldt: Auf jeden Fall wird geguckt, wie die Problemlage<br />

ist, ob es auch über mich zu klären ist oder ob<br />

die Eltern mit ins Boot geholt werden müssen. Dieser Prozess<br />

ist schnell und entformalisiert. Es gibt keinen Hilfsplan,<br />

sondern wir können direkt an die Probleme rangehen<br />

und starten. Das ist absolut flexibel.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 31


32<br />

Workshop<br />

Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verschiedene Wege im Kinderschutz<br />

Inputs:<br />

Kirsten Harnisch-Eckert (Wellcome gGmbH Hamburg)<br />

„Das Wellcome-Projekt - praktische Hilfe<br />

für Familien nach der Geburt“<br />

Linda Ortleb (Jugendamt Steglitz-Zehlendorf)<br />

„Alltag und Ansprüche eines Regionalteams<br />

eines Jugendamtes“<br />

Beate Köhn (Fachstelle Berliner Notdienst Kinderschutz)<br />

„Auf Hilfe hinwirken - in Kontakt mit den Eltern“<br />

Moderation:<br />

Willy Essmann<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Ich komme aus Hamburg, aus<br />

der Geschäftsstelle von „Wellcome“, bin dort seit Anfang<br />

des Jahres zuständig für die bundesweiten neuen Teamgründungen<br />

von weiteren Standorten. Zusätzlich bin<br />

ich Familienbildnerin in einer Familienbildungsstätte in<br />

der Nähe von Hamburg und leite dort Eltern-Kind-Kurse.<br />

Ich möchte Ihnen meine Wellcome-Geschichte erzählen.<br />

Ich bin seit 15 Jahren in der Familienbildungsstätte Pinneberg<br />

als Kursleiterin tätig. Das Wellcome-Projekt läuft<br />

seit Ende 2003 in unserer Einrichtung. Als dieses Projekt<br />

entstand, dachte ich mir, das ist super, da engagiere ich<br />

mich, und habe als Ehrenamtliche in einigen Einsätzen<br />

gearbeitet. Nach 1 ½ Jahren wurde die Koordinationsstelle<br />

frei, dann habe ich 2 ½ Jahre dieses Wellcome-<br />

Projekt vor Ort koordiniert. Seit Anfang dieses Jahres<br />

bin ich in der Geschäftsstelle tätig in der Multiplikation.<br />

Was ist Wellcome? Wellcome bedeutet Hilfe von Anfang<br />

an, das Baby ist da, die Freude ist riesig - und nichts<br />

geht mehr. Das ist keine ungewöhnliche Situation. Wer<br />

keine Hilfe hat, bekommt sie von einer ehrenamtlichen<br />

Wellcome-Mitarbeiterin. Wie ein guter Engel wacht sie<br />

über den Schlaf des Babys, spielt mit dem Geschwisterkind,<br />

begleitet zum Arzttermin und hört ganz schlicht<br />

und ergreifend zu, ein ganz wichtiger Punkt, von dem<br />

unsere Ehrenamtlichen bei den Treffen berichten.<br />

Die Hilfe erfolgt total individuell, so wie die Familie die Hilfe<br />

benötigt. Es gibt da keine Grenzen, außer, dass unsere<br />

Ehrenamtlichen keine Haushaltshilfen sind. Wellcome<br />

ist für alle Familien da, die sich subjektiv hilfsbedürftig<br />

fühlen, die unter besonderen Belastungen leiden, die<br />

keine Hilfe von Familien, Freunden oder Pflegediensten<br />

haben. Das bedeutet, wer bei Wellcome anruft, der bekommt<br />

auch Hilfe. Man muss uns keinen Grund nennen,<br />

warum das so ist. Wir helfen nicht ausschließlich<br />

bei Mehrlingsgeburten oder bei Mehrfachbedarf der Familien,<br />

sondern die subjektive Hilfsbedürftigkeit ist entscheidend.<br />

Das kann sowohl die gut situierte Mutter sein,<br />

die sich komplett überlastet fühlt, wie auch eine Hartz<br />

IV-Empfängerin oder eine Familie mit vielen Kindern.<br />

Die Hilfe kostet 4 Euro pro Stunde, eine individuelle<br />

Ermäßigung ist möglich, denn am Geld darf die Hilfe<br />

nicht scheitern. Das ist ein Leitsatz von Wellcome,<br />

weil alle Familien bei Bedarf Wellcome nutzen sollen.<br />

Wellcome macht viel, aber nicht alles. Wellcome ist kein<br />

Notruf, das bedeutet, dass man die Koordinatorin nicht<br />

anrufen kann, weil man morgen zum Arzt muss und jemanden<br />

braucht, der auf das Kind aufpasst, sondern es<br />

geht dabei um eine verlässliche Terminabsprache.<br />

Wir haben natürlich in der Koordination nicht immer sofort<br />

eine Ehrenamtliche zur Verfügung, insofern muss das alles<br />

erst organisiert werden. Wir sind auch keine Agentur für<br />

Haushaltshilfen, was bedeutet, dass die Ehrenamtlichen<br />

keine Fenster putzen und nicht das Bad putzen, sondern<br />

es wird den Müttern dazu verholfen, dass sie Zeit haben,<br />

um das selber tun zu können.


Ganz wichtig: Unsere Ehrenamtlichen und auch die Koordinatorin,<br />

die ein Team von ungefähr 15-20 Ehrenamtliche<br />

betreut, sind kein Ersatz für die Fachkräfte,<br />

also kein Ersatz für Hebammen, Ärzte, Therapeuten.<br />

Die Ehrenamtlichen gehen in Familien, geben aber<br />

keine Tipps zur Stillproblematik oder zu Erziehungsproblemen<br />

etc. Wenn da etwas auftaucht, wenden sie<br />

sich an die Koordinatorin, diese wiederum geht in ihr<br />

Netzwerk und vermittelt je nach Problem Fachkräfte.<br />

Wellcome ist moderne Nachbarschaftshilfe. Es funktioniert<br />

so: Eine Familie meldet sich bei einem Wellcome-Standort<br />

bei einer Koordinatorin. Die Koordinatorin und die Familie<br />

führen ein telefonisches Gespräch. In dem Gespräch<br />

wird Wellcome sehr genau erklärt. Auf der anderen Seite<br />

wird von der Familie die Erwartung an Wellcome geklärt,<br />

an welchen Tagen bzw. wann eine Ehrenamtliche kommen<br />

soll. Wenn es das passende Angebot für die Familie ist,<br />

wird eine ehrenamtliche Mitarbeiterin vermittelt. Diese<br />

geht dann für eine bestimmte Zeit, zwei bis drei Monate,<br />

zwei Mal in der Woche für jeweils zwei bis drei Stunden in<br />

die Familie und leistet diese praktische Hilfe.<br />

Die Koordinatorin führt dann ein Abschlussgespräch, wo<br />

noch mal geklärt wird, ob diese Hilfe jetzt ausreichend war<br />

oder ob noch weiterführende Hilfe benötigt wird. Dann erfolgt<br />

die Abrechnung. Wenn Wellcome nicht die passende<br />

Hilfe gewesen ist, wird eben über Alternativen informiert<br />

und weitervermittelt. Wellcome ist ein Netzwerkprojekt,<br />

das immer einer Trägereinrichtung aus dem Bereich Jugendhilfe<br />

angegliedert ist und deren Hilfenetzwerk vor Ort<br />

mit nutzt.<br />

Wellcome ist Teamarbeit. Einerseits gehören die ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiterinnen dazu, die die praktische Hilfe<br />

in den Familien leisten. Für uns sind sie das Herzstück,<br />

weil ohne die Ehrenamtlichen Wellcome nicht existieren<br />

könnte. Die Koordinatoren, die in einer Einrichtung als<br />

Fachkraft sitzen, vermitteln die Einsätze zwischen den Familien<br />

und Ehrenamtlichen, während die Leitung, meistens<br />

die Leitung der Einrichtung, Wellcome in die bestehende<br />

Struktur der Einrichtung einbindet. Wer darüber hinaus<br />

die Netzwerkpflege vor Ort macht, die Koordinatorin oder<br />

die Einrichtungsleitung, das ist von Standort zu Standort<br />

unterschiedlich.<br />

Wir bieten für unsere Ehrenamtlichen eine zeitlich überschaubare<br />

Aufgabe, was heute – aus unserer Erfahrung<br />

– ganz wichtig ist, dass Freiwillige sich nicht längerfristig<br />

binden müssen. Von Einsatz zu Einsatz können die Ehrenamtlichen<br />

entscheiden, ob es der Mittwoch, der Montag<br />

oder ein anderer Tag ist, ob es Vormittag oder Nachmittag<br />

ist. Es gibt sehr viele Ehrenamtliche, die mehrfach ehrenamtlich<br />

tätig sind und ihren Einsatz um ihre anderen Verpflichtungen<br />

herum planen. Das ist also eine sehr flexible<br />

Geschichte.<br />

Unsere Ehrenamtlichen werden regelmäßig zum Erfahrungsaustausch<br />

eingeladen. Bei diesen Treffen sprechen<br />

die Ehrenamtlichen über ihre Einsätze, erzählen ihre Erlebnisse,<br />

werden natürlich auch über das informiert, was<br />

bei Wellcome passiert.<br />

Während der Einsätze ist die Koordinatorin die fachliche<br />

Begleitung und diejenige, die im Laufe der ehrenamtlichen<br />

Tätigkeit die Fortbildungen organisiert. Für die Ehrenamtlichen<br />

besteht Versicherungsschutz und es gibt die Fahrkostenerstattung,<br />

ansonsten gibt es bei Wellcome keine<br />

Aufwandsentschädigung, also man kann kein Geld dabei<br />

verdienen.<br />

Wellcome erwartet natürlich Begeisterung für die Idee. Die<br />

Motivation ganz vieler Ehrenamtlicher, sich bei Wellcome<br />

zu engagieren, ist die eigene leidvolle Erfahrung, in der Zeit<br />

mit den Kindern keine Hilfe gehabt zu haben, sich überfordert<br />

gefühlt zu haben. Wellcome erwartet Erfahrung mit<br />

Babys und Kleinkindern, wobei man keine eigenen Kinder<br />

haben muss. Wir haben durchaus auch Ehrenamtliche,<br />

die keine eigenen Kinder, aber z.B. die Nachbarkinder<br />

großgezogen haben oder Neffen und Nichten. Wichtig ist,<br />

dass sie schon mal in Berührung mit Kindern gewesen<br />

sind. Wir erwarten Einfühlungsvermögen, Zuverlässigkeit<br />

und Verschwiegenheit. Ebenso wollen wir das auch von<br />

den Familien.<br />

In einem ausführlichen Vorstellungsgespräch zwischen<br />

der Koordinatorin und der Ehrenamtlichen wird von<br />

beiden Seiten festgestellt, ob sie miteinander arbeiten<br />

möchten. Das ist ein persönliches Gespräch, zu dem<br />

die Ehrenamtlichen in die Einrichtungen kommen und<br />

man sich gegenseitig kennen lernt. Da wird sehr genau<br />

abgeklopft, welches die Motivation ist, warum die Eh-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 33


34<br />

Workshop Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verhindern, vermeiden ...<br />

renamtliche sich bei Wellcome einsetzen möchte, was<br />

dahinter steckt, welche Vorstellung sie von ihrer Arbeit<br />

hat.<br />

Ohne Profis geht es bei Wellcome nicht. Die Koordinatorin<br />

ist eine bezahlte Fachkraft von 5 Wochen-Stunden. Sie<br />

berät die Familien, vermittelt die Hilfe, begleitet die Ehrenamtlichen,<br />

kennt und pflegt das Netzwerk. Bei Wellcome<br />

ist immer die Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiger Punkt<br />

und ebenso für alle Projekte die Finanzierung. Die Leitung<br />

sorgt für optimale Rahmenbedingungen, ein Telefon, ein<br />

Anrufbeantworter, ein Büro.<br />

Was wir noch brauchen, das ist natürlich das Netzwerk vor<br />

Ort. Entsteht an einem Ort ein neuer Wellcome-Standort,<br />

ist eine große Aufgabe der Koordinatorin, das Netzwerk<br />

vor Ort kennen zu lernen und Wellcome dort bekannt zu<br />

machen, um Familien bei Hilfebedarf in dieses Netzwerk<br />

weiter vermitteln zu können.<br />

Natürlich sind unsere Wellcome-Koordinatorinnen auch<br />

in verschiedenen Arbeitskreisen vertreten. Als Partner haben<br />

wir Entbindungskliniken, Hebammen, Gynäkologen,<br />

Kinderärzte, Beratungsstellen und Einrichtungen. Das ist<br />

Netzwerkarbeit. Die Ehrenamtlichen gewinnen wir über<br />

Vereine, Freiwilligenorganisationen, Initiativen, Kirchengemeinden,<br />

lokale Presse.<br />

Für das Wellcome-Team gehören auch die Multiplikatoren<br />

dazu, Förderer, Spender, Sponsoren, die Schirmherrschaften,<br />

bundesweit und auf lokaler Ebene. Es gibt den<br />

Begriff der Paten bei uns, die stehen häufig mit ihrem Namen<br />

dafür, Wellcome zu unterstützen.<br />

Wir haben ein standardisiertes Verfahren, wie ein Standort<br />

neu eröffnet wird. Wir werden in Einrichtungen eingeladen,<br />

die sich entschließen, so einen Wellcome-Standort<br />

zu gründen, und gucken uns die vor Ort an. Es gibt ein<br />

Gründungsgespräch, wo wir mit den Einrichtungen sehr<br />

genau abklopfen, welches Netzwerk vorhanden ist, welche<br />

Voraussetzungen vorhanden sind, was ist das für eine Koordinatorin,<br />

die die Arbeit übernehmen soll. Dann gibt es<br />

eine eintägige Koordinatorin-Schulung, wo die Koordinatorin<br />

in unser Material eingewiesen wird. Zur Vorbereitung<br />

der Eröffnungsveranstaltung sind wir wieder vor Ort. Als<br />

Abschluss der Gründungsphase gibt es die Eröffnungsveranstaltung,<br />

die dadurch, dass wir in den Bundesländern<br />

die jeweiligen Sozialminister als Schirmherren haben,<br />

meistens sehr prominent gestaltet sind. Menschen aus<br />

dem Netzwerk begrüßen Wellcome in der Stadt, außerdem<br />

ist die Eröffnung selber eine wunderbare Netzwerkveranstaltung.<br />

Wellcome hat sich von Nord nach Süd ausgebreitet, ist<br />

in Hamburg und Schleswig-Holstein gestartet. Es gibt in<br />

Schleswig-Holstein 20 Standorte, in Hamburg sind es zurzeit<br />

12, da sind wir dabei, weitere Standorte zu gründen,<br />

in Berlin gibt es inzwischen 6 arbeitende Wellcome-Standorte,<br />

weitere 6 sind in der Planung, wo konkret Interesse<br />

von Einrichtungen besteht.<br />

TN: Ich habe die Einordnung des Projektes noch nicht<br />

verstanden. Es gibt die Familienhilfe, die trifft nur auf Familien<br />

zu, wo ein sozialer Bedarf festgestellt wird. Es gibt<br />

Haushaltshilfen, die kosten Geld. So wie ich das verstanden<br />

habe, ist Wellcome irgendwo dazwischen? Wie flexibel<br />

ist das mit den 4 Euro? Welche Familien greifen auf das<br />

Angebot zu?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Es greifen grundsätzlich alle Familien<br />

auf dieses Angebot zu. Es ist genau so angelegt,<br />

dass auch alle Familien, egal, welcher Herkunft, Wellcome<br />

nutzen können.<br />

TN: In meinem Bereich könnte sich niemand die 4 Euro<br />

pro Stunde leisten.<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Es gibt mehrere Standorte, Wilhelmshaven<br />

zum Beispiel, wo es auch so ist.<br />

TN: Wie weit ist dieser Preis verhandelbar?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Der ist komplett verhandelbar.<br />

Wir geben ja das Konzept an einen Standort. Nach der<br />

Gründungsphase regelt der Standort alleine die Reduzierung<br />

dieser 4 Euro, er muss auch die ganze Finanzierung<br />

alleine regeln. Dafür sind Schulen, die auch unsere<br />

Standorte zum Thema ehrenamtlicher Hilfe sind, ein guter<br />

Partner, gezielte Akquise von Spendern und Sponsoren zu<br />

betreiben. Unsere Erfahrung ist, dass das im Moment sehr


gut möglich ist, über Spender und Sponsoren zum Beispiel<br />

die Reduzierung dieser 4 Euro wieder wettzumachen für<br />

die Einrichtung. Die konkrete Entscheidung, wie viel die<br />

einzelne Familie bezahlt, liegt letztendlich bei der Koordinatorin<br />

oder bei der Leitung.<br />

TN: Wie haben Sie sich die praktische Unterscheidung zwischen<br />

Haushaltshilfe und Familienhilfe gedacht?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Wellcome ist ein primär direktives<br />

Angebot und möchte da sein, wo überhaupt professionell<br />

gehandelt werden muss.<br />

TN: Interessant ist, dass Sie bei den Partnern das Jugendamt<br />

nicht erwähnen. Ich war bei einer Wellcome-Eröffnung<br />

in Berlin, die Eröffnungsrede wurde von einer Mitarbeiterin<br />

des Jugendamts gehalten. Ist dieses Hilfeangebot nicht<br />

auch ein Versuch, niedrig schwellig in Familien reinzukommen?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Natürlich sind die Jugendämter<br />

Partner, sind genauso Netzwerkpartner wie eine Hebamme.<br />

Es gibt auch im Zuge des Kinderschutzes die Möglichkeit,<br />

Wellcome zu nutzen. Wir versuchen, unsere Ehrenamtlichen<br />

in diesem Bereich zu schulen, sehen uns<br />

aber natürlich nicht als Ausspäher der Familie. was den<br />

Kinderschutz angeht. Wenn Missstände auffallen, dann<br />

müssen wir natürlich handeln. Die Ehrenamtlichen haben<br />

ja genauso wie wir alle in diesem Bereich Verantwortung.<br />

Sollte es einer Ehrenamtlichen auffallen, dass in einer<br />

Familie die Kinder keine Betten haben, kein Teppich in<br />

der Wohnung ist, sondern nur Estrich, dann wird sich die<br />

Ehrenamtliche an die Koordinatorin wenden. Die Koordinatorin<br />

würde eventuell einen Besuch machen, was normalerweise<br />

jedoch nicht üblich ist, und versuchen, über<br />

den Kontakt, den sie vielleicht zum Jugendamt hat, ins<br />

Gespräch zu kommen, nachfragen, ob es da schon Erfahrungen<br />

gibt, ob es was ist, wo wir handeln müssen oder<br />

nicht. Das würde aber auch ganz konkret mit der Familie<br />

abgesprochen, also es läuft nicht hinter ihrem Rücken.<br />

Wenn die Ehrenamtliche zum Beispiel in diese Familie<br />

geht, die Kinder sind total fröhlich, alles macht einen<br />

positiven Eindruck, dann gibt es trotzdem Gesprächsbedarf<br />

darüber, warum die Kinder auf dem Estrich spielen<br />

oder warum keine Betten da sind. Darüber wird sie ins<br />

Gespräch kommen und dann die Familie dazu bewegen,<br />

professionelle Hilfe anzunehmen.<br />

TN: Es ist durch die Fülle der Standorte ein ganz spannendes<br />

Angebot, niedrig schwellig - wenn es denn tatsächlich<br />

bei allen ankommt. Auch die Ehrenamtlichen werden<br />

ja Multiplikatoren sein. Trotzdem werde ich hellhörig beim<br />

Thema Kinderschutz. Es wird natürlich einen geringen Teil<br />

von Familien geben, wo es vielleicht einen Jugendhilfe-Bedarf<br />

gibt, wo bestimmte Risikofaktoren vorhanden sind,<br />

woraufhin eigentlich eine professionelle Gefährdungseinschätzung<br />

erfolgen müsste. Alkoholproblematik, Schulden,<br />

häusliche Gewalt, damit wären aus meiner Sicht Ehrenamtliche<br />

überfordert, das richtig einzuschätzen. Das<br />

ist natürlich eine Frage von Schulung. Welche Ausbildung<br />

hat die Koordinatorin, wie ist die Frage der Einbettung?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Wellcome fängt viel niedrig<br />

schwelliger an. Wir haben wirklich wenige Familien,<br />

die über das Jugendamt kommen. Wenn wir solche Geschichten<br />

hören oder sehen, dann gehen natürlich auch<br />

bei uns alle Alarmglocken an, das ist gar keine Frage. Da<br />

ist die Kooperation mit dem Jugendamt günstig, da diese<br />

schnelle Verknüpfung zu haben, aber die Familie mitzunehmen.<br />

Es gibt ja ganz viele Familien, die augenscheinlich<br />

erst mal gar nicht hilfebedürftig sind, wo es für uns<br />

als ganz normaler Einsatz anfängt. Die Mutter meldet sich,<br />

sie hat das dritte Kind bekommen, die sind im Alter dicht<br />

beieinander. Die Ehrenamtliche stellt vielleicht sogar beim<br />

zweiten oder dritten Besuch fest: Irgendwas ist da komisch.<br />

Vielleicht steht zu jeder Tages- und Nachtzeit eine<br />

Weinflasche auf dem Tisch. Oder die Mutter sitzt immer<br />

lethargisch auf dem Sofa, während das Baby neben ihr<br />

schreit. Dann ist ganz klar, dass sie sich an die Koordinatorin<br />

wendet. Vielleicht besteht die Möglichkeit schon bei<br />

diesem Schritt, dass sie die Familie offen beteiligt, damit<br />

die Chance besteht, eine Familienhilfe in dieser Familie<br />

zu integrieren. Die Familienhilfe arbeitet mit Mutter und<br />

Vater, während die Ehrenamtliche trotzdem da bleiben soll<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 35


36<br />

Workshop Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verhindern, vermeiden ...<br />

und die Kinder rausnehmen, so dass die Familienhelferin<br />

die Gelegenheit hat, wirklich mit den Eltern zu arbeiten.<br />

Unsere Ehrenamtliche ist also ergänzend tätig.<br />

Inzwischen ist es an einigen Standorten so, dass das Jugendamt<br />

bei Wellcome anruft und fragt, ob eine Ehrenamtliche<br />

in der und der Zeit die Kinder aus der Familie<br />

nehmen kann, damit das Jugendamt arbeiten kann. Es<br />

entstehen in vielen Bereichen auch weitergehende Projekte.<br />

Zum Beispiel im Kreis Pinneberg gibt es jetzt das<br />

Projekt „Hand in Hand“, wo auf Erziehungskonferenzen<br />

die Wellcome-Koordinatorin sitzt, die Hand-in-Hand-Koordinatorin,<br />

das Jugendamt und alle, die dazugehören, und<br />

wo gemeinsam überlegt wird: Wen brauchen wir jetzt da?<br />

Die Koordinatorinnen haben unterschiedliche fachliche<br />

Ausbildungen, Kinderkrankenschwester, Sozialpädagogen,<br />

es sind durchaus auch Erzieherinnen dabei. Wichtig<br />

ist, dass sie schon länger in der Einrichtung tätig sind, vor<br />

Ort vernetzt sind und dadurch diese ganze Arbeit tun können.<br />

TN: Werden die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen geschult,<br />

um Gefährdungsmomente zu erkennen? Was sind das für<br />

Einrichtungen, die sich für dieses Wellcome-Projekt interessieren?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Wir schulen unsere Ehrenamtlichen<br />

vor den Einsätzen grundsätzlich nicht, weil wir davon<br />

ausgehen, dass ihre Hilfe Nachbarschaftshilfe ist. Wir<br />

helfen so wie die Nachbarin, die Freundin, die Großeltern.<br />

Wir gehen erst mal von dem normalen Menschenverstand<br />

aus. Natürlich begleitet die Koordinatorin den kompletten<br />

Einsatz in der Familie. Es gibt regelmäßige Telefonate zwischen<br />

der Ehrenamtlichen und der Koordinatorin und zwischen<br />

der Familie und der Koordinatorin. Und am Ende<br />

steht ein Abschlussgespräch. So wird versucht, eine Vertrauensbasis<br />

aufzubauen.<br />

Natürlich gibt es Fortbildungen für die Ehrenamtlichen,<br />

die wir an näherem Bedarf orientieren. Aber wir möchten<br />

nicht, dass die Ehrenamtlichen mit dieser Nachbarschaftshilfe<br />

in jede Familie mit großen Ohren gehen,<br />

sich verpflichtet fühlen, alle Schränke durchzugucken,<br />

ob da jemand auffällig ist. Die Einschätzung, ob eine Gefährdungslage<br />

vorliegt, ist nicht Aufgabe der Ehrenamtlichen.<br />

Sondern wenn ihnen etwas komisch vorkommt,<br />

rufen sie die Koordinatorin an und die klärt alles Weitere.<br />

Da sind die Ehrenamtlichen absolut verlässlich. Wir<br />

wollen, dass es niedrig schwellig bleibt, wir wollen, dass<br />

alle kommen, wir wollen nicht, dass jemand denkt, oh,<br />

die haben mich ausgefragt, das möchte ich aber nicht,<br />

das ist zu persönlich.<br />

Die Institutionen sind zum großen Teil Familienbildungsstätten,<br />

egal, ob evangelisch oder katholisch, wir sind<br />

nicht konfessionell gebunden, es sind Schwangerenberatungsstellen,<br />

zunehmend Mehrgenerationenhäuser. In<br />

Berlin machen das das Nachbarschaftsheim Schöneberg,<br />

Stützrad e.V., Geburt und Familie e.V., Es interessieren<br />

sich jetzt auch Lebenswelt, Jugendwohnen im Kiez und<br />

das Nachbarschaftszentrum in der Ufa-Fabrik. Das sind<br />

die aktuellen Träger, bzw. Standorte in Berlin.<br />

Wir suchen zur Zeit jeweils Landeskoordinatorinnen, um<br />

diese neuen Teams zu betreuen. Dann gibt es die Bundesgeschäftsstelle<br />

in der Bundeskoordination, die meine<br />

Kollegin und ich machen, wo wir im Moment sehr viel mit<br />

Multiplikation beschäftigt sind. Wir werden auch für die<br />

Landeskoordinatorinnen verantwortlich sein, in der Beratung,<br />

in der Veranstaltung von Weiter- und Fortbildungen.<br />

So soll es irgendwann sein, wenn wir in allen Bundesländern<br />

vertreten sind, auch die öffentlichen Mittel für die<br />

Landeskoordination da sind.<br />

TN: In Berlin werden solche Projekte ergänzend von der<br />

Jugend- und Familienstiftung finanziert, so dass die einzelnen<br />

Projekte etwas besser ausgestattet sind.<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Sonst ist es so, dass die Trägereinrichtung<br />

für diesen Etat, den Wellcome braucht, verantwortlich<br />

ist, das sind 7.000 Euro im Jahr. In Berlin gibt es<br />

eine Stiftungsförderung, es gibt auch für die Landeskoordination<br />

eine Finanzierung über die BKK in Berlin. Es gibt<br />

unterschiedliche Finanzierungsmodelle. In Bayreuth zum<br />

Beispiel haben wir einen Standort, der in den nächsten<br />

drei Jahren von den Rotariern finanziert wird, also die Finanzierungswelt<br />

ist sehr bunt.


TN: Die Koordinatorin arbeitet fünf Stunden in der Woche,<br />

aber ich lese hier, dass es 15 Ehrenamtliche sind, also<br />

auch 15 zu betreuende Familien. Ist das nicht ein bisschen<br />

wenig an Zeit?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Was soll ich dazu sagen? Natürlich<br />

kann man wunderbar daraus eine 20-Stunden-Stelle<br />

machen, das ist gar keine Frage. Aber ich denke, für den<br />

Aufbau ist es mit fünf Stunden in der Woche okay. Es gibt<br />

aber durchaus Standorte, die jetzt schon länger laufen<br />

und wo der Stundenbedarf höher ist, weil die betreuten<br />

Familien einfach mehr werden, wo dann einrichtungsintern<br />

aufgestockt wird. Das geben wir nicht vor, sondern 5<br />

Stunden sind ein Richtwert, den wir erfahrungsgemäß haben.<br />

Wenn die Standorte sagen, dass sie gerne 10 Stunden<br />

hätten, ja, dann eben 10 Stunden.<br />

TN: Wie viele Familien bundesweit nutzen Wellcome?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Letztes Jahr waren es bundesweit<br />

ungefähr 1.200 Familien, die betreut wurden. Letztes<br />

Jahr hatten wir aber auch noch keine 87 Standorte, sondern<br />

ungefähr 50, mit gut 600 Ehrenamtlichen.<br />

Willy Eßmann: Gibt es mehr interessierte Familien als<br />

Ehrenamtliche? Funktioniert das mit den Ehrenamtlichen<br />

problemlos? Gibt es Familien nichtdeutscher Herkunft?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Dieser Ausgleich zwischen den<br />

Ehrenamtlichen und den Familien ist die nervenaufreibendste<br />

Arbeit einer Koordinatorin. Das ist einfach so,<br />

weil der Bedarf schwankt. Manchmal hat man plötzlich<br />

ganz viele Anfragen von Familien und es fehlen die Ehrenamtlichen.<br />

Deswegen ist es auch kein Notfallkonzept. Es<br />

kann sein, dass wir am nächsten Tag eine Ehrenamtliche<br />

in eine Familie schicken können, aber es gibt keinen Anspruch<br />

darauf.<br />

Ehrenamtliche für diese Form des Engagements zu gewinnen,<br />

ist relativ gut möglich, aber das ist auch von Standort<br />

zu Standort sehr unterschiedlich. Die meisten Ehrenamtlichen<br />

sind Frauen, die sich oftmals deshalb engagieren,<br />

weil sie in ihrer eigenen Mutterschaft keine Hilfe erfahren<br />

haben. In Berlin gibt es seit einem viertel Jahr den ersten<br />

echten männlichen Wellcome-Ehrenamtlichen. Die zeitliche<br />

Flexibilität macht es attraktiv. Unsere Erfahrung ist,<br />

dass sich viele sehr gerne engagieren.<br />

Sehr viele Familien sind mit diesen zwei Stunden einmal<br />

in der Woche total glücklich. Die sind so dankbar für diese<br />

zwei Stunden, die jemand da ist. Zu wissen, jeden Dienstagnachmittag<br />

kommt Frau Schulze, das ist eine große Entlastung.<br />

Es geht nicht immer um ganz viel Entlastung, sondern<br />

es geht häufig nur darum, dass überhaupt jemand<br />

kommt. Schon wenn die Familien wissen, sie haben bei<br />

Wellcome angerufen, sie werden zurückgerufen, sie sind<br />

wahrgenommen worden, es kommt jemand, vielleicht nicht<br />

morgen, aber vielleicht nächste Woche oder übernächste<br />

Woche, das ist erfahrungsgemäß schon eine Entlastung.<br />

TN: Besteht nicht die Gefahr, dass Sie sich unabkömmlich<br />

machen? Das ist ja immer wieder im Gespräch. Oder machen<br />

Sie so etwas wie Vernetzungsarbeit, also dass die<br />

Familien, wenn Sie sie irgendwann verlassen, gut eingebunden<br />

sind, vielleicht in ein Netzwerk von anderen Müttern,<br />

Vätern?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Das ist zum Teil Arbeit einer Koordinatorin.<br />

Unsere Hilfe begrenzt sich auf das erste Lebensjahr<br />

eines Kindes, es sind immer Trägereinrichtungen<br />

im Hintergrund, natürlich ist das eine Frage für die Koordinatorin,<br />

ob die Eltern schon irgendwo eingebunden sind.<br />

Dadurch, dass es häufig Einrichtungen sind, wo Eltern-<br />

Kind-Kurse angeboten werden, versuchen wir, bei Neuzuzug<br />

oder bei dem Eindruck, dass die Familie isoliert ist, sie<br />

in den Einrichtungen zu integrieren. Wo ist noch ein Platz<br />

im PEKiP, den suchen wir, um der Familie ersten Schritt zu<br />

erleichtern.<br />

Familien mit Migrationshintergrund: In Hamburg haben<br />

wir im letzten Jahr ein rein türkisches Wellcome-Team<br />

gegründet, mit einer türkischen Koordinatorin. Da gab es<br />

jetzt leider einen Wechsel, deswegen habe ich da noch<br />

keine Erfahrungswerte, wie es mit der neuen Koordinatorin<br />

läuft. Im Moment leisten wir überall weiter Aufklärungsarbeit<br />

und versuchen, Familien mit Migrationshintergrund<br />

mehr einzubeziehen. Es ist nicht einfach. Ob der Bedarf<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 37


38<br />

Workshop Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verhindern, vermeiden ...<br />

nicht da ist, das weiß ich nicht, aber zumindest ist es anders.<br />

Ich habe zum Beispiel mal ganz süße schwarz-afrikanische<br />

Zwillinge im Einsatz gehabt, wo es mit der Ehrenamtlichen<br />

und der Familie - auch aufgrund der kulturellen<br />

Unterschiede – zu Spannungen gekommen ist. Da wurde<br />

dann im Wohnzimmer auf dem Fußboden gekocht. Der Ehrenamtlichen<br />

machte es Spaß, aber manchmal musste sie<br />

einfach durchatmen. Aber wenn es nicht passt, kann jede<br />

Ehrenamtliche und jede Familie jederzeit sagen, dass es<br />

nicht geht.<br />

TN: Gibt es für die Ehrenamtlichen Altersgrenzen nach<br />

oben oder unten?<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Die Ehrenamtlichen sind zwischen<br />

18 und 75.<br />

TN: Sie müssen genau überlegen, welche Ehrenamtlichen<br />

in welche Familien gehen, weil das passen muss...<br />

Kirsten Harnisch-Eckert: Es gibt Ehrenamtliche, die ganz<br />

klar Präferenzen setzen. Ganz typische Ehrenamtliche<br />

sind zum Beispiel ehemalige Grundschullehrerinnen.<br />

Ich habe mal eine in mein Team aufgenommen, die mir<br />

gesagt hat, ich möchte das unbedingt machen, ich finde<br />

das ganz toll. Sie war Grundschullehrerin in einem sozialen<br />

Brennpunkt in Hamburg gewesen und sie sagte, sie<br />

möchte jetzt mal die Kirsche auf der Sahnetorte sein. Es<br />

soll einfach mal schön sein. Da ist eben das ausführliche<br />

Gespräch wichtig, wo sind die Grenzen, wo sind die Möglichkeiten,<br />

was geht, nicht nur von der zeitlichen Seite her,<br />

sondern auch von der eigenen Belastbarkeit, der eigenen<br />

Geschichte.<br />

Willy Essmann: Von der Kirsche auf der Sahnetorte zu<br />

dem Alltag eines Regionalteams eines Berliner Jugendamtes.<br />

Linda Ortleb: Ich gehe davon aus, dass die Strukturen<br />

von Jugendämtern bekannt sind. Ich würde gerne erst<br />

mal sagen, was ich hier nicht mache: Ich werde nicht über<br />

Kinderschutzeinsätze berichten. Hinsichtlich des Kinderschutzes<br />

habe ich meinen Kollegen Oliver mitgebracht,<br />

der seit einiger Zeit Kinderschutzbeauftragter im Jugendamt<br />

Steglitz-Zehlendorf ist.<br />

Bei der Überschrift „Verhindern, vermeiden, vorbeugen“<br />

dachte ich, Jugendämter können eigentlich nur verhindern<br />

oder vermeiden, wenn sie Informationen erhalten. Informationen<br />

erhalten wir natürlich über die Kinderschutzorganisationen,<br />

wir sind im engen Kontakt und haben regelmäßige<br />

Einsätze, die wir ganz gewissenhaft erledigen. Das<br />

ist der eine Teil. Der andere Faktor, wie wir Informationen<br />

bekommen, geht über ein gutes Netzwerk. Das ist das,<br />

worum es in meiner Arbeit geht. Ich bin freigestellt von<br />

der Fallarbeit, d.h., ich habe die Zeit mich zu vernetzen.<br />

Ich bin in verschiedenen Gremien tätig, meine Mitarbeiter<br />

bzw. KollegInnen sitzen an ihren Schreibtischen und<br />

haben den Tisch voller Fälle. Meine Aufgabe ist es, das zu<br />

koordinieren. Wir haben ein Vernetzungsgremium, in dem<br />

wir interdisziplinär zusammen arbeiten, Gott sei Dank, seit<br />

zwei Jahren sind wir da mit einem freien Träger zusammen,<br />

mit der Erziehungs- und Familienberatungsstelle. Wir<br />

bekommen regelmäßig Besuch von unserem Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrischen Dienst, wir haben Beteiligte aus<br />

unseren Freizeiteinrichtungen und wir bekommen natürlich<br />

– je nach Bedarf – zusätzliche Fachleute, die zu einem<br />

spezifischen Fall einen Beitrag leisten können.<br />

Darüber hinaus arbeiten wir noch in diversen anderen Gremien<br />

zusammen, darunter insbesondere die AG 78, die<br />

Zusammenarbeit von freier und öffentlicher Jugendhilfe<br />

im Bezirk. Wir haben da einen regen Austausch, wir arbeiten<br />

in unterschiedlichen Unterarbeitsgruppen. Wir sind<br />

aktuell dabei zu gucken, wie wir uns sinnvoll mit den Therapeuten<br />

und den psychosozialen Diensten in unserem<br />

Bezirk vernetzen können. Wir sitzen da zusammen mit<br />

dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst und dem<br />

Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, mit verschiedenen<br />

Therapeuten oder auch mit Trägern, die therapeutische<br />

Angebote in ihrem Spektrum haben. Wir haben uns natürlich<br />

mit den Schulen vernetzt, wir haben einen Fachtag<br />

– im Zusammenhang mit den Schulstationen unseres<br />

Bezirkes – organisiert, es gab auch eine Beteiligung von<br />

Lehrern, Pädagogen und Schulleitern. Wir stellen uns jetzt<br />

auch regelmäßig an Schulen in den verschiedenen Gre-


mien vor, Gesamtkonferenzen, Elternkonferenzen, und<br />

stellen die Arbeit des Jugendamtes vor, machen die Strukturen<br />

durchsichtiger, weil vieles von dem, was Jugendamt<br />

ist, draußen nicht bekannt ist.<br />

Uns ist natürlich auch bekannt, dass wir nicht gerade beliebt<br />

sind. Am liebsten hat keiner mit uns ernsthaft Kontakt,<br />

weil man vor dem Jugendamt Angst hat. Aber um<br />

genau das aufzulösen, müssen wir uns vernetzen. Aus<br />

meiner Sicht ist nur derjenige wirklich gut in dieser Arbeit,<br />

der jede Gelegenheit nutzt sich zu vernetzen und sein Beziehungsnetz<br />

zu vergrößern. Unter anderem deswegen machen<br />

wir unsere Sozialraumerkundung, ich bin also voll auf<br />

der Welle der SRO, nach anfänglicher Skepsis. Ich dachte,<br />

da kommen die Provinzler und wollen uns Berlinern was<br />

erzählen. Aber inzwischen bin ich an vielen Stellen sehr<br />

begeistert von dem Konzept. SRO ist das Konzept der Sozialraumorientierung,<br />

nach der wir Berlin weit inzwischen<br />

arbeiten, die meisten Jugendämter sind darin inzwischen<br />

geschult. In diesem Konzept geht es u.a. darum, von dem<br />

Fall wegzukommen und mehr in Richtung Umfeld zu gucken,<br />

also dieser Vernetzungsgedanke, dieser Gemeinwesenarbeitsgedanke,<br />

steht dort im Vordergrund.<br />

Auf jeden Fall ist einer der Bereiche der Sozialraumorientierung<br />

Sozialraumerkundung. D.h., mit meinem Kiezteam<br />

mache ich seit zwei Jahren diese Sozialraumerkundung,<br />

drei oder vier Mal im Jahr. Wir gucken uns Institutionen<br />

an, nicht nur der Jugendhilfe, sondern wir gehen in Kirchengemeinden,<br />

in Sportvereine, in alle Bereiche, die für<br />

Kinder und Jugendliche und Familien relevant sind. Auch<br />

da haben wir die Möglichkeit, uns bekannt zu machen. Wir<br />

berichten über unsere Arbeit, die Leute können sich uns<br />

vorstellen, d.h. wir werden zu Menschen und bleiben nicht<br />

die Behörde, die dahinter steht.<br />

Das hat schon eine ganze Menge bewirkt, nämlich dass die<br />

Leute schneller auf uns zukommen. Wir bekommen oft Anrufe<br />

von Leuten, die früher nie angerufen hätten. Sie fragen<br />

mich irgendwas, was sie bewegt oder was sie bedrückt. Heute<br />

Morgen habe ich einen Anruf von einer Mitarbeiterin einer<br />

Schulstation bekommen, ob mir jemand einfällt, der sich mit<br />

sexuellem Missbrauch auskennt, sie war bei einem Jungen<br />

unsicher und brauchte einen kompetenten Experten. Schon<br />

solche Kleinigkeiten machen den Alltag leichter.<br />

In diesem Kiez-Team haben wir verschiedene Fachleute.<br />

Ich bin ganz wild daran interessiert, auch die Schulstationen<br />

hinzuzuziehen, denn seitdem wir unsere Jugendfreizeiteinrichtungen<br />

in dem Kiez-Team<br />

sitzen haben,<br />

merke ich auch bei<br />

den Kollegen, dass<br />

der Blick anders<br />

geschärft ist. Sie<br />

gehen mit einer<br />

ganz anderen Sensibilität<br />

auf ihre<br />

Jugendlichen und<br />

ihre Besucher in den Einrichtungen zu. Sie gucken anders<br />

und kommen manchmal mit einer Rückmeldung, da müsste<br />

man noch mal genauer schauen, vielleicht fällt euch<br />

was ein, wie wir da unterstützen können. Und sie holen<br />

sich auch noch anderen Rat. Ähnlich ist es mit den Schulstationen.<br />

Sie merken, worauf ich hinaus will. Was ich Ihnen<br />

hier erzähle, kommt aus den präventiven Zusammenhängen,<br />

denn je früher wir ansetzen, desto mehr können<br />

wir im Kinderschutz tun und möglicherweise verhindern,<br />

vermeiden, vorbeugen.<br />

Die Schulstationen sind eine ganz wichtige Schnittstelle<br />

in diesem Zusammenhang. Sie sitzen zwischen diesen<br />

beiden komplexen Institutionen, einerseits der Jugendhilfe,<br />

sie werden oft von den Jugendhilfen finanziert; andererseits<br />

sitzen sie in den Schulen und müssen dort mit<br />

den Pädagogen möglichst auf Augenhöhe arbeiten. Somit<br />

haben sie eine ungeheure Kompetenz genau in diesem<br />

Arbeitsfeld. Das ist auch genau der Bereich, wo wir immer<br />

Schwierigkeiten haben. Um nämlich näher an die Schulen<br />

heranzurücken, brauchen wir Menschen, die da unsere<br />

Transformatoren sind.<br />

TN: Die Mitarbeiter der Schulstationen, sind das Ihre Zuträger,<br />

sind das Ihre Multiplikatoren oder sind das Ihre<br />

Außenstellen? Oder was sind sie? Das ist ja ein sensibler<br />

Bereich. Träger der Jugendhilfe bekommen bisweilen<br />

Probleme, wenn sie Kontakte zum Jugendamt herstellen<br />

und dann Vorwürfe von ihren Klienten bekommen, weil<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 39


40<br />

Workshop Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verhindern, vermeiden ...<br />

sie sich vom Jugendamt von oben herab behandelt fühlen.<br />

Das kann Vertrauensverhältnisse stark belasten.<br />

Linda Ortleb: Das ist sicher ein möglicher Stolperstein.<br />

Es wäre eigentlich auch der Abschluss dessen, was ich,<br />

um das abzurunden, noch mal erwähnen will. Mir ist klar,<br />

wenn wir Fachleute alle so wunderbar vernetzt sind, dann<br />

achten wir möglicherweise nicht mehr so auf den Vertrauensfaktor.<br />

Ich erlebe das natürlich auch bei meinen<br />

Kollegen. Ich bin bei einem Kollegen sehr ungemütlich<br />

geworden, der einen Brief bekommen hatte, der möglicherweise<br />

auf einen massiven Kinderschutzfall hinwies.<br />

Er hatte nicht den Weg gewählt, den man eigentlich immer<br />

zuerst gehen muss, nämlich sofort zu versuchen, mit den<br />

Betroffenen Kontakt aufzunehmen. Er dachte, er müsste<br />

erst mal horchen, weil er Kontakt zu einem Lehrer hatte,<br />

ob der vielleicht was weiß. Das sind die Momente, wo man<br />

hellhörig sein muss. Ich sage ehrlich, es ist meine Aufgabe,<br />

darauf immer wieder hinzuweisen. Ich lege u.a. sehr<br />

viel Wert darauf, dass im Kiez anonym gearbeitet wird. Der<br />

einzige Bereich, wo dieser Vertrauensschutz aufgeweicht<br />

werden muss, ist, wenn ich mit den Betroffenen selber<br />

nicht mehr weiterkomme, aber bedrohliche Aspekte für<br />

ein Kind sehe.<br />

Ein weiterer Stolperstein, über den wir gerne diskutieren<br />

können, ist dadurch entstanden, dass Mitarbeiter<br />

aus einer meiner<br />

Jugendfreizeiteinrichtungen<br />

jetzt<br />

auch im Kiez-Team<br />

sitzen. Seitdem<br />

haben sie natürlich<br />

einen etwas<br />

wacheren Wächterblick.<br />

Und natürlich<br />

gibt es daraufhin<br />

viele berechtigte<br />

Stimmen, die sagen: Das sind Jugendräume, das sollen<br />

Freiräume für Jugendliche bleiben. Die wollen wir ja<br />

auch dringend erhalten.<br />

Wenn jetzt aber die Jugendförderer einerseits mit den<br />

Jugendlichen vertrauensvoll zusammenarbeiten, dabei<br />

möglicherweise gravierende Dinge erfahren, die nicht<br />

unbedingt ans Jugendamt gehen muss, andererseits die<br />

Jugendförderer aber sehr eng an uns, an den RSD angebunden<br />

sind, besteht die Gefahr, dass der Vertrauensschutz<br />

beeinträchtigt werden könnte. Hier gibt es sicher<br />

Bereiche, wo wir noch viel nacharbeiten müssen.<br />

Es gibt noch einen Punkt: Ich habe das Privileg, dass ich<br />

als Sozialraum-Teamleitung von der Fallarbeit freigestellt<br />

bin, während meine Kollegen in der Regel zwischen 50<br />

und 70 Fälle auf dem Schreibtisch haben. Sie können also<br />

gar nicht in der Form die Vernetzungsarbeiten leisten wie<br />

ich. Natürlich versuche ich alles, was ich weiß, zu multiplizieren,<br />

aber es ist eben sehr an meine Person gebunden.<br />

Das ist ein ganz großer Nachteil.<br />

TN: Die Polizei hat eine ähnliche Problematik in der Frage<br />

des Vertrauens. Jugendarbeiter auf der einen Seite<br />

bekommen Dinge mit, können aber auch was bewegen,<br />

weil sie nicht am Schreibtisch sitzen, sondern direkt interagieren.<br />

Ich habe Polizisten erlebt, die in der Hinsicht<br />

sehr viel gelernt haben. Sie wollen nicht mehr unbedingt<br />

– wie das früher in der Regel der Fall war – erst einmal<br />

alles wissen. Inzwischen passiert es, dass ein Polizist in<br />

einem Konfliktgespräch bewusst in bestimmten Situationen<br />

den Raum verlässt, damit die Sozialarbeiter in offenem<br />

Gespräch weitermachen können. Weil er sonst in<br />

seiner Eigenschaft als Polizist etwas hört, wo er handeln<br />

müsste. Das finde ich sehr gut, weil sie damit anderen Interventionsformen,<br />

die vielleicht mehr bewirken können,<br />

eine Chance lassen.<br />

Linda Ortleb: Ich glaube auch, dass wir manchmal Kollegen<br />

von außen brüskieren, indem wir sagen: Das dürfen<br />

Sie jetzt gar nicht sagen. Manchmal ist es auch andersrum,<br />

dass Leute sagen: Ich habe diese Erfahrung mit<br />

Familie XYZ, wie sieht es bei Ihnen aus, was haben Sie?<br />

Mit Schulen kommt das vor. Ich kann dann nur sagen: Ich<br />

kann Ihnen dazu nichts sagen, weil ich zur Verschwiegenheit<br />

verpflichtet bin. Dann fühlen die sich manchmal zurückgewiesen,<br />

nach dem Motto, na gut, entweder wollt ihr<br />

euch nun vernetzen oder nicht. Das ist zweischneidig.


TN: Das Jugendamt hat, das steht in der Ausführungsvorschrift<br />

zum Gesetz, auch einen Rechercheauftrag. Der<br />

wirkt an manchen Stellen doch sehr eng. Früher gar nicht,<br />

da hat man den Eltern einen Brief in den Briefkasten gesteckt<br />

mit der Bitte um einen Besuchstermin. Teilweise<br />

bei schweren Kinderschutzfällen wurde gewartet, dass die<br />

Eltern sich melden. Das hat natürlich nicht funktioniert.<br />

Diese ganze Debatte, auch in den Medien, hat zum Teil Positives<br />

befördert. Wichtig ist, dass bei Kinderschutzfällen<br />

alle Beteiligten professionell auf Anzeichen und Informationen<br />

reagieren. Ich erlebe es immer wieder, wie wichtig<br />

das Wissen um die Anzeichen von Gefährdung ist, wirklich<br />

zu wissen, wo wir Alarmsignale aussenden müssen. Psychische<br />

Störungen, häusliche Gewalt, Alkohol, all das ist<br />

zum Teil ganz schwer zu erkennen. Man kann sich immer<br />

anonym beraten lassen, wenn man einen Verdacht hat.<br />

Das heißt, der Fall, über den man sprechen möchte, kann<br />

zunächst anonym bleiben. Dazu ist es ganz toll, dass es in<br />

allen Bezirken Kinderschutz-Koordinatoren gibt. Bei denen<br />

kann man sich Rat holen, wenn man über die Symptome<br />

oder die einzuleitenden Schritte unsicher ist.<br />

TN: Wie sind Sie denn vernetzt für die kleineren Kinder, die<br />

1- bis 6-Jährigen, also bevor die Schule anfängt?<br />

TN: Da sind wir u.a. mit dem Kinder- und Jugendnotdienst<br />

vernetzt. Natürlich haben wir auch eine Vernetzung über<br />

Kitas. Wobei ich gestehe, es gab in den letzten zwei Jahren<br />

ziemlich viel Unruhe, Aufregung, Trägerwechsel usw.,<br />

insofern ist das einer meiner nächsten Schritte, dass ich<br />

auf die Kitas losstürze. Gerade in Kitas besteht noch viel<br />

Unsicherheit bei diesem Thema.<br />

Linda Ortleb: Ich meine, ich kann in erster Linie nur das<br />

Angebot zur Vernetzung machen. Das ist meine Überzeugung.<br />

Ich biete an zu den Elternabenden zu kommen,<br />

um mich vorzustellen, nicht nur ich, sondern auch meine<br />

Kollegin. Ich weiß, in anderen Regionen wird das auch so<br />

gehandhabt. Ich weiß, dann gibt es ein Gesicht zu dem<br />

Jugendamt, dann traut man sich vielleicht eher, mal was<br />

zu fragen. Viel mehr kann man da nicht machen.<br />

TN: Mit dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst gibt<br />

es jetzt eine richtige Kooperationsvereinbarung, zwischen<br />

dem Dienst und dem Jugendamt. Dann weiß jede Behörde,<br />

was zu tun ist, wenn bestimmte Verhaltensaspekte<br />

bekannt werden. Gerade für die kleinen Kinder ist das<br />

mit dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst toll, der<br />

zuerst etwas erfährt, genaue Standards hat, die er abarbeitet,<br />

d.h., er prüft erst mal seine Möglichkeiten, wie<br />

weit er damit dieser Gefährdung begegnen kann. Reichen<br />

seine Möglichkeiten nicht aus, dann muss sofort auch<br />

das Jugendamt noch mal entscheiden, damit man dann<br />

gemeinsam das Kind gut schützen und auch die Eltern gut<br />

unterstützen kann.<br />

TN: Zu der Gefährdungseinschätzung in der Kita: Wir haben<br />

das häufig, dass die Einschätzungen der Gefährdung,<br />

gerade zwischen Kita-ErzieherInnen und Jugendamt, sehr<br />

auseinanderklaffen. Erzieher sehen sehr viel früher eine<br />

Gefährdung, sie sagen: Mensch, die kommen ohne Frühstück<br />

in die Kita, das geht nicht, da muss das Jugendamt<br />

ran. Aber das Jugendamt sieht da noch lange keine Gefahr.<br />

Kita-ErzieherInnen fangen dann ganz stark an, selber<br />

in Familien reinzugehen, selber Hilfen anzubieten. Aber sie<br />

sind dann ganz schnell überfordert damit. Ich weiß nicht,<br />

ob Sie das kennen?<br />

TN: Ja. Grundsätzlich ist es ja so, dass die Kitas gesetzlich<br />

zum Eingreifen verpflichtet sind, wenn sie Befürchtungen<br />

haben. Sie müssen selber Unterstützung anbieten und<br />

nach ihren Möglichkeiten die Familie unterstützen. Damit<br />

soll ja die Kita-ErzieherIn nicht alleine gelassen werden,<br />

sondern sie wendet sich an eine Fachkraft. Die muss<br />

es entweder in der Kita geben oder aber zumindest im<br />

Dachverband oder auch bei anderen freien Trägern, dem<br />

Jugendamt, wo auch immer sie die herbekommt. Mit so<br />

einer Fachkraft kann sie sprechen, um die Gefährdung<br />

abschätzen zu können. Aber auch um zu gucken, wie<br />

die Familie unterstützt werden kann. Erst wenn die Kita<br />

an den Punkt kommt, dass sie es mit ihren Mitteln nicht<br />

mehr schafft, dieses Kind zu schützen oder sie können<br />

nicht einschätzen, wie viel Gefährdung vorliegt oder nicht,<br />

weil sie keinen Ermittlungsauftrag hat, dann erst schaltet<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 41


42<br />

Workshop Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verhindern, vermeiden ...<br />

man das Jugendamt ein. Aber es ist durchaus im Sinne der<br />

Kinder und der Familien, dass erst mal die Stelle vor Ort,<br />

die nahe an den Eltern ist, die Kontakt mit ihnen hat, das<br />

Thema zur Sprache bringt.<br />

TN: Zwei Stunden pro Woche bieten wir eine Beratung von<br />

außen an. Da gehen viele Eltern hin, die nicht unbedingt<br />

mit mir als Kitaleiterin sprechen wollen oder mit Kita-Erzieherinnen,<br />

wo wir aber viel mehr die Möglichkeit haben,<br />

konkrete Fragen zu stellen zu allen Punkten, über die sie<br />

unsicher sind. Wenn es um Kinderschutz geht, wenden<br />

wir uns ans Jugendamt. Wir kennen aber auch sehr gut<br />

die für uns Zuständigen auf dem Jugendamt. Wir haben<br />

auch die Elternvertreter zum Austausch eingeladen. Das<br />

ist auch hilfreich.Die Bedenken gegen das Jugendamt gibt<br />

es schon bei den Eltern. Aber wir gehen dort zusammen<br />

hin, sie brauchen ihren Namen nicht zu sagen, es geht nur<br />

um eine Beratung, sie könnten auch wieder rausgehen,<br />

aber erst mal helfen wir ihnen, dass sie da hingehen. Ich<br />

denke, dass das für Eltern ganz wichtig ist.<br />

TN: Was Sie gerade erzählen, das finde ich klasse. Ich würde<br />

es gerne klar formulieren: Der § 8a hat ganz viel in<br />

Gang gesetzt, nicht nur bei Ihnen, sondern eigentlich ist<br />

das eine große Chance, dass alle davon profitieren, dazulernen,<br />

den Blick schärfen, um vernetzter zu arbeiten. Das<br />

Problem ist, wir reden alle gerne von Vernetzung, aber in<br />

der Umsetzung hapert es häufig. Diese ewige Schimpferei<br />

über das Jugendamt ist auch demotivierend für die, die<br />

die Hilfe brauchen, umgekehrt auch für die KollegInnen<br />

im Jugendamt, das heißt, es erwächst daraus viel. Die<br />

Fachlichkeit müsste besser unterstützt werden in den Einrichtungen.<br />

Es lohnt sich, dort anzusetzen, die Ausbildung<br />

dahin auszurichten, besser zu beraten. Da haben wir ein<br />

Defizit. Ich weiß nicht, wie das hier ist, ob Sie da schon<br />

weiter sind?<br />

TN: In Berlin gibt es zum Beispiel für Fachkräfte der freien<br />

Träger eine 10-tägige Fortbildung, über mehrere Module,<br />

die ich sehr gut finde. Ich kann das beurteilen, weil ich selber<br />

daran teilgenommen habe. Ich arbeite im öffentlichen<br />

Träger und interessanterweise wird davon ausgegangen,<br />

dass im RSD alle per se Fachkräfte sind, während man bei<br />

freien Trägern extra diese Ausbildung machen muss. Ich<br />

fand diese Ausbildung für mich sehr wichtig und hilfreich.<br />

TN: Ich glaube auch, dass da eine Debatte in Gang gekommen<br />

ist. In Berlin werden diese Dinge sehr unterschiedlich<br />

gehandhabt, von Bezirk zu Bezirk, aber auch von Person<br />

zu Person verschieden.<br />

TN: Die Fachkräfte brauchen m.E., wenn sie in schwierigen<br />

Situationen kommen, unbedingt die Möglichkeit, sich anonym<br />

beraten zu lassen, damit sie selbst angemessen handeln<br />

können. Viele Jugendämter erwecken den Eindruck,<br />

dass sie mehr daran interessiert sind, Fälle gemeldet zu<br />

bekommen, um selbst sofort einzugreifen. Das verunsichert<br />

und erhöht die Schwelle, sich fachkundigen Rat zu<br />

holen.<br />

TN: Anonym und anonym, das können zwei ganz unterschiedliche<br />

Dinge sein. Das eine ist die anonyme Meldung,<br />

das andere ist die anonyme Beratung. Zu sagen:<br />

Ich glaube, das ist ein Kinderschutzfall, da mache ich mir<br />

Sorgen aus den und den Gründen, aber ich will nicht sagen,<br />

wer ich bin, obwohl ich eine Fachkraft bin, das finde<br />

ich nicht okay. Aber genau diesen Fall hatte ich ganz oft<br />

in der Vergangenheit. Aufgrund der Zusammenarbeit mit<br />

Schulstationen hatte ich Anrufe wie: Ich habe so einen<br />

Fall, bei dem habe ich Bauchschmerzen, aber wenn ich<br />

den jetzt Ihnen vom Jugendamt erzähle, dann geht das<br />

Ganze Prozedere los, das will ich im Moment nicht. Dann<br />

habe ich geantwortet, dass wir es so halten können, dass<br />

er mir das anonym sagt und ich sage meine Einschätzung<br />

und wie wir damit umgehen würden. Dann kann der Anrufer<br />

entscheiden, wie er damit umgehen will. Das ist wie<br />

die Situation mit der Polizei, wo der Polizist rausgeht. Das<br />

kann man praktizieren.<br />

Beate Köhn: Das kann ich durch ein Beispiel untermauern:<br />

Wenn bei der Hotline Kinderschutz jemand anruft<br />

und sagt: Ich bin Familienhelferin, wir haben hier einen<br />

Fall, dann wird klar, es ist eine schwere Gefährdung, akuter<br />

Handlungsbedarf. Und dann sagt ein Profi, ja, ich will


aber nicht namentlich genannt werden. So etwas hatten<br />

wir schon. Dann sagen wir: Stopp, das geht nicht. Wenn<br />

jetzt die Nachbarin sagt, dass sie Angst hat, dann ist das<br />

okay, aber bei Profis? Es ist notwendig, die Dinge möglichst<br />

transparent zu halten und wenn man das unter Profis nicht<br />

macht, ist das problematisch. Es kann ja einen Super-Sonder-Einzelfall<br />

geben, wo das Sinn macht. Aber in der Regel<br />

sind Professionelle für das Jugendamt die Quelle, unser<br />

Bezug, woher wir unser Wissen haben.<br />

TN: Mir fällt natürlich schon was ein, wo man tatsächlich<br />

einem Professionellen die Möglichkeit geben sollte, die<br />

Meldung anonym zu machen, beispielsweise in Jugendeinrichtungen.<br />

Warum nicht?<br />

Beate Köhn: Weil auch die dortigen Mitarbeiter eine Meldung<br />

nicht als Privatperson machen, sondern sie sind<br />

nach dem SGB VIII, Paragraf 8, Einrichtungen, die so eine<br />

Dienstleistung erbringen müssen.<br />

TN: Wenn hier gesagt wird, dass eine anonyme Beratung<br />

etwas anderes ist als die anonymisierte Meldung, das<br />

finde ich einleuchtend. Die Meldung kann nicht anonym<br />

sein, das hat was damit zu tun, dass man nicht einfach<br />

jemanden beschuldigen darf, ohne dafür auch einstehen<br />

zu müssen.<br />

Beate Köhn: Von dem allgemeinen und sehr umfangreichen<br />

Angebot zum Kinderschutz gehen wir wieder<br />

zurück auf einen Aspekt, nämlich mit Eltern überhaupt<br />

erst mal in Kontakt zu kommen und den Kontakt zu halten.<br />

Das ist ja für viele, die hier sind, ein Teil dieser direkten<br />

Arbeit. Auch dazu zu ermuntern, die angebotene<br />

Hilfe anzunehmen. Vieles von dem, was Ihre KollegInnen<br />

tun, die ehrenamtlich in den Familien sind, muss auch in<br />

der Kita, in Nachbarschaftsheimen oder Freizeiteinrichtungen<br />

passieren, weil wir es oft mit sehr entmutigten<br />

Familien zu tun haben. Wir haben es oft mit Familien zu<br />

tun, die bisher möglicherweise das Jugendamt oder auch<br />

andere Institutionen und staatliche Unterstützung nicht<br />

als hilfreich und nicht als würdigend und respektvoll<br />

erlebt haben. Insbesondere haben sie diese Erfahrung<br />

gemacht, wenn sie beim JobCenter bestimmte Anträge<br />

stellten mussten. Wer das mal mitgemacht hat oder sehr<br />

nahe an Leuten dran ist, die das mitmachen müssen,<br />

der weiß: Es ist unglaublich, welche Entmutigung damit<br />

einhergeht.<br />

Ich habe das jetzt ein bisschen auf Nachbarschaftsheime<br />

ausgerichtet, aber Sie können sich das auch umdenken:<br />

Wie im Gegensatz dazu eine stärkende und ermutigende<br />

Einstellung bei denjenigen, die Hilfe anbieten, präsent ist.<br />

Denn damit wird was vorgelebt, damit wird ein bestimmtes<br />

Beziehungsgeschehen vorgelebt, das stimmt auch für Ihre<br />

Ehrenamtlichen, die leben das. Das theoretische Wissen<br />

darüber, was Kinder brauchen, um gesund und glücklich<br />

aufwachsen zu können, haben viele. Aber darüber hinaus<br />

halte ich es für enorm wichtig, dass wir uns, ob ehrenamtlich<br />

oder professionell, Risikofaktoren, mit Gefährdungseinschätzung<br />

befassen, um eine mögliche Gefährdung<br />

eines Kindes erkennen zu können.<br />

Einen Teil macht der gesunde Menschenverstand, andere<br />

Teile sind schon ein bisschen schwieriger zu erkennen. Gut<br />

gemeint ist nicht immer gut, wenn man desolate Verhältnisse<br />

mit seiner Unterstützung vielleicht aufrecht erhält.<br />

Ich bin durch meine Arbeit immer mit den Super-Krisen-<br />

Fällen befasst, mit häuslicher Gewalt usw. Wenn man da<br />

nach dem Motto hinsieht: Eigentlich ist er doch ganz nett,<br />

ist auch ganz nett zum Kind, ohne zu erkennen, welche<br />

Dynamik und welche Gefährdung dahinter steckt, dann ist<br />

das nicht hilfreich.<br />

Deswegen ist ein bestimmtes Wissen schon gut. Die<br />

zweite Seite ist das Wissen um die gesellschaftlichen<br />

Hintergründe, auf denen familiäres Leben stattfindet.<br />

Ökonomische Verhältnisse werden manchmal außer<br />

Acht gelassen. Oder etwa: Was bedeutet es, wenn jemand<br />

zum Beispiel inhaftiert gewesen ist, wie erlebt der<br />

die Unfreundlichkeit des Arbeitsmarktes, usw., was bedeutet<br />

das für die Familien? Es gibt diesen nicht ausgesprochenen<br />

Satz in Familien mit großen Schwierigkeiten:<br />

Niemand soll wissen, niemand darf wissen. Das ist natürlich,<br />

wenn man mit seinem schönen Hilfe-Setting aus<br />

irgendeinem gut gemeinten professionellen Grunde ankommt,<br />

unverständlich: Wie sind die denn drauf? Was<br />

ist denn da los? Warum finden die das nicht toll, ich bin<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 43


44<br />

Workshop Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verhindern, vermeiden ...<br />

schon drei Mal gegangen, um die Ecke gibt es die Stadtmission,<br />

da können die sich komplett einkleiden, die sagen<br />

aber Nein, das mache ich nicht.<br />

Das heißt, wir müssen erst mal überlegen, welche Gefühle<br />

herrschen in Familien mit schwierigen und schwerwiegenden<br />

Problemlagen überhaupt vor. Wir haben es mit<br />

Angst zu tun, mit Scham, mit Schuldgefühlen, z.B. keine<br />

gute Mutter oder guter Vater sein zu können, Schuldgefühle<br />

wegen ewig andauernder Arbeitslosigkeit zu haben,<br />

keinen Job zu finden, damals in der Schule schon nicht<br />

genug Ehrgeiz entwickelt zu haben, usw. Wir haben es mit<br />

Verzweiflung zu tun, mit Anspannungen, Unsicherheiten,<br />

mit einer großen Einsamkeit in vielen Familien, mit Hilflosigkeit<br />

und auch mit Beziehungslosigkeit.<br />

Aus diesen Gefühlen ergibt sich auch eine bestimmte<br />

Haltung und es ergeben sich soziale Folgen. Die ergeben<br />

sich direkt für uns, wenn wir mit unserem netten Hilfeangebot<br />

da stehen, denn da schlägt uns Abwehr und Verweigerung<br />

entgegen. Das ist ein Abschotten, Resignation<br />

und Hoffnungslosigkeit. Wenn ich von einigen Familien<br />

Geschichten höre, was sie schon alles probiert haben und<br />

wie es ihnen dabei ergangen ist, dann geht es mir als Profi<br />

seit vielen Jahren schon so, dass ich beinahe selber nichts<br />

mehr machen möchte. Warum sollte es Leuten, die ehrenamtlich<br />

tätig sind oder vielleicht nicht so viel damit zu tun<br />

haben, anders ergehen? Das heißt, da passiert auch was<br />

mit demjenigen, der Hilfe anbietet.<br />

Geheimhaltung ist ein großes Thema, insbesondere wenn<br />

es wirklich gefährlich werden kann, wenn das Beziehungsgeflecht<br />

innerhalb der Familie durch eine Hilfe in Ungleichgewicht<br />

geraten kann. Dann kann es sehr kritisch und<br />

gefährlich werden, also muss gedeckelt werden. Soziale<br />

Isolation, Beziehungs- und Bindungsverweigerung, das<br />

heißt, wenn es ein bisschen gemütlich wird,<br />

Unkenntnis über Hilfemöglichkeiten oder falsche Vorstellungen:<br />

Das einfachste Beispiel dafür ist das Jugendamt<br />

- was Leute fantasieren, was sich auf dem Amt tut oder<br />

nicht tut, das ist unglaublich. Da ist es toll, wenn es in<br />

einigen Bezirken die Möglichkeit gibt, ein bisschen Zeit<br />

aufzuwenden und eine offensive Arbeit zu machen, aufzuklären<br />

darüber, welche Möglichkeiten und Rechte Familien<br />

haben. Es gibt Familien, die bisher schlecht zum Zuge<br />

gekommen sind, übersehen worden sind, obwohl sie Hilfe<br />

ganz besonders nötig haben. Gerade bei denen kommt<br />

oft die Hilfe nicht an. Das ist etwas ganz Kompliziertes.<br />

Es wäre mal hochinteressant, bei Wellcome zu evaluieren,<br />

ob der Mut nach Hilfe zu fragen, bei diesen kritischen<br />

Familien vorhanden ist, ob sie sich überhaupt an so ein<br />

Projekt wenden. Denn sie erwarten ja keinerlei Hilfe.<br />

TN: Das ist ein ganz großes Problem bei Wellcome, weil<br />

keiner gerne um Hilfe bittet. Auch die normale Familie<br />

nicht, zumindest nicht in der Krise. In einer starken Position<br />

kann man gut um Hilfe bitten, wenn man sich gut<br />

fühlt. Aber wenn man sich schlecht fühlt, dann geht das<br />

viel schwerer.<br />

Beate Köhn: Dann gibt es das Gefühl der Außenbedrohung.<br />

Das kann darin münden, wenn in der Kita eine Erzieherin<br />

zu der Mutter sagt, dass das Kind schon wieder kein<br />

Frühstück dabei hat, dass die Mutter dann fadenscheinige<br />

Erklärungen sucht. Sie fühlt sich kontrolliert, was sogar zur<br />

Abmeldung des Kindes führen kann. Die Versagensängste,<br />

dass man eine schlechte Mutter sein könnte, schweben<br />

gerade über solchen Müttern, die in der Versorgung<br />

ihrer Kinder teilweise lückenhaft sind. Gegenüber dieser<br />

Außenbedrohung muss geleugnet werden, deswegen wird<br />

zum Beispiel gesagt: Ja, der hat heute Morgen wieder so<br />

ein Theater gemacht, dass er die Brote vergessen hat. Es<br />

gibt immer tausend andere Gründe.<br />

Die Autonomie von Eltern muss konsequent im Vordergrund<br />

stehen. Das Fehlverhalten von Eltern, das, was<br />

fehlt, sollte wirklich nur als ein Verhalten unter anderen<br />

beschrieben werden. Und nicht, wie es vielleicht Eltern<br />

in einer schlechten und schwachen Position empfinden,<br />

dass es um ihre Person geht. Immer wollen mir alle sagen,<br />

was ich zu tun habe. Da ist gleich ein Angriff drin. Es<br />

geht also nur um einen Ausschnitt aus dem elterlichen<br />

Verhaltensspektrum. Mit dem positiven Effekt, dass es<br />

auch immer eine Veränderungsdynamik gibt. Auch in Gefährdungsfällen,<br />

auch wenn es schon richtig haarig ist,<br />

wenn ein Kind geschlagen wird, wenn ein Kind alleine<br />

gelassen wird, z.B. die Aufsichtspflicht vernachlässigt<br />

wird, weil die Eltern nachts nicht da sind. Es gibt immer


auch eine andere, bessere Seite. In der Klärung muss<br />

man diese gute Elternseite ansprechen, gerade auch bei<br />

Eltern mit ganz kleinen Kindern ist die Chance groß, die<br />

Zustände bessern zu können. Man muss also schauen,<br />

was diese gute Eltern-Seite braucht. Es ist aber nicht gesagt,<br />

dass man das Problem im bestehenden familiären<br />

Kontext lösen kann. Aber es geht darum, die gute Seite<br />

erst mal im Kopf zu haben.<br />

Jeder in dieser Konstellation hat eine unterschiedliche<br />

Rolle, aus der heraus er agiert. Diese Rollen müssen geklärt<br />

werden. Welches ist Rolle und Aufgabe des Jugendamtes?<br />

Das ist auch die des Buh-Manns, das Wächteramt<br />

zu haben. Das haben nicht die Ehrenamtlichen, sondern<br />

das hat das Jugendamt. Die staatliche Gemeinschaft<br />

wacht über das Wohl der Kinder. Damit sind nicht alle gemeint,<br />

sondern das ist in Deutschland so geregelt, dass es<br />

ein Jugendamt gibt, das notfalls über das Familiengericht<br />

seine Maßnahmen durchsetzt. Aber der Job der Leute an<br />

der Basis, die den Kontakt zu den Kindern und den Eltern<br />

haben, ist es, eine Beziehung aufzubauen, um Familien<br />

davon überzeugen zu können, Hilfe vom Jugendamt, vom<br />

Nachbarschaftshaus oder von woanders anzunehmen.<br />

Natürlich ist Grundvoraussetzung bei Gefährdungsfällen,<br />

die Gefährdung realistisch einschätzen zu können und<br />

auch zu sehen: Halt, hier geht es über meine Kompetenz<br />

hinaus, das muss ich weitergeben. Allen, die direkt mit<br />

Kindern und Kleinstkindern zu tun haben, ist es wichtig,<br />

das zu vermitteln, das heißt, Rücksprache mit Fachleuten<br />

– unter dem 4-Augen-Prinzip -, die Absprache mit mehreren<br />

Fachkräften. Also Professionalität und Kooperation<br />

sind wichtige Punkte, neben dem Aspekt, die Beziehung<br />

aufzubauen.<br />

Der andere Aspekt ist das Stützen, Begleiten und Vernetzen<br />

und auch Standhalten. Wenn da jemand sagt: Nein,<br />

das will ich nicht, das sehe ich ganz anders, muss man<br />

dranbleiben, auch gegen den Widerstand von Scham, Verleugnung<br />

und Isolation muss man ruhig standhalten.<br />

Welche notwendigen Schutzmaßnahmen müssen gegebenenfalls<br />

eingeleitet werden? Liegen Dinge dabei auf<br />

derVerbrechensebene? Natürlich ist zu bedenken, dass<br />

Eltern, auch wenn Kinder kurz- oder langfristig aus der<br />

Familie genommen werden, immer Eltern bleiben und in<br />

ihrer Elternrolle extrem wichtig sind. Auch wenn das Kind<br />

gerade in einer Einrichtung oder im Heim untergebracht<br />

ist, behalten Eltern ihre Elternrolle, da geht es auch immer<br />

noch darum, die Beziehung zu halten, zu stützen. Es<br />

kann ja auch ein guter Schritt sein zu sagen, ich schaffe<br />

es nicht, ich werde das Kind in eine Pflegefamilie geben.<br />

Das kann eine hochgradig verantwortliche Entscheidung<br />

von Eltern sein.<br />

Jedes Problem ist ein Abfahrtsbahnhof zu einem Ziel. Es<br />

geht darum, aus dem jeweiligen Kontext mit der Familie<br />

einen Fahrplan zu erstellen, einen Veränderungsprozess<br />

in Gang zu setzen, und sei es nur in Gesprächen oder in<br />

kleinen Schritten. Wir müssen Wege aus der Hilflosigkeit,<br />

aus der Entmutigung und Resignation bauen helfen. Weil<br />

wir teilweise mit<br />

Familien zu tun haben,<br />

denen es so<br />

schlecht geht und<br />

wo viele Sachen<br />

sehr erdrückend<br />

sind, wo nebst<br />

Krankheit und<br />

Trennung und Gewalt<br />

und eigenen<br />

schlechten Erfahrungen<br />

und Arbeitslosigkeit noch andere Faktoren dazukommen.<br />

All das ballt sich zu einem unübersichtlichen<br />

Haufen, so dass man nur Schritt für Schritt gucken kann,<br />

wie ist da standzuhalten, um den nächsten Schritt zu finden.<br />

Man muss gemeinsam Ziele entwickeln, das können<br />

ganz kleinteilige Sachen sein. Eine Stabilisierung zu erreichen<br />

heißt: Nach Möglichkeiten zu suchen, wie Eltern<br />

über bestimmte Prozesse ihres Lebens wieder Kontrolle<br />

kriegen können. Schule, Schulden, Arbeit, all das sitzt<br />

ihnen im Nacken. Oder das Kind tanzt mir auf der Nase<br />

herum, der macht mich wahnsinnig. Das sind Momente,<br />

die gefährlich werden, wo die Situation im Affekt aus<br />

der Kontrolle geraten kann. Das Gefühl der Kontrolle ist<br />

wichtig, es muss in kleinen Schritten stabilisiert werden,<br />

durch die schrittweise Verwirklichung von Zielen. Das ist<br />

der Prozess, den wir begleiten und unterstützen.<br />

Diese Kompetenzstärkung, die Erfahrung, das ist erstaun-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 45


46<br />

Workshop Verhindern, vermeiden, vorbeugen<br />

Verhindern, vermeiden ...<br />

lich, wenn Eltern dieses „Ich kann“ erfahren, ich kann<br />

in diesem Punkt eine gute Mutter sein usw., die ist sehr<br />

beeindruckend. Wenn sich z.B. das bisher übliche abendliche<br />

Chaos langsam beruhigt und die Mutter die Situation<br />

endlich im Griff hat. Es klappt nicht immer alles. Aber es<br />

gibt Dinge, die gehen jetzt.<br />

Auch Solidaritätserfahrung ist wichtig: Ich bin nicht alleine,<br />

es geht nicht nur mir so, es geht auch anderen so. D.h. durch<br />

Elterngruppen, Seminare, nachbarschaftliche Unterstützung<br />

erfährt man Solidarität und findet gemeinsam Wege.<br />

TN: Für die Familienmitglieder ist es ganz wichtig zu wissen,<br />

woran sie mit mir sind. Wie ist meine Einschätzung?<br />

Wie ist mein Blick? Was ist meine Aufgabe? Welche Spielräume<br />

habe ich? Welches Ziel will ich gemeinsam mit der<br />

Familie für das Kind erreichen? Auf diesem Wege kann<br />

ich zum Erfolg kommen, trotz all dieser schwierigen Kinderschutzdiskussionen<br />

und Vorbehalte, die da sind.<br />

TN: Das Jugendamt Steglitz-Zehlendorf verschafft sich einen<br />

Vorteil: es wirbt für sich, verglichen mit anderen Jugendämtern.<br />

Ich habe das mal recherchiert, es gab nur zwei<br />

Jugendämter, die z.B. zum Thema Kinderschutz auf ihrer<br />

Website etwas geschrieben haben und eine Orientierung<br />

gaben. Das waren lediglich Spandau und Steglitz-Zehlendorf,<br />

alle anderen nicht. Die anderen Jugendämter sind gegenüber<br />

Leuten, die Probleme haben , verschlossener.<br />

Häufig ist der erste Satz bei einem Gespräch mit dem Jugendamt,<br />

wenn eine Mutter mit einem problematischen<br />

Kind kommt: Denken Sie bloß nicht, dass Sie von uns eine<br />

Wohnung kriegen können. Hinter so einer ablehnenden<br />

Äußerung steckt das Gefühl: es kommt noch jemand, der<br />

will was von uns. Irgendwie muss man aber doch an dem<br />

Denken der Leute ansetzen, was sie wollen und brauchen,<br />

an deren Sicht auf die Dinge. Wenn sie kein Problemempfinden<br />

haben, kann man wahrscheinlich nur ganz schwer<br />

einen gemeinsamen Ansatzpunkt finden. Wenn sie aber<br />

ein Problemempfinden haben, dann wird das Problem<br />

höchstwahrscheinlich anders wahrgenommen als ich es<br />

sehe. Sie sehen es anders, aber wenn ich da nicht rankomme,<br />

komme ich auch nicht durch ein Lösungsangebot<br />

ran, weil sie das auch nur als Bedrohung empfinden.<br />

TN: Es geht um unsere Haltung. Ich glaube, was oftmals<br />

fehlt, ist eine Reflektion darüber, warum wir diese Arbeit<br />

machen und was wir erreichen möchten.<br />

TN: Was diese Haltung betrifft: Einerseits hoffe und glaube<br />

ich, dass sich in letzter Zeit was geändert hat. Man muss<br />

sich realistisch ansehen, wie diese Familien alltäglich leben.<br />

Und das gilt ebenso für die Umstände, unter denen<br />

die Kollegen in den Jugendämtern arbeiten.<br />

Ich weiß, dass es dort Leute gibt, die sich wirklich von ihren<br />

Aktenbergen bedroht fühlen. Und jeden Morgen kann<br />

etwas in der Presse stehen. Es gibt Kollegen, die sagen:<br />

Wenn ich zur Arbeit komme, bin ich jedes Mal froh, wenn<br />

ich keinen Zeitungsausschnitt auf dem Tisch habe, dass<br />

sich eine Mutter aus meinem Kiez mit ihrem Säugling<br />

aus dem Fenster gestürzt hat. Denn damit kann ich jederzeit<br />

rechnen. Sie haben wenige Möglichkeiten. Es gibt<br />

Jugendämter, Spandau gehört dazu, die haben nicht mal<br />

intern ihre Computer vernetzt. Das heißt, es werden in der<br />

freien und öffentlichen Jugendhilfe zur Erfüllung dieses<br />

Schutzauftrages zu wenig Mittel zur Verfügung gestellt.<br />

Zur Veränderung der Haltung den Eltern gegenüber hat es<br />

Fortbildungen und Schulungen gegeben, da ist viel passiert.<br />

Heute heißt es: Eltern ins Boot, respektvolle Haltung<br />

gegenüber den Eltern, hoffentlich verankern sich diese<br />

Prinzipien. Aber wir wissen natürlich alle, dass es leichter<br />

gesagt als getan ist, Eltern aus diesem schwierigen Feld<br />

Respekt entgegen zu bringen. Diese Einstellung zu entwickeln,<br />

braucht Zeit und Geduld.<br />

TN: In unserem Nachbarschaftshaus haben wir ein Projekt<br />

zur Schulbegleitung von Roma-Kindern gemacht. Wir<br />

arbeiten mit den Familien zusammen, die keinen Kontakt<br />

zu den Jugendämtern haben, und dennoch oft dringend<br />

Unterstützung brauchen. Meine Kolleginnen versuchen,<br />

die Eltern darauf vorzubereiten, dass das Jugendamt helfen<br />

kann, also nicht als eine Bedrohung empfunden werden<br />

muss. Dann gehen diese Eltern schließlich mit uns<br />

zu den Jugendämtern. Und da läuft es andersrum, dass<br />

wiederum wir dafür sorgen müssen, dass die Jugendämter<br />

sich dem Problem überhaupt öffnen und in Kooperation<br />

mit den Eltern treten. Manche Migrantenfamilien haben


die Erfahrung gemacht, dass sie total abgebügelt werden.<br />

Oder sie waren beim Amt, niemand hat sie unterstützt, dann<br />

gehen sie auch nicht mehr hin. Wenn man hingehen will,<br />

dann muss man auf beiden Seiten sehr viel aufbrechen, um<br />

überhaupt wieder eine Bereitschaft dafür zu haben.<br />

Willy Eßmann: Ich möchte das unterstützen. Das ist ein<br />

extra Thema, das mit Migranten zu tun hat. Wir haben<br />

auch so ein Projekt, wo es darum geht, dass Kollegen<br />

von uns in Familien gehen und es erstmalig sozusagen<br />

dem Jugendamt ermöglichen, durch uns einen Kontakt zu<br />

solchen Familien zu bekommen. Das Projekt heißt „Kulturlotsen“.<br />

Die Jugendamtsmitarbeiter/innen bekommen<br />

dadurch Einblick in Lebenswelten, die ihnen trotz jahrelangen<br />

Kontaktes mit solchen Familien völlig fremd geblieben<br />

sind, weil sie sie nur in der künstlichen Welt ihrer Amtsstuben<br />

erlebt haben. Es gibt hier einen großen Nachhol- und<br />

Qualifizierungsbedarf.<br />

TN: Aber vielleicht braucht man ganz einfache Dinge. Ich<br />

hatte vor Kurzem ein prägnantes Erlebnis. Ich war zu einer<br />

Notfallbehandlung im Krankenhaus. Eine Ärztin hat zwar mit<br />

mir gesprochen, aber mir dabei in dreiviertel der Zeit den<br />

Rücken zugewandt, weil sie alles, was für die Untersuchung<br />

wichtig war, gleich in die Tastatur tippte und deswegen auf<br />

den Bildschirm guckte. Diese Ärztin bräuchte dringend<br />

eine Schulung in Körpersprache, um eine Ahnung davon<br />

zu bekommen, welche Nebenwirkung ihre Haltung auf den<br />

Patienten haben kann. Wenn bei den Jugendämtern eine<br />

ähnliche Situation entsteht, wenn dort als erstes dieser Erfassungsbogen<br />

ausgefüllt wird, dann wirkt dieses Verhalten<br />

sicherlich einschüchternd und abschreckend auf Eltern. Hier<br />

könnte eine Schulung für die Mitarbeiter helfen.<br />

TN: Vielleicht sollten die mal bei Karstadt eine Schulung<br />

für den Umgang mit Menschen machen ...<br />

TN: Das ist eine Super-Idee, ob bei Karstadt oder bei der<br />

Lufthansa, aber wir reden über Zeit und Geld. Ich will da<br />

nicht alles dran festmachen, aber ich glaube, dass hinter<br />

Qualität eine Menge steckt: Fortbildung, Empathie, Zeit<br />

usw. Ich habe Kollegen, die haben eine Bonbonschale auf<br />

ihrem Schreibtisch. Dann kommen Klienten und nehmen<br />

alle Bonbons raus. Dann könnten die Kollegen über den<br />

Tisch springen, die werden richtig sauer. Und was haben<br />

sie vorher erzählt? Sie werden nicht beachtet, sie müssen<br />

eine halbe Stunde rennen, um zum Kopierer zu kommen,<br />

sie haben kein Dienst-Handy, sie haben keinen vernünftigen<br />

Internet-Anschluss, sie werden nicht gewürdigt und<br />

sie haben die ganze Scheiße am Hals. Und in allen Familien<br />

grummelt es, wir haben es mit einer relativ heißen<br />

Situation hier in manchen Berliner Bezirken zu tun, da<br />

geht es rapide bergab, die Aggressionen steigen, auch bei<br />

den Klienten. Da ist richtig Bewegung drin. Da gibt es eine<br />

Menge Möglichkeiten zu schulen, neue Gedanken oder<br />

auch andere Strukturen reinzubringen. Das ist jetzt die<br />

Frage, wo sind die Ursachen für Verhaltensmängel? Was<br />

ist gewollt? Ein Mitarbeiter des Jugendamts sollte seine<br />

Aufgaben innerhalb seiner Arbeitszeit vernünftig erledigen<br />

können und nicht am Wochenende.<br />

TN: Ich denke, das hat mit gesellschaftlicher Wertschätzung<br />

zu tun, aber die ist nicht ausreichend vorhanden. Wie<br />

kann die hergestellt werden? Wie können wir Verständnis<br />

für unsere Aufgaben hervorrufen? Ich meine, da ist Sozialraumbezug<br />

und Transparenz ein wichtiger Ansatzpunkt.<br />

TN: Wenn es wirklich vorkommt, dass Kollegen an die 100<br />

Fälle auf dem Tisch haben, dann fehlt ihnen jede Grundlage<br />

für vernünftiges Arbeiten, dann können die einfach<br />

nicht mehr. Dann können sie nur noch sehen, wie sie irgendwie<br />

mit dem Leben davonkommen. Ich kann mir auch<br />

vorstellen, dass in so einer Stresssituation solche Unmöglichkeiten<br />

passieren. Das ist keine Entschuldigung, aber<br />

das ist eine Erklärung.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 47


48<br />

Workshop<br />

Zwischentöne<br />

Generationendialoge und Generationenverantwortung<br />

der Verantwortung, die wir in unserer Tätigkeit in Nachbarschaftshäusern<br />

und Stadtteilzentren auch für die<br />

verschiedenen Generationen haben.<br />

Inputs:<br />

Karl-Fried Schuwirth, Wiesbaden<br />

„Aktives Netzwerk im Alter“<br />

Bettina Zey (NBH Mittelhof) und Timm Lehmann<br />

(NBH Mittelhof, Mehrgenerationenhaus Zehlendorf-Süd)<br />

„Zeitzeugenprojekte - Begegnung von Grundschulkindern<br />

und Senior/innen“<br />

Barbara Rüster (GWV Heerstr. Nord, Berlin)<br />

„Die Glücksfee - Beispiel einer Generationenbegegnung“<br />

Andrea Brandt (Biffy Berlin - Big Friends for Youngsters e.V.)<br />

„Patenschaftsprojekt für Berliner Kinder“<br />

Moderation:<br />

Petra Sperling<br />

Petra Sperling: Unser Augenmerk richtet sich auf den<br />

Dialog zwischen den Generationen. Bei Älteren ist es ja<br />

heute häufig so, dass sie nicht mehr nahe bei ihrer Kernfamilie<br />

leben, sondern in anderen Städten. Wir müssen<br />

darum den Blick auf die Generationen erweitern, weil<br />

die alten Menschen, die im Gemeinwesen leben, oft<br />

keine Familie mehr haben. Auf der anderen Seite gibt<br />

es die Kinder, die den Kontakt zu alten Menschen dringend<br />

brauchen. Wir beschäftigen uns mit dem Dialog<br />

zwischen den Generationen, aber gleichzeitig auch mit<br />

Karl-Fried Schuwirth: Ich bin seit vier Jahren im Ruhestand,<br />

nach 30 Jahren Arbeit im Nachbarschaftshaus in<br />

Wiesbaden. Damals merkte ich, dass es ganz viel Ruhe<br />

gibt nach der hektischen Arbeitsphase. Ich habe mir nie<br />

darüber Gedanken gemacht, wie mein Leben als Rentner<br />

später mal aussehen würde, so wie ich mir keine<br />

Gedanken über meine Altersversorgung gemacht habe.<br />

Ich dachte über meine Rente: Ich habe bisher eingezahlt,<br />

jetzt seid ihr Jüngeren dran mit dem Einzahlen und davon<br />

lebe ich dann. Es wurde mir natürlich auch sehr schnell<br />

klar, dass es da ein paar Probleme gibt. Die demografische<br />

Entwicklung sieht in dieser Beziehung nicht gut<br />

aus, die steigende Lebenserwartung steht dem entgegen,<br />

dass die nächste Generation für die Renten aufkommen<br />

kann. Es ist wichtig sich Gedanken zu machen, wie es<br />

später aussieht. Ihr wisst alle, dass das ein heftiges Problem<br />

wird, sicher auch für euch, wie die Altersversorgung<br />

aussieht. Die Frage ist, wo sind da noch Kapazitäten? Es<br />

gibt eigentlich nur noch ganz wenige Möglichkeiten, Kapazitäten<br />

zu bekommen.<br />

Ich habe auf einmal gemerkt, dass ich als noch nicht<br />

so ruhebedürftiger Rentner Kapazitäten habe. Ich habe<br />

durchaus eine Lebensperspektive, die ersten 15 Jahre<br />

kann ich ganz viel geben von dem, was ich vielleicht<br />

in den nächsten 15 Jahren dann umso mehr brauchen<br />

werde. Da sind Kapazitäten. Ich habe Zeit. Ich kann hier<br />

für meine Altersversorgung etwas einbringen, meine Zeit,<br />

meine Hilfe.<br />

Es gibt eine ganze Menge Leute, die nichts mehr für<br />

die finanzielle Altersversorgung tun können, die aber<br />

ganz viel Zeit haben. Es gibt ganz viele, die nicht mehr<br />

richtig im Berufsleben integriert sind, die viel Zeit hätten,<br />

aber keine finanziellen Möglichkeiten. Da fühle<br />

ich mich sehr einig auch mit jüngeren Leuten, die im<br />

Augenblick keine Perspektive haben, um sich beruflich<br />

weiterzuentwickeln und die möglicherweise auch sehr<br />

viel Zeit haben. Wir haben Zeit, das zu geben, was wir<br />

später brauchen.


Und jetzt kommt ANIA. ANIA ist genau an der Schnittstelle,<br />

wo es darum geht, heute etwas einzubringen, was man<br />

später selber brauchen wird. ANIA ist das aktive Netzwerk<br />

im Alter. Viele von Euch kennen Tauschringe und deren<br />

Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Tauschringe.<br />

Tauschringe kranken oft daran, dass es eigentlich ein ausgeglichenes<br />

Verhältnis geben muss zwischen dem, was<br />

gegeben wird und dem, was genommen wird. Es gibt aber<br />

ganz viele, die viel geben wollen, die aber nichts brauchen.<br />

Deswegen ist dann das Konto nicht ausgeglichen, das ist<br />

das große Problem der Tauschringe.<br />

Wenn ANIA da ist, dann ist das kein Problem, denn das<br />

kann ich zeitlich völlig anders dimensionieren. Damit kann<br />

ich jetzt noch viele Jahre lang etwas geben, bevor ich später<br />

davon selber profitiere.<br />

ANIA ist auch eine Bank, mit einem Konto, auf das ich jetzt<br />

ansparen kann. Zu einem späteren Zeitpunkt kann ich es<br />

dann abrufen, nämlich dann, wenn ich Hilfe brauche. Jeder,<br />

der jetzt durch Hilfeleistungen einzahlt, tut etwas für<br />

seine Altersversorgung. Das ist eine Motivation, die sehr<br />

intensiv und ernsthaft betrieben werden kann, wirklich ein<br />

Stück Altersversorgung, ich kann wirklich etwas geben für<br />

das, was ich später brauchen kann. Wenn diese Bank meine<br />

Konten richtig führt. Ich brauche tatsächlich ein Stück<br />

Bürokratie, indem meine jetzigen Leistungen registriert<br />

werden, damit sie später als Guthaben da stehen, das ich<br />

dann abrufen kann.<br />

ANIA ist leider noch nicht da. ANIA kommt noch. ANIA muss<br />

kommen! Und ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mit<br />

dazu beitragt, damit ANIA kommt. Was aber schon da ist:<br />

Es gibt ganz viele Netzwerke im Alter, fast jede Stadt hat<br />

solche Netzwerke. ANIA hätte die große Chance, eine Vision<br />

zu geben, in der alle diese Netzwerke ein Stück Zukunft<br />

haben, sich weiterzuentwickeln. Jeder kleine Tauschring<br />

hätte die Möglichkeit, sich als Filiale von ANIA, dieser großen<br />

Bank, zu fühlen, wenn es möglich wäre, dass all diesen<br />

kleinen Filialen Know-How, ein Programm, zur Verfügung<br />

gestellt würde, das es ermöglicht, die Tauschmöglichkeiten<br />

zu registrieren und zu sammeln. So lange ANIA noch nicht<br />

da ist, haben wir uns in Wiesbaden zusammengetan und<br />

ein Netzwerk im Alter etabliert. Das Nachbarschaftshaus<br />

ist mit von der Partie und einige andere Einrichtungen.<br />

Dieses Netzwerk zeichnet sich nämlich genau durch den<br />

Charme aus, dass fast keine Bürokratie nötig ist. Man<br />

kann sich als älterer Mensch, 55Plus, registrieren und<br />

einklinken. Man kann sich ganz schnell mit anderen Menschen<br />

verbinden, die ähnliche Interessen haben.<br />

In diesem Netzwerk gibt es ein Telefon, das Netzwerkhilfen<br />

vermittelt. Es gibt in diesem Netzwerk ganz viele, die<br />

sich als Helfer geoutet haben. Und es gibt ein Büro. Das ist<br />

eine Aktentasche, in der ein Handy und eine Liste stecken.<br />

Man kann zu jeder Tages- oder Nachtzeit dort anrufen, zwischen<br />

10 und 12 ist dieses Handy persönlich erreichbar.<br />

Dieses Handy – also das Büro – wird Woche für Woche<br />

weitergegeben, wir sind acht Leute, die dieses Büro betreuen,<br />

man kommt also alle zwei Monate dran, das ist<br />

machbar. Und außerdem ist es im Internet und man kann<br />

sich sehr schnell mit seinen Interessen verknüpfen.<br />

Meine Hoffnung ist, dass dieses Netzwerk – wie alle anderen<br />

Netzwerke – irgendwann sich wieder findet in ANIA,<br />

was bedeutet Aktive Netzwerke im Alter. Ich bin überzeugt,<br />

dass das die einzige Möglichkeit ist, um ein Stück der Vorsorgeproblematik<br />

zu bewältigen. Wenn ihr das auch so<br />

seht, würde ich mich freuen, wenn ihr unterstützt, dass<br />

ANIA kommt. Weitere Informationen können Sie aus dem<br />

<strong>Rundbrief</strong> entnehmen.<br />

TN: Was sind die Themen, die am meisten nachgefragt<br />

werden? Oder mit welchen Interessen kommen die Leute,<br />

die schon da sind? Hier steht eine ganze Liste, aber ist es<br />

das?<br />

Karl-Fried Schuwirth: Was da genannt ist, ist sehr repräsentativ.<br />

Dieses Netzwerk lebt eigentlich davon, dass es<br />

kein virtuelles Netzwerk ist, sondern dass die Leute sich<br />

begegnen. Das ist sehr wichtig, dass man sich wirklich<br />

persönlich begegnet. Merkwürdigerweise floriert in Wiesbaden<br />

besonders, gemeinsam die Wirtschaften zu erkunden.<br />

Das ist sehr beliebt und sicher auch ein Motor für<br />

vieles andere. Dabei wird dann zum Beispiel erzählt, dass<br />

jemand mit seiner Fernbedienung vom Fernseher nicht<br />

zurecht kommt, schon ist ANIA-Hilfe angesagt. Die Computergruppe<br />

hilft sich gegenseitig oder die Gruppe Praktische<br />

Philosophie, die durchaus auch Perspektiven über<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 49


50<br />

Workshop Zwischentöne<br />

Zwischentöne<br />

die Sinnhaftigkeit des Tuns oder des Lebens erörtert. Besonders<br />

gefragt sind gesellige Veranstaltungen, möglichst<br />

mit nicht so furchtbar viel Verbindlichkeit, wo man kommt,<br />

aber auch wieder gehen kann.<br />

TN: Ich komme aus Freiburg aus einem Stadtteilzentrum.<br />

ANIA ist überregional oder soll es überregional werden?<br />

Und worüber wir jetzt gesprochen haben, das ist territorial<br />

auf die Stadt bezogen?<br />

Karl-Fried Schuwirth: Genau. ANIA ist eine große Sache.<br />

Wo kann ANIA überhaupt angesiedelt werden? Für mich<br />

ist ANIA in einem Wohlfahrtsverband besonders gut angesiedelt.<br />

Ich denke, der Paritätische wäre prädestiniert.<br />

Ich habe auch in dieser Richtung mal gebohrt und mich<br />

kundig gemacht und gemerkt, dass ein lebhaftes Interesse<br />

daran besteht.<br />

Der einzige Einwand, den ich mir vorstellen kann ist, dass<br />

natürlich in Wohlfahrtsverbänden auch professionelle Hilfen<br />

organisiert sind, für die das durchaus eine Konkurrenz<br />

sein könnte.<br />

TN: Ich komme vom Nachbarschaftshaus Schöneberg. Das<br />

klingt ja nach Leistung gegen Leistung, nach Aufrechnen<br />

und Abrechnen. Woher kommt genau diese Idee, in dieser<br />

Art zu formalisieren, dieses Ansparen und Abrufen?<br />

Karl-Fried Schuwirth: Ich glaube, dass eine ernsthafte<br />

Altersvorsorge auch ernsthaft installiert sein müsste. Es<br />

gibt ganz viel guten Willen bei den Menschen. Die werden<br />

sich nach wie vor auch ohne ANIA engagieren. Aber es gibt<br />

auch das Motiv, ein sehr existenzielles Motiv, nämlich etwas<br />

für die Altersvorsorge zu unternehmen. Ich denke, da<br />

braucht es wirklich diese Sicherheit, damit es eine Altersvorsorge<br />

wird, die ich auch berechnen kann.<br />

TN: Wenn ich mir überlege: Jetzt kann ich noch, ich pflege<br />

mal jemanden, ich moderiere mal einen Workshop, ich kann<br />

pro Woche fünf Stunden was tun. Dann gibt es jemand, der<br />

schreibt das in ein Buch, das kommt auf mein Konto. Also<br />

bekomme ich pro Monat 20 Stunden Guthaben. Das kann ich<br />

dann in meinem späteren Alter abrufen. Funktioniert das so?<br />

Karl-Fried Schuwirth: Ja, also es gibt ANIA bereits, zum<br />

Beispiel in einem Ort in der Nähe von Wiesbaden, Dietzenbach<br />

heißt der, hat 38.000 Einwohner. Dieser Ort hat<br />

2.000 Mitglieder von der Senioren-Selbsthilfegruppe, die<br />

genau so arbeiten, sich registrieren, aber nur im lokalen<br />

Bereich. Ich denke, diese Idee mit dem lokalen Bereich<br />

entspricht nicht der Mobilität der Gesellschaft. Wenn es<br />

im lokalen Bereich funktioniert, dann sollte es auch überregional<br />

funktionieren.<br />

TN: Das Prinzip kennen wir ja von Tauschbörsen. Was ist<br />

jetzt das Besondere an ANIA?<br />

Karl-Fried Schuwirth: Das Besondere ist der große Zeitunterschied.<br />

Das ist genau das Problem der jetzigen<br />

Tauschringe, sie kommen mit diesem Zeitunterschied<br />

nicht zurecht.<br />

TN: Was ja dazukommt, es muss ein hohes Maß an Verbindlichkeit<br />

gewährleistet sein. Man müsste wissen, dass<br />

diese Organisation in 10 Jahren noch existiert. Das setzt ja<br />

Strukturen voraus und Qualitätsstandards.<br />

Karl-Fried Schuwirth: Genau, eine Bank.<br />

TN: So etwas ist ja nicht neu. In der Geschichte gab es immer<br />

wieder bestimmte Nischen, Raiffeisenbanken haben mal so<br />

angefangen, Genossenschaften, eine Form von Selbsthilfe,<br />

wo bestimmten Notlagen mit genau solchen Modellen begegnet<br />

wurde. Ich finde, das ist eine ganz spannende Idee.<br />

TN: Aber es gibt doch schon so Komplementärwährungen,<br />

die auf diese Idee abzielen.<br />

Karl-Fried Schuwirth: Genau, nur sind die alle sehr, sehr lokal.<br />

Bei den Komplementärwährungen geht es darum, dass<br />

lokal tatsächlich auch gekauft wird, also dass Produkte<br />

oder Dienstleistungen der Region vermarktet werden. Das<br />

ist der Hintergrund dieser alternativen Währungen.<br />

TN: Steckt dahinter der Gedanke, Pflege zu organisieren?<br />

In Essen wurde das diskutiert.


Karl-Fried Schuwirth: Um das deutlich zu sagen: ANIA ist<br />

keine Antwort auf die Pflegebedürftigkeit. Aber davor ist<br />

ja noch sehr viel. Wir sind ja auch alle darum bemüht, so<br />

lange wie möglich zu Hause zu wohnen. Dafür ist ANIA eigentlich<br />

gedacht.<br />

Ich glaube, dass auch ANIA nicht nur eine virtuelle Datenbank<br />

ist, sondern ANIA braucht lokale Treffpunkte. Man<br />

muss sich kennen, wenn man sich gegenseitig hilft. Ich<br />

freue mich auch, dass es in Wiesbaden angefangen hat,<br />

dass unter dem Gesichtspunkt der Vorsorge für das Alter<br />

die Menschen sagen: Jetzt müssen wir uns kennen lernen.<br />

Für mich ist es ganz spannend, neue Leute kennen zu lernen<br />

und dass man sich in meinem Alter noch mit Menschen<br />

befreunden kann.<br />

Bettina Zey: Ich bin Mitarbeiterin im Nachbarschaftsheim<br />

Mittelhof in Berlin-Zehlendorf und dort in der Selbsthilfe<br />

und auch für die Seniorenarbeit zuständig.<br />

Timm Lehmann: Ich bin auch im Mittelhof tätig und leite<br />

dort ein Mehrgenerationenhaus, das dieses Jahr eröffnet<br />

hat. Vielleicht kann man an den demografischen Wandel<br />

und Generationenbegegnungen anknüpfen, so wie auch<br />

an die Tatsache, dass die Familienkonstellationen sich<br />

verändert haben. In unserer Tätigkeit ist es ja so, dass wir<br />

Begegnungen inszenieren, das heißt, wir schaffen etwas,<br />

was im natürlichen Bereich so nicht mehr oder immer<br />

weniger zustande kommt. Nämlich dass Generationen zusammenkommen<br />

und ihr Erfahrungswissen weitergeben<br />

oder überhaupt in den Austausch kommen.<br />

Bettina Zey: Unser Zeitzeugenprojekt entstand auf Initiative<br />

einer Grundschullehrerin. Sie hat uns angesprochen<br />

und gefragt, ob nicht die Senioren aus unserem Haus Lust<br />

hätten, in den Sachkundeunterricht zu kommen und sich<br />

als Zeitzeugen befragen zu lassen. Eine 4. Klasse hatte<br />

das Thema Krieg und Nachkriegszeit. Ich habe in Seniorengruppen<br />

nachgefragt und wir sind dann zu viert zur<br />

Schule gegangen. Wir wussten nicht genau, was uns da erwartet,<br />

welche Fragen kommen, wie wird diese Begegnung<br />

mit den Schülern sein, können wir den Fragen gerecht werden?<br />

Aber auch, was passiert, wenn bei den Zeitzeugen etwas<br />

aufbricht an Erfahrung, Erinnerung, Traumatisierung?<br />

Das war schon auch ein heikles Thema, was man dabei<br />

auch unbedingt berücksichtigen sollte. Wir zeigen einen<br />

kleinen Filmausschnitt von dieser Begegnung.<br />

Filmausschnitt: Senioren in der Schulklasse, Seniorin erzählt<br />

von ihrem Vater, der im Krieg war, während die Familie<br />

bei Alarm in den Bunker musste.<br />

Bettina Zey: Das Ganze ging zwei Stunden – mit einer<br />

kurzen Pause. Wir haben festgestellt, dass auch in der<br />

Pause und danach interessante Gespräche stattgefunden<br />

haben. Die jungen Leute konnten sich gar nicht trennen.<br />

Sie sind auf die Senioren zugestürzt und hatten noch ganz<br />

viele Fragen. Das war sehr spannend und auch bewegend.<br />

Die Senioren hatten auch so ein Mitteilungsbedürfnis<br />

dann gehabt, dass wir gedacht haben, dass wir noch etwas<br />

anderes machen müssen.<br />

TN: Wessen Idee war es denn, diese Begegnung als Podiumsdiskussion<br />

zu machen?<br />

Bettina Zey: Das ist von der Schule so eingerichtet worden.<br />

Wir sind da wirklich einfach hin, wir hatten keine Ahnung,<br />

wie die Sitzordnung ist. Das war ja Frontalunterricht.<br />

Die Fragen der Schüler wurden schon im Unterricht entwickelt<br />

und waren vorbereitet, aber für uns war es total<br />

unvorbereitet. Wir wollten gerne die Kinder mehr einbeziehen,<br />

damit ein wirklicher Dialog entstehen konnte. Dazu<br />

möchten wir Ihnen jetzt noch kurz etwas zeigen.<br />

Letzte Woche waren wir mit einer anderen Seniorengruppe,<br />

die aufgrund des Films gesagt hat: Wir wollen auch so<br />

was machen, wir haben auch viel zu erzählen, in einem<br />

Kinder- und Jugendfreizeithaus, das ist eine nachschulische<br />

Betreuung. Die haben uns zum Thema „Schule,<br />

Freizeit und Spiele früher und heute“ eingeladen. Da sind<br />

wir hin. Die Senioren haben von ihren Schulerlebnissen<br />

erzählt, wie der Unterricht war, zum Beispiel, dass von der<br />

1. bis 8. Klasse alle zusammen in einem Raum waren,<br />

unvorstellbar heutzutage. Schule während der Kriegszeit<br />

war natürlich auch ein Thema. Aber was der Renner war,<br />

wo alle angetan waren, das waren die Spielgeräte von da-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 51


52<br />

Workshop Zwischentöne<br />

Zwischentöne<br />

mals. Die Senioren hatten Bänder mitgebracht, das nennt<br />

man „Abnehmen“. Sie haben das den Kindern gezeigt,<br />

das ist eine Woche her. Gestern habe ich die Erzieherin<br />

getroffen, die dabei war. Sie sagte, dass die Kinder immer<br />

noch mit den Bändern rumrennen und spielen.<br />

Auch die Kinder haben ihr Spielzeug gezeigt. Die Jüngsten<br />

waren 6, die Ältesten waren 10. Sie haben zum Beispiel<br />

den Damen ihre Kuscheltiere gezeigt. Oder die Jungs<br />

hatten irgendwelche Monsterroboter gezeigt, womit eine<br />

Dame erst mal gar nichts anfangen konnte. Oh weia, was<br />

habt ihr denn für Spielzeug? sagte sie, weil ja auch nicht<br />

alle Enkelkinder haben. Ich hatte immer wieder Vorurteile<br />

von den Senioren gehört: Ach, die interessieren sich doch<br />

sowieso nicht für uns, was wollen wir da? So ging das<br />

manchmal los. Und im Nachhinein waren sie begeistert,<br />

wie interessiert die Kinder sind, mit was für Fragen sie<br />

kommen. Das Schönste ist dann einfach zu hören: Ja, die<br />

sind ja doch interessiert und wollen was von uns wissen.<br />

Und wir können denen was erzählen. Ich kann nur sagen,<br />

dass kleine Gruppen, gemischt, wirklich gut funktionieren,<br />

besser als dieses Frontale.<br />

Timm Lehmann: Der Austausch mit der Kriegsgeneration<br />

ist aus meiner Sicht einseitig. Aber wenn man diesen Dialog<br />

will, dann ist es besser, kleinere Gruppen zu haben<br />

und Material zum Herumreichen, damit man gemeinsam<br />

etwas anschaut. In einer kleinen Gruppe gibt es mehr<br />

Möglichkeiten zum Nachfragen. Wenn ich ein Plenum mit<br />

20 Kindern habe, ist das so nicht möglich. In einer kleinen<br />

Gruppe entsteht eher ein Dialog. Ich habe als Kind auch<br />

etwas zu berichten, was du lernen kannst, wie es heute<br />

bei uns abgeht.<br />

Bettina Zey: Es war schön zu sehen, dass doch Gemeinsamkeiten<br />

da sind, dass die Schulstreiche von früher<br />

immer noch auch die Schulstreiche von heute sind: Der<br />

nasse Schwamm, auf den sich Lehrer setzen, ihn hinzulegen,<br />

der Lehrer setzt sich drauf; wo erzählt wurde,<br />

dass sie das mittlerweile auch mit Furzkissen machen.<br />

Die haben sich auf beiden Seiten amüsiert. Sie haben<br />

sich auch interessiert für Schulfotos, die herumgereicht<br />

wurden. Da kam ein kleines Mädchen mit einem Bild<br />

nach vorne: Was haben die jungen Mädchen denn da<br />

auf dem Kopf? Früher hatten die so Propeller-Schleifen,<br />

das hat sie so fasziniert, dass sie wirklich nachfragen<br />

konnten, auch wie sie verstehen, dass sich das im Laufe<br />

der Jahre verändert.<br />

Wir waren in einem anderen Kinder- und Jugendclub, da<br />

war das Besondere, dass die Jüngste 6 Jahre alt war und<br />

der Älteste 14. Wir haben uns durch ein gemeinsames<br />

Frühstück kennen gelernt, was alles auflockerte. Dann<br />

sind wir nach nebenan in einen Raum gegangen, wo die<br />

Senioren wieder von Schule früher berichteten, Spiele<br />

früher. Da war es so, dass die Senioren nachher kaum<br />

noch zu Wort gekommen sind, weil die Kinder so viel<br />

zu erzählen hatten von ihrer jetzigen Situation an den<br />

Schulen. Da waren die Damen nachher ganz enttäuscht,<br />

weil sie meinten, sie hätten noch viel, viel mehr erzählen<br />

können. Sie wollen dann noch mal zu einem nächsten<br />

Treffen dorthin gehen.<br />

Timm Lehmann: Hier gab es von den Kids aus dem Club<br />

eine kleine Aufführung, als Pause, um mal Bewegung reinzubringen.<br />

Nicht, weil es sie nicht interessiert, sondern<br />

altersgemäß brauchen sie eine Pause.<br />

Bettina Zey: Im November 2008 haben wir ein Treffen im<br />

Mehrgenerationenhaus, am späten Nachmittag, wo das<br />

ein ganz anderes Thema ist, weil das eher Jugendliche<br />

sind. Das Thema ist dann „Jugendzeit früher und heute“.<br />

Heutzutage geht es ja um Idole, Musik, Tanz, Verabredungen,<br />

die ersten Liebschaften, im Vergleich zu dem,<br />

wie das früher war, was in war und was heute in ist. Mal<br />

gucken, was kommt.<br />

Der Nebeneffekt für die Senioren ist natürlich auch, dass<br />

sie auf diese Weise eine Einrichtung kennen lernen. Sie<br />

bekommen dann gleich auch eine Hausführung, wie die<br />

nachschulische Betreuung gemacht wird, was da angeboten<br />

wird. Das ist für sie eine ganz neue Welt. Das gab es ja<br />

damals alles nicht.<br />

Barbara Rüster: Meine persönliche Motivation für meine<br />

Arbeit habe ich schon von Kindesbeinen an, weil ich<br />

nämlich immer schon gerne Theater gespielt habe. Das


zieht sich durch mein Leben und hat mich geprägt. Ich<br />

war sehr lange an der Universität der Künste und habe<br />

dort Theaterpädagogik gemacht und habe dann dort<br />

aufgehört. Und jetzt habe ich gedacht, oh Gott, was mache<br />

ich mit dem Rucksack voller Dinge, die ich gemacht<br />

habe? Durch einen Zufall gab es einen Versuch, ein Kieztheater<br />

anzubieten. Ich gehöre sozusagen zu den Alten,<br />

und die Frage ist: Was passiert im Zusammenspiel mit<br />

den Jüngeren?<br />

Es gibt viele Möglichkeiten sich auszudrücken: mit Musik<br />

oder Bauen oder Performance machen. Aber ich habe<br />

überlegt, was man in einer gemeinsamen Theateraktion<br />

machen kann, weil das mein Handwerk ist.<br />

Das Projekt begann mit einer Kooperation zwischen der<br />

Kindertagesstätte „Wunderblume“ und einem Seniorenwohnhaus<br />

am Maulbeerweg in Staaken. Das gemeinsame<br />

Thema, was beide Bereiche hatten, war „Das Glück“. Ich<br />

fand es interessant, dass für Kinder Glück so abstrakt ist,<br />

während die Älteren dazu wunderbare Geschichten erzählt<br />

haben. Wir haben einen Videofilm darüber gemacht,<br />

wie sie über ihre Glückserfahrungen sprachen. Für die<br />

Kinder bestand der konkrete Ausdruck von Glück in der<br />

Glücksfee. Die Glücksfee haben wir zusammen gespielt.<br />

Die Älteren, die auch an dem Thema gearbeitet haben,<br />

sind in die Kita gegangen. Wir haben dann Warm-Ups gemacht,<br />

einfache Übungen, Klatschen, auch Kinderspiele,<br />

mit den Älteren zusammen. Das war am Anfang. Im Spiel<br />

selber haben auch einige mitgespielt: ein Herr hat den<br />

Baum von Frau Holle gespielt, eine Dame hat die Frau<br />

Holle gespielt, sie haben direkt in die Handlung mit eingegriffen,<br />

denn das war ja das Prinzip. Das ist nicht ganz<br />

leicht.<br />

Das war wunderbar und einzigartig. Aber die Situation ist,<br />

dass die Älteren oft sehr, sehr alt sind. Der Herr war schon<br />

86, die andere 76. Die wurden dann auch innerhalb kurzer<br />

Zeit sehr krank. Unter solchen Bedingungen kann man<br />

kein richtiges Theater aufbauen, was ich eigentlich wollte.<br />

Aber es waren dann doch einige, die über zwei Jahre an<br />

dieser Theaterarbeit teilgenommen haben.<br />

Die Kita und die Senioren zusammen, das war der Anfang,<br />

sie spielen zusammen und machen Theater auf<br />

eine ganz einfache Weise. Ich habe schon viel probiert,<br />

aber das fand ich fast das Konstruktivste, es waren immer<br />

dieselben Älteren und Kinder. Die kannten sich und<br />

freuten sich, das war so beglückend für die Kleinen,<br />

denn sie haben teilweise ja keine Großeltern mehr, aber<br />

sie lieben die Älteren, da wurde umarmt und gedrückt.<br />

Ich weiß nicht, offenbar spielen Großmütter und Großväter<br />

doch eine Rolle im Leben der Kinder. Hier war es<br />

so, dass wir zusammen ein Theaterstück gesehen haben,<br />

Däumelinchen, das hatten auch Theaterpädagogen<br />

von der UDK gemacht. Die Älteren und die Kinder gingen<br />

zusammen ins Kulturhaus Spandau. Hinterher haben<br />

wir das dann nachbereitet, mit einem der Schauspieler,<br />

der auch ein sehr guter Musiker ist. Die Lieder, die in<br />

„Däumelinchen“ vorkamen, haben wir zusammen gesungen,<br />

aber auch richtige Tänze aufgeführt. Ich werde<br />

heute noch angesprochen, ob wir das nicht wieder mal<br />

machen.<br />

Mit den Hortkindern aus dem Spielhaus haben wir dann<br />

ein Stück entwickelt. Das haben die Kinder selbst entwickelt<br />

und hieß „Hilfe, Paula ist verschwunden“. Das war<br />

ein sehr interessantes Projekt. Da haben die Älteren, so<br />

ähnlich wie das, was wir gerade gehört haben, ihre Geschichten<br />

aus der Jugend erzählt. Das wurde mit eingebaut.<br />

Es gab nämlich dann eine Schiffspassage, wo sie<br />

alle auf der Suche nach Paula waren. Die Älteren fragten<br />

die Kinder in allen möglichen Rollen, Feuerschlucker oder<br />

Zirkus oder Tiger, und die Älteren haben den Kindern Geschichten<br />

erzählt. Das war ein bisschen schwierig, weil<br />

die Kinder nicht so lange zuhören können, aber man kann<br />

ihnen auch mal was abverlangen. Es war interessant,<br />

aber es war nicht so leicht, denn die Älteren identifizieren<br />

sich mit ihren Geschichten, wie ein Schauspieler auch,<br />

da ist es natürlich schwer eine Passage zu kürzen. Deswegen<br />

haben wir sie dann in aller Fülle ihre Geschichten<br />

erzählen lassen, das war auch für die Zuhörer sehr interessant.<br />

Das Bühnenbild haben praktisch die Schüler vom Gymnasium<br />

gemacht, so dass wir das alles zusammengenommen<br />

haben als eine Form von Kieztheater. Das Ziel wurde<br />

immer mehr ein Kieztheater. Das professionelle Theater<br />

hat ja eine unglaubliche Wandlung durchgemacht, genauso<br />

sehr wie sich heute die Erziehungswissenschaft<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 53


54<br />

Workshop Zwischentöne<br />

Zwischentöne<br />

und Pädagogik mehr dem Theater zuneigen. Das sind die<br />

Fahnenträger für die Theaterpädagogik, weil Vorschullehrer<br />

nicht mehr in Theater ausgebildet werden. Aber<br />

die Fachhochschulen haben es begriffen, denn von dort<br />

werden exzellente Theaterpädagogen überall hin entlassen<br />

und sie können die Landschaft verändern. Das sind<br />

Paradigmenwechsel.<br />

Die Paradigmenwechsel gibt es auch im Theater selber.<br />

Das Theater geht raus, es verlässt sein Haus und geht in<br />

die Welt. Und so hat das Kieztheater das hier auch probiert.<br />

Es geht natürlich immer um Alt und Jung, die Verbindung<br />

war im Hinterkopf. Die Älteren erzählen den Kleinen,<br />

die Kleinen spielen mit den Älteren. Die Älteren erzählen<br />

Geschichten, zum Beispiel „Der Riese Riesig“, also Oscar<br />

Wilde. Das Erzählen wird dann auch szenisch bearbeitet.<br />

Manchmal ist es nur einer, manchmal drei oder vier, die<br />

das Projekt steuern. Einer macht Musik, der andere mehr<br />

szenische Sachen, der andere macht die Kostüme usw.<br />

Wir haben ja Glück, dass wir das durch das Quartiersmanagement<br />

finanziert bekommen, sonst würde das gar<br />

nicht gehen.<br />

Dadurch konnten wir uns auch wie ein Tintenfisch in dem<br />

Kiez ausbreiten und da und dort bestimmte Aspekte wie<br />

selbstbestimmtes Handeln entstehen lassen. Unsere<br />

Gesellschaft wird ja so fremdbestimmt, dass es ein bestärkendes<br />

Gefühl ist, wenn man plötzlich die eigene<br />

Kraft spürt, dass man auftreten kann, dass man was sagen<br />

kann, ich kann mit anderen gemeinsam etwas entwickeln,<br />

ich halte durch. Es gibt auch Frust. Aber wenn<br />

der Vorhang aufgeht, das Licht angeht, und dann die Älteren<br />

da sitzen und zugucken, dann ist der Frust vergessen.<br />

Die Kinder sehen, die Älteren können Geschichten<br />

erzählen, sie können was erfinden, sie können mit ihnen<br />

spielen, sie sind nicht irgendwie abgeschrieben. Sie sind<br />

lebendig und ein Bestandteil des Kiezes, in dem sie zur<br />

Geselligkeit beitragen, was mir sehr wichtig ist.<br />

Diese Form des Theaterspiels ist für mich auch eine Form<br />

von politischem Handeln. Dass man erlebt, dass Theater<br />

als Kunst nur funktionieren kann, wenn man zusammen<br />

spielt und wenn man den Dialog aufnimmt zu denen, die<br />

zuschauen.<br />

Petra Sperling: Wir haben zwei Arten kennen gelernt, in<br />

einen Generationendialog zu gehen. Jetzt ist Zeit für Fragen<br />

und Anregungen.<br />

TN: Ich bin vom Mütterzentrum Mehrgenerationenhaus<br />

in Braunschweig. Frau Rüster, ich würde gerne wissen, ob<br />

man das auch ohne Fachkenntnisse umsetzen könnte?<br />

Barbara Rüster: Nein. Ursprünglich haben wir in Schulen<br />

gespielt. Dann wurde dies von Frau Laurien abgeschafft,<br />

die sagte, dass jeder deutsche Lehrer spielen könnte. Dass<br />

jeder Lehrer spielen kann und das nicht lernen muss, das<br />

finde ich nicht, weil das sehr kompliziert ist. Wenn man<br />

wirklich den Klassenverband im Spielen auflöst, was da<br />

alles an Emotionen hoch kommt und was alles passiert,<br />

das muss man echt lernen.<br />

Aber deswegen bin ich ja sehr froh, dass bei den Fachhochschulen<br />

auch sehr viele in Theaterpädagogik ausgebildet<br />

werden. Und es gibt außerdem immer Begnadete, die das<br />

können. Also sehr große Theaterleute hatten gar keine<br />

Ausbildung, die haben das einfach gemacht. Man sollte<br />

nicht sagen, dass es nicht geht, aber ich denke schon, es<br />

sollte eine Vorbildung geben. Ich habe Fortbildungen für<br />

Erzieher gemacht, damit Theater über sie wieder in die Kitas<br />

geht, und ich habe auch Lehrer fortgebildet, wir haben<br />

auch mit Lehrern und Erziehern zusammengearbeitet. Es<br />

gibt eben auch nicht die typischen Alten, eine ganze Reihe<br />

von ihnen ist quasi gar nicht alt.<br />

Timm Lehmann: Eine kurze Anmerkung zum Thema Fachhochschule:<br />

Wir haben bei uns im Mehrgenerationenhaus<br />

eine Kooperation mit der Evangelischen Fachhochschule,<br />

die genau so einen Studiengang haben. Die müssen auch<br />

etwas Praktisches machen, sodass sie ihren Praxisteil bei<br />

uns im Haus gemacht haben. Das könnte ein Potenzial<br />

sein, das man nutzen kann.<br />

TN: Ich arbeite im Quartiersmanagement. Meine Begeisterung<br />

spare ich mir jetzt auf Grund der Zeit, aber klasse!<br />

Ist in den Projekten die direkte Sprache zwischen den<br />

Generationen ein Thema? Das ist etwas, was uns gerade<br />

beschäftigt, weil wir wirklich Jugendliche haben die sagen,


also es gibt so viele Bücher über den Jugendslang, aber<br />

wir verstehen zum Teil die Alten gar nicht mehr mit ihren<br />

komischen Begriffen, die die haben. Ist das Problem da<br />

aufgetaucht? Oder gibt es andere Erfahrungen dazu?<br />

TN: Es gibt doch ein Wörterbuch, wo die ganzen Trendwörter<br />

drin stehen.<br />

TN: Es geht nicht um die Worte, die Trend sind, sondern<br />

es geht um ein Wörterbuch für die Jugendlichen, damit sie<br />

die ältere Generation verstehen.<br />

TN: Ich habe noch eine Frage an Bettina: Gibt es Ideen,<br />

von eher singulär inszenierten Begegnungen zu einer Regelmäßigkeit<br />

zu kommen?<br />

Bettina Zey: Wir sind ja gerade im Aufbruch, wieder daran<br />

zu arbeiten. Wir haben jetzt demnächst Begegnungen, das<br />

sind zusammengewürfelte Gruppen, Mitglieder von Seniorengruppen,<br />

die sich gar nicht untereinander kennen. Wir<br />

wissen nicht, wie viele Jugendliche kommen werden, vielleicht<br />

fünf, keine Ahnung. Aber in den Einzelgesprächen in<br />

den Pausen hat man die Chance, zu jemand hinzugehen.<br />

TN: Ich bin Projektkoordinatorin im Projekt „Agenda<br />

2010“. Wir arbeiten genau so. Ich finde es spannend, über<br />

diese Kombination aus Zeitzeugenarbeit und Theaterprojekt<br />

zu hören. Unser Projekt ist auf 2 ½ Jahre angelegt,<br />

dass sie einander begegnen. Insgesamt sind es sechs<br />

Schulklassen, die sich jeweils bei einem oder zwei Treffen<br />

im Jahr begegnen. Wir haben einen Pool von 22 Freiwilligen,<br />

die dabei sind. Unsere Erfahrungen sind sehr unterschiedlich,<br />

weil die Klassen sehr unterschiedlich sind.<br />

Es gibt einerseits die Schüler, die so engagiert sind und<br />

auf die Erwachsenen zugehen, wie Sie es beschrieben haben.<br />

Aber es gibt auch andererseits eine Schulklasse, bei<br />

der ich aufgrund ihrer Stumpfheit doch sehr erschüttert<br />

war. Dieses Fernsehen! Die Kinder haben davon berichtet,<br />

dass sie abends um 23 Uhr Wrestling gucken. Und in der<br />

Art und Weise sind sie auch miteinander umgegangen.<br />

Das war eine ganz große Schwierigkeit, da Ruhe herzustellen,<br />

um überhaupt das Erfahrungswissen der Älteren zum<br />

Vorschein zu bringen, was ja das Anliegen des Ganzen<br />

war, und überhaupt eine Kommunikation zu ermöglichen.<br />

Wir waren bei dieser Klasse eher mit Konfliktmanagement<br />

beschäftigt. Wir haben da eine Emotionsdusche gemacht,<br />

um eine positive Atmosphäre herzustellen, damit da überhaupt<br />

menschlich was passieren konnte. Andererseits war<br />

eine projekterfahrene Klasse da, die fanden das ganz nett,<br />

wollten aber noch mehr machen, waren sehr engagiert.<br />

Das heißt, das Leistungsgefälle und die Anforderungen<br />

waren sehr unterschiedlich.<br />

Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ob man Theater<br />

nicht einfach auch so machen kann, ohne spezifische<br />

Ausbildung - da würde ich eindeutig Nein sagen. Aber ich<br />

merke, selbst unsere ausgebildeten Leute, die viele Projekttage<br />

an Schulen gemacht haben, können ihre Fähigkeiten<br />

noch weiterentwickeln, weil die Anforderungen an<br />

sie sehr unterschiedlich sind. Es ist aber auch ein Thema,<br />

welche Erinnerungen bei den Älteren hochgeholt werden.<br />

Wir machen deshalb extra Vorbereitungstreffen mit den<br />

Älteren, um erst mal ins Thema zu kommen. Mich hat es<br />

schon überrascht, was auf einmal bei dem Thema „Schule<br />

früher und heute“ alles bei den Älteren hochkam. Das<br />

müssen wir auf jeden Fall vorbearbeitet haben, damit sie<br />

da nicht im Übermaß in Tränen ausbrechen. Da sind einige<br />

Dinge zu beachten, weshalb es wichtig ist, dass es schon<br />

professionelle Leute machen.<br />

TN: Bei uns gibt es seit Kurzem ein Erzählcafé. Da wollte<br />

ich einfach mal etwas von den Erfahrungen der Senioren<br />

hören. Ich war total überrascht und auch schockiert, dass<br />

die 30- oder 40-Jährigen das Erzählcafé verlassen haben,<br />

weil die Senioren scheinbar cool und abgebrüht von der<br />

Judendeportation berichtet haben. Also wir mussten dann<br />

die Gefühle der jüngeren Generation aufarbeiten, das war<br />

für mich eine ganz neue Erfahrung, auf die ich nicht gefasst<br />

war.<br />

TN: Bei uns existiert ein Gesprächskreis zwischen den<br />

Generationen. Der entstand schon vor längerer Zeit. Wir<br />

bereiten die jeweiligen Treffen in Gesprächen mit den Senioren<br />

vor. Die Schule hatte zum Beispiel das Thema Nationalsozialismus<br />

mit den Schülern vorbereitet. Wir hatten<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 55


56<br />

Workshop Zwischentöne<br />

Zwischentöne<br />

dann ein von der Schule und von mir angeleitetes Treffen,<br />

wo die Schüler und die Erwachsenen sich bei einem<br />

Kaffee vorgestellt haben. Dann haben wir zusammen zu<br />

dem Thema gearbeitet. Darüber ist übrigens auch ein sehr<br />

schöner Film entstanden, mit Erzähleinheiten. Nachher<br />

haben die Schüler die Geschichten in Schwarz-Weiß hinterlegt<br />

und immer mit Musik gewechselt. Das war sehr<br />

beeindruckend.<br />

Am besten läuft es, wenn eine Projektgruppe aus einer<br />

Jahrgangsstufe 8 oder 9 da ist und nicht eine ganze Klasse<br />

teilnimmt. Sonst ist da ständig Unruhe und die Schüler<br />

sind nicht so motiviert. Dieses Projekt Nationalsozialismus<br />

endete dann mit einer gemeinsamen Fahrt nach Weimar,<br />

weil die Schüler mit dem Film einen Preis gewonnen hatten.<br />

Während dieser Fahrt ist ganz viel aufgebrochen, bei<br />

den Schülern und bei den Erwachsenen, nachdem wir<br />

auch das Konzentrationslager dort besichtigt haben. Aber<br />

da war Zeit, das aufzufangen.<br />

TN: Was die Sprache angeht, stehe ich in der Mitte, ich<br />

verstehe manchmal die Jungen nicht und die Alten auch<br />

nicht. Aber als Problem ist mir das noch nicht begegnet.<br />

Ich glaube, der Schlüssel zum Verstehen liegt im gegenseitigen<br />

Respekt: Wenn ich verstanden werden will, muss ich<br />

mich bemühen, so zu sprechen, dass man mich verstehen<br />

kann. Das muss für alle gelten.<br />

Wir versuchen Nachhaltigkeit der Begegnungen uninszeniert<br />

hinzukriegen, indem wir unser Haus als Begegnungsstätte<br />

sehen, das sich aus einer Jugendeinrichtung entwickelt<br />

hat. Das Haus ist erst mal besetzt mit Kindern und<br />

Jugendlichen, als Mehrgenerationenhaus, das ist für ein<br />

Mehrgenerationenhaus ein Vorteil. Die Begegnung der<br />

Generationen findet vor Ort statt, da das Haus von allen<br />

genutzt wird. Und dort kann man sich am Tresen austauschen.<br />

Es geht darum, aktuelle Sachen aufzugreifen, Probleme<br />

mit der Schule, mit der Arbeit oder sonst was, dafür<br />

ist immer der Raum da.<br />

Barbara Rüster: Das mit den Zeitzeugen, das finde ich<br />

alles sehr wichtig. Wichtig ist auch die Balance, dass die<br />

Älteren sehen, aha, sie sind als Alte nicht mehr, was sie in<br />

der Vergangenheit waren.<br />

TN: Ich würde gerne noch stärker hervorheben, dass bei<br />

diesem Beispiel die alten Menschen die Erfahrung haben<br />

machen können, dass sie jetzt agieren können, da<br />

sind, wach sind, eine Aufgabe oder eine Rolle haben. Ich<br />

denke, das ist bei diesem Projekt das Besondere, weil es<br />

in der Jetzt-Zeit erlebt wird und sie auch noch Lernen und<br />

Wachstum erleben können, dadurch, dass sie eben in diese<br />

Rollen reinfinden müssen.<br />

TN: Wir haben im Haus der Generationen und Kulturen<br />

Am Schlaatz gerade ein Projekt begonnen, das nennt sich<br />

„Gelebte Erinnerung“. Da geht es um einen ähnlichen<br />

Ansatz. In unserem Projekt geht es darum, dass Kinder<br />

einer 6. und einer 7. Klasse die Geschichte am Thema<br />

„Schulerfahrungen von Erwachsenen“ lebendig werden<br />

lassen. Da sind die Erwachsenen die Erzähler, die Kinder<br />

sind die Interviewer, und am Ende wird kreativ dargestellt,<br />

wie es damals war. Und damit soll auch die Geschichte<br />

des Stadtteils lebendig werden. Aber dann geht es im eigentlichen<br />

Hauptteil darum, dass die Kinder mit den Älteren<br />

zusammen die Schule der Zukunft erarbeiten und<br />

die Vision der Schule der Zukunft als Theaterspiel, als<br />

Skulptur oder als Bild oder als alles Mögliche umsetzen<br />

und präsentieren.<br />

TN: In Wiesbaden gibt es unheimlich viele jüngere Senioren,<br />

die ganz viele Fähigkeiten einbringen. Es sind jetzt<br />

„Singpaten“ entstanden, die in Kindergärten und Altenheime<br />

gehen und dort singen und klatschen.<br />

Andrea Brandt: Ich stelle heute das Patenschaftsprojekt<br />

„Biffy“ in Berlin vor. Ich reiche unseren Flyer herum und<br />

verweise auf unsere Homepage, die recht umfassend ist<br />

und auch einen kleinen Film enthält von einem Beispiel<br />

unserer Arbeit, ein Interview mit einer Mutter, einem Paten<br />

und einem Kind.<br />

Ich bin immer in einer Doppelfunktion unterwegs. Und<br />

zwar leite ich die Freiwilligenagentur in Kreuzberg-Friedrichshain,<br />

da gibt es eine gemischte Trägerschaft, aber<br />

der Hauptträger ist das Nachbarschaftshaus Urbanstraße.<br />

Biffy habe ich damals – Ende 2000 – für die Freiwilligenagentur<br />

als Einzelprojekt aufgebaut, das gab es in zwei


weiteren Stadtteilzentren in Berlin. Inzwischen ist daraus<br />

ein eigenständiger Verein geworden. Als die Förderung<br />

auslief, haben wir mit engagierten Eltern und Paten diesen<br />

Verein gegründet.<br />

Die Patenschaften bestehen zwischen Kindern etwa ab<br />

dem Schulalter, bis ungefähr 16 oder 17 Jahre, danach<br />

haben Jugendliche von sich aus kein Interesse mehr daran,<br />

meistens hört es schon ein Stück vorher auf. Aber<br />

wenn zum Beispiel mit 13, also zu Beginn der Pubertät,<br />

bereits eine Patenschaft besteht, dann besteht sie häufig<br />

auch über die Pubertät hinaus bis in die Erwachsenenzeit<br />

fort. Unsere längsten Patenschaften gehen mittlerweile 6<br />

bis 7 Jahre.<br />

Es geht immer um 1:1-Beziehungen, also die freundschaftliche<br />

Beziehung, die ein Pate oder eine Patin zu<br />

einem Kind aufbaut. Die eine Seite sind die Erwachsenen,<br />

die im Alter von 21 oder Anfang 20 bis Ende 60<br />

sind, sie sind häufig allein stehend und interessieren<br />

sich dafür, etwas mit einem Kind zu unternehmen. Auf<br />

der anderen Seite stehen zum ganz überwiegenden Teil<br />

allein erziehende Familien, die ihren familiären Hintergrund<br />

nicht in Berlin haben, wo Verwandte bzw. Großeltern<br />

in anderen Teilen Deutschlands leben, weshalb das<br />

familiäre Netzwerk fehlt. Es fehlt den allein erziehenden<br />

Eltern auch oft die Zeit, um sich ein soziales Netzwerk<br />

zu erschließen.<br />

Die Patenschaften zielen darauf ab, einmal in der Woche<br />

an einem Nachmittag gemeinsam etwas mit dem<br />

Kind zu unternehmen und im regelmäßigen Austausch<br />

mit uns und dem Elternteil zu sein. Daraus folgt, dass sie<br />

gemeinsam die Freizeit gestalten. Ein Pate, der sich für<br />

ein Kind interessiert, kommt erst einmal zu einem ausführlichen<br />

Erstgespräch zu uns. Eine Familie, die sich für<br />

eine Patenschaft interessiert auch.<br />

Die Paten werden dann an zwei Abenden darauf vorbereitet,<br />

was mit so einer Patenschaft auf sie zukommt.<br />

Auch mit den Eltern sind wir dann noch mal näher im<br />

Gespräch, dann bringen wir Vorschläge dafür, welche<br />

Konstellationen für uns denkbar sind. weil wir beide Seiten<br />

sehen, da könnten bestimmte Interessen passen, da<br />

könnte eine bestimmte Förderung passen. Für uns ist<br />

immer auch maßgeblich, dass die jeweiligen Wohnorte<br />

nicht so ganz weit entfernt liegen, also dass es überbrückbare<br />

Entfernungen sind, damit sich die Kinder irgendwann<br />

auch selbstständig auf den Weg zu ihren Paten<br />

machen können.<br />

Ganz wichtig ist, dass diejenigen, die sich freiwillig dafür<br />

engagieren, zuverlässig sind. Es ist darauf angelegt, dass<br />

es mindestens erst mal über ein Jahr läuft. Häufig ist es<br />

so, wenn daraus eine stabile Beziehung und eine freundschaftliche<br />

Beziehung entstanden ist, dann läuft es sogar<br />

über mehrere Jahre.<br />

Wir haben im Moment etwa 110 Patenschaften, die wir<br />

begleiten. Die andere Koordinatorin und ich stehen für<br />

Gespräche bereit, für Konflikte, wir vermitteln zwischen<br />

beiden Seiten. Wir haben ein Begleitangebot, das heißt<br />

„Pasta für Paten“, wir laden andere Paten zu einem Essen<br />

ein, der Vorstand kocht. Da gibt es Austauschmöglichkeiten<br />

für die Paten untereinander. Vier Mal im Jahr gibt<br />

es Tea-Times, da kommen alle zusammen, die an dem<br />

Programm beteiligt sind und können sich an einem bunten<br />

Nachmittag begegnen. Es werden für Kinder ein paar<br />

Spiele angeboten. Es findet Austausch statt, wir machen<br />

das durch Namensschilder kenntlich, wer die Erfahrenen<br />

sind, die schon Patenschaften haben, sowohl Kinder als<br />

auch Erwachsene haben dann rote Schilder. An den grünen<br />

Schildern sieht man, dass jemand zur Vermittlung da<br />

ist. So kann man miteinander ins Gespräch kommen. Die<br />

Eltern kann man auch an einem andersfarbigen Namensschild<br />

identifizieren.<br />

Das ist der Rahmen. Wie gesagt, das Programm läuft<br />

seit Ende 2000. Wir haben inzwischen viele Nachfragen<br />

auf beiden Seiten, da macht sich sehr stark bemerkbar,<br />

dass Berlin sehr viele allein erziehende Familien hat.<br />

Auch für Migrantenfamilien ist das Angebot interessant,<br />

damit Kinder im Alltag mit einem deutschen Paten zum<br />

Beispiel mehr Deutsch sprechen können und dadurch<br />

eine andere, spielerische Art haben, um die Sprache zu<br />

lernen. Wenn sie in der Schule sind, bleiben sie häufig<br />

auf einem Sprachniveau, was noch ausreicht, um sich<br />

mit den Schulkameraden zu verständigen, aber die<br />

nächste Stufe erreichen sie nicht, weil bei ihnen zu Hause<br />

die Heimatsprache gesprochen wird.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 57


58<br />

Workshop Zwischentöne<br />

Zwischentöne<br />

TN: Sie sagten, dass es auf beiden Seiten Bedarf gibt.<br />

Gibt es einen Überhang auf einer der Seiten?<br />

Andrea Brandt: Im Moment ist es so, dass es zahlenmäßig<br />

relativ ausgewogen ist, allerdings nicht in der<br />

räumlichen Verteilung. Das heißt, zum einen haben wir<br />

auf der Patenseite immer etwas mehr Nachfragen von<br />

Frauen, während auf der Familienseite die Nachfrage<br />

häufig nach männlichen Bezugspersonen höher ist. Das<br />

gilt besonders für Mütter mit Söhnen, denen schon in<br />

Grundschulen, in der Kita und im Hort männliche Bezugspersonen<br />

fehlen, weil dort das Personal überwiegend<br />

weiblich ist. Gerade wenn es zum Vater überhaupt<br />

keinen Kontakt gibt oder nur sehr sporadischen Kontakt,<br />

dann fehlt einfach eine männliche Bezugsperson. Die<br />

Mütter merken, dass sie diese Seite nur schwer ausfüllen<br />

können, weil Männer und Jungs ganz anders im Umgang<br />

sind. Sie sind häufig sehr viel körperbetonter, sehr<br />

viel sportlicher, rausgehen, sich austoben. Während<br />

die Mutter eine hohe Belastung durch ihre Berufstätigkeit,<br />

durch die Versorgung von mehreren Kindern hat.<br />

Sie muss den Alltag bewältigen, Haushalt, Schule, also<br />

der Belastungspegel der Mütter, die zu uns kommen, ist<br />

extrem hoch. Da ist der Wunsch nach einer Entlastung<br />

natürlich ganz stark.<br />

Und da trotzdem ins Gespräch zu kommen, dass es nicht<br />

vordergründig nur der entlastende Aspekt ist, sondern<br />

auch der Raum, was gemeinsam zu entwickeln, dass<br />

sich Freundschaft zwischen dem Kind und dem Erwachsenen<br />

entwickeln soll, dieser Beziehung auch Spielraum<br />

und Vertrauen zu geben, das ist natürlich von Familienseite<br />

erst mal ungewohntes Terrain, das zu betreten viel<br />

Mut erfordert.<br />

Die Frauen, die sich dafür interessieren, müssen manchmal<br />

warten. Diese Patenschaften sortieren sich sehr<br />

stark gleichgeschlechtlich, das heißt, da warten Frauen<br />

häufig auf Mädchen. Ein Junge will oft unbedingt eine<br />

männliche Bezugsperson, dann werde ich ihm nicht eine<br />

Frau vor die Nase setzen. Insofern haben wir da nicht<br />

unbedingt ausgeglichene Pools.<br />

TN: In Wiesbaden gibt es ein nicht ganz vergleichbares<br />

Projekt, nämlich Leihomas oder Wunschomas, wo ein<br />

großer Überhang an jungen Familien ist, die älteren Menschen<br />

sich aber im Großen und Ganzen verweigern.<br />

Andrea Brandt: In Berlin haben wir mit über 800 Patenschaften<br />

den Großelterndienst. Wir arbeiten da auch immer<br />

mal eng zusammen mit einzelnen Patenschaftsprojekten,<br />

die es bereits gibt. Wir haben inzwischen auch<br />

schon die Gründung von kleinen, regionalen Berliner<br />

Projekten begleitet. Wir haben auch immer wieder Anfragen<br />

aus dem Bundesgebiet. Bei uns fokussiert sich das<br />

nicht so stark auf die Großeltern-Generation, sondern<br />

wir haben eigentlich in der mittleren Altersgruppe zwischen<br />

Mitte 30 bis Mitte 40 eine Häufung von nachfragenden<br />

Paten, weil das die Menschen sind, die für sich,<br />

wenn sie allein stehend sind, an die Grenze kommen,<br />

ob sie noch mal eine eigene Familie gründen. Sie sagen<br />

sich, das sieht vielleicht eher nicht so aus, aber sie hätten<br />

gerne Umgang mit einem Kind. Insofern ist das auch<br />

noch mal eine wichtige Zielgruppe, die sich stark damit<br />

identifiziert. Innerhalb dieser Paten sind homosexuelle<br />

Männer eine starke Gruppe. Sie sagen: Ich habe sonst<br />

überhaupt keine Gelegenheit mit einem Kind umzugehen<br />

und ich würde sehr gern einen Kontakt haben, wenigstens<br />

einmal in der Woche.<br />

Zum Glück besteht in diesem Punkt auf der anderen<br />

Seite die entsprechende Aufgeschlossenheit. Voraussetzung<br />

ist natürlich eine hohe Transparenz, die Lebenssituationen<br />

müssen bei beiden Seiten durchsichtig sein.<br />

Für uns sind deshalb auch ausführliche Gespräche und<br />

eine gute Vorbereitung notwendig, auch im Hinblick auf<br />

das Thema Kinderschutz, Kindesmissbrauch. Schon in<br />

der Vorbereitung ist das ein Thema, weil wir da nur durch<br />

eine hohe Transparenz ein gewisses Maß an Schutz geben<br />

können, der aber nicht vollkommen ist.<br />

TN: Hier steht, dass die Paten in einem Training geschult<br />

werden. Wie werden sie vorbereitet? Wie werden sie begleitet?<br />

Werden sie getestet?


Andrea Brandt: Nachdem sie zu einem sehr ausführlichen<br />

Gespräch zu ihrer persönlichen Situation und zu Informationen,<br />

die wir ihnen mit auf den Weg geben wollen,<br />

schon bei uns waren, kommen sie dann noch mal wieder<br />

als Gruppe von Paten zu einer Abendveranstaltung. Die<br />

Gruppe lernt sich kennen, wer will das noch machen, welche<br />

Motive stecken dahinter, jeder reflektiert noch mal,<br />

warum er das möchte und was er damit verbindet, was er<br />

für sich selber in so einer Patenschaft entwickeln möchte,<br />

wo sie die Grenzen dessen sehen, was sie einbringen<br />

wollen. Zum Beispiel kann das eine Vereinnahmung sein.<br />

Oder viele wollen nicht in eine reine Betreuung rein oder<br />

sagen, jetzt bin ich hier der Ersatz-Babysitter oder Bringedienst,<br />

also der Rahmen dieser Patenschaft muss klar<br />

werden, aber auch ihre Aufgabe.<br />

Es geht auch darum, dass Paten, die am Anfang in eine<br />

Familie kommen, erst mal wie ein Gast sind, aber in eine<br />

Rolle hineinwachsen, die annähernd eine familiäre Rolle<br />

ist. Und dass sie durchaus, wenn sie mit einem Kind alleine<br />

unterwegs sind, in eine erzieherische Rolle hineinkommen.<br />

Das heißt, sie müssen eine Vorstellung davon<br />

haben, wie sie mit solchen Situationen umgehen. Gleichzeitig<br />

braucht es immer diese Dreier-Konstellation, dass<br />

eine Mutter auch dahinter steht und das mit trägt bzw. damit<br />

einverstanden ist.<br />

Konflikte resultieren vor allem daraus, dass die Erwachsenen<br />

unterschiedliche Vorstellungen haben, so wie<br />

Paare auch unterschiedliche Erziehungs- oder Wertvorstellungen<br />

haben. Dann haben wir eine notwendige<br />

Funktion, wir erbitten oder fordern die regelmäßige<br />

Rückmeldung, damit wir einen Einblick haben, und wollen<br />

in Konfliktsituationen auch zurate gezogen werden.<br />

Wir hatten schon in der Vergangenheit dazu Workshop-<br />

Reihen, wo Eltern und Paten zum Thema Konflikte eingeladen<br />

waren, z.B.: Wie kommunizieren wir wertschätzend<br />

miteinander?, Der Rollenwechsel in der Patenschaft. Damit<br />

beide Seiten ein Forum finden, wo sie miteinander<br />

sprechen können. Aber die Einzelbegleitung steht bei<br />

Einzelkonflikten im Vordergrund. Wir hören uns beide<br />

Seiten an und laden beide gemeinsam ein, um das Problem<br />

konfliktgerecht zu moderieren und zu lösen.<br />

Das kann auch mal heißen, dass eine Patenschaft beendet<br />

wird. Das hängt sehr stark davon ab, wie gut sie<br />

miteinander in Kontakt kommen. Das hat ganz viel mit<br />

Beziehungsgestaltung zu tun, ganz viel mit Öffnung und<br />

Vertrauen, wie weit ich jemanden in meine Familie rein<br />

lasse. Ich wünsche mir vielleicht eine Entlastung, habe<br />

aber eine Grenze, wo sich jemand nicht einmischen<br />

oder mitbestimmen darf. Das ist für jemanden, der ein<br />

Stück Verantwortung übernimmt, an bestimmten Punkten<br />

ganz schwierig, so was braucht dann Klärung oder<br />

Moderation.<br />

Petra Sperling: Was bedeutet die demografische Veränderung<br />

für Nachbarschaftszentren? Es gibt immer mehr<br />

ältere Menschen, auch jüngere Menschen brauchen Aufgaben.<br />

Was bedeutet das und entsteht dadurch eine neue<br />

Aufgabe für uns? Herbert Scherer hat schon gesagt, dass<br />

es sein könnte, dass es heißt, die Nachbarschaftsheime<br />

springen auf alles an, was im Moment durch die Presse<br />

geht. Wie gehen Sie mit dem Gesamtthema Generationendialog<br />

und Generationenverantwortung um?<br />

TN: Es gibt eine große Sehnsucht nach heiler Familie,<br />

die wird von der Werbung viel genutzt. Ich denke, wenn<br />

jeder sich hinterfragt, hat er auch solche Anteile in sich.<br />

Die Menschen, die zu den Mehrgenerationenhäusern oder<br />

Nachbarschaftszentren kommen, kommen aus einem bestimmten<br />

Bedürfnis heraus. Es ist wichtig zu hören, was<br />

sie brauchen, um ein aktiver Teil dieser Gesellschaft sein<br />

zu können. Dafür müssen wir ihnen verschiedene Modelle<br />

anbieten. Das ist eine unserer wichtigen gesellschaftlichen<br />

Aufgaben. Die Menschen sind häufig sehr einsam, das betrifft<br />

Junge und Alte, Menschen in völlig unterschiedlichen<br />

Lebenslagen.<br />

Wir haben bei uns oft junge Familien oder allein erziehende<br />

Frauen, die extrem einsam sind. Wir haben aber<br />

auch die alte Frau, die zu uns kommt, weil sie einsam<br />

ist. Wir sollten das Thema einfach angehen – ohne es<br />

zu idealisieren. Nicht jeder Kontakt zwischen Jung und<br />

Alt ist nett, es ist bestimmt auch nicht immer einfach,<br />

aber es kann auch sehr beglückend sein. Wir haben<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 59


60<br />

Workshop Zwischentöne<br />

Zwischentöne<br />

zum Beispiel auch eine Wunschgroßeltern-Vermittlung<br />

im Haus, da gibt es so wunderbare Beispiele, aber es<br />

gibt auch die gescheiterten Fälle.<br />

Barbara Rüster: Ich war sehr lange in meiner Hochschule,<br />

das ist ja ein Elfenbeinturm. Jetzt bin ich wieder in die<br />

Praxis gekommen und bin ein bisschen schockiert, was da<br />

passiert. In Berlin ist die Situation so, dass sich der Staat<br />

zurückzieht, weil es kein Geld gibt. Ich finde es wichtig,<br />

Forderungen zu stellen, Jugendhäuser, Nachbarschaftsheime,<br />

all diese Einrichtungen brauchen einfach Hilfen,<br />

also sie brauchen auch professionelle Schauspieler,<br />

Künstler, alles Menschen, die mit zupacken, damit es ein<br />

lebenswertes Leben ist.<br />

TN: Ich teile Ihre Auffassung vollkommen, nur nicht an<br />

einer Stelle, nämlich dass sich der Staat zurückzieht. Das<br />

wird immer gerne gesagt. Die Branche, die hier am weitesten<br />

ausgebaut wird, ist nach wie vor der Gesundheitsbereich,<br />

alles, was mit Sozialarbeit im weitesten Sinn und<br />

mit Bildung zu tun hat. Es ist einfach nicht wahr, dass sich<br />

der Staat zurückzieht. Es sind schon auch unsere Einrichtungen<br />

und Institutionen selbst, die ihre Möglichkeiten,<br />

die sie haben, nicht nutzen. Es wurden jetzt viele Möglichkeiten<br />

dargestellt, die es gibt. Ich glaube nicht, dass man<br />

dafür immer extra Geld braucht.<br />

Ich glaube etwas anderes, zum Beispiel in unseren Institutionen<br />

sollten nicht nur Sozialarbeiter und Erzieher beschäftigt<br />

werden. Es gibt einen eigenen Standesdünkel und<br />

ein eigenes Standesdenken, so wie in den Schulen auch.<br />

Schulen hindern sich oft selber daran, Künstler, Handwerker<br />

oder etwas anderes einzustellen, um den Alltag, und<br />

Theater ist auch irgendwie Alltag und Lebenserfahrung,<br />

reinzuholen. Das ist für mich der zentrale Punkt, dass wir<br />

verlangen, und das auch in unseren eigenen Institutionen<br />

realisieren, dass andere Berufsgruppen eine Chance haben<br />

bei uns, um etwas in Bewegung zu bringen.<br />

Vorhin wurde gesagt, ob Theaterarbeit jeder Sozialarbeiter<br />

oder jeder Fachmitarbeiter machen kann. Wer eine Idee<br />

dazu hat, glaube ich, kann das auch machen, außerdem<br />

kann er sich durch entsprechende Fortbildungen qualifizieren.<br />

Wir haben gerade in unseren Einrichtungen, den<br />

Nachbarschaftsheimen, eine Menge von guten Beispielen,<br />

wo das erfolgreich von Sozialpädagogen oder Sozialarbeitern<br />

gemacht wird, die vorher keine Ausbildung in Theaterpädagogik<br />

gemacht haben. Natürlich ist das vorteilhaft,<br />

wenn man das dann auch noch kann.<br />

TN: Mir geht es um die Frage von Herbert Scherer, ob<br />

Nachbarschaftsheime bei aktuellen Themen auf den Zug<br />

aufspringen. Ich komme aus einem ganz anderen Bereich,<br />

ich bin die Gründerin des Tauschrings Charlottenburg. 1996<br />

hatte ich ihn gegründet, das ist ein Non-Profit-Unternehmen,<br />

also Gelder fließen da gar nicht, sondern es geht wirklich um<br />

Ideen, um Kreativität. Und da kann ich nur sagen, natürlich<br />

sind die Nachbarschaftsheime dafür wichtig. Das sind die<br />

Orte, in denen sich so etwas realisieren kann.<br />

Vorher war ich in einem anderen Workshop, da ging es um<br />

niedrig schwellige Angebote in den Nachbarschaftshäusern.<br />

Bei Familien oder Alleinerziehenden liegt wirklich<br />

viel im Argen, die erreicht man nicht über Behörden oder<br />

Jugendämter, weil die da gar nicht hingehen, damit wollen<br />

sie nichts zu tun haben. Aber Sie erreichen sie über die<br />

Nachbarschaftsheime, indem dort Angebote sind, von denen<br />

Vater oder Mutter angesprochen werden. Deswegen<br />

finde ich Nachbarschaftsheime unbedingt wichtig, gerade<br />

für diese Angebote.<br />

TN: Wenn nicht wir, wer dann? Bei uns sollen Bedarf und<br />

Umsetzungsmöglichkeiten zusammenkommen, wenn es<br />

darum geht Vernetzungen herzustellen, um einen Ausweg<br />

aus der Einsamkeit zu finden. Wobei ich für uns diese Form<br />

von Projektwochen sehr gut finde, die wir haben. Es gibt<br />

ja viele Familien, die gar nicht in Nachbarschaftszentren<br />

gehen, wo die Kinder einfach vor dem Fernseher oder auf<br />

der Straße abhängen. Da merke ich, wie viel Potenzial<br />

da ist, was alles zu tun wäre. Diese Kinder aus den Klassen<br />

haben offensichtlich wenig Gelegenheit zu Konfliktgesprächen<br />

mit ihren Eltern, überhaupt zu Gesprächen,<br />

überhaupt von den Erwachsenen angesprochen zu werden.<br />

Manche Kinder mussten erst einen Moment überlegen,<br />

dann wurden sie noch mal gefragt, noch mal gefragt,<br />

es wirkte so, als müssten sie sich erst an die Situation<br />

gewöhnen, ein persönliches Gespräch zu haben.


Wir haben innerhalb dieser Projekttage ein Konfliktgespräch<br />

gemacht, denn in der Schulklasse war es so, dass<br />

über mehrere Jahre bestimmte Konflikte gedeckelt worden<br />

sind, damit sie überhaupt ihren Lehrstoff schaffen.<br />

Wir haben uns gewundert, warum da nichts passierte,<br />

warum jeder für sich ein kleines Atom war und die alle immer<br />

aneinander schlugen. Wir haben versucht, diese Arbeit<br />

zu machen, und ich habe den Eindruck, dass man als<br />

Nachbarschaftszentrum noch mehr in diese schwierigen<br />

Verhältnisse reingehen könnte. Wir könnten mit Familien<br />

und Kinden, die sonst nichts mit anderen Einrichtungen<br />

zu tun haben, viel mehr machen. Da ist noch ganz viel Potenzial.<br />

Andrea Brandt: Ich denke, dass Nachbarschaftshäuser<br />

genau der Ort sind, an dem jeder seine Ideen einbringen<br />

und ausprobieren kann, was er oder sie zusammen mit<br />

anderen auf die Beine stellen kann. Und zwar eigenverantwortlich<br />

und mit Unterstützung. Nachbarschaftshäuser<br />

sind aber auch ein Forum für Menschen, die sich begegnen.<br />

Auf der anderen Seite müssen wir als Träger aber<br />

auch selber nach außen gehen um zu gucken, welche Initiativen<br />

wir im Stadtteil noch anregen können, wofür es ein<br />

Potenzial an interessierten Leuten gibt.<br />

Selbstverständlich muss ein Nachbarschaftshaus immer<br />

auch Entwicklungstrends aufnehmen. Was ich mir aber<br />

aus den Erfahrungen der letzten Jahre Nachbarschaftsarbeit<br />

wünsche, ist an bestimmten Punkten wieder mehr<br />

Beständigkeit. Denn da ist eine Schnelllebigkeit reingekommen<br />

durch Projekte und Akteure, die nur kurze Zeit<br />

da sind. Das finde ich nicht gut. Initiativen fangen an, sind<br />

aber oft gleich wieder beendet. Dann ist etwas Gutes angestoßen,<br />

aber es geht nicht weiter. Diese ganz kurzen<br />

Laufzeiten bekommen Menschen nicht gut.<br />

Wir haben in der Freiwilligenagentur auch ein Projekt für<br />

Lernen durch Engagement, wo es einfach darum geht,<br />

dass Menschen über einen bestimmten Zeitraum die<br />

Chance haben in ihren Vorhaben begleitet zu werden und<br />

herauszufinden, was ihnen so ein freiwilliges Engagement<br />

bringen kann. Auch vielleicht in Bezug auf eine Perspektive,<br />

die sie suchen, weil sie erwerbslos sind.<br />

TN: Ich habe mit Klaus Dörner gesprochen, das ist der<br />

ehemalige Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie<br />

in Gütersloh. Er beschäftigt sich jetzt ganz intensiv mit<br />

dem eigenen Altwerden. Der Zusammenhang, in dem<br />

er das tut, ist interessant: Er beschäftigt sich mit Nachbarschaft.<br />

Er sieht die Nachbarschaft als den unbedingt<br />

notwendigen dritten Sozialraum an, neben einem privaten<br />

und familiären und einem gesellschaftlichen und öffentlichen<br />

Sozialraum. Aus seiner Sicht ist genau dieser<br />

nachbarschaftliche Sozialraum das Herzstück jeder Gesellschaft,<br />

weil in diesem Raum Beziehungen entstehen<br />

und die physischen Grenzen von Familie durchlässig und<br />

zugleich gestärkt werden. In diesem Raum wird geleistet,<br />

was Familie nicht leisten kann, aber was auch der öffentliche<br />

Raum nicht leisten kann. Er bringt es so auf den<br />

Punkt: In diesem Raum geben wir uns gegenseitig Bedeutung.<br />

Klaus Dörner hat ein Buch herausgegeben, mit dem<br />

Titel „Leben und Sterben wo ich hingehöre“, da fasst er<br />

das alles zusammen.<br />

TN: Ich glaube, das stimmt unbedingt, dass Nachbarschaften<br />

sehr wichtig sind, für die Menschen Kontakte<br />

und damit Bedeutung zu stiften. Aber Nachbarschaften<br />

müssten möglicherweise auch dort geschaffen werden,<br />

wo sie eben nicht oder kaum existieren.<br />

TN: Ich möchte noch mal eine Überlegung dazu anstellen:<br />

wie führt der Weg zum Geld? Das geht nur, indem wir uns<br />

um Trägerschaften und Einrichtungen bemühen, indem<br />

wir unabhängig werden, indem wir die Chancen, die gerade<br />

da sind, nutzen. Schulsozialarbeiter, da wird es demnächst<br />

– nicht nur in Berlin – viele Stellen geben. Rein<br />

in die Schulen als Nachbarschaftszentren. Kindertagesstätten<br />

gründen oder übernehmen. Ganztagsbetreuungen<br />

an Schulen, rein, die Schule könnte schlechthin zu dem<br />

Ort der Nachbarschaft oder des Stadtteils gemacht werden,<br />

mit unserer Unterstützung, eine komplette vorhandene<br />

Infrastruktur könnten wir nutzen. Es ist auch mein<br />

dringender Wunsch, dass Nachbarschaftszentren Trägerschaften<br />

übernehmen, weil das der Weg sein wird, wie wir<br />

stark werden.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 61


62<br />

Workshop Zwischentöne<br />

Zwischentöne<br />

TN: Guckt man mal kritisch hin, dann ist heute ein Großteil<br />

der sozialen Einrichtungen sehr isoliert. Auch wenn in<br />

Altenheimen oder in Pflegeheimen, im Kitabereich schon<br />

sehr viel geschehen ist, sind aber Seniorenheime fast geschlossene<br />

Einrichtungen. Sie sind nur für eine bestimmte<br />

Zielgruppe geöffnet und die damit verbundenen Besucher.<br />

Das ist eine Entwicklung, die wir bremsen müssen, weil<br />

der größte Teil unserer Professionalität in solchen Einrichtungen<br />

eigentlich für das Gemeinwohl gar nicht zur Verfügung<br />

steht. Aber das ist eine wichtige Ressource.<br />

Deshalb ist es so wichtig, dass die Nachbarschaftseinrichtungen<br />

ihren Sozialraum in ihre Arbeit einbeziehen. Das<br />

ist ihre große Chance. Wir müssen diesen Paradigmenwechsel<br />

vollziehen, ältere Menschen nicht als Belastung,<br />

sondern als Chance für eine Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen<br />

Engagements zu sehen.<br />

Andrea Brandt: Als Freiwilligenagenturen sind wir einerseits<br />

mit diesen ganz vielen verschiedenen Bereichen<br />

konfrontiert. Zum anderen eröffnen sich aber auch neue<br />

Handlungsfelder, ob das die Pflege der Senioren ist, ob das<br />

die Familien oder die Kinder sind, also da taucht das alles<br />

auf. Da ist natürlich bürgerschaftliches Engagement überall<br />

vorhanden und auch der Wunsch, Bereiche zu wechseln<br />

und in verschiedene Bereiche hineinzuschnuppern.<br />

Ich sehe es als unsere Aufgabe an, dafür Infrastruktur zu<br />

schaffen und die Fähigkeit der Leute zu stärken, selbst zu<br />

reflektieren, wie sie ihr Engagement oder ihr Ehrenamt gestalten<br />

wollen.<br />

Es gibt den ganz starken Wunsch nach Unterstützung,<br />

gerade bei kleinen Initiativen. Den nehmen wir zum Beispiel<br />

gerade mit Seminaren auf. Da geht es um Fragen<br />

wie: wie kann ich meine Vorstellungen kommunizieren<br />

und in eine Einrichtung hineintragen. Und umgekehrt, wie<br />

können Einrichtungen, die oftmals zunächst eine Scheu<br />

vor neuen Gruppen haben, den Umgang damit lernen, und<br />

gerade kleinen Initiativen eine Chance geben, den Zugang<br />

zu Nachbarschaftshäusern zu finden. Wir haben dazu gerade<br />

ein kleines Projekt abgeschlossen, woraus ein Leitfaden<br />

entstanden ist, wie man Freiwillige gut einbinden und<br />

vermitteln kann. Das sind die Bausteine, die die Gruppen<br />

auch ein Stück weit zueinander führen.<br />

Fotos von Angela Kröll<br />

zum Beitrag von Barbara Rüster


<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 63


64<br />

Workshop<br />

SOS- Eltern in Not<br />

Hilfe und Selbsthilfe<br />

Inputs:<br />

Manja Mai (Outreach) und Ute Wollburg (Marzahn)<br />

„Zeig Courage - Selbsthilfegruppe von Eltern,<br />

deren Kinder Opfer von Gewalt geworden sind“<br />

Josella Stolz (Tauschring Charlottenburg)<br />

„Ein Tauschring als Selbsthilfeinitiative<br />

armer Menschen - geht das?“<br />

Dirk Fischer (ehem. Exit)<br />

„Hilfe für Eltern (rechts-)extremistisch<br />

orientierter Jugendlicher“<br />

Moderation:<br />

Herbert Scherer<br />

Manja Mai: Wir wollen das Projekt „Zeig-Courage“ gemeinsam<br />

vorstellen. Ich werde den Part übernehmen,<br />

wie kam das Jugendprojekt dazu, wie ist die Initiative<br />

entstanden, was haben wir begleitet, was haben wir getan.<br />

Und Frau Wollburg erzählt über die Initiative, was<br />

die Intention war, was sie erlebt hat.<br />

Im Frühjahr 2007 hatten wir im Stadtteil Marzahn große<br />

Probleme mit Gewalt. Es ging dort um Schutzgelderpressungen<br />

an Schulen und zwar im großen semiprofessionellen<br />

Maßstab. Abziehen von Jugendlichen als Volkssport<br />

sozusagen. Es war aber so, dass das offensichtlich<br />

vonseiten der Polizei wenig wahrgenommen wurde,<br />

sondern eher vonseiten der Sozialarbeiter und der Betroffenen.<br />

Aber es gab keinen öffentlichen Skandal und<br />

keine öffentliche Diskussion darüber.<br />

Wir haben mit Eltern von Jugendlichen, die uns auch bekannt<br />

waren, darüber diskutiert. Es gab keine offizielle Runde,<br />

sondern es war Teil unserer Arbeit, uns oft mit Eltern zu<br />

unterhalten und mit ihnen in die Diskussion zu kommen.<br />

Wir haben uns gefragt, was man jetzt tun kann und welche<br />

Wünsche Eltern haben. Und welche Erfahrungen von<br />

Eltern gibt es bereits?<br />

Ute Wollburg: Unsere Erfahrung war, dass Opfer immer<br />

sehr wenig Hilfe bekommen. Es dreht sich immer viel<br />

um den Täter. Wir haben uns gedacht, nein, so soll das<br />

nicht sein, wir wollen das so nicht mehr. Deshalb kam<br />

uns die Idee mit der Elterninitiative. Wir hatten aber<br />

noch keine konkrete Vorstellung davon, wo und wie man<br />

am besten ansetzt. Dann haben wir uns Unterstützung<br />

von außen geholt.<br />

Manja Mai: An dieser Stelle sind dann wir ins Spiel gekommen,<br />

weil wir auch am Entstehungsprozess dieser<br />

ganzen Geschichte beteiligt waren und die Eltern Vertrauen<br />

zu uns hatten. Was kann man machen? Wie gründet<br />

man eine Initiative? Wohin kann man sich wenden?<br />

Wo kriegen wir mal Räume? Wir wollten ein großes Netzwerk<br />

aufbauen und haben Pläne, aber wie können wir<br />

vorgehen?<br />

Das war erst mal ein ziemlich großer Berg, aber auch eine<br />

sehr große Motivation vonseiten der Eltern. Wenn niemand<br />

da ist, um das zu strukturieren oder zu unterstützen, dann<br />

kann es auch sein, dass es einfach ins Leere läuft. Die<br />

Unterstützung haben wir als unsere Aufgabe gesehen.<br />

Wir sind ja wirklich in erster Linie für Jugendliche da und<br />

nicht für Eltern. Aber in dem Fall wollten wir dafür sorgen,<br />

dass es zum Laufen kommt, damit die Eltern auch<br />

selbstständig agieren können. Unsere Aufgabe war,<br />

das Know-How zu vermitteln, Finanzierungswissen, wie<br />

schreibt man einen Antrag, wo kann man sich hinwenden.<br />

Die zweite Aufgabe war, die Initiative bekannt zu<br />

machen. Wie kann man die vielen Fachrunden der Sozialarbeit<br />

erreichen? Die ganze Jugendsozialarbeit wird


vernetzt und alle reden miteinander, aber häufig sind<br />

diejenigen, die aus ihrer eigenen Erfahrung sprechen<br />

können, nicht dabei. Und der Zugang ist für diese Leute<br />

oft auch schwierig. An den Fachrunden teilzunehmen,<br />

war manchmal schon nicht so einfach oder den Zugang<br />

zu finden. Das war der andere Teil, bei dem wir Unterstützung<br />

gegeben haben.<br />

Wir haben einen Antrag gestellt bei den Gesellschaftern,<br />

also bei der „Aktion Mensch“, darüber sind wir ein Jahr<br />

finanziert worden. Finanziert wurde der Aufbau einer Internetseite<br />

zu dem Thema Notfalltelefon und Informationsveranstaltungen,<br />

das war ein Wunsch der Eltern.<br />

Herbert Scherer: Also eher Kleingeld.<br />

Manja Mai: Aufwandsentschädigungen, auch für die Eltern,<br />

die sich ja mit großem Engagement in diese Sache<br />

reingeworfen haben.<br />

Ute Wollburg: Wir haben erst mal eine Internetseite geschaltet<br />

und ein Notfalltelefon eingerichtet. Durch Flyer<br />

haben wir bekannt gemacht, wie man uns erreichen kann.<br />

Dann haben wir Kontakt zum Weißen Ring aufgenommen<br />

und zum Jugendamt, um ihnen allen mitzuteilen, dass es<br />

uns gibt und was wir vorhaben. Wir haben auch immer wieder<br />

um Unterstützung gebeten, was an vielen Stellen nicht<br />

immer geklappt hat.<br />

Dann ging es auch relativ schnell, dass sich die ersten<br />

Familien wirklich an uns gewendet haben, denen haben<br />

wir – soweit es ging und soweit sie es gewünscht haben<br />

– unter die Arme gegriffen. Ob das erst mal nur ein Gespräch<br />

war oder ein Gang zur Polizei. Viele sträuben sich<br />

dagegen, eine Anzeige zu machen. Wir haben ihnen auch<br />

vermittelt, dass es sehr wichtig ist, sich als Opfer nicht zu<br />

verstecken, sondern die erfahrene Gewalt immer wieder<br />

zur Sprache zu bringen. Wir haben die Leute begleitet und<br />

gesehen, wie man sich meistens in solchen Situationen<br />

verhält und dass man als Opfer nicht schweigen sollte.<br />

Denn häufig erfährt man von diesen Dingen gar nichts.<br />

Selbst wenn man fragt, kriegt man in der Regel ausweichende<br />

Antworten<br />

TN: Könnt ihr etwas darüber sagen, wie alt diejenigen waren,<br />

die abgezogen haben, und wie alt die Kinder waren,<br />

die abgezogen wurden?<br />

Ute Wollburg: Beide Gruppen waren ungefähr in demselben<br />

Alter, zwischen 16 und 25 Jahre.<br />

TN: Also nicht die Kleinen, die man abgreifen kann.<br />

Ute Wollburg: Nee, nee.<br />

Manja Mai: Gerade im Rahmen dieser Schutzgeldgeschichte<br />

ist eine Menge passiert. Die Frauen aus dem Projekt<br />

sind zu den Eltern nach Hause gegangen, denn über<br />

ihre eigenen Kinder wussten sie ja, wer abgezogen worden<br />

ist, wer erpresst wurde. Wir wussten auch, wer die Täter<br />

sind. Wir haben eine Veranstaltung mit der OGJ gemacht,<br />

das ist die Operative Gruppe Jugendgewalt, Zivilfahnder<br />

von der Polizei. Die haben auch erklärt, wie wichtig es ist,<br />

dass wir eine Anzeige machen, weil sie ohne Anzeige nicht<br />

reagieren können.<br />

Innerhalb relativ kurzer Zeit ist ein bis dahin als unbescholten<br />

geltender junger Mann dann als Mehrfach-Intensivtäter<br />

erkannt geworden, weil die Eltern dann doch<br />

Anzeige erstattet haben. So konnte dann diese Schutzgeldgeschichte<br />

beendet werden, zumindest vorläufig.<br />

Ute Wollburg: Die Erpressungen haben im großen Rahmen<br />

stattgefunden. Es sind Eltern bedroht worden. Von<br />

einer Mutter wurde der Sohn erpresst, aber er hat sich<br />

geweigert zu zahlen. Daraufhin wurde die Mutter vor der<br />

Kaufhalle zusammengeschlagen, um dem Sohn mehr<br />

Druck zu machen. Diese massive Gewalt hat uns veranlasst<br />

in die Familien zu gehen und dort zu sagen: Ihr<br />

müsst das anzeigen. Viele hatten Angst, was man in so<br />

einer Situation ja auch verstehen kann. Aber wir haben<br />

ihnen erklärt, lieber jetzt noch mal kurz Angst haben als vielleicht<br />

noch über Monate oder Jahre Angst. Denn wenn das nie einer zur<br />

Sprache bringt, wird es nie besser werden. Nachdem der Kopf dieser<br />

Bande gefasst worden war, kehrte einmal ganz schnell wieder<br />

Ruhe ein. Zu dem Zeitpunkt waren wir drei Eltern bei „Courage“.<br />

Manche Eltern wollten für einen Notfall zur Verfügung stehen.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 65


66<br />

Workshop SOS - Eltern in Not<br />

SOS - Eltern in Not<br />

TN: War die Schule nicht auch involviert?<br />

Ute Wollburg: Zum Thema Schule: Diese Abzieherei war<br />

auf der Schule meiner Tochter. Die stand daneben, wie da<br />

jemand abgezogen oder erpresst wurde. Daraufhin ist sie<br />

zum Direktor gegangen. Da wurde ihr erklärt, dass das vor<br />

der Tür stattfindet und sie damit als Schule nichts damit<br />

zu tun haben.<br />

Ich habe meine Tochter dann versucht zu überzeugen,<br />

dass sie am nächsten Tag noch mal zu ihrer Schulsozialarbeiterin<br />

geht und dort noch mal mit Nachdruck sagt,<br />

dass es zwar vor der Tür passiert ist, es aber ein Schüler<br />

aus ihrer Schule war. Das hat sie dann auch getan, glücklicherweise<br />

hatte sie den Mut. Am nächsten Tag hat sie das<br />

gleich angezeigt. Daraufhin war die Schule dann sehr wohl<br />

involviert. Aber – ja, da kam nicht allzu viel.<br />

TN: Wie habt ihr euch sachkundig gemacht, woher hattet<br />

ihr die notwendigen Informationen, um Eltern Hilfestellung<br />

leisten zu können? Zum Beispiel wie das mit der Anzeige<br />

läuft, wie von den Gerichten damit umgegangen wird, wie<br />

die Polizei damit umgeht, usw. Hattet ihr Fortbildungen?<br />

Ute Wollburg: Wir hatten einfach das große Glück,<br />

dass von Anfang an die Presse auf uns zugekommen<br />

ist. Dadurch haben wir viele Kontakte gekriegt, auch<br />

zur Polizei, zur Gewerkschaft der Polizei. Aus solchen<br />

Gesprächen konnten wir natürlich für uns ganz viel Material<br />

mitnehmen, ganz viel Hintergrundwissen. Man<br />

erfährt als Initiative natürlich auch viel mehr, als wenn<br />

ich nur als Mutter irgendwo hingehe und Hilfe will. Oder<br />

wenn wir jemanden zum Gericht begleitet haben, dann<br />

haben wir meistens die Gelegenheit genutzt und einen<br />

Jugendrichter mit unseren Fragen gelöchert. So haben<br />

wir uns eben unser Wissen angeeignet. Wir haben auch<br />

bei Outreach immer wieder nachgefragt. Oder beim Jugendamt.<br />

Das hat ganz gut geklappt, wir haben dort<br />

viele Informationen bekommen.<br />

TN: Ihr habt mit dem Jugendamt gute Erfahrungen gemacht?<br />

Ute Wollburg: Mit der Mitarbeiterin vom Jugendamt, mit<br />

der wir zusammengearbeitet haben, schon. Die war sehr<br />

kooperativ.<br />

Herbert Scherer: Das kannst du bestätigen?<br />

Manja Mai: Ja, im Prinzip schon. Jetzt kommen wir wieder<br />

zu unserem Anteil. Wichtig dabei war, dass die Eltern<br />

plötzlich Fälle auf dem Tisch hatten und damit nicht umzugehen<br />

wussten. Sie waren nicht ausgebildet, wussten<br />

sich nicht zu schützen. Zum Teil sind sie vom Jugendamt<br />

benutzt worden. Die waren zwar freundlich, aber sie waren<br />

auch einfach nur froh, dass sie bei jemandem Fälle<br />

abladen konnten. Unsere Funktion in dem Konstrukt bestand<br />

darin, dass wir so etwas wie Supervision gemacht<br />

haben. Eltern können sich an manchen Stellen nicht<br />

abgrenzen. Sie wissen auch nicht, wann es besser ist,<br />

etwas in bestehende Systeme weiterzuleiten, und wann<br />

man neue Wege suchen sollte.<br />

Wir haben uns regelmäßig getroffen, haben gefragt, was<br />

inzwischen an Neuem passiert ist. Was in den Familien<br />

passiert ist oder in den einzelnen Institutionen Das war<br />

als Unterstützung gewünscht, um da eine Linie reinzukriegen.<br />

Es kamen Bemerkungen wie: Ach ja, da haben<br />

wir uns an der Stelle ganz schön übernommen, da wissen<br />

wir nicht weiter. Dann gab es auch Schwierigkeiten<br />

innerhalb des Stadtteils, weil die betroffenen Eltern, die<br />

Fälle, ja auch direkt aus dem Stadtteil kamen. Das war<br />

manchmal schwer auszuhalten für die Eltern. Da haben<br />

wir versucht, einen Schutz aufzubauen. Insgesamt ist<br />

das sehr gut gelaufen, es ist sehr viel passiert.<br />

Ein Punkt war noch wichtig: die Öffentlichkeit. Wenn<br />

man in sozialen Projekten arbeitet, dann weiß man, wie<br />

schwierig es manchmal ist, die Presse zu aktivieren. In<br />

dem Projekt war es so, dass die uns überrannt haben. Wir<br />

haben wirklich viel Unterstützung erfahren. Es bestand<br />

ein breites Interesse an dem Thema Opfer oder an dem<br />

Thema Courage. Manche Eltern haben die Öffentlichkeitsarbeit<br />

abgelehnt, weil sie sich die entweder nicht zutrauten<br />

oder sie wollten sich nicht vorführen lassen. Das<br />

war dann auch in Ordnung.


Obwohl sich das alles toll anhört, wollen wir mit den<br />

Schwierigkeiten nicht hinter dem Berg halten. Plötzlich<br />

hatten wir nämlich die folgende Situation: Was macht<br />

eine Eltern-Initiative, wenn die Eltern anfangen sich zu<br />

streiten? Sie wollten plötzlich nicht mehr miteinander<br />

reden, die Positionen und Motivationen veränderten sich.<br />

Das war schwierig.<br />

TN: Das war oder ist schwierig?<br />

Manja Mai: Wir haben uns in der Situation aus der Initiative<br />

als Berater zurückgezogen, weil es nicht unsere Initiative<br />

ist. Nicht wir gestalten sie, sondern die Eltern müssen<br />

selber eine Möglichkeit oder eine Lösung finden. Sie<br />

können diese Initiative weiterführen, auch wenn man sich<br />

nicht immer mag, sie kann ein loses Netzwerk sein, wo es<br />

um die Sache geht und nicht nur um einzelne Personen.<br />

Herbert Scherer: War die Initiative vielleicht zu erfolgreich<br />

und jetzt gibt es gar keinen Außenfeind mehr? Wenn der<br />

Druck, was zu tun, ganz groß ist, dann muss man sich einigen.<br />

Aber wenn man sich nur so trifft, …<br />

Manja Mai: Vielleicht ist ein Problem: Wenn man zu viel<br />

Öffentlichkeit bekommt, verleitet das auch. Es verleitet<br />

z.B. zur Egopflege. Dann verändern sich durchaus die Motivationen<br />

von Eltern, wenn die Selbstdarstellung wichtiger<br />

wird als das Thema an sich. Das war der Punkt, an dem wir<br />

gesagt haben: Wir wollen das gerne weiter unterstützen,<br />

aber vielleicht muss sich das mit den Eltern erst mal ohne<br />

uns zurechtrütteln. Die Frage ist jetzt: Wie kann so eine<br />

Initiative, die von unten entsteht, die sich verändert und<br />

sich verändern muss, weiterhin Bestand haben oder eine<br />

neue Qualität entwickeln?<br />

Frau Wollburg organisiert zusammen mit einer Jugendeinrichtung<br />

Anti-Gewalt-Tage an einer Schule in Marzahn,<br />

zwei Mal im Jahr. Das Thema Gewalt ist ja kein Thema,<br />

was vom Tisch verschwindet oder uns nicht mehr begleitet<br />

– bedauerlicherweise ist es weiterhin ein aktuelles Thema.<br />

Vielleicht können wir im nächsten Jahr berichten, wie<br />

sich die Initiative entwickelt hat.<br />

Herbert Scherer: Jetzt kommen wir zu Frau Stolz und dem<br />

Tauschring Charlottenburg. Wir haben uns verständigt,<br />

dass wir das im Dialog machen. Der Tauschring Charlottenburg-Wilmersdorf<br />

ist ja ein bisschen anders entstanden,<br />

Frau Stolz, als manche anderen, aber Sie hatten vorher<br />

auch schon in andere reingeschnuppert?<br />

Josella Stolz: Meine ersten Informationen über Tauschringe<br />

bekam ich in Form einer Broschüre der Kreuzberger<br />

Gruppe „Ohne Moos geht’s los“. Das hat mich wirklich<br />

interessiert, weil<br />

ich gedacht habe:<br />

Was, ohne Geld,<br />

das muss ja toll<br />

sein. Der Familientreff<br />

in der Ufa-Fabrik<br />

hatte die Idee,<br />

dort einen Tauschring<br />

zu etablieren.<br />

Das ging mit Informationsveranstaltungen<br />

los, die ich aber auch nur mit Unterstützung des<br />

Verbandes machen konnte, weil ich dort am Computer<br />

arbeiten konnte und kostenlos Papier, Sachmittel etc. bekommen<br />

habe.<br />

Das Ganze ging zehn Monate, bis der Stammtisch-Tauschring<br />

in Tempelhof entstand. Und dann kam mir die Idee,<br />

das war Anfang 1996, das auch in Charlottenburg zu machen.<br />

Herbert Scherer: Das hing damit zusammen, dass Sie in<br />

Charlottenburg wohnen. Vorher ging es eher darum, irgendwo<br />

tätig zu sein, danach aber auch außerhalb von einer bezahlten<br />

Tätigkeit zu sagen, ich suche Leute, die in einer ähnlichen<br />

Lage sind wie ich, nämlich dass wir kein Geld haben.<br />

Josella Stolz: Richtig, ja, so war es vordergründig. Und<br />

da waren eben die Ansprechpartner für Tauschringe und<br />

für andere soziale Initiativen die Nachbarschaftshäuser.<br />

Da muss ich auf das zurückkommen, was Sie bei der Eröffnung<br />

gesagt haben: Springen Nachbarschaftshäuser<br />

auf jeden Zug auf, der in den Medien gerade aktuell ist?<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 67


68<br />

Workshop SOS - Eltern in Not<br />

SOS - Eltern in Not<br />

Dazu kann ich nur sagen: Nachbarschaftsheime sind sehr<br />

wichtig, weil da wirklich etwas von unten nach oben passiert.<br />

Und es sind sogar die einzigen Orte, die für niedrig<br />

schwellige Jugendangebote oder auch für Tauschringe ideal<br />

sind.<br />

Herbert Scherer: Sie haben damals von dem Nachbarschaftshaus<br />

manchmal eine gewisse Unterstützung gekriegt,<br />

nicht immer, wenn ich mich recht erinnere.<br />

Josella Stolz: Ja, das war manchmal sehr schwer.<br />

Herbert Scherer: Das war sehr schwer, weil auch Nachbarschaftshäuser<br />

manchmal ihre eigenen Pläne in den<br />

Vordergrund stellen. Diese Initiative war wirklich eine Initiative<br />

von unten – und eine Initiative von unten ist auch<br />

immer ein bisschen lästig.<br />

Josella Stolz: Ja, das stimmt.<br />

Herbert Scherer: Wie haben Sie es geschafft, andere<br />

Leute zu finden, die da mitmachen? Und was sind das für<br />

Leute?<br />

Josella Stolz: Ich habe im Verband das Informationsmaterial<br />

erstellt, habe mich am Haus am Lietzensee darum<br />

gekümmert, dass ich am Wochenende einen Raum bekomme.<br />

Die haben dort ein Treffpunkt-Café, wo ich eine<br />

Informationsveranstaltung über Tauschringe abgehalten<br />

habe. In eigener Regie habe ich das publik gemacht, bin<br />

durch den Kiez gegangen und habe an jedem Baum einen<br />

Zettel angebracht. Ich war sehr gespannt, was sich<br />

dann tut. Aber es kamen gleich von Anfang an ziemlich<br />

viele Leute, mehr als 10, was sehr überraschend war. Ich<br />

fand das damals viel. Ich dachte, na gut, das ist ja mal ein<br />

Anfang.<br />

TN: Was stand auf den Zetteln?<br />

Josella Stolz: Ich kann ja mal so einen Flyer rumgehen<br />

lassen. Das ist eine generelle Information über Tauschringe:<br />

was ist ein Tauschring, was macht ein Tauschring? Diesen<br />

Flyer hatte ich im Kiez ausgehängt, die Leute haben<br />

ihn gelesen und sind auch gekommen. Nach der ersten<br />

Infoveranstaltung sind gleich fünf Leute eingetreten, also<br />

die ersten fünf Mitglieder. Das war vor zwölf Jahren, 1996.<br />

Heute hat der Charlottenburger Tauschring 300 Mitglieder,<br />

Tendenz steigend. Gerade in der letzten Zeit gibt es einen<br />

größeren Zulauf.<br />

Herbert Scherer: Wer managt den Tauschring? Das machen<br />

Sie oder machen das auch noch andere?<br />

Josella Stolz: Ich bin nicht der Tauschring, der Tauschring<br />

sind wir alle. Wir haben Arbeitsgruppen gebildet. Eine<br />

Gruppe für die Zeitung, es gibt Arbeitsgruppen für die Talerkonten,<br />

für die Eurokonten. Man muss wissen, wer hat<br />

was getauscht, das muss nachvollziehbar sein. Wir haben<br />

so eine Art Scheckheft, da gibt es ein Kontenblatt, damit<br />

jedes Mitglied nachvollziehen kann, was getauscht wurde,<br />

sind meine Taler ordentlich abgerechnet worden. Das<br />

ist doppelte Buchführung, weil es immer drei Abschnitte<br />

gibt, einmal für die zwei Teilnehmer, die tauschen, einen<br />

Abschnitt für das Tauschringbüro. Da kann man jeden<br />

Monat in der Tauschringzeitung nachschauen, ob die<br />

Taler ordentlich abgerechnet sind. Meistens stimmt es.<br />

Für den Fall, dass was nicht stimmt und es Streitigkeiten<br />

gibt, haben wir auch eine Schlichtungsstelle mit einer Diplom-Psychologin.<br />

Da wird versucht, auf einen Nenner zu<br />

kommen und wieder gut auseinander zu gehen. Und das<br />

funktioniert.<br />

Herbert Scherer: Wie viele von den 300 Mitgliedern sind<br />

richtig aktiv dabei?<br />

Josella Stolz: Aktiv dabei sind ungefähr 80 Mitglieder.<br />

Herbert Scherer: Was kostet das?<br />

Josella Stolz: Das kostet 18 Euro im Jahr, d.h. monatlich<br />

1,50 Euro. Wenn jemand meint, er hat kein Geld, dann ist<br />

mein Argument: 1,50 Euro im Monat, das kann doch wohl<br />

nicht sein, dass jemand die nicht aufbringt. Wenn ich das<br />

vorrechne, dann klappt das auch.


Probleme gibt es natürlich trotzdem, angefangen bei dem<br />

Mitgliedsbeitrag, der einmal im Jahr fällig ist, diese 18<br />

Euro. Häufig wird die Zahlung vergessen, weil sie nur einmal<br />

im Jahr fällig ist. Inzwischen machen wir mit neuen<br />

Mitgliedern eine Einzugsermächtigung.<br />

Herbert Scherer: Was wird davon bezahlt?<br />

Josella Stolz: Von diesen 18 Euro wird die Miete bezahlt,<br />

das sind 50 Euro pro Monat, die wir an das Nachbarschaftshaus<br />

zahlen. Aber dafür haben wir dort unser Büro<br />

jeden Mittwoch von 18 bis 20 Uhr. Das ist also immer ein<br />

fester Anlaufpunkt. Hinzu kommt jeden zweiten Montag im<br />

Monat der „Tauschrausch“, wo die Leute Sachen mitbringen<br />

und tauschen. Der eine hat einen neuen Besen, die<br />

andere eine Tischdecke, alles mögliche, alles, was man im<br />

Leben braucht. Und jeden dritten Montag im Monat haben<br />

wir für die Aktiven unser Organisationstreffen.<br />

Herbert Scherer: Was für Leute machen da mit?<br />

Josella Stolz: Es sind sehr viele arme Leute, sehr viele<br />

Arbeitslose, aber auch sehr viele Leute, die fest im Beruf<br />

stehen, die gut verdienen, momentan haben wir sogar einen<br />

pensionierten Professor drin, also ich bin begeistert.<br />

Es gibt auch wirklich gute Fachleute für praktische Dinge,<br />

dadurch gibt es ein so großes Potenzial an Tauschangeboten<br />

von A bis Z. Es ist ja so, die Arbeit geht nicht aus,<br />

nur die Lohnarbeit geht aus, aber Arbeit gibt es mehr als<br />

genug.<br />

TN: Im Laufe der Zeit steht gar nicht mehr der Tauschring<br />

im Vordergrund, denn es entstehen ja auch Freundschaften.<br />

Josella Stolz: Ja, gut, dass Sie es ansprechen. Das ist eigentlich<br />

das Tollste am Tauschring, was mich auch sehr<br />

froh macht. Es sind ziemlich viele Menschen aus Charlottenburg<br />

drin, aber auch aus Wilmersdorf, die normalerweise<br />

aneinander vorbeigelaufen wären, obwohl sie um die<br />

Ecke wohnen. Und es sind Freundschaften entstanden.<br />

Wir haben sogar zwei Tauschring-Kinder in den zwölf Jahren<br />

bekommen. Das Zwischenmenschliche ist ganz toll,<br />

was da passiert. Tauschen ist ja eine Vertrauenssache,<br />

deswegen einmal im Monat auch der Tauschrausch, denn<br />

wenn ich jemanden persönlich kenne, dann habe ich ein<br />

anderes Vertrauen, als wenn ich nur eine anonyme Anzeige<br />

lese.<br />

TN: Ist dieser Tauschring für alle Bezirke?<br />

Josella Stolz: Das ist der Tauschring Charlottenburg-Wilmersdorf.<br />

Da können auch andere kommen, wenn sie wollen.<br />

Aber man muss dazu sagen, Tauschringe machen nur<br />

vor Ort richtig Sinn, denn je länger die Wege sind, umso<br />

mehr verliert sich die Sache im Sande. Wir haben jetzt<br />

zum Beispiel jemanden aus Tempelhof, der ist bei uns eingetreten.<br />

Dann ruft jemand wegen seines Computers an<br />

und sagt: Können wir das nicht telefonisch machen? Das<br />

ist aber eine ältere Frau, die meint, dass sie am Telefon<br />

gar nix kapiert, sondern da schon einer persönlich kommen<br />

muss. Das sind Sachen, bei denen zu lange Anfahrtswege<br />

hinderlich sind. Wem diese Wege nichts ausmachen,<br />

gut, dann gerne, der Tauschring ist für alle offen. Aber Sinn<br />

macht er eigentlich vor Ort.<br />

Herbert Scherer: Markus, vielleicht kannst du das mit eurem<br />

Tauschring vergleichen. Ist es da ähnlich?<br />

TN: Vieles ist ganz ähnlich.<br />

Josella Stolz: Ihr seid ja auch meine Vorbilder, da ist die<br />

Ähnlichkeit klar.<br />

TN: Interessant ist, dass die Größe auch ähnlich ist. Wir<br />

hatten bestimmt mal 500 Leute, aber es wurde dann<br />

sehr schnell deutlich, dass in so einer großen Runde die<br />

Kommunikation nur ganz schwer möglich ist. Inzwischen<br />

hat sich der Tauschring wieder gesund geschrumpft. Bei<br />

uns zahlt der Tauschring keine Miete. Das ist zwar immer<br />

mal wieder Thema bei uns, aber eigentlich ist klar,<br />

wir als Nachbarschaftshaus haben so einen Gewinn vom<br />

Tauschring, weil dadurch so viele Menschen in unser Haus<br />

kommen, die sonst nicht kämen, dass wir von Anfang an<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 69


70<br />

Workshop SOS - Eltern in Not<br />

SOS - Eltern in Not<br />

den Tauschring mietfrei gestellt haben. Die kriegen auch<br />

den großen Saal einmal im Monat, sonntags, das ist alles<br />

kostenlos.<br />

Herbert Scherer: Jetzt muss man zur Ehrenrettung des<br />

Nachbarschaftshauses am Lietzensee sagen, dass es ein<br />

armes Nachbarschaftshaus ist, wo nur eine Personalstelle<br />

stammgefördert wird aus dem Stadtteilzentrumsvertrag.<br />

Ansonsten lebt das Haus davon, dass alle Gruppen, die<br />

dort sind, auch Geld bezahlen, um einen Teil der Kosten<br />

abzudecken.<br />

Das Nachbarschaftshaus Urbanstraße als traditionelles<br />

Nachbarschaftshaus aus den 50er Jahren hat hingegen<br />

einen Status, dass es sich das leisten kann, Räume auch<br />

mietfrei zu vergeben. Von der Sache her hast du völlig<br />

Recht: Von einem Tauschring wird quasi die Arbeit des<br />

Nachbarschaftshauses selber gemacht.<br />

TN: Mich würde interessieren, ob das Gelingen tatsächlich<br />

von den Einkommensverhältnissen abhängig ist. Unser<br />

Verein hat vor zehn Jahren auch mit einem Tauschring<br />

angefangen. Ich glaube, dass die Vermögensverhältnisse<br />

noch ein bisschen besser sind, die Not ist nicht so groß,<br />

aber die Leute sind viel beschäftigt und haben keine Zeit.<br />

Dann ist der Tauschring eingeschlafen.<br />

Josella Stolz: Als ich in Charlottenburg angefangen habe,<br />

da war Charlottenburg bestimmt kein armes Viertel. Obwohl<br />

es eine versteckte Armut gibt, über die die Leute<br />

nicht gerne reden. Trotzdem finde ich wichtig, dass es<br />

nicht nur auf das Einkommen ankommt. Es gibt mehr einsame<br />

Leute als Arbeitslose, auch dagegen ist ein Tauschring<br />

vorbeugend. Viele Menschen würden alleine abends<br />

in ihrer Wohnung sitzen. Durch den Tauschring kennen<br />

sie aber Leute, können sich zum Kartenspielen treffen<br />

oder gemeinsam Kuchen essen oder Abendbrot essen.<br />

Der Tauschring ist generationsübergreifende Sozialarbeit<br />

in jeder Hinsicht.<br />

TN: Wie setzt sich das demografisch zusammen, altersmäßig,<br />

aber auch in Bezug auf Migrationshintergrund?<br />

Josella Stolz: Es sind schon überwiegend Ältere dabei,<br />

bis 65 oder 70 Jahre, bei 25 Jahren angefangen. Es sind<br />

auch Junge dabei, aber der größere Teil sind ältere Menschen.<br />

Wir haben auch viele türkische Mitglieder, russische<br />

Mitglieder, aus der Ukraine, es ist schon ein bisschen<br />

multikulti.<br />

TN: Machen Sie das ehrenamtlich?<br />

Josella Stolz: Ja, ich mache das seit 12 Jahren ehrenamtlich.<br />

TN: Bei uns knirscht es in den letzten Jahren ganz schön,<br />

auch in der Gruppe des Tauschrings. Es arbeite dort Leute<br />

miteinander, die beziehungstechnisch ganz große Schwierigkeiten<br />

haben. Wir hatten jetzt vor kurzem den kompletten<br />

Rücktritt der Bürogruppe. Wir machen das nicht<br />

mehr haben sie gesagt. Ist das bei euch auch so?<br />

Josella Stolz: Natürlich gibt es innerhalb des Orga-Teams<br />

auch Streitigkeiten, aber letztendlich kommen wir doch<br />

immer auf einen guten Punkt. Dass alle zerstritten sind,<br />

das gibt es gar nicht. Es kommt schon vor, dass man nicht<br />

einer Meinung ist. Aber das liegt auch daran, dass man in<br />

diesem Orga-Team unbedingt zwei Personen haben muss.<br />

Zum Beispiel bei unserem Team ist es die Diplom-Psychologin,<br />

die ausgleicht. Ich bin ein impulsiver Typ, den man<br />

eher runterfahren muss, während sie immer an meiner<br />

Seite sitzt und ganz diplomatisch und moderat ist. Wenn<br />

ich merke, dass es sich hochschaukelt, dann bin ich ruhig<br />

und lasse sie reden. Das funktioniert. Aber klar, es<br />

gibt Streitigkeiten – oft wegen Kleinigkeiten oder Nichtigkeiten.<br />

TN: Worüber wird gestritten?<br />

Josella Stolz: Zum Beispiel wird über den Bürodienst gestritten,<br />

eine hat jetzt einmal länger gemacht als die andere.<br />

Das sind ganz banale Sachen, aber die kann man<br />

aus der Welt schaffen und lösen. Das sind Sachen, wo es<br />

menschelt.


Herbert Scherer: Normalerweise gibt es doch immer<br />

Stress mit dem Geld. Hier ist ja auch reales Geld involviert.<br />

Da gab es doch schon mal Krach, oder?<br />

Josella Stolz: Mit Mitgliedsbeiträgen?<br />

Herbert Scherer: Oder mit Verdächtigungen, was passiert<br />

mit dem Geld oder wer verwaltet das Geld.<br />

Josella Stolz: Das war ganz am Anfang. Da hatten wir ein<br />

Mitglied, das hatte Mitgliedsbeiträge eingenommen und<br />

die nicht eingezahlt. Er hatte immer gesagt, er hätte das<br />

Geld zu Hause. Dann habe ich gesagt: Okay, du fährst<br />

nach Hause und holst es einfach. In dem Moment musste<br />

er Farbe bekennen. Aber er ist gleich am nächsten Tag gekommen<br />

und hat die Gelder gebracht. Damit war das dann<br />

vom Tisch. Aber er ist heute auch nicht mehr Mitglied.<br />

TN: Werden die Leute, die sich in Arbeitsgruppen engagieren,<br />

in Talern bezahlt oder machen sie es ehrenamtlich?<br />

Josella Stolz: Nein, die Orga-Arbeit wird mit Talern entlohnt,<br />

genau wie jede andere Arbeit auch.<br />

TN: Das heißt, jedes Tauschring-Mitglied zahlt monatlich<br />

einen Teil seiner Taler als Kontogebühr?<br />

Josella Stolz: Wir haben unsere Talerkonten und je nachdem,<br />

wie viele Mitglieder es sind, fällt immer eine Talergebühr<br />

an. Wenn es viele Mitglieder sind, fällt die sehr gering<br />

aus, das sind im Monat nur 2 oder 3 Taler. Sind es weniger<br />

Mitglieder, ist die Kontogebühr höher, weil das so richtig<br />

ist, denn von dieser Arbeit profitieren ja alle Mitglieder des<br />

Tauschrings. Die Talerkonten müssen geführt werden, die<br />

Zeitung muss gedruckt werden, das sind alles wichtige Arbeiten.<br />

Deswegen ist es nur recht und billig, wenn sich alle<br />

daran beteiligen.<br />

Herbert Scherer: Wie viel ist denn ein Taler wert?<br />

Josella Stolz: Damals, als ich angefangen habe, gab es<br />

ja noch DM, da waren 10 Taler 10 Mark. Seit es den Euro<br />

gibt, sind 20 Taler 10 Euro, so ist es bis heute. Eine Stunde<br />

Arbeit im Tauschring ist 20 Taler wert, egal, um welche<br />

Tätigkeit es sich handelt, ob das Arbeit am Computer oder<br />

Putzarbeit ist. Wir machen da keinen Unterschied, denn<br />

eine Stunde ist eine Lebensstunde, egal, welche Arbeit<br />

man macht. Wenn man da anfängt zu differenzieren, dann<br />

kommt man vom Hundertsten ins Tausendste. Aber eine<br />

Stunde ist für eine Putzfrau genauso eine Lebensstunde<br />

wie für den Akademiker. Das akzeptiert auch jeder.<br />

TN: Also zu dem, was man als Mitgliedsbeitrag bezahlt,<br />

kommen noch die Taler dazu?<br />

Josella Stolz: Ja.<br />

Herbert Scherer: Die Taler erwirbt man ja durch Arbeit und<br />

dann tauscht man sie wieder gegen Arbeit von jemand anders,<br />

weil man ja nicht mit den Talern bezahlen kann, also<br />

man kann nicht zur Bank gehen und sagen, ich will für so<br />

und so viele Euro Taler haben. Markus, wie funktioniert<br />

das mit dieser imaginären Währung?<br />

TN: Drei Leute treten zum Beispiel in einen Tausch. Ich<br />

bügle Ihre Wäsche, Sie reparieren das Fahrrad vom<br />

Herbert Scherer, der Herbert Scherer putzt bei mir die<br />

Fenster. Wenn wir das jeweils eine Stunde lang machen,<br />

dann haben wir alle dieselben Taler erbracht. Jeder hat<br />

eine Stunde gegeben und eine Stunde bekommen, dann<br />

sind wir wieder alle auf Null. Aber wenn nur ich zum Beispiel<br />

Ihre Wäsche bügle, dann habe ich 20 Taler. Und<br />

von den 20 Talern zahle ich dann 2 oder 3 Taler Kontogebühr,<br />

dann habe ich immer noch 17 Taler, mit denen<br />

ich noch irgendwo einen Dienst in Anspruch nehmen<br />

kann. Diese Taler sind nicht materiell da, sondern das<br />

ist eine imaginäre Währung, die nur auf dem Computer<br />

bzw. auf dem Konto ist.<br />

TN: Wer hat sich das mit den Tauschringen ausgedacht?<br />

Josella Stolz: Das ist schon uralt. Einer der Vordenker war<br />

Silvio Gesell. Dann gab es ja diesen tollen Artikel von dem<br />

Tauschring in Österreich, wo nach dem Krieg praktisch ein<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 71


72<br />

Workshop SOS - Eltern in Not<br />

SOS - Eltern in Not<br />

Dorf nur über den Tauschring überlebt hat. Der Bürgermeister<br />

hatte die Idee, weil die Wirtschaft am Boden lag. Dann<br />

haben die Leute einfach getauscht.<br />

TN: So wie jetzt in der Wirtschaftskrise...<br />

Josella Stolz: Ich habe unseren Professor Hermann malgefragt:<br />

Hermann, wie kommst du in den Tauschring als<br />

Professor? Da hat er gemeint, ja, es kommt die Zeit, wo ihr<br />

viele solche Leute<br />

wie mich braucht.<br />

Der kennt sich gut<br />

aus und hält jetzt<br />

am Montag einen<br />

Vortrag zum Thema<br />

„Bankenkrise und<br />

Tauschring“. Ja,<br />

wenn alles am Boden<br />

liegt, Tauschring<br />

läuft weiter.<br />

TN: Kann man einen Tauschring initiieren oder muss der<br />

wachsen in den Köpfen?<br />

Josella Stolz: Also einer muss anfangen.<br />

TN: Solche Initiativen von unten, die von Bewohnern gegründet<br />

worden sind, so wie unser Tauschring in Kreuzberg,<br />

das sind aus meiner Sicht die tragenden Tauschringe. Es<br />

gibt viele Versuche von Tauschringen über ABM-Stellen<br />

usw. Das funktioniert nicht, weil das nicht wirklich gewollt<br />

und mitgetragen wird.<br />

TN: Das braucht ja Menschen, die mit Begeisterung die<br />

anderen überzeugen.<br />

Josella Stolz: Man muss dahinter stehen.<br />

TN: Das merkt man auch bei Ihnen.<br />

Josella Stolz: Danke. Ich stehe auch voll dazu, das ist das<br />

Beste, was ich je in meinem Leben gemacht habe, weil<br />

es einfach toll ist, wenn ich die Menschen sehe, wie die<br />

miteinander befreundet sind und glücklich sind, wenn sie<br />

sich sehen.<br />

Herbert Scherer: Das ist eigentlich ein wunderbares<br />

Schlusswort. Vielen Dank für die Vorstellung. Wir machen<br />

jetzt einen großen Bogen und kommen zu der Frage, wie<br />

Eltern unterstützt werden können, deren Kinder nicht Opfer,<br />

sondern Täter sind.<br />

Dirk Fischer: Ich habe grundsätzlich ein Problem damit,<br />

bei Rechtsextremisten per se von Tätern zu sprechen.<br />

Ich komme aus der Straßensozialarbeit, d.h. Streetwork,<br />

ich habe drei Jahre lang Streetwork am Zoo gemacht und<br />

danach 12 Jahre bei Gangway gearbeitet. Und ich bin<br />

als Streetworker in Hohenschönhausen, Lichtenberg und<br />

Prenzlauer Berg rumgelaufen. Ich bin ständig im Osten<br />

unterwegs gewesen. Ich habe die Entwicklung von Rechtsextremismus<br />

im Osten miterlebt.<br />

Eine logische Schlussfolgerung daraus ist, dass ich mich<br />

dieses Themas auch weiterhin annehme. Ich hatte immer<br />

mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen zu tun<br />

in meiner täglichen Arbeit und bin auf die Art und Weise<br />

zu Exit gekommen.<br />

Exit ist bundesweit das einzige Aussteigerprogramm für<br />

Rechtsextremisten, das finanziell nicht auf staatlichen Füßen<br />

steht. Wir können uns leider nicht als NGO bezeichnen,<br />

weil wir von Sonderprogrammen und Bundesmitteln<br />

leben. Aber wir sind keiner Partei verpflichtet, wir sind keiner<br />

Institution verpflichtet, wir sind eigentlich niemandem<br />

verpflichtet – außer unserem humanistischen und demokratischen<br />

Weltbild.<br />

Dass Exit jetzt nicht mehr existiert hat damit zu tun, dass<br />

man im Bundesministerium für Arbeit die Förderung zum<br />

31.10. 2008 eingestellt hat. Daran hängen Fördermittel,<br />

die über Xenos gelaufen sind. Wer sich ein bisschen mit<br />

Finanzierungskriterien auskennt, der weiß, dass zu jeder<br />

Finanzierung eine Ko-Finanzierung gehört usw. Das ist uns<br />

jetzt alles weggebrochen.<br />

Unter dem Aussteigerprogramm Exit, wo sich Rechtsextremisten<br />

hinwenden können, wenn sie die rechtsextremi-


stische Szene verlassen wollen, gibt es eine Familienhilfe.<br />

Der Begriff der Familienhilfe ist von uns so festgeschrieben<br />

worden: Familie heißt für uns Mutter, Vater, Oma, Opa, Tante,<br />

Onkel, Patentante, Patenonkel, Lehrer, Erzieher, Bruder,<br />

Schwester, andere Betroffene, Multiplikatoren im Umfeld<br />

des von Rechtsextremismus betroffenen Menschen.<br />

Obwohl Rechtsextremismus ja kein Jugendphänomen ist,<br />

ist natürlich die Hauptklientel, die wir betreuen, Eltern von<br />

Jugendlichen, oder Großeltern oder Tanten oder Onkel,<br />

Lehrer, Lehrausbilder, Betreuer, z.B. aus Freizeiteinrichtungen.<br />

Aber der Hauptanteil der Personen, mit denen wir<br />

– oder ich – zu tun hatten, waren Eltern von männlichen<br />

Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 28 Jahren.<br />

So viel möchte ich gar nicht zur Arbeit sagen, die wir geleistet<br />

haben. Ich möchte eher – dem Thema geschuldet<br />

– was dazu sagen, wie Netzwerke entstehen können bzw.<br />

was es verhindert, dass Netzwerke entstehen. Dazu muss<br />

ich weiter ausholen:<br />

Exit als Projekt bzw. die Familienhilfe als Projekt ist bundesweit<br />

tätig gewesen, mit Sitz in Berlin. Es entstehen<br />

rein finanzielle, personelle und auch kommunikative Probleme,<br />

wenn man eine ernsthafte Betreuung leisten will,<br />

etwa in Saarbrücken. Wir haben Fälle betreut im Saarland,<br />

in Thüringen, in Dortmund, in Hamburg, Darmstadt,<br />

Frankfurt/Oder, in Lübben, im Berliner Raum, so dass das<br />

mit immensem Aufwand verbunden ist, da unser Projekt<br />

nur zwei Mitarbeiter hat.<br />

Die Betreuung läuft am Anfang immer über Telefon bzw. E-<br />

Mail. Über Telefon und E-Mail kann man viel regeln. Wenn<br />

sich eine Betreuung aber zu einer echten Betreuung<br />

entwickelt, kommt man an einem persönlichen Kontakt<br />

nicht vorbei. Nun kann man sich vorstellen, dass die Reisetätigkeit<br />

von Berlin in die entlegenen Winkel der Bundesrepublik<br />

nicht nur mit einem immensen finanziellen,<br />

sondern auch zeitlichen Aufwand zu tun hat, so dass die<br />

Initiierung und Betreuung von Netzwerken Betroffener ein<br />

integraler Bestandteil unserer Arbeit geworden ist. Sobald<br />

in einem Gebiet mehr als zwei Betroffene auf einem Haufen<br />

waren, haben wir versucht, da ein ganz niedrigschwelliges<br />

Netzwerk zu initiieren. Setzen Sie sich doch mal in<br />

Verbindung, tauschen Sie sich aus, gucken Sie, was Sie<br />

zusammen machen können, wir begleiten das.<br />

Das hat uns sehr viel Arbeit erspart. Das hat uns z.B. Reisekosten<br />

erspart. Das hat uns auch – so blöde das klingt<br />

– Zeit erspart, E-Mails zu schreiben, das hat uns Telefonkosten<br />

erspart, weil man das dann nur einem sagen muss,<br />

der es weiterträgt – der Netzwerkgedanke.<br />

Die Problematik an solchen Netzwerken ist natürlich die,<br />

dass die nur so lange interessant sind, wie die Mitglieder<br />

dieses Netzwerks Betroffene sind. Sobald eines dieser<br />

Netzwerk-Mitglieder sagt: Okay, für mich ist das Problem<br />

weg, ich habe kein Interesse mehr, kann es sein, dass das<br />

ganze Netzwerk zusammenbricht. Netzwerk ist ein großer<br />

Begriff, im Grunde genommen sind vier Leute, die über<br />

dasselbe reden, schon ein kleines Netzwerk. Wir wissen<br />

selber, das kann funktionieren, wenn man ein Thema hat,<br />

an dem man arbeiten kann, das alle betrifft, der Betroffene<br />

ist oftmals der beste Ratgeber für andere Betroffene.<br />

Wenn man das von außen begleitet und ein bisschen steuert,<br />

dann ist das sehr hilfreich und Erfolg versprechend.<br />

Natürlich ist so eine Netzwerkbildung nicht immer gewollt.<br />

Wenn sich Eltern zusammenrotten, um ihre Söhne aus einer<br />

Kameradschaft rauszuholen, dann ist das der Kameradschaft<br />

natürlich nicht lieb. Auf der anderen Seite gibt<br />

es Feuer aus Richtungen, aus denen man das nicht erwartet<br />

hat. Ich habe in der gesamten Tätigkeit keine Unterstützung<br />

von Jugendämtern bekommen. Die Jugendämter<br />

haben gesagt, nein, Ideologie ist nicht unser point of view,<br />

die Ideologie muss draußen bleiben, uns geht es nur um<br />

den Jugendlichen und seine Eltern. Ich habe mit Jugendämtern<br />

telefoniert und das letzte Wort von der anderen<br />

Seite war: Ich vermittle Sie mal in unsere Fachaufsicht.<br />

Ich dachte, mit wem rede ich da? Rede ich da mit Sozialarbeitern<br />

oder Sozialpädagogen oder mit wem? Es geht<br />

doch darum, die Eltern zu stärken und den Jugendlichen<br />

da rauszuholen. Das ist doch wohl eine Kernaufgabe eines<br />

Jugendamtes. Aber das war nicht so.<br />

Herbert Scherer: War das im Osten und im Westen<br />

gleich?<br />

Dirk Fischer: Es gibt da keine Unterschiede.<br />

TN: Wie haben Sie sich gewehrt?<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 73


74<br />

Workshop SOS - Eltern in Not<br />

SOS - Eltern in Not<br />

Dirk Fischer: Das ist immer ein bisschen problematisch,<br />

weil ich ja derjenige war, der um Unterstützung gebeten<br />

hat. Wenn ich die nicht bekam, konnte ich sagen: Danke<br />

für das Gespräch. Oder wir sind dann auch andere Wege<br />

gegangen. Wir haben die Eltern dabei unterstützt, sich an<br />

die Presse zu wenden.<br />

Der Netzwerkgedanke hat uns sehr viel Arbeit erleichtert,<br />

nicht abgenommen, aber erleichtert. Das Beispiel Saarbrücken<br />

hat wirklich sehr gut funktioniert. Einen großen<br />

Beitrag hat dazu geleistet, dass sich zwar die Eltern nicht<br />

kannten, aber dass die Söhne in der gleichen Kameradschaft<br />

waren. Da konnten über ganz kurze Wege Kontakte<br />

hergestellt werden, weil sich die Jungs kannten. Das hat<br />

einen Besuch in Saarbrücken erfordert, um da ein Netzwerk<br />

anzuschieben, das nach einer Anlaufphase von zwei<br />

Monaten, die recht intensiv betreut wurde, von alleine<br />

funktionierte. Das hat dann auch krakenartig um sich<br />

gegriffen, weil die Eltern, die da involviert waren, Leute<br />

waren, die – Gott sei Dank – wirklich dahinter gestanden<br />

haben. Sie haben das Ding dann weitergetragen und sich<br />

engagiert, auch nachdem ihre Söhne da raus waren. Das<br />

sind so positive Zufälle, mit denen muss man rechnen, ansonsten<br />

kann man es irgendwie auch lassen.<br />

Ich denke, dass die Initiierung von Netzwerken, gerade von<br />

Betroffenen- Netzwerken, in der Zeit nachlassender staatlicher<br />

Maßnahmen extrem wichtig ist. Ich sagte ja schon,<br />

es gibt keinen besseren Berater als den Betroffenen. Weil<br />

der weiß, wovon er redet, er weiß, was er erlebt hat und<br />

er kann sich mit betroffenen Leuten auf Augenhöhe unterhalten.<br />

Mir ist das und das passiert, erzähl doch mal<br />

deins. Wenn ich als Berater oder als Sozialpädagoge reinkomme,<br />

dann habe ich keine Innensicht, sondern nur die<br />

Sicht darauf. Ich kann 1000 Bücher gelesen haben und<br />

bei 95 Fortbildungen zu dem Thema gewesen sein, aber<br />

ich weiß nicht, was eine Mutter fühlt, die ihren Sohn aus<br />

der rechtsextremen Szene loseisen will. Ein Betroffenen-<br />

Netzwerk ist das Beste, was einem Helfer passieren kann.<br />

Wenn es ihm gelingt, so was in die Wege zu leiten, wo Leute<br />

sich miteinander vernetzen und vernetzen wollen, die<br />

unter derselben Repressalie leiden.<br />

Ich habe oftmals Feedback von betroffenen Eltern oder<br />

Müttern oder Vätern gekriegt, die sich bedankt haben:<br />

Danke, dass Sie mir erst mal zugehört haben. Viele Eltern,<br />

mit denen wir zu tun hatten, hatten eine Odyssee hinter<br />

sich. Das fing an bei den Lehrern, über den Schulsozialarbeiter,<br />

über die Polizeidienststelle, über den Verfassungsschutz,<br />

über den Staatsschutz, über sonst wen, und jeder,<br />

zu dem sie gekommen sind, hat ihnen gesagt: Wir danken<br />

Ihnen sehr für Ihr zivilbürgerliches Engagement, aber gehen<br />

Sie doch mal da hin. Das war auch bei der Kirche nicht<br />

anders: Viele Leute haben als letzten Ausweg den Pastor<br />

besucht. Der hat dann gesagt: Es tut mir herzlich Leid.<br />

Dann sind sie zu uns gekommen, merkwürdigerweise erst<br />

dann, und haben sich bedankt für 2 ½ Stunden Zuhören.<br />

Sie haben alle nicht zugehört. Es gibt Aussteigerhilfen, die<br />

nicht so funktionieren wie wir. Z.B. eine Ausstiegshilfe, die<br />

vom Verfassungsschutz initiiert ist, möchte Informationen<br />

aus der Szene haben. Die begreifen sich selber nicht als<br />

ein Hilfsangebot für jemand, der raus will. Sie sagen: Okay,<br />

ich helfe dir da raus, aber dafür will ich das und das wissen,<br />

wie kommen wir da zueinander?<br />

TN: Wie kann die Aufbauarbeit oder die Betreuungsarbeit<br />

aussehen? Wie bauen wir ein Netzwerk auf? Wie war das<br />

z.B. in Saarbrücken?<br />

Dirk Fischer: In Saarbrücken war es so, dass sich relativ<br />

zeitgleich zwei Familien bei uns gemeldet haben, die sich<br />

nicht kannten. Das ging dann eine zeitlang über Telefon<br />

und über E-Mail, bis wir – mein Kollege und ich – meinten,<br />

wir müssen da mal runter, weil das so nicht geht. Das kann<br />

man nicht alles am Telefon erledigen, weil sich um diese<br />

Sache Gespinste weben, darin waren schon zu viele Leute<br />

involviert, da war die Polizei involviert, das Jugendamt war<br />

schon involviert. Wir sind dann runtergefahren und haben<br />

uns mit den Leuten an einen Tisch gesetzt, ganz konspirativ,<br />

ich kam mir vor wie zu DDR-Zeiten.<br />

Wir haben uns in einer Hotelhalle getroffen und uns miteinander<br />

unterhalten. Dann kam raus, dass die Söhne<br />

sich kannten, weil sie beide zusammen in der gleichen Kameradschaft<br />

waren. Dann haben wir gesagt: Sie kennen<br />

sich jetzt und über Ihre Söhne lernen Sie andere Leute<br />

kennen. Die sind ganz von sich aus nach außen gegangen<br />

und haben nach den Eltern gesucht, die da mit dran betei-


ligt waren. Eigentlich haben sie sich ein eigenes Hilfsnetzwerk<br />

geschaffen. Ich saß hier in Berlin und dachte, okay,<br />

so einfach kann es sein.<br />

Das war sehr erhebend, weil ich gesehen habe, wie es<br />

funktionieren kann. Wir haben im Grunde genommen die<br />

Regiestelle in Berlin gehabt und mussten nur noch auf<br />

Fachfragen reagieren, für die wir sowieso immer Ansprechpartner<br />

sind, also auch für Lehrer und Erzieher. Aber da<br />

haben wir auf die Fachfragen der Eltern reagiert, die dann<br />

sowohl ins Juristische, als auch in die Jugendhilfe gingen.<br />

Ich habe mich wirklich am Telefon mit dem Jugendamt in<br />

Saarbrücken gefetzt, weil ich meinte, dass es nicht gesetzeskonform<br />

sei, wie sie vorgehen.<br />

TN: Also die Eltern hätten Hilfe zur Erziehung gebraucht,<br />

die sie nicht bekommen haben?<br />

Dirk Fischer: Ja, die haben sie nicht bekommen, weil das<br />

Jugendamt gesagt hat, dass es mit Politik nichts zu tun<br />

haben will.<br />

TN: Es geht ja darum, den Jugendlichen beim Ausstieg zu<br />

helfen. Aber in dem Fall waren es ja die Eltern, die kamen,<br />

während die Jugendlichen noch nicht das Bedürfnis hatten<br />

auszusteigen?<br />

Dirk Fischer: Wir haben uns immer so verstanden, dass<br />

wir ein Hilfeangebot für die Personen um die Jugendlich<br />

herum sind. Beim zweiten oder dritten Treffen hat man die<br />

Personen, um die es eigentlich geht, mit am Tisch.<br />

TN: Eigentlich geht es ja darum, dem Jugendlichen zu<br />

helfen auszusteigen, der aber erst mal gar nicht dieses<br />

Bedürfnis hat. Das halte ich für eine große Schwierigkeit<br />

dabei.<br />

Dirk Fischer: Den Ausstieg können wir nicht bewerkstelligen.<br />

Aber wir können die Eltern beraten, wie sie damit<br />

umgehen, dass ihr Sohn entweder rechtsextremistisch orientiert<br />

ist oder rechtsextremistisch organisiert ist. Ich<br />

habe auch Eltern schon gesagt, dass sie ihren Sohn bei<br />

der Polizei anzeigen sollen, wenn sie sich nicht mehr zu<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 75


76<br />

Workshop SOS - Eltern in Not<br />

SOS - Eltern in Not<br />

helfen wissen und sie vom Sohn körperlich bedroht werden.<br />

Das geht manchmal nicht anders. Das ist zwar ein<br />

Schritt, den man Eltern relativ ungern ans Herz legt.<br />

TN: Das Netzwerk in Saarbrücken hat funktioniert. Versteht<br />

ihr eure Rolle so, dass ihr aktiv mit denen im Kontakt<br />

bleibt oder nur dann, wenn Eltern nachfragen?<br />

Dirk Fischer: Wir haben einen Turnus entwickelt. Sobald<br />

wir 14 Tage lang nichts mehr von irgendwo gehört haben,<br />

haben wir selber angerufen. Manchmal gab es noch Bedarf,<br />

aber meistens mussten wir gar nicht zurückrufen.<br />

Wenn man nach 14 Tagen nachfragt, wie es denn aussieht,<br />

und die Antwort ist, dass es sich erledigt hat, dann<br />

kann man nur noch nach dem Warum fragen. Aber wenn<br />

es sich erledigt hat, dann hat es sich erledigt, da ist dann<br />

auch die Obhutspflicht nicht mehr da.<br />

TN: Wie hoch ist denn die Erfolgsquote, wenn man das so<br />

nennen kann? Was ist Erfolg in so einem Fall? Wenn Eltern<br />

oder Verwandte anrufen, dann ist ja ein Erfolg auf jeden<br />

Fall, wenn die wieder in Kontakt mit ihrem Sohn kommen.<br />

Manchmal haben sie ja auch Kontakt, aber einen gewalttätigen.<br />

Es ist sicherlich schwierig zu sagen, was da ein<br />

Erfolg ist. Der maximale Erfolg wäre, dass das Kind tatsächlich<br />

aus der Gruppe rauskommt.<br />

Dirk Fischer: Nein. In meiner Tätigkeit dort habe ich mich<br />

nicht als den Chefideologen begriffen. Mit den Jugendlichen,<br />

um die es eigentlich ging, habe ich sehr selten politisch-ideologische<br />

Kontroversen geführt. Ich habe mich da<br />

eher in der Profession als Sozialarbeiter begriffen – oder<br />

als Unterstützer. Der der Familie hilft eine Kommunikationsstruktur<br />

aufzubauen, sowohl mit ihrem Kind, als auch<br />

untereinander wieder, und ich habe die Unterstützerfunktion,<br />

Hilfe einzufordern und zwar nicht bei uns, sondern<br />

bei den Stellen, die wirklich helfen können, Polizei, Jugendamt,<br />

Staatsschutz, was auch immer.<br />

Ganz oft war die zweite oder dritte Frage am Telefon: Was<br />

habe ich denn falsch gemacht? Wo ich dann sage: Sie haben<br />

überhaupt nichts falsch gemacht. Ihr Sohn ist 16, 17,<br />

18, der will als erwachsener Mensch behandelt werden,<br />

dann soll er auch seine Entscheidungen wie ein erwachsener<br />

Mensch treffen, und dann muss er auch damit leben.<br />

Sie haben dabei nichts falsch gemacht. Sie können nur<br />

sehen, wo Ihre Rolle auf dem Weg ist, den Ihr Sohn oder<br />

Ihre Tochter gehen möchte. Und wo er oder sie Ihre Unterstützung<br />

noch braucht oder wo Sie Ihr Kind laufen lassen<br />

müssen im schlimmsten Fall.<br />

Ich habe ja nicht das Allheilrezept und ich bin auch nicht<br />

der Retter in der Not. Ich bin nur eine Anlaufstelle und im<br />

besten Fall dann auch eine Begleitung. Und dass solche<br />

Initiativen oder Netzwerke begleitet werden müssen, zumindest<br />

am Anfang, das ist extrem wichtig. Ich muss als<br />

Ansprechpartner für dieses Netzwerk und zum Teil auch<br />

als Koordinator unterwegs sein und muss für Fragen ansprechbar<br />

sein.<br />

TN: Wie wurden Sie finanziert?<br />

Dirk Fischer: Über das Ministerium für Arbeit.<br />

TN: Und die haben die Mittel gestrichen?<br />

Dirk Fischer: Nein, das ist ein falscher Zungenschlag. Die<br />

Förderung ist planmäßig ausgelaufen. Auf dieser Formulierung<br />

besteht besonders das Arbeitsministerium. Es gibt<br />

keine Anschlussfinanzierung.<br />

Herbert Scherer: Es gibt stattdessen ein neues Programm.<br />

Dirk Fischer: Na ja, da sagen die einen so, die anderen so.<br />

Also es gibt das Angebot des Arbeitsministeriums, ab April<br />

<strong>2009</strong> wieder eine Förderung zu geben. Wer sich allerdings<br />

auskennt, der weiß, dass nach einem halben Jahr die Arbeit<br />

von vorne losgehen wird. Man hält keine Kontakte<br />

über ein halbes Jahr aufrecht, selbst der Wohlmeinendste<br />

schafft das nicht.<br />

Josella Stolz: Ich finde diese Arbeit im Bereich Rechtsextremismus<br />

sehr wichtig, denn die Tendenz in diesem Bereich<br />

ist ja eher steigend. Ich hatte im Stern den Artikel<br />

über Exit gelesen, dass das Projekt bald zu Ende geht, und


war damals schon sehr betroffen. Gibt es da nicht Möglichkeiten,<br />

um so ein Projekt weiter zu erhalten? Zum Beispiel<br />

könnte man an jüdische Einrichtungen gehen, weil<br />

die ja direkt massiv betroffen sind. Die wollen ja mehr Sicherheit,<br />

zum Beispiel bei dem jüdischen Altersheim, was<br />

in Charlottenburg gerade gebaut wird. Dann müssen diese<br />

jüdischen Einrichtungen auch solche Projekte unterstützen.<br />

Oder sehe ich das falsch?<br />

Dirk Fischer: Mehr als Lippenbekenntnisse sind nicht<br />

drin. Ich verstehe nicht, warum Demokratie-Entwicklung,<br />

Toleranzförderung, Bekämpfung von Extremismus in der<br />

Bundesrepublik über Sonderprogramme und Fördertöpfe<br />

finanziert wird, was ja eigentlich eine originäre Staatsaufgabe<br />

ist. Aber nein, der Staat zieht sich da aus der Verantwortung<br />

und es wird nach Sonderprogrammen und nach<br />

Fördertöpfen geschrieen. Ich finde, da ist ein absolutes<br />

Ungleichgewicht drin. Da läuft was schief, das geht so<br />

nicht. Das wird uns auf die Füße fallen.<br />

neu erfunden werden. Und dann gibt es Leute, die die Fähigkeit<br />

haben, das Alte als was Neues so zu verkaufen,<br />

dass es in das nächste Förderprogramm reinpasst.<br />

Dirk Fischer: Es muss innovativ sein... Das AGAG, das Sonderprogramm<br />

gegen Aggression und Gewalt, aus den 90-<br />

er Jahren, das war ein Super-Programm, daraus sind ganz<br />

tolle Sachen entstanden. In der wievielten Fortsetzung<br />

sind wir jetzt mit Xenos?<br />

Herbert Scherer: Es wird nicht richtig geprüft, ob etwas<br />

Erfolg versprechend ist. Meistens ist das, was Erfolg versprechend<br />

ist, ja gar nicht unbedingt so innovativ, sondern<br />

es fußt auf Erfahrungen, die langfristig gemacht worden<br />

sind, und macht da weiter.<br />

Herbert Scherer: Jetzt kommen wir in eine sehr, sehr<br />

grundsätzlichen Diskussion.<br />

Dirk Fischer: ... und das wollten wir eben nicht.<br />

Herbert Scherer: Doch, das wollten wir schon. Wir leben<br />

in anderen Strukturen, nicht in Sonderprogramm-Strukturen,<br />

sondern in auf Dauer angelegten Strukturen, so<br />

verstehe ich z.B. Nachbarschaftshäuser. Das Problem ist<br />

möglicherweise, dass Dinge, die in die Regelstrukturen<br />

gehören, auch in unserem Denken in Sonderprogrammen<br />

aufgehoben zu sein scheinen. Da ist ja jemand, der sich<br />

drum kümmert, dann denkt man zu wenig daran, dass das<br />

eigentlich in die Fläche gehört. Deswegen ist es unheimlich<br />

wichtig, das Know-How weiterzutragen. Es muss aber<br />

da ankommen, wo auf Dauer gearbeitet wird. Es nützt<br />

nichts, aus dem Sonderprogramm das dauernde Sonderprogramm<br />

zu machen. Man muss langfristig vor Ort daran<br />

arbeiten, dass sich an dem Problem was ändert.<br />

Diese befristeten Sonderprogramme haben immer ihre eigene<br />

Logik, schon alleine, weil sie befristet sind. Dadurch<br />

müssen sie nach jedem auslaufenden Programm wieder<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 77


Workshop<br />

Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Lernen, einmischen, verändern<br />

für die Zukunftschancen der Kinder<br />

Inputs:<br />

Viola Scholz-Thies und Petra Sgodda<br />

(Gemeinwesenverein Heerstraße Nord)<br />

„Erziehung macht Spaß - Erziehungsführerschein“<br />

Semih Kneip (Gangway)<br />

„Zusammen lernen, Coaching und Konfliktmanagement -<br />

Erfahrungen aus der Arbeit an einer Grundschule<br />

in Neukölln“<br />

Moderation:<br />

Theo Fontana<br />

Viola Scholz-Thies: Ich arbeite im Gemeinwesenverein<br />

Heerstraße Nord. Meine Kollegin und ich machen dort<br />

den Eltern-Trainingskurs „Erziehung macht Spaß – Der<br />

Erziehungsführerschein“. Dieser Erziehungsführerschein<br />

wurde von zwei Mitarbeitern einer psychologischen Beratungsstelle<br />

in Viersen entwickelt, die gleichzeitig auch<br />

eine Erziehungsberatungsstelle ist. Das Konzept sieht 10<br />

Termine vor, jeweils drei Stunden.<br />

Zum Beginn geht es um eine Einführung und das Kennen<br />

lernen. Bei den Inhalten geht es um Erziehung/Beziehung,<br />

um deutlich zu machen, dass die Beziehung die<br />

Grundlage für jede Erziehung ist, um Erziehungsspiele,<br />

um Entwicklungsphasen. Es ist wichtig zu wissen, was ich<br />

von meinem Kind in welchem Alter erwarten kann. Zu den<br />

Themengebieten gehören auch Strafe, Regeln, Grenzen,<br />

Konsequenzen, Kommunikation, Konflikte, Entmutigung<br />

und Ermutigung, zum Abschluss Rückmeldung, Verabredungen<br />

für die Zukunft und dann, wie gesagt, die Nachtreffen.<br />

Die Erziehungskurse sind immer ähnlich aufgebaut, aber<br />

nicht gleich. Was hier unser Schwerpunkt sein soll, das<br />

sind die Nachtreffen, um die Eltern zu aktivieren, über den<br />

Kurs hinaus aktiv zu bleiben. Bei den Nachtreffen geht es<br />

darum, einen Austausch zu haben, in einem Forum, wo ich<br />

meine Schwierigkeiten und Probleme ansprechen kann.<br />

Das ist ein Kreis mit vertrauten Menschen, denn es sind<br />

dieselben, die auch in der Kursgruppe waren. Teilweise haben<br />

wir auch verschiedene Kurse zusammengeführt, das<br />

war unproblematisch. Wir haben jeweils zwei Stunden für<br />

die Nachtreffen vorgesehen, eine Stunde soll frei gelassen<br />

werden, in der anderen Stunde wollen wir die schon bekannten<br />

Kurs-Themen vertiefen.<br />

Im Vordergrund stehen die Selbstreflektion und Selbsterfahrungen.<br />

Es wird also viel von den Eltern gefordert, sie<br />

müssen ganz viel über sich selbst nachdenken, wie sie<br />

was gegenüber ihren Kindern machen, aber auch wie sie<br />

selber verschiedene Situationen erlebt haben. Darüber<br />

kommen sie dann auf mögliche Zusammenhänge zwischen<br />

ihren eigenen früheren Erlebnissen und wie sie die<br />

an ihre eigenen Kinder weitergeben.<br />

Die Arbeitsmethoden: Kleingruppenarbeit, Vorträge, Rollenspiele,<br />

praktische Übungen, das ist jeweils bunt gemischt.<br />

Die Erziehungsstile machen wir auch alle durch,<br />

Schwerpunkt ist der demokratische Erziehungsstil. Auch<br />

da müssen die Eltern sehr viel über sich nachdenken.<br />

Ganz wichtig ist auch, dass die Eltern angeregt werden<br />

sollen, mit anderen Eltern im Austausch zu bleiben.<br />

Die Eltern haben auch Wochenaufgaben. Zu jeder Einheit<br />

gibt es einen Fragebogen, den die Eltern mitnehmen<br />

und bis zur nächsten Stunde bearbeiten. Das wird dann<br />

noch mal gemeinsam durchgegangen. Hier sehen Sie die<br />

Konfliktlösungsmöglichkeiten. Das ist ein System, anhand<br />

dessen wird das Thema Konflikt angegangen.<br />

Ich bin immer wieder erstaunt, wie offen die Eltern sind.<br />

Zum Beispiel sprechen wir am Anfang darüber, wie sie selber<br />

Erziehung erlebt haben. Das sollen sie als Symbol ma-


len oder als Bild, so wie sie es mit 7 Jahren gemalt hätten,<br />

um den Anspruch, den sie selbst an sich haben, nicht so<br />

hoch anzusetzen. Da kommen schon erschreckende Dinge<br />

zutage. Da das sehr am Anfang steht, zweite Stunde,<br />

finde ich es ganz erstaunlich dass sie das vor einer noch<br />

relativ fremden Gruppe so offen erzählen, was ihnen alles<br />

passiert ist. Ganz oft finden sich dann dazu andere<br />

Eltern mit ähnlichen eigenen Erfahrungen. So entsteht<br />

untereinander das Gefühl, dass sie nicht alleine mit ihrer<br />

Situation sind und dass die Probleme nicht nur an ihnen<br />

liegen. Dass sie nicht schlecht sind oder was nicht können,<br />

sondern dass es ein Problem gibt, das andere Leute<br />

auch haben.<br />

Theo Fontana: Woher kommt dieser Vertrauensvorschuss?<br />

Viola Scholz-Thies: Wir haben relativ kleine Gruppen,<br />

höchstens 10 Teilnehmer.<br />

Petra Sgodda: Am Anfang haben die Eltern natürlich schon<br />

eine gewisse Scheu, es bedarf eines gewissen Zuspruchs.<br />

Aber es ist so, dass die Eltern sehr engagiert sind und sich<br />

dann darauf einlassen. Wir haben auch jedes Mal ein bisschen<br />

Angst vor dieser Situation, den Eltern mitzuteilen, was<br />

wir von ihnen wollen, aber es hat bisher immer funktioniert.<br />

Das ist der Schritt rein in die Auseinandersetzung, sie setzen<br />

sich mit ihrer eigenen Erziehung auseinander, um dann<br />

eine gewisse Barriere zu überschreiten, damit sie weiter<br />

daran arbeiten können. Das erlebt man wirklich jedes Mal,<br />

dass dann am nächsten Termin, eine Woche später, gleich<br />

schon Kontakte da sind und ein Austausch untereinander,<br />

es schafft eine produktive Basis für die weiteren Themen.<br />

Viola Scholz-Thies: Es gibt auch immer leichte Irritationen<br />

beim Malen: Was soll ich denn malen? Das dauert dann<br />

ungefähr 10 Minuten, dann fangen Einzelne an und irgendwann<br />

malen sie alle.<br />

Petra Sgodda: Das gilt auch für die Rollenspiele, die wir<br />

machen. Die haben wir bewusst drin gelassen. Wir überlegen<br />

uns immer wieder, ob das wirklich genau die Methode<br />

ist, die da günstig ist. Da haben wir manchmal Bedenken,<br />

aber auch das funktioniert bisher immer. Auch für ein bildungsärmeres<br />

Publikum sind Rollenspiele durchaus geeignet,<br />

sie lassen sich gerne darauf ein.<br />

Viola Scholz-Thies: Der Kurs stellt keine schnellen Lösungen<br />

bereit. Es geht keiner aus dem Kurs mit einem<br />

Methodenpapier – wenn ich das so und so mache, dann<br />

klappt alles. Sondern es gibt eine Entwicklung. Gerade<br />

die Gesprächstechniken oder Konfliktlösungsmuster, das<br />

muss alles verinnerlicht werden und wachsen, auch in der<br />

Interaktion mit der Familie und den Kindern. Wenn ich<br />

mich anders ihnen gegenüber verhalte, dann reagieren<br />

die natürlich auch anders, sie müssen sich nur erst darauf<br />

einstellen. Das ist ein Prozess, der länger dauert. Man<br />

muss den Eltern auch immer wieder sagen, dass sie nicht<br />

von sich erwarten sollen, dass alles gleich so klappt, wie<br />

sie das hier hören oder wie es wünschenswert wäre. Sondern<br />

das ist auch Übung und sie müssen mit den Kindern<br />

und auch mit sich selbst Geduld haben.<br />

Im Anschluss haben wir einen Fragebogen ausfüllen lassen,<br />

wie sie das Ganze sehen. Wir haben hier ein paar<br />

Antworten von Eltern, die das zum größten Teil positiv beurteilen.<br />

Zum Beispiel: Ich hätte nicht gedacht bzw. wollte<br />

nicht wahrhaben, wie verheerend Inkonsequenz ist. Ich<br />

bin ruhiger und gelassener geworden.<br />

Bei den Nachtreffen haben wir auch immer wieder gefragt,<br />

was sie sich denn noch wünschen. Sie wollen etwas zusammen<br />

mit den Eltern aufbauen, dass sie eine Anlaufstelle<br />

haben, wo sie ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse<br />

mit einbringen können. So ein Kurs mit 10 Einheiten, das<br />

ist natürlich eine sehr begrenzte Zeit, einige wünschen<br />

sich, dass er länger dauert oder noch vertieft wird.<br />

Die Wünsche waren: die besprochenen Themen zu vertiefen,<br />

weitere Übungen zu machen, noch mehr Austausch,<br />

noch mehr zu Wort zu kommen, was ja nicht immer so<br />

ausführlich möglich ist, wenn man ein bestimmtes Thema<br />

in einer begrenzten Zeit durcharbeiten muss. Dann Vorpubertät,<br />

Umgang unter Geschwistern, das waren weitere<br />

Wünsche. Unser Kurs ist konzipiert für Kinder von 0 bis<br />

12 Jahren. Pubertät und ältere Kinder, das ist noch von<br />

ganz großem Interesse, was aber nicht speziell in dem<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 79


80<br />

Workshop Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Wenn Eltern in die Schule ...<br />

Kurs behandelt werden kann. Der Altersunterschied zwischen<br />

den Geschwistern, Geschwisterkonstellationen, wie<br />

gehen sie miteinander um, wie sollte ich darauf eingehen?<br />

Was ist zu machen, wenn der Partner nicht mit zum Kurs<br />

kommt und belächelt, was ich mit nach Hause bringe und<br />

umsetzen will? Auch ein ganz großes Problem: wie kann<br />

man sich selbst helfen, Souveränität zu bewahren, zum<br />

Beispiel auch dem Partner gegenüber? Sie wünschen sich<br />

Verlängerungskurse, also mehrere Einheiten, wo man die<br />

Zeit vielleicht aufteilen kann in eine Stunde Nachtreffen,<br />

eine Stunde ein neues Thema. Das haben wir für die Zukunft<br />

aufgegriffen.<br />

Es wird ein extra Väter-Kurs gewünscht, weil die Mütter die<br />

Hoffnung haben, dass ein getrennter Kurs vielleicht besser<br />

von Männern angenommen wird. Sie wünschen sich<br />

einen Leitfaden für die Zukunft ihrer Kinder, also auf was<br />

man achten muss, wenn das Ende der Schule in Sicht ist.<br />

Sie wünschen sich Informationen über mehrsprachige Erziehung<br />

und die Auswirkungen davon. Wie können sie die<br />

Eigenverantwortung ihrer Kinder stärken? Wie kommen<br />

sie überhaupt<br />

noch an sie<br />

ran, wenn die<br />

in der Pubertät<br />

dicht machen?<br />

Wie erziehe<br />

ich zur Selbstständigkeit,<br />

im<br />

Haushalt und<br />

im Umgang mit<br />

Geld?<br />

Einige hätten gerne ein Nachtreffen mit kleineren Kindern<br />

zusammen, zum Kennen lernen, zum Verabreden, für gemeinsame<br />

Unternehmungen, vielleicht zum gegenseitigen<br />

Babysitten. Sie wünschen sich noch intensiveres aktives<br />

Zuhören, dieses Vier-Ohren-Modell. Manche haben auch<br />

Kinder mit ADHS und möchten dazu nähere Informationen<br />

und einen Austausch mit anderen Betroffenen. Sexualität,<br />

Aufklärung, das ist auch für die Älteren dann. Wie gehe ich<br />

mit Gewalt um? Oder auch wenn das Kind Gewalt ausübt.<br />

Drogensucht, Computer, Alkopops, alles, was so täglich zu<br />

lesen ist. Jugend- und Kindersprache, Sprachentwicklung,<br />

Ess-Störungen in alle Richtungen. Also man sieht schon,<br />

dass die Eltern vielseitig interessiert sind. Und im Prinzip<br />

möchten sie mehr, als wir ihnen im Moment anbieten<br />

konnten.<br />

Wir haben neun Kurse in den vergangenen drei Jahren<br />

absolviert. Wir dachten zuerst, dass ein Nachtreffen pro<br />

Monat reicht. Aber wir haben festgestellt, dadurch, dass<br />

da noch soviel Bedarf an Themen ist, die weiter bearbeitet<br />

werden sollen, ist das nicht ausreichend. Die Eltern wollen<br />

mehr Futter, gerade zur Pubertät, denn dazu gibt es sehr<br />

wenig. Deswegen haben wir uns gedacht, dass wir daran<br />

anknüpfen und ein Erziehungsnetzwerk aufbauen.<br />

Den Anfang bildet eine Gruppe von Eltern, die den Kurs<br />

abgeschlossen und weitergehendes Interesse hat. Sie haben<br />

die Möglichkeit, selber Themen einzubringen. Und es<br />

sollen Fachleute zu gewissen Themen kommen. Und es<br />

soll der Raum da sein für gegenseitigen Austausch. Das<br />

erste Treffen ist jetzt an einem Samstagvormittag, für<br />

Kinderbetreuung ist gesorgt, mit Frühstück, das ist also<br />

ein netter Rahmen, gleichzeitig wird ein Thema mit eingebracht.<br />

Das Ziel ist, dass die Gruppe sich irgendwann verselbstständigt.<br />

Ich denke, wenn bestimmte Themen abgearbeitet<br />

sind, da kann man punktuell noch in die Gruppe reinkommen,<br />

aber das Ziel ist eigentlich, dass es sich zu einer<br />

Gruppe entwickelt, die sich selber trifft und wo man die<br />

Initiative den Eltern übergeben kann. Das ist auch eine<br />

Festigung von dem, was sie im Erziehungsführerschein<br />

gelernt haben. Diese Gruppe ist für alle offen, die daran<br />

teilgenommen haben, aber auch für diejenigen, die sich<br />

informieren oder das auch machen möchten. Das soll ein<br />

niedrig schwelliges Beratungsangebot sein, um Kontakte<br />

zu knüpfen und um Schwellenängste abzubauen.<br />

Wir sind eng vernetzt mit dem Gesundheitsdienst. Die<br />

schicken uns auch viele Leute. Ich denke, das kann man<br />

mit dem Jugendamt noch ausbauen.<br />

Ein anderes großes Ziel ist, diese Gruppe zu den anderen<br />

Einrichtungen und Angeboten, die es im Stadtteil schon<br />

gibt, zu vernetzen. Zu der sozialen Beratung: es gibt ein<br />

Schulprojekt an der Schule, eine Schulbasis-Station,<br />

gleichzeitig eine Lernwerkstatt dazu, dieser Elternführerschein<br />

ist ein Teil davon, gesunde Ernährung und Bewe-


gung gehört noch dazu. Dem folgt dann die Verstetigung<br />

der Gruppe. Ziel des Netzwerkes ist es auch, die Ressourcen,<br />

die die Eltern haben, zu mobilisieren, ihre Wünsche<br />

aufzunehmen und damit ihre Verantwortlichkeiten und<br />

Kompetenz zu stärken.<br />

Die Bereitschaft zur Eigeninitiative haben schon einige<br />

signalisiert, indem sie auch mal auf andere Kinder aufpassen,<br />

Kontakte geknüpft haben. Wir haben über diesen<br />

Erziehungsführerschein schon sechs Ehrenamtliche<br />

gewonnen, die sich engagieren. Zwei sind parallel zum<br />

Erziehungsführerschein-Kurs da, um auf die Kinder der<br />

anderen aufzupassen. Die helfen bei Veranstaltungen mit,<br />

also sie sind aktiv mit eingebunden im Haus.<br />

TN: Ich bin Quartiersmanagerin hier Am Schlaatz, aber<br />

auch in anderen Gebieten in Potsdam. Wo sehen Sie selber<br />

– außer vom zeitlichen Rahmen her – die Grenzen dieses<br />

Erziehungsführerscheins? Für mich klang Ihre Darstellung<br />

ausschließlich positiv: Wenn die Eltern das machen, brauchen<br />

sie nichts anderes mehr, um das provokativ zu sagen.<br />

Zum anderen die Motivation der Eltern, da überhaupt<br />

hinzugehen? Es werden Eltern vom Gesundheitsdienst geschickt,<br />

es klang auch irgendwie nach einem finanziellen<br />

Anreiz?<br />

Petra Sgodda: Den finanziellen Anreiz gab es damals, als<br />

der Kurs entwickelt wurde. Die Entwickler hatten sich vorgestellt,<br />

dass jeder, der den Kurs absolviert, ein einmaliges<br />

Kindergeld in Höhe von damals noch 500 DM erhalten<br />

sollte. Dazu gibt es aber kein Nachfolgegesetz.<br />

TN: Ist aber immer noch beabsichtigt?<br />

Viola Scholz-Thies: Ja, aber ich weiß nicht, ob das weiter<br />

verfolgt wird. Dieser Kurs wurde von zwei Leuten<br />

aus einer Beratungsstelle konzipiert, also er hat kein so<br />

großes Forum wie zum Beispiel „Starke Eltern – starke<br />

Kinder“, was über den Kinderschutzbund läuft und dadurch<br />

einen ganz anderen Hintergrund hat. Deswegen<br />

denke ich, es wird schwierig, das umzusetzen, weil man<br />

dazu eben auch noch ein bisschen mehr Zeit und Ressourcen<br />

braucht.<br />

Natürlich hat der Erziehungsführerschein Grenzen. Es ist<br />

kein Kurs, wo die Eltern rausgehen und sagen: So, jetzt<br />

habe ich alles in der Hand, jetzt wird sich sofort alles ändern.<br />

Also in Kinderschutzfällen, wenn es brennt, kann<br />

man ihn vielleicht parallel machen. Aber er ist nicht das<br />

Allheilmittel, das in einer akuten Krise die Familie rettet.<br />

Aber Petra ist auch in der ambulanten Familienhilfe tätig<br />

und kann dazu mehr sagen.<br />

Petra Sgodda: Es kommen 12 Eltern, manchmal auch 14.<br />

Am Anfang, wenn wir die ersten zwei Einheiten machen,<br />

fallen schon einige raus und kommen dann nicht mehr.<br />

Es spricht nicht alle Eltern an, aber die, die bleiben, mit<br />

denen können wir sehr gut arbeiten.<br />

Es werden auch immer mehr Eltern vom Jugendamt geschickt,<br />

woran man sehen kann, dass dort entsprechend<br />

einiges im Argen ist. Diese Eltern haben natürlich eine andere<br />

Motivation, weil sie sowieso schon mit dem Jugendamt<br />

arbeiten. Sie wollen wirklich eine Veränderung in ihrer Erziehung<br />

erreichen, mehr Souveränität, weil sie merken, dass<br />

sie es nicht schaffen. Da können wir dann auch helfen.<br />

Natürlich ist unser Angebot mit diesen zehn Einheiten<br />

begrenzt. Frau Scholz-Thies sagte schon, dass es manchmal<br />

ganz schwierig ist, gerade Themen wie Regeln und<br />

Grenzen, oder auch Konsequenzen, in zwei Stunden<br />

reinzupacken. Oft schaffen wir das dann auch nicht. Die<br />

Kommunikation zwischen Kindern und Eltern ist ein sehr<br />

umfangreiches Thema. Wir müssen es ja auch so umsetzen,<br />

dass es praxisnah ist, also dass es in der Familie<br />

umsetzbar ist, dass sie auch wirklich etwas mit ihrem<br />

neuen Wissen anfangen können. Wir wollen das nicht nur<br />

präsentieren, wir wollen – und wir üben das auch -, dass<br />

sie wirklich etwas mitnehmen. Deswegen sind wir uns<br />

natürlich froh, wenn es erfreuliche Rückmeldungen nach<br />

einem Kurs gibt.<br />

TN: Wie wird das finanziert? Zahlen die Eltern selber?<br />

Petra Sgodda: Nein. Wir sind ja Quartiersmanagement-<br />

Gebiet, Stadtteil-Management-Gebiet, Prävention. Dieses<br />

Schulprojekt mit seinen 5 Einheiten, davon ist der Erziehungsführerschein<br />

eine Einheit. Das ist finanziert über<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 81


82<br />

Workshop Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Wenn Eltern in die Schule ...<br />

das Programm Soziale Stadt bis Ende <strong>2009</strong>. Wir machen<br />

zwei Kurse pro Schulhalbjahr. Wir verteilen unseren Flyer<br />

an der Schule, an der das Projekt angedockt ist. Aber<br />

wir verteilen ihn auch in allen anderen Schulen, wir haben<br />

noch eine Grundschule im Gebiet, an die Kindergärten<br />

und an den Gesundheitsdienst.<br />

TN: Kommen die Eltern freiwillig?<br />

Petra Sgodda: Zum Teil kommen Eltern freiwillig, teilweise<br />

haben sie einen festgeschriebenen Hilfeplan, aber auch<br />

diese Eltern geben dann positive Rückmeldungen. In allen<br />

Kursen insgesamt waren zwei oder drei Elternteile,<br />

die sich da nicht haben reinziehen lassen, die ihre Zeit da<br />

nur abgesessen haben. Aber die meisten, auch durch die<br />

Dynamik der Gruppe, werden doch mit reingezogen und<br />

machen gerne mit.<br />

TN: Wie sieht dieser Elternführerschein aus? Was kriegen<br />

Eltern in die Hand, was steht da drauf?<br />

TN: Mir ist etwas noch nicht so deutlich geworden: Es kann<br />

in den Kursen ja nur das entstehen, was von den Eltern<br />

selber kommt. Wie weit werden Methoden empfohlen?<br />

Oder wie erarbeiten die Eltern untereinander, wo ihre Ressourcen<br />

sind, wie entdecken sie sich selber und bringen<br />

sich dann in diesen Kurs ein?<br />

Viola Scholz-Thies: Sie bekommen ein Zertifikat ausgehändigt,<br />

wo genau draufsteht, an welchen Themen bzw.<br />

Einheiten sie teilgenommen haben. Das bekommen sie<br />

nur, wenn sie 8 x da waren. Ansonsten können wir ihnen<br />

nur die Teilnahme bescheinigen ausstellen. Das Zertifikat<br />

wird mit großem Aufwand überreicht, mit Blümchen, entsprechender<br />

Gestaltung drum herum, also das machen<br />

wir schon ein bisschen feierlicher.<br />

Petra Sgodda: Manchmal denke ich, dass wir eine ganze<br />

Menge erwarten, wenn wir darauf eingehen, was Erziehung<br />

überhaupt ist. Das verpacken wir sprachlich so, dass<br />

es auch verständlich ist. Wir erwarten, dass sich die Eltern<br />

erst mal grob mit dem Thema Erziehung auseinandersetzen.<br />

Darauf baut sich die Beziehung auf. Was dazu gehört,<br />

was die Pflichten sind, diese grundlegenden Geschichten<br />

sind der Einstieg, also das Warm-Up. Dann gehen wir zu<br />

den Erziehungsstilen über. Da geht es schon los mit Rollenspielen.<br />

Viola Scholz-Thies: Da gibt es bereits Aha-Effekte. Spätestens<br />

wenn sie sich zusammen hinsetzen und für einen<br />

bestimmten Stil eine Rolle erarbeiten mit den anderen<br />

Eltern, dann kommen Bemerkungen wie: Hm, kommt mir<br />

bekannt vor. Das bringen sie dann auch mit rein. Oder<br />

sie fragen auch nach, was wir dann aufgreifen und mit<br />

den anderen zusammen noch mal erarbeiten, überlegen,<br />

diskutieren.<br />

Petra Sgodda: Bei den Themen Regeln, Grenzen, Kommunikation<br />

oder Konflikte lassen wir die Eltern erst<br />

mal reinlaufen, wir lassen am Anfang alles offen, wir<br />

geben nichts vor. Sie sollen sich erst mal selber damit<br />

auseinandersetzen, was sie darunter verstehen,<br />

bei Regeln und bei Kommunikation ist das ganz wichtig.<br />

Dann erarbeiten wir mit ihnen schrittweise, welche<br />

Möglichkeiten es gibt beim aktiven Zuhören, es gibt ja<br />

unterschiedliche Herangehensweisen. So versuchen<br />

wir den Eltern deutlich zu machen, welches in unserem<br />

Sinne ein Weg ist, den sie beschreiten können. Der<br />

eben auch so deutlich gemacht worden ist, dass sie<br />

sich daran entlang hangeln können, weil es ein sehr<br />

kompliziertes Thema ist.<br />

Und es soll ja eben Nachhaltigkeit erreicht werden. Wir<br />

suchen immer nach aktueller Literatur, um anhand von<br />

Textausschnitten bestimmte Inhalte zu verdeutlichen.<br />

Das muss einerseits straff sein, aber trotzdem verständlich<br />

und klar. Das ist immer wieder eine Herausforderung,<br />

natürlich immer wieder auch ein Ausbau der Methoden.<br />

Der Kurs verändert sich dadurch auch stetig.<br />

TN: Mir kommt es immer noch so vor, als wenn was vorgegeben<br />

wird. Wenn Eltern was vorgegeben kriegen, können<br />

sie es ja nicht unbedingt umsetzen. Wenn es nicht aus mir<br />

selber kommt und nicht zu mir passt, nicht zu meiner Situation<br />

und zu meiner Familie, dann kann jede Vorgabe schön


sein, aber ich kann sie trotzdem nicht gebrauchen. Da ist<br />

für mich noch ein Widerspruch. Aber das kann ja auch ein<br />

Verständnisproblem sein.<br />

Petra Sgodda: Nein, wir sollten es schon auflösen. Das<br />

ist ja genau der Punkt, daran müssen wir immer wieder<br />

arbeiten, dass es den Eltern auch vermittelt wird. Durch<br />

die Gespräche entsteht die Dynamik in der Gruppe, wir ziehen<br />

uns da auch ein Stück zurück. Wenn die Gespräche<br />

stattfinden, sehen wir ja, was schon bei den Eltern angekommen<br />

ist. Das ist unterschiedlich, trotzdem ist dieser<br />

Prozess, der da in Gang gesetzt wird, schon so, dass sie<br />

voneinander lernen. Wir erkennen daraus, dass sie wissen,<br />

wohin es irgendwann gehen soll. Sie kommen nicht<br />

aus dieser Lerneinheit und wissen danach genau, wie das<br />

läuft mit den Regeln, Grenzen, Konsequenzen. Wir sagen<br />

ihnen auch immer wieder, dass sie geduldig mit sich sein<br />

sollen, dass weiterhin Fehler passieren werden. Das ist<br />

ein wichtiger Punkt, damit nicht unnötig Druck aufgebaut<br />

wird. Die Literatur können sich die Eltern jede Woche mitnehmen,<br />

damit sie das Erarbeitete noch mal gedanklich<br />

vertiefen können.<br />

Viola Scholz-Thies: Jeder bekommt für sich einen Ordner,<br />

alles was wir gemacht haben, bekommen die Eltern als<br />

Memos in die Hand, auch die Arbeitsbögen mit den Aufgaben.<br />

Sie können noch was dazuschreiben und haben jederzeit<br />

die Möglichkeit, darauf zurückzugreifen und noch<br />

mal nachzugucken, wenn zu Hause noch Fragen entstehen<br />

oder wenn sie es dem Mann zeigen oder erklären wollen.<br />

Petra Sgodda: Am Ende ist es natürlich nicht sicher, was<br />

davon zu Hause umgesetzt wird. Ab und zu fragen wir<br />

nach. Deswegen gibt es die Nachtreffen, weil ganz viel<br />

noch zu klären bleibt.<br />

TN: Ich habe eine Frage zu der Heterogenität in der Gruppe.<br />

Sie haben schon angedeutet, dass vorwiegend Mütter,<br />

also Frauen, diesen Kurs wahrnehmen. Warum ist das so?<br />

Werden direkt nur Mütter über das Jugendamt angesprochen?<br />

Gibt es auch Teilnehmer aus anderen Herkunftsländern?<br />

Viola Scholz-Thies: Wir hatten in zwei Kursen mit 20 Leuten<br />

nur vier Männer und 16 Mütter. Das ist ungefähr der<br />

Durchschnitt. Wir haben auch Teilnehmer aus anderen Ländern,<br />

aber wir haben festgestellt, dass es für diejenigen, die<br />

kein gutes Deutsch<br />

sprechen, sehr<br />

schwierig ist, gerade<br />

solche Themen<br />

anzugehen. Wir<br />

haben auch immer<br />

ein oder zwei Teilnehmer<br />

dabei, die<br />

gut Deutsch verstehen,<br />

da ist das kein<br />

Problem. Für die<br />

anderen Teilnehmer ausländischer Herkunft haben wir unsere<br />

ganzen Unterlagen in Türkisch und Russisch übersetzt.<br />

Wir haben auch schon mal mit einer türkischen Übersetzerin<br />

einen Kurs gemacht. Sie hatte als Teilnehmerin den Kurs<br />

selbst schon mitgemacht, da hatten wir sie angesprochen:<br />

So kam es, dass sie dann in einem Kurs übersetzt hat.<br />

Da wurde allerdings gesagt, dass es schön wäre, türkische<br />

Trainer zu haben, weil das, was sie an Gefühlen äußern, in<br />

der Übersetzung nicht so rüber kommt. Also da ist doch<br />

eine Grenze.<br />

TN: Mich interessiert ganz grundsätzlich vom Ansatz her:<br />

warum Erziehungsführerschein und nicht Selbsthilfegruppe,<br />

die zu bestimmten Themen Veranstaltungen oder einen<br />

Austausch organisiert? Warum wird die Rolle des Führerscheins<br />

eingenommen, ich komme mit nichts und kann<br />

es hinterher?<br />

Viola Scholz-Thies: Diejenigen die das entwickelt haben, hatten<br />

den Gedanken, dass man für alles einen Führerschein<br />

braucht, nur nicht für die Erziehung. Von daher haben sie es<br />

so genannt, auch als Anreiz für die Leute, weil sie dann was<br />

in der Hand haben. Das ist ein eingetragenes Zeichen, also<br />

wir können deswegen auch den Namen nicht ändern. Genau<br />

wie „Starke Eltern – starke Kinder“, das heißt so. Wenn<br />

wir die Kurse nach dem Prinzip machen, dann müssen wir<br />

auch den Namen Erziehungsführerschein verwenden.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 83


84<br />

Workshop Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Wenn Eltern in die Schule ...<br />

TN: Das Denken hinter diesem Prinzip, wird das von den<br />

Eltern auch akzeptiert?<br />

Viola Scholz-Thies: Teils, teils, es gibt auch kritische<br />

Stimmen.<br />

TN: Ich finde, die Eltern gehen eher zu einem Führerschein,<br />

den kann man ja jederzeit unterbrechen, als in ein Eltern-<br />

Trainings-Camp, wie es bei „Starke Eltern – starke Kinder“<br />

heißt. Eltern-Trainingskurs ist viel negativer besetzt, als ein<br />

Elternführerschein. So habe ich das jedenfalls von den Eltern<br />

gehört. Ich muss trainieren, Eltern zu werden.<br />

Petra Sgodda: Die Idee des Führerscheins ist hergeleitet<br />

von dem Inhalt, von den Grundbausteinen für die Erziehung,<br />

was die Beziehung Eltern-Kind eben ausmacht.<br />

Die Inhalte sind die Säulen. Es dient einfach der Souveränität<br />

und der Sicherheit im Umgang mit Konfliktsituationen.<br />

Das geht ja schon bei der Kommunikation<br />

los. Da sollen wesentliche Veränderungen stattfinden.<br />

So wie die Eltern uns das schildern, können wir davon<br />

ausgehen, dass sie die Idee verstanden haben. Und<br />

weil sie noch mehr positive Veränderungen möchten, ist<br />

auch der Wunsch nach einer Vertiefung und nach mehr<br />

Stoff da.<br />

TN: Es fehlt offenbar ein Forum, bei dem sich Eltern mit<br />

Eltern auseinandersetzen können, über ganz viele Fragen.<br />

Aber es gibt doch ganz viel Literatur.<br />

Petra Sgodda: Ja, aber es geht ja auch darum, dass man<br />

ein Problem relativ schnell auf den Punkt bringen kann,<br />

gerade in der Gruppe natürlich.<br />

TN: Meine Frage ging nicht in die Richtung des Bedarfes.<br />

Natürlich haben alle Eltern einen Bedarf an Austausch<br />

und zusätzlicher Information, sondern die Frage ist, mit<br />

welchem Blickwinkel auf die Eltern geht man an diesen<br />

Kurs ran? Eltern kommen mit nichts und können hinterher<br />

was, was hinter dem Wort Führerschein steckt? Im Selbsthilfe-Ansatz<br />

steckt ja was anderes dahinter.<br />

Viola Scholz-Thies: Die Stärkung der Erziehungskompetenz,<br />

das kriegen sie als Führerschein bescheinigt.<br />

TN: Haben Sie auch Ausschlusskriterien für die Aufnahme<br />

in den Kursen?<br />

Viola Scholz-Thies: Bis jetzt noch nicht.<br />

TN: Eine Mutter, die alkoholkrank ist und alkoholisiert zu<br />

dem Termin kommt, kann daran teilnehmen? Wie verhalten<br />

Sie sich da?<br />

Viola Scholz-Thies: Wir hatten das noch nicht.<br />

TN: Die Frage wird entschieden, wenn es soweit ist.<br />

Petra Sgodda: Ich denke, wenn sie ausfallend wird, dann<br />

müssten wir sie bitten, zu gehen, und das nächste Mal<br />

nicht alkoholisiert zu kommen.<br />

TN: Machen Sie Videoarbeit, Videofeedback, in Ihrem<br />

Programm?<br />

Petra Sgodda: Nein, noch nicht.<br />

TN: Ich arbeite im Nachbarschaftsheim Mittelhof im Bereich<br />

der Familienarbeit seit einigen Jahren, habe begleitete<br />

Elterngruppen, von Eltern, die Kinder in der Pubertät<br />

haben. Das Curriculum ist nicht so festgelegt, sondern am<br />

Anfang jedes Treffens: Was ist das Thema heute Abend?<br />

Meine Erfahrung ist immer wieder, dass es natürlich Fachwissen<br />

gibt, das durch die Kursleitung vermittelt oder eingebracht<br />

wird. Aber es ist enorm, wie viel bei den Eltern<br />

an Wissen schon da ist. Das kommt dann zum Vorschein,<br />

wenn das Gespräch läuft.<br />

Das heißt, bei diesen Kursen geht es häufig hauptsächlich<br />

darum, den vorhandenen Kompetenzen der Eltern,<br />

ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, ihrem Einfühlungsvermögen,<br />

den eigenen Erinnerungen an das, was sie selber<br />

erlebt haben, einfach nur mal einen Raum zu geben.<br />

Dann geht das schon irgendwie durch die gegenseitige<br />

Beeinflussung in eine bestimmte Richtung und wirkt für


alle sehr inspirierend. Dann ist so ein Kurs hilfreich, wenn<br />

sie merken: ah, die Fachwelt bestätigt sogar, was ich insgeheim<br />

schon länger bei mir merke. Das unterstützt sich<br />

gegenseitig.<br />

Was ich auch immer wieder feststelle, das können Sie sicher<br />

bestätigen: Erziehung macht ja heute nicht unbedingt<br />

so viel Spaß, aber in den Kursen macht sie großen Spaß.<br />

Es ist wirklich immer so, dass viel gelacht wird.<br />

TN: Ja, stimmt, bei uns auch. Und die Motivation der Eltern.<br />

Ich meine, die kommen da hin, sie wollen was lernen,<br />

sie wollen was Neues umsetzen, sie wollen sich damit auseinandersetzen.<br />

Diese Energie, die sie mitbringen, das ist<br />

schon toll.<br />

TN: Ich will noch mal auf das Thema Führerschein kommen.<br />

Für mich hat ein Führerschein immer einen theoretischen<br />

und einen praktischen Teil. Trotz Rollenspiel, gibt<br />

es auch einen praktischen Übungsteil am Kind? Theorie<br />

klar, zu Hause wird die Praxis geübt?<br />

Viola Scholz-Thies: Viele erzählen zu Beginn der Stunde,<br />

was letzte Woche war oder was sie beschäftigt. Sie schildern<br />

uns die Situationen genau und die anderen Eltern sagen<br />

etwas dazu, so werden quasi auch praktische Sachen<br />

aufgegriffen.<br />

TN: Aber direkt mit Eltern und Kindern gemeinsam in kleinen<br />

Gruppen etwas zu machen?<br />

Viola Scholz-Thies: Nein, das hatten wir jetzt noch nicht.<br />

Aber wir stehen am Anfang von der Erweiterung dieser<br />

Nachtreffen und haben jetzt Ende November das erste<br />

Treffen mit Eltern und Kindern.<br />

TN: Wenn Leute vom Jugendamt geschickt werden, ich<br />

kenne das aus den USA und zum Teil aus Holland oder<br />

aus Istanbul, da gibt es Auflagen, dass beide Eltern kommen<br />

müssen. Aber zu Ihnen kommen Mütter, also nicht<br />

die Eltern.<br />

Petra Sgodda: Als Auflage gab es das bei uns auch schon,<br />

aber es war beides, mal Anregung oder Empfehlung, aber<br />

auch Auflage. Das war unterschiedlich, je nachdem, wie<br />

die Situation in der Familie ist.<br />

TN: Und wie ist das dann angenommen worden, wenn sie<br />

den Kurs als Auflage machen mussten? Wie ist die Motivation?<br />

Viola Scholz-Thies: Wie gesagt, zwei bis drei haben<br />

das nur abgesessen, aber die anderen haben sich auf<br />

die Gruppe eingelassen. Auch, weil andere Eltern mit<br />

ähnlichen Problemen da waren, wo sie auch Ansprechpartner<br />

hatten, wo sie sich nicht als Versager vorkamen.<br />

Ich denke, das hat ihnen sehr geholfen, sich in<br />

die Gruppe einzubringen, dann war das gar nicht mehr<br />

so schlimm.<br />

Petra Sgodda: Das war oft nicht nur eine Mutter, im Gespräch<br />

hat sich herausgestellt, dass mehrere Mütter über<br />

das Jugendamt zu uns gekommen sind.<br />

TN: Wie ist das Feedback vom Jugendamt?<br />

Petra Sgodda: Direkt mit dem Jugendamt stehen wir nicht<br />

in Verbindung, eher mit den Helfern. Uns ist es wichtig,<br />

dass sie das hier Erfahrene auch zu Hause mit den Helfern<br />

durchsprechen. Das passiert dann auch. Die Rückmeldungen<br />

sind durchweg positiv, dass sie den Eindruck<br />

haben, dass sich wirklich was verändert im Miteinander<br />

mit den Kindern bzw. in der Erziehung. Da das auch Kollegen<br />

von mir sind, stehen wir im Austausch.<br />

Viola Scholz-Thies: Mit dem Jugendgesundheitsdienst stehe<br />

ich eng in Verbindung, von da kam auch schon positive<br />

Resonanz, wenn Eltern den Kurs abgeschlossen haben.<br />

TN: In unserem Mehrgenerationenhaus in Kaltenkirchen/<br />

Schleswig-Holstein haben wir auch schon experimentiert<br />

mit Schule, Elterntraining, Elternlernwerkstatt, diese<br />

ganzen Begrifflichkeiten sind aber gar nicht so wichtig. Es<br />

geht immer um die Form, es geht um den Blick darauf,<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 85


86<br />

Workshop Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Wenn Eltern in die Schule ...<br />

um welche Eltern es sich handelt, mit wem kann ich eine<br />

Elternlernwerkstatt machen, mit wem muss ich andere<br />

Modelle entwickeln?<br />

Was wir zurzeit machen, läuft klasse, und das im Verbund<br />

mit dem Jugendamt. Wir haben das Jugendamt dafür gewonnen,<br />

ein Modell gemeinsam zu realisieren. Sie haben<br />

das Klientel mit Erziehungsproblemen. Und wir möchten<br />

gerne, dass wir im Familienzentrum das Modell entwickeln.<br />

Darauf sind sie eingestiegen, wir machen das jetzt<br />

seit gut drei Jahren, die Gruppe selber läuft seit 1 ½ Jahren,<br />

es kommen immer mehr Neue hinzu, es geht mal jemand.<br />

Wir sind dadurch im Dialog mit dem Jugendamt und<br />

arbeiten zusammen. Und da sieht man eben auch, dass<br />

sich was tut. Das könnte auch ein Modell sein, das andere<br />

sicherlich auch umsetzen könnten.<br />

Wir werden jetzt auch eine neue Form finden für Eltern, die<br />

solche Erziehungsgespräche von sich aus machen wollen.<br />

Während bei anderen so ein lockeres Modell in keiner Weise<br />

ausreicht, da muss es anders laufen. Aber das Verknüpfen,<br />

voneinander lernen, mit unterschiedlichen Modellen,<br />

ist nur hilfreich. Also insofern – ausprobieren, experimentieren.<br />

Wenn Sie mit Ihrem Programm arbeiten, da ist das<br />

sehr genau vorgegeben, was Sie reinnehmen?<br />

Viola Scholz-Thies: Es ist nicht so fest. Die Entwicklungsphasen<br />

sind wichtig, die haben wir mit reingenommen, die<br />

waren im Original nicht in dieser Intensität drin. Speziell<br />

sind wir auch auf die Entwicklung von Jungen eingegangen,<br />

weil die sich im Vergleich mit Mädchen sehr anders<br />

verläuft. Also das sind Sachen, die können wir schon ändern.<br />

Wir stehen auch im Austausch mit den Entwicklern,<br />

also wir haben schon Möglichkeiten.<br />

Theo Fontana: Die Frage ist, wie wir an die Eltern rankommen,<br />

weil wir denken, wir müssen den Eltern was<br />

beibringen, damit es den Kindern besser geht. Im nächsten<br />

Impulsreferat geht es um das Beziehungsfeld Kinder-<br />

Schule-Eltern.<br />

Semih Kneip: In der Einladung bzw. im Programm hat sich<br />

ein Tippfehler eingeschlichen, es heißt nicht „Zusammen<br />

leben“, sondern „Zusammen lernen“. Wir nennen es in der<br />

Fachöffentlichkeit „Dialogisches Coaching und Konfliktmanagement<br />

im Bündnis“. Und in diesem Falle, von dem ich<br />

erzähle, im Bündnis von Eltern, Lehrern und Lehrerinnen,<br />

Erziehern und Erzieherinnen. Ich arbeite bei Gangway e.V.,<br />

Verein für Straßensozialarbeit, in Berlin.<br />

Das Programm, das ich vorstelle, ist ein Kind des Kronberger<br />

Kreises für Qualitätsentwicklung und Qualitätsmanagement.<br />

Professor Dr. Reinhart Wolff ist vielleicht bekannter<br />

als der Kronberger Kreis, Vater des Kinderschutzbundes,<br />

man sagt auch der Kinderladenbewegung, hat dafür letztes<br />

Jahr das Bundesverdienstkreuz bekommen. Der hat<br />

das Dialogische kreiiert.<br />

Wir haben mit diesem Programm 14 Monate lang in Marzahn-Hellersdorf<br />

gearbeitet, dann noch mal 13 Monate in<br />

Mahlsdorf. In Mahlsdorf war es eine explosive Mischung,<br />

Eltern auf der einen Seite, Erzieher einer stationären Einrichtung<br />

auf der anderen Seite, als Teilnehmer an diesem<br />

Setting. Und die Eltern, denen die Kinder durch die Sozialarbeiter<br />

des Jugendamtes aus der Familie rausgenommen<br />

und fremd untergebracht worden sind. Sie können sich<br />

vorstellen, welche Mischung wir hatten, weil ja da auch<br />

viel aus der Geschichte und Vergangenheit der Familien<br />

hoch kam.<br />

Es geht um Dialog, um Mehrseitigkeit. Die Essenz dieses<br />

Programms ist, sich nicht zu bevormunden, weil Eltern<br />

Bürger dieses Landes sind – und zwar Bürger 1. Klasse,<br />

wie alle, und nicht 2. Klasse. Sie sind Modell erwachsener<br />

Kompetenz, ob wir das wollen oder nicht, ob wir ihnen das<br />

zutrauen oder nicht, zunächst einmal ist es so. In der Regel,<br />

in modernen Gesellschaften zumindest, haben sie das<br />

Recht, ihre Kinder zu erziehen. Das ist nicht überall so.<br />

Von daher glauben wir, müssen Eltern Erziehung erst mal<br />

so nicht lernen, in Kursen oder wo auch immer. Gleichwohl<br />

müssen aber wir alle viel dazulernen, nicht zuletzt<br />

deshalb, weil es offenbar um Systembrüche geht, denen<br />

wir ausgesetzt sind.<br />

Wir klagen oft darüber, dass wir die Eltern nicht erreichen.<br />

Die Schule ist ein System, die Familie ist ein System, und<br />

dazwischen gibt es einen Bruch. Eltern oder Familien werden<br />

durch Kollegen und Kolleginnen der Jugendämter<br />

nicht mehr erreicht. Oder möglicherweise weniger erreicht.<br />

Auch aus der Richtung gibt es Klagen. Jugendliche


in einem Alter, wo sie ins Erwerbsleben gehen müssten,<br />

kommen auf dem Arbeitsmarkt zunehmend nicht mehr an.<br />

Wir können uns hinstellen und sagen: Na ja, selber schuld,<br />

hätten sie in der Schule besser aufgepasst, dann ginge es<br />

ihnen heute besser. Aber tatsächlich sind das Systembrüche,<br />

auf die einzugehen, das wäre wirklich mühselig. Ich<br />

habe das Konzept mitgebracht oder Sie können es sich<br />

vom Verband mailen lassen, da wird etwas mehr auf die<br />

Systeme und Systembrüche eingegangen.<br />

Eine Grundschule in Berlin-Neukölln hat sich letztes Jahr<br />

an Gangway gewandt, sehr idyllisch am Teltowkanal gelegen,<br />

sehr viel Grün, mit der Bitte um dringende Hilfe, weil<br />

alles ganz schlimm ist. Wir sind dann hin, haben das Gespräch<br />

aufgenommen. Sie brauchen Sozialpädagogen,<br />

Sozialarbeiter usw., aber sie wussten nicht genau warum.<br />

Jrgendwie war da Gewalt, Kinder, die nicht richtig ticken,<br />

Eltern, die sie nicht erreichen. Wir haben ihnen angeboten,<br />

eine Bedarfsanalyse zu erstellen, indem ein Kollege<br />

von uns immer wieder und zu bestimmten Terminen an die<br />

Schule geht, in den Unterricht geht, mit Erziehern und Erzieherinnen<br />

spricht, mit Eltern redet, sich das Geschehen<br />

mit den Kindern in der Klasse ansieht, um herauszufinden,<br />

was an dieser idyllisch gelegenen Grundschule los ist.<br />

Die Schule war sehr offen dafür, das sind nicht alle Schulen,<br />

muss man sagen. Ich war dann über sieben Monate<br />

an dieser Schule, immer montags, dann auch später dienstags<br />

und mittwochs. Tatsächlich kamen wenige Eltern rein.<br />

Aber im weiteren Verlauf hat sich herausgestellt, dass es<br />

von der Schule aus eine Regel gibt. Die Eltern mussten<br />

ihre Kinder zehn vor 8 am Tor abgeben, sie sollen nicht mit<br />

rein, weil sie den Unterricht stören. Da steht nicht: Eltern<br />

sind uns willkommen. Aber es gab auch gute Sachen gab<br />

es an dieser Schule.<br />

Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache 82 %. Aber die<br />

Schule hat eine Regel: Einladungen werden grundsätzlich<br />

in deutscher Sprache an die Familien geschickt. Das kann<br />

man so machen, muss man nicht. Und viele andere Dinge,<br />

die das Leben künstlich oder zusätzlich erschwert haben.<br />

Sie haben es sich selber schwer gemacht. Sie machen es<br />

sich immer noch schwer.<br />

Auf einer Gesamtkonferenz, wo ich mich vorgestellt hatte,<br />

die gesamte Belegschaft war da, Lehrer und Lehrerinnen,<br />

Erzieher und Erzieherinnen des Freizeitbereiches dieser<br />

Schule. Da sagten vereinzelte Lehrer zu mir: Na, ich dachte,<br />

Sie sind jetzt da und sagen uns, wer hier verhaltensgestört<br />

ist, gehen mit dem raus und reden, und ich kann mit<br />

dem Rest den Unterricht machen. Das ist schwierig, das<br />

sind ja keine dummen Menschen, sondern da ist irgendwo<br />

etwas, wo es drückt. Dann haben wir dieses Programm<br />

angeboten, dieses dialogische Coaching. Wir nennen das<br />

nicht Eltern-Coaching, sondern wir coachen uns alle, also<br />

Fachkräfte und Eltern.<br />

Wir haben den Lehrern und Lehrerinnen auch dabei geholfen,<br />

die Einladungen zu schreiben, weil sie fragten, wie sie<br />

das machen sollen. Na ja, wie sie zu den Elternabenden<br />

einladen, das ist klar, aber zum dialogischen Coaching?<br />

Das ist schon schwierig. Wie Sie wissen, arbeite ich mit<br />

Ihrem Kind als meine Schülerin, meinem Schüler. Ich bin<br />

mit Erziehungs-Bildungsaufgaben usw. betraut, und ich<br />

möchte mich weiterentwickeln, haben Sie Interesse, mich<br />

dabei zu unterstützen? Wir könnten beide vielleicht voneinander<br />

und von<br />

anderen etwas lernen.<br />

Diese Art der<br />

Ansprache ist sehr<br />

wichtig. Aber das<br />

Problem war, dass<br />

die Lehrer das<br />

Schreiben dann<br />

den Kindern einfach<br />

mit nach Hause<br />

gegeben haben<br />

und gar nicht den Dialog gesucht haben. Das hätte man<br />

machen können, noch mal nachtelefonieren oder so, haben<br />

Sie Interesse, ich habe Ihnen einen schönen Brief geschrieben<br />

und freue mich darauf, wollen Sie nicht doch?<br />

Das ist eine Haltungsfrage, die ist sehr wichtig.<br />

Jedenfalls kamen wir zusammen, hatten auch Termine<br />

vereinbart. Die Lehrer und Lehrerinnen haben gesagt, na<br />

ja, eigentlich wollen wir das nicht, aber – hm. Fünf von<br />

23 Lehrern haben sich dann bereit erklärt. ErzieherInnen<br />

waren voll dabei, die sind anders. Dann waren wir gespannt,<br />

wie viele Eltern kommen, weil die Einladung so per<br />

Schultasche mitgegangen war und es Rücklauf gab. Dann<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 87


88<br />

Workshop Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Wenn Eltern in die Schule ...<br />

haben die LehrerInnen gesagt, ja, aber nicht hier 12 Treffen<br />

mit jeweils 4 Stunden, das geht nicht. Ein Werkstatt-<br />

Treffen 4 Stunden. Die Zeit brauchen Sie nicht, ich sage<br />

auch gleich warum.<br />

Dann haben wir gesagt,<br />

okay, machen<br />

wir eine kleine<br />

Geschichte von 2<br />

Stunden. Wobei<br />

uns klar war, das<br />

funktioniert eigentlich<br />

nicht in 2 Stunden.<br />

12 Termine<br />

wollten sie aber<br />

nicht. Okay, dann bis zu den Sommerferien. Wir wussten<br />

dabei, dass es schon weiter gehen würde. Haben wir gedacht.<br />

Der erste Dienstag, an dem wir uns getroffen haben, immer<br />

von 17 bis 19.30 Uhr, auch eine Zeit, die nicht unbedingt<br />

leicht für Familien bzw. Eltern ist. In Marzahn haben<br />

wir uns immer von 17 bis 21 Uhr getroffen. Da haben die<br />

Eltern, die Ressourcen haben, alles organisiert. Teilweise<br />

hatten sie 8 Kinder, also keine Migranten-Familien, sondern<br />

deutsche Familien, die haben ihre 8 Kinder versorgt.<br />

Und wenn es der Partner war, der auf einmal auf die Kinder<br />

aufpassen musste, weil die Mutter gesagt hat, ich<br />

gehe dort zum Lernen.<br />

An dieser Schule aber hatten wir alles ein bisschen reduzierter,<br />

weil die Lehrer und Lehrerinnen das so wollten<br />

und nicht anders. Wir haben die Termine mit einem<br />

Seil eröffnet, das war zusammengebunden und alle sind<br />

da rein. Dann wurde das so ein bisschen hochgehoben,<br />

dann haben wir gerüttelt und geschüttelt, und gesagt,<br />

wir sitzen alle in einem Boot, das Schiff bewegt sich<br />

jetzt. Auch um symbolisch darzustellen, wir sitzen tatsächlich<br />

in einem Boot, als Bürger oder Menschen oder<br />

wie auch immer.<br />

Dann ging es traditionell bei diesen Werkstattrunden bei<br />

der Eröffnung darum: wie komme ich heute hier an? Jedes<br />

Mal die gleiche Frage: Was geht mir durch den Kopf?<br />

Was beschäftigt mich? Nach Möglichkeit sollten die Teilnehmer<br />

in einem Tandem sein, eine Lehrerin, ein Elternteil,<br />

eine Erzieherin, ein Elternteil, damit nicht die Fachkräfte<br />

überwiegen und es droht einseitig zu kippen.<br />

Beim ersten Treffen waren 5 Lehrerinnen da, 6 Erzieherinnen<br />

und 5 Eltern, später haben das dann die Eltern ein<br />

bisschen getoppt, es wurden dann mehr, warum auch immer,<br />

die Lehrer wurden weniger.<br />

Und dann so die Fragestellung: wer ist mein Partner?<br />

Dann ziehen wir uns zurück, immer zu zweit, und interviewen<br />

uns. Wie heißen Sie? Was ist Ihre Lieblingsspeise?<br />

Wie wohnen Sie? Haben Sie Kinder oder nicht? Verheiratet<br />

oder nicht? Viele Fragen. Und nach einer halben<br />

Stunde … Die Lehrerin sagte: Wat? Ne halbe Stunde?<br />

Nee, 10 Minuten. Ich sagte, wir probieren es, aber die<br />

Zeit hat einfach nicht gereicht, die halbe Stunde, weil<br />

die so viel Interesse an ihrem Gegenüber hatten und<br />

noch mehr fragen wollten. Man kommt in den Dialog,<br />

schon allein darüber.<br />

Vier Stunden klingt viel, aber die vergehen in so einer<br />

Werkstatt im Nu, eigentlich mit nur einer Pause, in der es<br />

belegte Brote gibt und Kaffee, Selter und Smalltalk, und<br />

dann wird weiter gearbeitet. In so einer Runde und immer<br />

wieder, dass man sich auch in kleinen Gruppen zurückzieht.<br />

Eine weitere Fragestellung aus einer anderen Werkstatt,<br />

das ist natürlich immer methodisch vorbereitet von uns.<br />

Also wir stellen nicht einfach so Fragen, sondern haben<br />

auch Papiere, die die Eltern bekommen: Was macht mich<br />

aus? Wer bin ich? Das ist doch eine irre Frage, da könnten<br />

wir heute noch eine Runde hier machen, was macht mich<br />

aus? Ich muss immer wieder feststellen, dass ich zu wenig<br />

darüber nachdenke, was mich ausmacht und wer ich<br />

bin. Wenn man für sich alleine darüber nachdenkt, dann<br />

braucht man sicher auch mehr als eine halbe Stunde. Und<br />

so auch in diesem Rahmen. Deshalb lieber diese 4 Stunden,<br />

die enorm wichtig sind.<br />

Aber am Ende der ersten Werkstatt haben die Lehrer und<br />

Lehrerinnen und die Erzieher und Erzieherinnen und auch<br />

die Eltern gesagt: Eigentlich ist die Zeit viel zu kurz.<br />

Eine andere Werkstatt haben wir zu dritt gemacht, weil es<br />

sinnvoll ist, mindestens zu zweit zu sein, weil man zeitweise<br />

müde wird, dann kann der andere einsteigen.


TN: Dieses Setting ist klar. Wie passt es denn, wenn ihr zu<br />

zweit oder zu dritt seid? Das, was gesagt wird, wo wird das<br />

festgehalten?<br />

Semih Kneip: Wir machen sowieso bei jeder Teambesprechung<br />

ein Erinnerungsprotokoll und machen während der<br />

Werkstatt nur Notizen, worauf wir dann auch möglicherweise<br />

drei Werkstätten später noch mal drauf zurückkommen<br />

können.<br />

TN: Also es gibt immer in der Gruppe jemand von Euch,<br />

der mitschreibt?<br />

Semih Kneip: Wir sind zu zweit und wir besprechen und<br />

schreiben und schreiben und sprechen. Wir vergleichen<br />

auch unsere Notizen. Und vor allem auch die Teilnehmer<br />

nehmen ein Blatt Papier und schreiben alles, was interessant<br />

ist, auf. Wenn man es nicht braucht, wirft man es<br />

weg. Aber vielleicht kann man es gebrauchen oder liest<br />

darin noch mal nach.<br />

Die Werkstätten werden am Ende einer jeden Sitzung<br />

von allen evaluiert. Da gibt es bestimmte Fragen, was hat<br />

mir heute besonders gut gefallen, wie empfand ich mich,<br />

ich bin an dem Thema xy interessiert, wo die Teilnehmer<br />

reinschreiben, wo sie gerne weitermachen möchten. Die<br />

werden auch ausgewertet, werden zusammengefasst.<br />

Und dann bei der nächsten Werkstatt bekommen das alle<br />

Teilnehmer. Das gibt eine dicke Mappe mit Unterlagen und<br />

mit didaktischem Material.<br />

Wir erstellen auch gemeinsam Familienornigramme, weil<br />

es sehr interessant ist zu schauen, wo komme ich eigentlich<br />

her, welche Stellung hatte ich in meiner Herkunftsfamilie?<br />

Möglicherweise erklärt sich auch daraus, warum ich<br />

heute so bin wie ich bin. Oder wir schauen uns Familienbilder<br />

an und bitten darum, dass man Fotos mitbringt. Wir<br />

fragen auch, ob Interesse besteht, dass wir uns heute hier<br />

Familienfoto anschauen. Wenn die Lehrerin ja sagt, dann<br />

wird das eingescannt und gleich per Beamer angeschaut.<br />

Da lernen wir, das Sehen zu sehen, weil man manche Dinge<br />

sehr unterschiedlich sehen kann.<br />

Wenn man fragt: Was sehen wir? Dann fangen viele Leute<br />

gleich an zu sagen, ein verängstigtes Kind und der Vater<br />

ist streng oder die Mutter wirkt streng. Wir sagen dann:<br />

Noch nicht interpretieren, einfach nur mal gucken, was<br />

sehe ich? Das kann unterschiedlich sein, anhand der Bildqualität<br />

oder der Mode kann man das Foto einer Zeit zuordnen,<br />

1930 oder die 60-er Jahre, vielleicht eine Familie,<br />

Mutter, Vater, zwei Kinder, scheint so zu sein.<br />

Und erst dann steigen wir langsam darauf ein, was wir<br />

noch sehen oder noch vermuten hinter dieser Familienaufstellung.<br />

Wir bitten am Ende auch die Person, die das<br />

Familienfoto zur Verfügung gestellt hat, zu helfen, ob die<br />

Einschätzungen falsch sind oder richtig. Eigentlich geht es<br />

darum, sich ein Bild von Familien zu machen. Wie funktionieren<br />

Familien? Wie ticken Familien? Und bei Bedarf,<br />

wenn wir erkennen, da ist großes Interesse, dann bauen<br />

wir für das nächste Mal eine sogenannte Eltern-Universität<br />

ein, wie wir das genannt haben. Da geben wir einen<br />

kleinen Input, über das familiäre System zum Beispiel und<br />

dessen Wandel.<br />

Im Kontext von Schule haben wir Module ausgearbeitet,<br />

wo wir nach der Erstbegegnung, unsere Erwartungen und<br />

Ziele formulieren, unser Selbstverständnis: also wie kann<br />

ich mich selbst im Dialog mit anderen wahrnehmen, wer<br />

bin ich, was macht mich aus, usw. Darüber kommen wir<br />

auf die Aussage: Keiner ist eine Insel. Ich und meine Umwelt.<br />

Wir haben Umweltkarten und bitten die Teilnehmer, wenn<br />

sie mögen, mitzuarbeiten: Die Familie ist in der Mitte, was<br />

gibt es noch um die Familie herum? Kinderarzt, Schule,<br />

Freizeit, usw. Im zweiten Schritt bitten wir darum, die Verbindung<br />

zum Kinderarzt aufzuzeichnen. Sie kennen das<br />

aus anderen Kontexten, gestörte Verbindungen oder tolle<br />

Verbindung. Dann kann man darüber ins Gespräch gehen.<br />

Arzt spielt bei Ihnen keine Rolle, Gesundheit schon. Immer<br />

schon gesund gewesen? Manchmal kommen so Dinge<br />

wie: tierische Angst vor dem Zahnarzt; oder: der Vater ist<br />

im Krankenhaus verstorben und seitdem gehe ich nicht<br />

mehr zum Arzt, weil ich da dieses oder jenes erlebt habe.<br />

Solche Aussagen kann man dann auf die Kinder beziehen:<br />

Das kann die eigene Geschichte sein, aber die Kinder haben<br />

möglicherweise eine andere Fürsorge verdient, usw.<br />

Ein anderes Beispiel: Eine türkische Mutter sagte, jetzt<br />

versteht sie sich mit ihrer Mutter viel besser, das war nicht<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 89


90<br />

Workshop Wenn Eltern in die Schule gehen<br />

Wenn Eltern in die Schule ...<br />

immer so. Der Vater ist vor drei Monaten gestorben und er<br />

hat wohl gesagt, dass sie sich um ihre Mutter kümmern<br />

soll. Da hat sie einen Auftrag gekriegt, gleichzeitig aber ist<br />

sie dabei, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, weil<br />

er das alles nicht mitmacht und sagt, lass mal Mutti Mutti<br />

sein. Man kann darüber ins Gespräch kommen, über solche<br />

Aufträge, wie manchmal Eltern aus dem Grab heraus<br />

noch unsere Geschicke bestimmen. Ein weiteres Thema<br />

sind Familienwelten, Familiensysteme.<br />

Schule gestern und heute: Da versuchen wir, über Schule<br />

ins Gespräch zu kommen. Wie sieht meine eigene Schulerfahrung<br />

aus? Was ist heute in den Schulen los? Wem gehört<br />

die Schule? Was kann die Schule leisten? Was kann<br />

sie nicht leisten? Welche Veränderungsgedanken hat die<br />

Organisation Schule? Wie kann ich Schule heute lernen?<br />

Ist Schule eine lernende Organisation?<br />

Ein weiteres Modul, also eine weitere Werkstatt, könnte<br />

sein – ist es in diesem Fall auch -: Wie sehe ich meine Kinder<br />

oder Schüler? Jugend und Jugendkulturen, das ist in<br />

diesem Zusammenhang ein Thema. Was ist heute mit den<br />

Jugendlichen los? Können wir Jugendliche neu und anders<br />

verstehen, ihnen standhalten und sie auf ihrem Weg<br />

halten und orientieren?<br />

Nicht gleich<br />

Grenzen setzen,<br />

aber standhalten.<br />

Das ist eine andere<br />

Haltung, ohne dass<br />

die jetzt die richtige<br />

sein muss.<br />

Gelingende Erziehung<br />

in schwieriger<br />

Zeit. Wie kann man<br />

die heutigen Erziehungsaufgaben neu und anders verstehen?<br />

Es werden nicht mehr viele Kinder geboren in modernen<br />

Staaten, auch in der Bundesrepublik nicht. Kinder<br />

haben mittlerweile Rechte. Kinder sind Mangelware. Da<br />

verändert sich vieles.<br />

Autorität ohne Gewalt: Wie können wir Erziehungskonflikte<br />

besser verstehen und managen? Auch die Frage: Wie lernt<br />

man eigentlich Erziehung? Ich finde die Frage interessant.<br />

Wir sind ja teilweise sicherlich auch Eltern. Ich kann Ihnen<br />

für meine Person sagen, wie man es macht: Beim ersten<br />

Kind so und beim zweiten Kind vielleicht noch mal anders,<br />

um nicht zu sagen: besser. Aber auch aus der Erfahrung,<br />

wie es unsere Eltern gemacht haben. Und auch aus dem<br />

Sehen, wie es die Nachbarn oder die Geschwister machen.<br />

Salopp gesagt, so lernt man erst mal erziehen.<br />

Zum Schluss geht es natürlich um ein Netzwerk der Hilfen<br />

und Unterstützungen, also wie vernetzen wir uns?<br />

Es scheint wichtig zu sein, dass wir anfangen, Partnerschaften<br />

zu entwickeln und zu vernetzen, um nicht Einzelkämpfer<br />

zu sein, weil man so gegen die Wand fährt. In solchen<br />

Gesellschaften, wie wir sie sind, und wohin wir uns<br />

auch entwickeln, vollzieht sich eine turbokapitalistische<br />

und rasante Entwicklung. Vor 12 Jahren hätte man mit<br />

solchen Beamern seine Präsentationen nicht gemacht,<br />

sondern man hätte einen Overhead-Projektor benutzt.<br />

Oder wir telefonieren heute mobil. Diese Dinge verändern<br />

natürlich unser Leben, technisch, wissenschaftlich, es gibt<br />

kulturelle Umbrüche usw.<br />

Wir haben ein kleines Buch gemacht: „Die Stärken meines<br />

Kindes“, damit können Eltern, wenn sie mögen, auch arbeiten.<br />

Das verteilen wir zu gegebener Zeit. Also dieses<br />

Buch beginnt damit: Wenn ein Paar ein Kind bekommt,<br />

werden Mann und Frau zu Eltern. Man kann auch sagen,<br />

das Paar macht in seiner Liebe ein Kind. Aber das neu geborene<br />

Kind macht ein Paar überhaupt erst zu Eltern. Und<br />

es ist ja auch so, dass bereits der Säugling und das kleine<br />

Kind mit seinem ganzen Wesen, seinen Bewegungen, seinen<br />

Gefühlen, seiner Ausstrahlung, so wie es sich äußert<br />

und zeigt, Mutter und Vater immer wieder dazu motiviert,<br />

sich dem Kind zuzuwenden, es anzuschauen, für es zu<br />

sorgen, es anzunehmen und zu beschützen.<br />

Natürlich verlangt die Pflege und Erziehung eines Kindes<br />

einen beträchtlichen Arbeitseinsatz. Macht nicht immer<br />

Spaß, sondern es kostet auch Nerven. Kinder sind ja nicht<br />

immer nur Engel. Je mehr wir aber als Eltern entdecken<br />

und erkennen, welche großartigen Kräfte unsere Kinder<br />

haben, über welche außerordentlichen Gaben sie verfügen,<br />

fällt es uns leichter, für unsere Kinder zu sorgen und<br />

sie zu erziehen. Und es ist eine oft gemachte Erfahrung,<br />

wenn Mütter und Väter die Stärken ihrer Kinder wahrnehmen<br />

und anerkennen können, werden sie selbst zu star-


ken Eltern. Entdecken Sie darum die Stärken Ihrer Kinder<br />

und bauen Sie auf diese Weise Ihre eigenen Stärken aus.<br />

Finden Sie heraus, auf welche Stärken Ihrer Kinder Sie<br />

bauen können und wie Sie sie weiterentwickeln können.<br />

Sie können dieses Buch der Stärken Ihres Kindes ganz<br />

nach Ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Sie können<br />

aber auch unsere Vorschläge in dieser Anleitung als Anregung<br />

und Leitlinie nehmen. Also es geht einfach darum,<br />

dass man anfängt, sich damit zu beschäftigen. Als mein<br />

Kind gerade geboren war, ist mir gleich aufgefallen, was<br />

dieses Kind von Anfang an auszeichnete.<br />

TN: Ist es in andere Sprachen übersetzt worden?<br />

Semih Kneip: Nein. Es ist nichts Kommerzielles, also wir<br />

werden nicht finanziert. Gangway ist ein Verein für Straßensozialarbeit.<br />

Ich mache das in anderen Kontexten mit<br />

Kollegen, die auch durch den Kronberger Kreis ausgebildet<br />

sind. Wir haben zum Beispiel im Wedding ein Straßensozialarbeiterprojekt,<br />

da geht es aber mehr um Gemeinwesenarbeit.<br />

Da gibt es eine Bürgerinitiative, die über die<br />

Jugendlichen meckert, da gibt es eine Bürgerinitiative, die<br />

will die Migranten weg haben, usw. Da bietet es sich an,<br />

Module zu entwerfen und die Menschen in sogenannten<br />

Werkstätten zusammenzubringen. Aber so weit sind wir<br />

nicht und wir arbeiten damit noch nicht als Projekt.<br />

TN: Als Sie in die Schule gegangen sind, die Grundschule<br />

mit den vielen Migranten, die die Einladung nicht lesen<br />

können oder mit dem Text nichts anfangen können, …?<br />

Semih Kneip: Das haben wir so nicht erlebt. Ihre Frage ist<br />

sicher berechtigt, aber bei den Eltern, die da waren, haben<br />

wir nicht erlebt, dass sie es nicht hätten lesen können. Wir<br />

haben auch deutsch gesprochen. Also ich kann Türkisch,<br />

aber ich kann nicht Arabisch sprechen.<br />

Hier tauchte die Frage nach den Ausschlusskriterien auf:<br />

Bei diesem Programm haben wir keine, es sei denn, man<br />

ist hart auf Drogen oder schwer psychisch krank, dann ist<br />

dieses Setting nicht sinnvoll. Aber wenn Alkoholiker mit ihrer<br />

Flasche kommen würden, dann würde schon irgendwer<br />

was sagen.<br />

TN: Gibt es diese Art von Arbeit an der Schule weiterhin?<br />

Gibt es jetzt andere Angebote und kann ich das propagieren,<br />

gibt es noch Kapazitäten?<br />

Semih Kneip: Dies ist ein Modellprojekt. Es gibt viele interessierte<br />

Menschen, in der Regel kommen Eltern und<br />

Fachkräfte. Aber wir sind eigentlich noch nicht so weit. In<br />

Berlin gibt es drei, vier Leute, die sich bei Reinhart Wolff<br />

in der Vergangenheit diesbezüglich haben zertifizieren<br />

lassen. Sozialarbeiterische Qualifikationen sind sicherlich<br />

wichtig, erzieherische, aber hier geht es auch um Organisation,<br />

Systeme, Systemtheorie usw. Es ist noch nicht so<br />

weit, das Modell größer machen zu können.<br />

Wenn eine Schule Interesse hat, und es entsteht dann,<br />

dann sind wir gerne zur Teilnahme bereit. Die Schule, von<br />

der ich sprach, hatte dringenden Bedarf, dass da was passieren<br />

musste. Wir haben uns 8 Werkstätten lang getroffen.<br />

Vor den Sommerferien war das offiziell beendet. Alle<br />

waren euphorisch und wollten unbedingt weitermachen.<br />

Wir haben dann gesagt, dass wir uns nach den Sommerferien<br />

zu einer Ideen-Werkstatt treffen. Welche Ideen haben<br />

wir, wie können wir hier weiter arbeiten? Das wollten sie<br />

auch.<br />

Als die Schule wieder begann, hat die Direktorin gesagt,<br />

dass sie sich überlegt haben, dass das nichts bringt, weil<br />

sie dadurch nicht so groß die Eltern erreichen. Was sie<br />

verkannt haben – aus meiner Sicht -, ist, dass Veränderung<br />

durch Selbstveränderung passiert. Oder wir müssen<br />

uns vorwerfen, dass wir das dort nicht zur Genüge haben<br />

rüberbringen können. Aber nur so geht es. Wenn sich der<br />

eine Partner in seiner Haltung verändert, ändert sich auch<br />

der andere.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 91


92<br />

Workshop<br />

Schaut Euch diese Typen an<br />

„Nachbarschaftsheime, Mütter-, Familien-,<br />

Stadtteilzentren, Bürgerhäuser“ -<br />

Ansprüche, Profile, Förderprogramme<br />

Torsten Wischnewski: Wir wollen der Frage nachgehen:<br />

Was bedeuten die unterschiedlichen Einrichtungs- Typen<br />

- Familienzentren, Mehrgenerationenhäuser, Stadtteilzentren?<br />

Es wird uns heute nicht so sehr darum gehen,<br />

neue Förderprogramme zu entdecken, sondern zu prüfen,<br />

wie wir methodisch arbeiten und welche Themen<br />

auf uns zukommen. Einrichtungen mit Themen der Familienarbeit<br />

existierten schon seit 50 Jahren – zumindest<br />

in Berlin – oder seit mehr als 20 Jahren in Köln oder<br />

Braunschweig, also seit langer Zeit.<br />

Wir wollen zwei praktische Beispiele aus Braunschweig<br />

und Köln geben. Dann wird Herr Löhnert etwas zu der<br />

Berliner Situation der Stadtteilzentren erläutern. Herr<br />

Hummel wird danach das Vorgetragene aufnehmen und<br />

kritisch darlegen, ob wir mit unseren Förderprogrammen<br />

und unseren verschiedenartigen Typen auch heute noch<br />

richtig liegen und was die Zukunft unter Umständen<br />

bringen kann.<br />

Inputs:<br />

Monika Döhrmann<br />

(Mehrgenerationenhaus Braunschweig)<br />

„Vom Mütterzentrum zum Mehrgenerationenhaus“<br />

Dr. Eberhard Löhnert (DPW Berlin)<br />

„Der Berliner Stadtteilzentrenvertrag“<br />

Bernd Giesecke (Bürgerschaftshaus Bocklemünd-Mengenich)<br />

„Familienzentren in Nordrhein-Westfalen“<br />

Dr. Konrad Hummel (Augsburg)<br />

„Gedanken über die Notwendigkeit,<br />

den Partikularismus zu überwinden“<br />

Moderation:<br />

Torsten Wischnewski<br />

Monika Döhrmann: Ich zeige Ihnen als erstes einen kleinen<br />

Film, der im Frühjahr 2006 für die Sendung „Hallo<br />

Niedersachsen“ vom NDR aufgenommen worden ist. Er<br />

gibt Einblick in unsere Räumlichkeiten und die Schwerpunkte<br />

unserer Arbeit.<br />

(Filmeinspielung: Mehrgenerationenhaus Braunschweig)<br />

Wir sind von einem Mütterzentrum zum Mehrgenerationenhaus<br />

geworden. Das Mütterzentrum wurde 1987<br />

gegründet. Zum 1.4.2004 haben wir den Zuschlag als<br />

ein vom Land gefördertes Mehrgenerationenhaus bekommen<br />

und sind in neue Räumlichkeiten gezogen. Der<br />

Film ist also zwei Jahre später entstanden und zeigt,<br />

dass eine ganze Menge einfach so funktioniert. Es war<br />

nicht ganz einfach, vom Mütterzentrum zum Mehrgenerationenhaus<br />

zu werden. Natürlich hatten wir Väter, die<br />

in der Elternzeit regelmäßig bei uns Besucher waren. Wir<br />

hatten auch ältere Menschen, ältere Frauen vorwiegend,<br />

bei uns im Haus, die mit ihren Töchtern oder den Enkelkindern<br />

einfach mal da waren. Schwerpunkte waren das<br />

Café, der Second-Hand-Verkauf, Kinderbetreuung und<br />

ein paar Gruppenangebote wie Meditation oder Autogenes<br />

Training, auch ein bisschen Einzelberatung. Unser<br />

Haus war aber nicht durchgängig geöffnet.<br />

Nach dem Umzug haben wir ein neues Konzept entwickelt.<br />

Das „Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser“<br />

stellt eine ganze Menge Anforderungen an die einzelnen<br />

Träger. Wir mussten in relativ kurzer Zeit ganztägige Öffnungszeiten<br />

umsetzen, die Räumlichkeiten ansprechend<br />

gestalten, ein bisschen Dienstleistung anbieten: Friseur,<br />

Fußpflege, Kosmetik. Wir haben den Mittagstisch neu


aufgenommen, um ein Angebot für die Menschen aus<br />

der Nachbarschaft, die zu uns ins Haus kommen, zu haben.<br />

Wir sollten neue Zielgruppen ansprechen, zum Beispiel<br />

verstärkt ältere Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund,<br />

aber auch mehr Männer. Das alles zu<br />

einer Zeit, in der einige noch dem alten Mütterzentrum,<br />

den kleinen beschaulichen Räumen, nachtrauerten,<br />

während andere ganz gespannt waren auf das, was jetzt<br />

passiert.<br />

Innerhalb unseres Teams von 25 Frauen hatten wir einen<br />

ziemlichen Spannungsbogen in Bezug auf den Hintergrund<br />

und die Qualifikation. Gleichzeitig hatten wir eine Menge<br />

Aufgaben zu bewältigen. Es war relativ schwierig zu sagen,<br />

in welche Richtung wir gehen wollten. Wir haben erst mal<br />

alles aufgegriffen, alles Mögliche umgesetzt. Dann haben<br />

einige kritisiert, dass es keinen Frauenraum mehr gab, sie<br />

fanden es nicht gut, dass dann doch Männer da waren. In<br />

dem Film sah man, dass deutlich mehr Frauen das Haus<br />

besuchen als Männer, man sieht auch kaum Migranten,<br />

die sind erst später dazu gekommen, als wir uns das bewusst<br />

zur Aufgabe gemacht haben.<br />

Wir hatten intern eine Menge Auseinandersetzungen. Wir<br />

haben uns auch gefragt, wer wir jetzt eigentlich sind: Mehr<br />

so ein Müttertreffpunkt oder mehr ein Mehrgenerationenhaus?<br />

Wo wollen wir hin? Passt beides zusammen? Was<br />

wollen wir bewahren? Was wollen wir neu machen? Ich<br />

denke, dass das vielen Trägern mit diesem neuen Konzept<br />

so gegangen ist. Dann fragt man sich natürlich, warum<br />

man sich danach gestreckt hat ...<br />

Jetzt im Nachhinein muss ich sagen, dass das Mehrgenerationenhaus<br />

wirklich eine Erweiterung unseres Konzeptes<br />

gebracht hat, weil wir jetzt ganz klar sagen: Wir<br />

sind ein Mehrgenerationenhaus, das aus der Mütterzentrumsbewegung<br />

kommt. Wir haben immer schon Hilfe zur<br />

Selbsthilfe angeboten, wir haben immer schon Nachbarschaftshilfe<br />

initiiert, damit Menschen sich kennen lernen<br />

konnten. Wir haben schon immer Netze geknüpft in den<br />

offenen Räumlichkeiten, die wir haben. Und in der Begegnung<br />

zwischen den Menschen wurden letztendlich schon<br />

Brücken zwischen den Generationen gebaut. Das ist das,<br />

was wir von dieser Mehrgenerationenhaus-Idee auch vorher<br />

schon verwirklicht hatten.<br />

Weil wir aus der Mütterzentrenzeit kommen, gibt es bei<br />

uns nach wie vor Baby-Gruppen, PEKiP-Gruppen, pädagogische<br />

Nachmittage, Kinderangebote in den Ferien,<br />

Kinderbetreuung und all diese Dinge, die rund um das<br />

Familienleben dazugehören. Wir haben allerdings kaum<br />

Jugendliche bei uns im Haus, weil unsere Räumlichkeiten<br />

es nicht hergegeben haben, eigene Räumlichkeiten für Jugendliche<br />

zu schaffen.<br />

Das ist auch schon eine alte Geschichte, so haben wir immer<br />

schon gearbeitet uns anzuhören, was die Menschen<br />

brauchen, die zu uns kommen, und dem entsprechend<br />

unser Angebot weiterentwickelt. Wir haben bei den Migrantinnen<br />

z.B. festgestellt, dass sie einen hohen Bedarf<br />

an Deutschkursen haben. Die konnten wir in Zusammenarbeit<br />

mit dem Büro für Integrationsfragen tatsächlich einrichten.<br />

Über eine Landesförderung haben wir jetzt eine<br />

Erzieherin mit einer halben Stelle, die Sprachkurse bei uns<br />

anbietet.<br />

Um das ganze große Gefüge am Laufen zu halten, müssen<br />

wir enorm viele Anträge zur Finanzierung stellen. Wir prüfen<br />

laufend, was es an Landes- und Bundesprogrammen<br />

gibt; wo kann uns ein Amt wie das Büro für Integrationsfragen<br />

das zur Verfügung stellen, was wir brauchen; oder<br />

Angebote die Jugendhilfe bei uns durchführen kann und<br />

wo wir Räumlichkeiten nutzen können, für die wir nichts<br />

bezahlen müssen. All diese Dinge sind unser tägliches<br />

Geschäft geworden und ich glaube, dass das auch nicht<br />

mehr umzukehren ist.<br />

TN: Ich habe eine Frage zu den Dienstleistungen, die Sie<br />

anbieten, wie funktioniert das denn? Welche rechtlichen<br />

Voraussetzungen gibt es da?<br />

Monika Döhrmann: Das ist recht schwierig, wir sind ja ein<br />

relativ kleiner Verein. Es gibt ein Vereinsrecht, in dem es<br />

Steuergrenzen gibt, die wir inzwischen längst überschritten<br />

haben. Wir haben am Anfang alles in eigener Trägerschaft<br />

gemacht, da darf man 17.500 Euro Einnahmen haben, die<br />

nicht umsatzsteuerpflichtig sind. Diese Grenze hatten wir<br />

in ganz kurzer Zeit durch Mittagessen, Kaffee und Kuchen,<br />

Friseur, Second Hand, Kinderbetreuung usw. erreicht. Da<br />

haben wir die Frauen, die diese Angebote gemacht haben,<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 93


94<br />

Workshop Schaut Euch diese Typen an<br />

Schaut Euch diese Typen an<br />

drängen müssen, in die Selbstständigkeit zu gehen. Das<br />

heißt, der Second-Hand-Laden wird jetzt von einer Frau betrieben,<br />

die sich selbstständig gemacht hat. Wir machen<br />

allerdings noch Zuarbeit wie Öffentlichkeitsarbeit für sie.<br />

Dasselbe ist mit der Friseurin und der Kosmetikerin und<br />

allen anderen, die bei uns was anbieten, passiert. Vieles<br />

von dem, was vorher in unserer Trägerschaft lief, machen<br />

die Frauen jetzt alleine.<br />

TN: Für uns sind die kostenlosen Angeboten, die wir wegen<br />

der sozialen Mischung machen wollen und müssen,<br />

ein Problem. Denn natürlich haben wir den Druck, auch<br />

Einnahmen zu erzielen zu müssen mit kostenpflichtigen<br />

Angeboten. Wie gehen Sie damit um?<br />

Monika Döhrmann: Es gibt fast gar keine kostenlosen Angebote<br />

mehr. Es gibt in Braunschweig die „Tafel“, wo sich<br />

viele versorgen können. Auf die „Tafel“ sowie auch auf den<br />

kostenlosen Mittagstisch bei der Evangelischen Kirche da<br />

verweisen wir. Alle anderen Angebote, die man bei uns<br />

im Haus wahrnimmt, sind kostenpflichtig. Das Mittagessen<br />

bei uns im Haus kostet 3 Euro, das ist noch nicht so<br />

sehr hoch. Wir haben sehr viele Niedrigverdiener und viele<br />

Menschen mit sehr geringem Bildungsniveau.<br />

Bernd Giesecke: Wir gehen jetzt ein Bundesland weiter,<br />

nach Nordrhein-Westfalen, in die Familienzentren. Ich<br />

komme aus einem Bürgerzentrum, seit 1971 arbeiten wir.<br />

Die Bürgerzentren haben von der Idee her ihren Ursprung<br />

in Berlin bei den Nachbarschaftszentren. Der Stadtteil, in<br />

dem ich arbeite, Bocklemünd, liegt im Kölner Nordwesten,<br />

es ist ein sehr weit draußen gelegener Stadtteil. Der Stadtteil<br />

selber hat etwas über 10.000 Bewohner. Im direkten<br />

Umfeld des Bürger- bzw. Familienzentrums ist der Stadtteil<br />

ein Neubaugebiet aus den 60-er Jahren. Der Stadtteil,<br />

speziell in diesem Neubaugebiet, ist geprägt durch die<br />

berühmt-berüchtigten Problemlagen, worunter sich wohl<br />

jeder was vorstellen kann.<br />

Seit Anfang 2006 hat sich das Land entschieden, Familienzentren<br />

aufzubauen. Es gibt dazu eine wissenschaftliche<br />

Begleitung von Pädquis, Pädagogische Qualitätsund<br />

Informationssysteme, an der FU Berlin, mit dem Ziel,<br />

die ersten 251 Einrichtungen im Jahr 2007 zum Familienzentrum<br />

zu qualifizieren. In diesem Jahr sollte es weitere<br />

1.000 Einrichtungen dieser Art geben. Sukzessive soll<br />

dieses System soweit ausgebaut werden, dass in NRW<br />

ungefähr jede dritte Einrichtung ein zertifiziertes Familienzentrum<br />

sein wird. Nordrhein-Westfalen hat ungefähr<br />

9.700 Kindertagesstätten.<br />

Ziel so eines Familienzentrums soll sein, über die Kindertageseinrichtung<br />

Angebote zur Förderung und Unterstützung<br />

von Kindern und Familien in unterschiedlichen<br />

Lebenslagen und mit unterschiedlichen Bedürfnissen<br />

bereitzustellen. Alles soll niedrigschwellig und alltagsnah<br />

angelegt sein und es soll der familienorientierte Ansatz<br />

praktiziert werden. Zukünftig ist „Familienzentrum NRW“<br />

also als Marke definiert.<br />

Die Qualifizierung wird in acht Feldern durchgeführt,vier<br />

Felder Leistungsbereiche, vier Felder Strukturbereiche.<br />

Die werden noch mal unterteilt, jeder Leistungsbereich<br />

noch mal in Basis- und Aufbauleistungen unterschieden.<br />

Insgesamt gehört zu dieser Qualifizierung ein Anforderungskatalog<br />

von 112 Fragen bzw. Anforderungen, die erarbeitet<br />

werden.<br />

Das ist eine enorme Datensammlung, eine enorme Informationssammlung,<br />

die von uns durchgeführt werden<br />

muss, und zwar innerhalb eines relativ knapp bemessenen<br />

Zeitraums, nämlich eines halben Jahres. Man bekommt<br />

von Pädquis auf Anfrage Unterstützung. Man wird von Pädquis<br />

auch qualifiziert, indem jemand vorbeikommt.<br />

Der Aufwand ist gewaltig: Daten zu sammeln, Flyer zu<br />

sammeln, Ordner aufzubauen. Es geht auch um Kooperationen.<br />

Es geht darum, mit Erziehungsberatungsstellen,<br />

Kinderärzten, mit den verschiedenen Therapie-Einrichtungen<br />

usw. auch Kooperationsverträge zu schließen.<br />

Die müssen auf der einen Seite standardisiert werden,<br />

auf der anderen Seite kann man aber nicht alles standardisieren.<br />

Es gibt also auch unterschiedliche Kooperationsverträge,<br />

man muss den Flyern hinterherlaufen, also<br />

man muss Nachweise sammeln, tatsächlich nahezu ohne<br />

Ende. Hinterher hat man ein Riesensammelsurium, das<br />

sind mehrere Aktenordner, an Informationen, die zur Verfügung<br />

stehen und die dann eben auch nutzbar gemacht<br />

werden sollen.


Diese Erbsenzählerei, wie ich das genannt habe, hat erst<br />

im kleineren Kreis der Einrichtungsleitung stattgefunden,<br />

hat aber dann immer größere Kreise gezogen. Das hat<br />

dazu geführt, dass auch eine viel stärkere oder eine erneute<br />

Auseinandersetzung stattfand mit dem, was in unserem<br />

Haus passiert, nicht nur in der Kindertagesstätte,<br />

sondern auch in den Bereichen drumherum. Wir haben<br />

immer gesagt, es gibt ja das Bürgerzentrum, es gibt Beratung,<br />

es gibt auch externe Dienste, die in das Bürgerzentrum<br />

kommen. Selbstkritisch muss man sagen, dass wir<br />

das im Prinzip nur als Sammelsurium hatten. Wir hätten es<br />

vorweisen können, klar, haben wir alles, aber in der Tiefe<br />

war es nicht da, weil die Kooperationen nur locker waren.<br />

Sicher kennen das viele von Ihnen, dass eine Alltagsblindheit<br />

entsteht und man Scheuklappen aufhat, weil man gar<br />

nicht mehr alles wirklich im Griff hat oder wirklich über<br />

alles informiert ist.<br />

Für uns hat diese Auseinandersetzung in allen Bereichen<br />

zu einer Verbesserung der Zusammenarbeit geführt und<br />

auch zu einem schärferen Blick auf den Stadtteil, mit eben<br />

diesen unterschiedlichen Facetten, wie sie durch die Qualifizierung<br />

zum Familienzentrum gefordert sind. Seit wir ein<br />

zertifiziertes Familienzentrum sind, fließen Informationen<br />

viel schneller.<br />

Für unser Haus, also für „Die wilden Füchse“, wie unsere<br />

Kindertagesstätte heißt, ist in Bezug auf die Elternarbeit<br />

mehr erreicht worden. Wir haben engen Kontakt zu den Eltern,<br />

stellten aber dann im Nachhinein doch fest, dass das<br />

sehr einseitig war. Auf Nachfragen kam eigentlich wenig<br />

zurück, was die Eltern tatsächlich im Erziehungskontext<br />

interessiert. Bei uns gab und gibt es immer noch Elternabende,<br />

für fast 100 Kinder und 70 Eltern. Wenn dazu 5<br />

bis 7 Elternteile kommen, dann ist das viel. Daran arbeiten<br />

wir. Die Kollegen sind dazu übergegangen, im Elterncafé<br />

Eltern anzusprechen, um sie mehr einzubeziehen. Dadurch<br />

kommen jetzt mehr Rückmeldungen. Da sehe ich<br />

einen möglichen Weg..<br />

TN: Wie haben Sie es geschafft, dass die Mitarbeiter in<br />

der Kita ihr Verhalten den Eltern gegenüber verändert<br />

haben?<br />

Bernd Giesecke: Gute Frage. Ich glaube, wir haben unsere<br />

Mitarbeiter bisher noch zu wenig an einzelnen Punkten<br />

beteiligt, z.B. daran Eltern anzusprechen.<br />

TN: Kann es sein, dass die Kindergartenleiterin oder der<br />

Kindergartenleiter mit einer anderen Fragestellung in die<br />

Elternabende oder an die Bildungsaspekte gegangen ist<br />

als die Eltern selber?<br />

Bernd Giesecke: Nein,<br />

ich spreche jetzt nicht nur<br />

vom Elternabend, sondern<br />

generell von der Ansprechbarkeit<br />

der Eltern. Wir haben<br />

uns als Mitarbeiter in<br />

Gespräche reinziehen lassen,<br />

die wenig mit dem Bildungsauftrag<br />

zu tun haben,<br />

sondern um praktische<br />

Kleinigkeiten gingen. Wenn<br />

wir mal mit ihnen darüber<br />

sprechen wollten, wie z.<br />

B. ein Kind spielt, fühlten<br />

sie sich schnell bedrängt.<br />

Davon wollten sie nicht erzählen.<br />

Vielleicht wissen sie darüber selber auch nichts,<br />

weil sie sich darum nicht kümmern. .<br />

Die Auseinandersetzung hat dazu geführt, dass sich die<br />

Erzieherinnen selber mehr Gedanken drum gemacht haben<br />

und jetzt qualifizierter nachfragen. Sie lassen die Eltern<br />

nicht mehr so schnell in Ruhe.<br />

TN: Es ist doch normaler Bestandteil von Qualität in einer<br />

Kindertagesstätte, Mitarbeiter für Gespräche mit Eltern zu<br />

qualifizieren, das ist für mich Standard in der Kita-Arbeit.<br />

Wo ist der Bezug zu der neuen Struktur eines Familienzentrums?<br />

Bernd Giesecke: Weil sehr viele Einrichtungen nicht<br />

im Kontakt mit den Eltern arbeiten. In Nachbarschaftseinrichtungen<br />

gab es schon immer das Ansprechen der<br />

Menschen. Aber das ist in anderen Einrichtungen nicht so<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 95


96<br />

Workshop Schaut Euch diese Typen an<br />

Schaut Euch diese Typen an<br />

gewesen. Ich glaube, das muss ich jetzt wirklich auf uns<br />

beziehen, dass nicht jede Mitarbeiterin diese Qualifikation<br />

mitbringt. Durch diesen Zertifizierungsprozess sind wir darauf<br />

gekommen, dass wir da viel mehr machen müssen.<br />

TN: Sie sprachen von den Kooperationen, worin genau bestanden<br />

oder bestehen die? Man hat ein gemeinsames<br />

Ziel und unterschiedliche Potenziale und Ressourcen die<br />

man in die Kooperation einbringt. Ich kann mir noch nicht<br />

so richtig vorstellen, worin beispielsweise die Kooperation<br />

zwischen einer therapeutischen Einrichtung und euch bestehen<br />

kann.<br />

Bernd Giesecke: Eine ganz aktuelle Kooperation besteht<br />

mit einem Jugendhilfeträger, der auch in dem Sozialraum<br />

in Bocklemünd arbeitet. Dort wurde auch festgestellt,<br />

dass es sehr wenige offizielle Nachfragen in der Erziehungsberatung<br />

gibt. An die sind wir herangetreten und<br />

haben gesagt: ihr macht das doch schon, wir würden euch<br />

gerne als Kooperationspartner für unser Familienzentrum<br />

gewinnen, um eine Eltern-Kind-Beratung durchzuführen,<br />

die dann bei uns im Haus stattfindet.<br />

Torsten Wischnewski: Vielen Dank. Das lassen wir erst<br />

mal so stehen. Jetzt Eberhard Löhnert aus Sicht des Paritätischen.<br />

Eberhard Löhnert: Ich spreche nicht nur aus der Sicht<br />

des Paritätischen,<br />

denn man sieht<br />

ja hier die Partner<br />

des Paritätischen,<br />

die Fachverbände,<br />

den Verband für<br />

sozial-kulturelle<br />

Arbeit, SEKIS, also<br />

die Vereinigung<br />

der Selbsthilfegruppen,<br />

ABS, die<br />

Vereinigung für Seniorenprojekte, Treffpunkt Hilfsbereitschaft,<br />

die Freiwilligenagenturen usw. Das sind alles<br />

unsere Partner, als Institutionen. Wir haben natürlich<br />

auch Akteure als Partner, mit denen wir wesentliche Entwicklungen<br />

beraten: Herr Zinner, als Teil des Vorstandes<br />

des Paritätischen, Herbert Scherer zum Beispiel, die Geschäftsführer<br />

der Dachverbände. In dem Sinne ist der Paritätische<br />

zwar juristisch zuständig für das Land Berlin.<br />

Aber er kann nur gemeinsam – und das ist eines unserer<br />

Erfolgsrezepte - mit den tatkräftig mitwirkenden Verbänden<br />

und Akteuren seine Arbeit machen.<br />

Stadtteilzentren, Nachbarschaftshäuser, Selbsthilfekontaktstellen,<br />

das sind in jedem Fall Orte, wo man viele Angebote<br />

hat sich zu engagieren, wo man auch mal mit sich<br />

selber ins Reine kommen kann, sich besinnen kann, wo<br />

man andere Menschen kennen lernen kann usw. Ich persönlich<br />

finde den Begriff Stadtteilzentrum nicht so glücklich.<br />

Wohingegen der Begriff Nachbarschaftshaus für den<br />

Bürger etwas ganz Konkretes ist.<br />

Nachbarschaftshäuser haben sich ja schon 1949 im Westteil<br />

der Stadt Berlin entwickelt. Nach der Wiedervereinigung<br />

war es die Aufgabe, auch im Ostteil der Stadt eine ähnliche<br />

Struktur zu bilden, bei abnehmenden Geldmitteln. Da wir<br />

das Geld gerecht verteilen wollten, mussten wir uns auf<br />

eine Gewichtung einigen. Es gab natürlich auch im Osten<br />

unterschiedliche Typen, in denen es einen wertvollen Bestand<br />

an Erfahrungen gab, der erhalten bleiben sollte.<br />

Die Stadtteilzentrumsverträge, zur Zeit gibt es den dritten<br />

Folgevertrag mit einer Laufzeit von 2008 bis 2010, bedeuten<br />

eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Ich denke, wir<br />

sind da inzwischen auf gutem Wege. Wenn man der Politik<br />

Glauben schenken darf, sind die Stadtteilzentren in Berlin,<br />

die gesamtstädtisch gefördert werden, nicht gefährdet. Im<br />

Gegenteil, sie sind unverzichtbar für die Weiterentwicklung<br />

der Stadt. Das ist die Meinung, die gegenwärtig in<br />

allen Parteien hier in Berlin vertreten wird. Da gab es auch<br />

keine Kürzungen, obwohl Berlin ja in einer äußerst komplizierten<br />

finanziellen Situation ist.<br />

Wir fangen jetzt an, den nächsten Vertrag ab 2011 vorzubereiten,<br />

wo man eher sagt, wir brauchen noch ein bisschen<br />

mehr Geld, um dessen Umsetzung auch finanzieren<br />

zu können.<br />

Der demografische Wandel ist ein Thema. Das ist eine<br />

Herausforderung, die zu den inhaltlichen Schwerpunkten


gehört: Es war ein Glücksfall, dass die Politik entschieden<br />

hat, diejenigen Projekte der Altenarbeit, die bürgerschaftliches<br />

Engagement zum Ziel haben, in die Stadtteilzentren<br />

einzuordnen. Das hat dazu geführt, dass wir hier jede Menge<br />

an Kompetenz zu diesem Thema mit hereinbekommen<br />

haben – sowie auch eine Menge an Herausforderungen,<br />

um gemeinsam dieses Miteinander der Generationen zu<br />

gestalten.<br />

Interkulturelle Öffnung, das ist klar, Berlin ist eine interkulturelle<br />

Stadt. Eines der wichtigen Dinge, die sich bewährt<br />

haben, ist, dass man sich weiter öffnet. Das ist selbst in<br />

Berlin in den einzelnen Bezirken sehr unterschiedlich,<br />

zwischen ihnen gibt es ein riesiges Gefälle. Egal, wie sehr<br />

man sich öffnet, aber eine der Hauptmethoden, mit denen<br />

eine Öffnung erreicht wird, sind Tandem-Projekte. Das<br />

bedeutet, dass sich Initiativen von deutschen Bürgern mit<br />

Organisationen von Menschen mit ausländischer Herkunft<br />

zusammen tun, um sich gemeinsam im jeweiligen Stadtteil<br />

zu engagieren.<br />

Wo werden im nächsten Jahr die inhaltlichen Schwerpunkte<br />

der Weiterentwicklung liegen? Wir haben folgende<br />

Punkte gemeinsam beschlossen: Die Struktur nach innen<br />

soll weiter verbessert werden, die Funktionalität der Häuser<br />

soll verbessert werden. Also nicht nur für jede einzelne<br />

Zielgruppe einen Raum, das geht nun bei dieser Entwicklung<br />

nicht mehr, sondern der Gedanke von Multifunktionalität<br />

von Räumen ist inhaltlich weiter auszugestalten,<br />

um für generationsübergreifende Kulturangebote bessere<br />

Bedingungen zu schaffen.<br />

Das wäre so ein Punkt bis 2010 und noch weiter. Das<br />

Zweite betrifft die Sozialräume, heute sagt man lebensweltorientierte<br />

Räume, zu denen der Bezug enger werden<br />

soll. Da gibt es Überlegungen, die noch am Anfang sind.<br />

Es hat sich herausgestellt, dass wir ein Gesamtkonzept<br />

für die Stadt brauchen, das die bezirklichen Initiativen<br />

mit einschließt und stärkt. Dieses Gesamtkonzept wird<br />

in den nächsten 1 ½ Jahren entstehen. Wir sind schon<br />

dabei, auf diesem Gebiet zu arbeiten, gemeinsam mit<br />

den Bezirken zu schauen, wo wir zusätzliche Strukturen<br />

brauchen. Es geht nicht um Neubauten oder um mehr<br />

Geld. Sondern wir wollen vor allem die Infrastruktur<br />

nutzen, die es im Sozialraum schon gibt, also für das<br />

Gemeinwesen eine weitere Öffnung von Seniorenfreizeitstätten,<br />

Jugendfreizeitstätten, anderen Stellen der<br />

Seniorenarbeit.<br />

Ein dritter Schwerpunkt wäre die Zusammenarbeit mit<br />

Schulen. Das ist hier in Berlin besonders wichtig, weil diese<br />

Zusammenarbeit Jugendhilfe/Schule seit Jahren politisch<br />

gestärkt worden ist. Selbstkritisch will ich sagen,<br />

dass wir in diesem Bereich ziemlich weit hinten stehen,<br />

obwohl bereits eine Menge geschieht. Aber was ist die eigentliche<br />

Stärke der Jugendhilfe, die in der Schule helfen<br />

kann, und das auch tut? Da gibt es unterschiedliche mögliche<br />

Entwicklungen. Eine zum Beispiel ist: wenn es uns<br />

gelänge, die Vorteile guter Jugendhilfe als Teilhabe von<br />

Kindern und Jugendlichen am eigenen Entwicklungsprozess<br />

auch in der Schule zu verankern, würde sich die Teilhabe<br />

der Schüler in der Schule und ihr Interesse daran<br />

wesentlich verbessern. Das ist einer der Punkte, woran<br />

man arbeiten muss. der andere Punkt wäre die Öffnung<br />

der Schule insgesamt für den Sozialraum.<br />

Kreative Potenziale älterer Menschen: Da hat das Nachbarschaftsheim<br />

Schöneberg ja ein tolles Projekt aufgelegt,<br />

in Kooperation mit zur Zeit sieben Stadtteilzentren, deren<br />

Zahl noch ansteigt. In der „Werkstatt der alten Talente“,<br />

kann man auf den verschiedensten Gebieten Bürger dafür<br />

gewinnen sich zu engagieren, sich zu qualifizieren und<br />

mit anderen Bürgern auch generationsübergreifend zu arbeiten.<br />

Das zeigt, wohin die Entwicklung geht. Auch dies<br />

ist einer der Schwerpunkte.<br />

Für die Öffentlichkeitsarbeit haben wir ab nächstem Jahr<br />

ein Programm, um der Berliner Bevölkerung die Aufgaben<br />

und Möglichkeiten der Stadtteilzentren zu zeigen. Das wird<br />

von März bis Oktober gehen. In diesem Zeitraum stellen<br />

wir der Öffentlichkeit unser Programm vor.<br />

TN: Eine Ergänzung: Es werden nicht alle Nachbarschaftseinrichtungen<br />

über diesen Vertrag gefördert.<br />

TN: Im Bereich der Nachbarschaftsheime, Nachbarschaftszentren<br />

und Stadtteilzentren, hat die freie Wohlfahrtspflege<br />

ein Monopol. Sie als DPW haben für die Nachbarschaftshäuser<br />

einen Vertrag mit dem Senat. Andere Spitzenverbände<br />

haben da keinen Zugang, sehe ich das richtig?<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 97


98<br />

Workshop Schaut Euch diese Typen an<br />

Schaut Euch diese Typen an<br />

Eberhard Löhnert: Nein, das sehen Sie falsch, wenngleich<br />

es auch richtig ist. Das Falsche ist einfach, dass sich die<br />

anderen Verbände einfach zu wenig bemüht haben, Nachbarschaftseinrichtungen<br />

in Berlin zu entwickeln.<br />

Konrad Hummel: Ich will über drei Ebenen sprechen:<br />

über die praktische Ebene, eine strategisch-kommunale<br />

Ebene und über eine erfolgreiche Ländervertragsverhandlungsebene.<br />

Aus meiner<br />

Sicht sind das alles drei<br />

sehr beachtliche, positive<br />

Beispiele. Nur in Bezug auf<br />

die Eingangsfrage – Motivationen<br />

– haben wir alle, die<br />

wir überzeugt sind, dass die<br />

dargestellten Beispiele in<br />

die richtige Richtung weisen,<br />

ein ungutes Gefühl, weil diese<br />

Verfächerung bei Einrichtungen<br />

eigentlich blanker<br />

Blödsinn ist. Sie ist aber so<br />

verfestigt, dass niemand<br />

freiwillig beispielsweise ein<br />

Stadtteilzentrum oder auch<br />

ein Mütterzentrum aufgeben wird. Oder: der Paritätische<br />

verkauft nichts an die Caritas ohne Gegenleistung. Das<br />

sind alles Positionen, die nicht verrückbar sind, und trotzdem<br />

sind sie widersinnig. Von daher verstehe ich meinen<br />

Beitrag als Mischung aus Vorbereitung und Nachdenken<br />

über Ansatzpunkte für Veränderung.<br />

Wir haben verschiedene Beispiele gehört und zwar angefangen<br />

bei der ganz alten Tradition der Nachbarschaftsbewegung.<br />

Wenn man alle bisherigen Ansätze betrachtet,<br />

dann haben wir heute so etwas wie das weltliche Bekenntnis<br />

zu einer Art künstlicher Nachbarschaft. Das ist ein sozio-ökologischer<br />

Ansatz. Ich schaffe eine künstliche Nachbarschaft,<br />

so wie man eine künstliche Natur schafft.<br />

Das Zweite ist dann die ganze Tradition der Mütterzentren<br />

etc., die natürlich auch eine Geschichte hat. Sie ist in<br />

Westdeutschland ganz stark aus der völligen Kapitulation<br />

Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg entstanden.<br />

Man wollte Ganztags-Kindereinrichtungen haben, folglich<br />

hat man aus mancher „Krabbel-Babbel-Gruppe“ eine<br />

durchaus ansehnliche mittelstandsorientierte Mütterzentrums-Bewegung<br />

gemacht. Alle diese Beispiele sind Echo<br />

auf ein Stück Veränderung der Lebenswelt.<br />

Mir geht es darum, dass wir uns gelegentlich klar machen,<br />

dass sich jede Institutionalisierung aus geschichtlichen<br />

sozialen Quellen speist und nach Lösungen sucht. Bürgerzentren,<br />

Bürgerhäuser und Stadtteilzentren sind ziemlich<br />

genau in der Zeit entstanden, in der in den Großstädten<br />

Legitimationsprobleme entstanden, weil die Städte nicht<br />

mehr Heimat im klassischen Sinne waren, sondern in Kieze<br />

zerfielen. Es musste eine Art Renaturierung des Stadtteilbewusstseins<br />

passieren, weil sonst alle weggezogen<br />

wären.<br />

Dann die Entwicklung hin zu den ganzen Quartiersmanagement-Geschichten,<br />

also Soziale Stadt, Verwahrlosung von<br />

Stadtteilen, Renaturierung der Stadt. Dies alles waren Bewegungen<br />

etwa der Neubebauungen oder der Konversion,<br />

Rückentwicklung von Mietskasernen zu gemeinschaftsorientierten<br />

Wohnbauprojekten.<br />

Es ist wichtig, dass wir hier nicht nur über heruntergekommene<br />

Stadtteile reden, sondern auch über das Dilemma,<br />

wenn Stadtentwicklung eruptiv verläuft und nicht mehr,<br />

wie in Deutschland 30 Jahre lang üblich, permanent in die<br />

Höhe. Das ist ein wichtiger Punkt, denn wir alle schauen<br />

erschreckt in den Osten mit Rückbau der Städte. In anderen<br />

Ländern ist das Auf und Ab der Städte ein bisschen<br />

vertrauter, während es in Deutschland ein völlig neuer<br />

Lernprozess ist, Städte auch zurückzubauen. Entsprechend<br />

heißt so auch ein Programm. Das hat viele Folgen,<br />

nicht nur von der technischen Seite her, sondern vor allem<br />

für den Menschen.<br />

Ein weiterer wichtiger Punkt ist dann die ganze Entwicklung<br />

im Bereich der Senioren. Es gibt Seniorenbüros, Seniorentreffpunkte,<br />

die ständige Wiederkehr des Problems,<br />

dass die goldenen Herbste gar nicht so golden sind. Es besteht<br />

nach wie vor die Frage, wie man den demografischen<br />

Wandel und das Älterwerden organisiert.<br />

Und jetzt hängen zum Teil Seniorenbüros rum, die überhaupt<br />

nichts mit dem Rest der Gesellschaft zu tun haben.<br />

Auch wieder blanker Blödsinn. Gemerkt hat diesen Unsinn<br />

zunächst eine Seniorengruppe selber, nämlich dass sich


Senioren letztendlich nur gewinnen lassen, wenn auch<br />

jüngere Generation mit dabei sind. Reine Seniorenansätze<br />

sind nach meiner Überzeugung in Deutschland nicht<br />

erfolgreich, sie müssein einen intergenerativen Aspekt<br />

haben.<br />

Ein weiterer wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang<br />

die ganze Pflegeentwicklung, Sozialstations- und<br />

Pflegestützpunkte. Die Pflegestützpunkte, die jetzt auch<br />

Berlin beglücken und andere Regionen beglücken sollen,<br />

weil sie in der Pflegereform vorgesehen sind, schaffen im<br />

schlimmsten Fall wieder ein eigenes Zentrum.<br />

Und zum Schluss will ich den Bereich Schule anführen.<br />

In einigen Ländern wagt plötzlich Schule von sich aus zu<br />

behaupten, sie sei vielleicht ein Nachbarschaftszentrum.<br />

Ich sage das mit einem süffisanten Unterton, weil ich von<br />

der bayerischen Kultuspolitik geprägt bin. Die würde wahrscheinlich<br />

behaupten, dass der Stadtteil zur Schule zu<br />

gehen hat und nicht umgekehrt die Schule zur Nachbarschaft.<br />

In Gebieten, die baden-württembergisch geprägt<br />

sind, ist es so: Die Öffnung einer Schule bedeutet, dass<br />

jedermann in der Schule was tun kann. Die Reaktion von<br />

80 % des Straßenpublikums in Augsburg bei einer Kampagne<br />

vor drei Jahren war: Dann wird dort meinem Sohn<br />

der Schulranzen geklaut. Öffnung heißt: das Auto ist nicht<br />

abgeschlossen, Öffnung heißt, die Schule ist nicht gesichert.<br />

Und dann hilft uns Berlin mit so was wie der Rütli-Schule,<br />

die Diskussion heftig anzukurbeln. Mit der Folge, dass sich<br />

alle unter Maschinengewehrbefeuerung in den Schulen<br />

sehen und eine Absicherung durch Polizeidienst diskutiert<br />

wird. Das ist eine schwierige Diskussion, die ich trotzdem<br />

für ganz wichtig halte, weil ein ganz banaler Tatbestand<br />

gilt: im Unterschied zu allen anderen neun Bereichen, ist<br />

die Schule die einzige Pflichtinstitution. Das ist eine Riesenchance<br />

in einer offenen Demokratie. Das heißt also, da<br />

muss jemand hingehen. Je länger wir aber die Diskussion<br />

darüber vor uns herschieben, um so mehr zerfasert sie.<br />

Deshalb halte ich die paritätische Diskussion in Berlin zur<br />

Bürgerschule für sehr spannend.<br />

Der Staat wiederum kann auf die aufbrechenden sozialen<br />

Konflikte nicht beliebig mit Sozialstaatshilfen reagieren.<br />

Also die beste Integration für Türken kann Geld kosten so<br />

viel sie will, sie schafft mit keinem Betrag der Welt Toleranz<br />

in der Gesellschaft, weil Toleranz nicht käuflich ist.<br />

Demenz, Nachbarschaft, Solidarität im Alter, das alles ist<br />

nicht käuflich. Ich kann in 100.000 Ärzte investieren, das<br />

macht die Nachbarschaft nicht toleranter gegenüber Demenzkranken.<br />

Ich will nur andeuten, das Bewusstsein ist<br />

gestiegen, dass in den unterschiedlichen Lebensfeldern<br />

immer mehr Themen nicht mit den alten Herangehensweisen<br />

lösbar sind.<br />

Mit wertschätzender Haltung kann man einiges erreichen.<br />

Ich habe ein konkretes Beispiel aus Augsburg: Wir<br />

haben bei den Migranten festgestellt, dass bei der Drogenberatung,<br />

Suchtberatung und in vielen anderen Beratungen<br />

die Türken völlig unterrepräsentiert sind. Die Frage<br />

ist, wie können wir das ändern? Die typische Antwort<br />

eines deutschen Sozialarbeiters: Den Flyer ins Türkische<br />

übersetzen. Ich sage Ihnen: das lohnt nicht, lassen Sie<br />

es. Die Frage ist aber, wie ich in einer bestimmten Lebenswelt<br />

Multiplikatoren erreichen kann, die das Vertrauen<br />

zu der Beratungsstelle haben. Und die begreifen,<br />

dass auch der Drogenkonsum eines Mädchens aus einer<br />

türkischen Familie behandelt werden kann, wenn man<br />

es geschickt einfädelt. Wird es nicht eingefädelt, ist der<br />

Vorgang der Beratung für<br />

die Familie ein Showdown<br />

erster Ordnung, sie desavouiert<br />

die türkische Familie<br />

in Grund und Boden und<br />

man isoliert die Familie von<br />

ihrer Community. Die beste<br />

Beratungsstelle mit einem<br />

Psychologen deutscher Prägung<br />

kapiert das überhaupt<br />

nicht, weil er sagt, dass er<br />

die Methodik hat und sich<br />

die Familie vertrauensvoll<br />

an ihn wenden soll. Aber<br />

dass allein dieser Gang zur<br />

Beratungsstelle für eine türkische<br />

Familie das Ende der Integration ist, das ist eine<br />

Katastrophe. Es braucht hier Methoden, die darauf reagieren.<br />

Wenn wir diesen Irrweg der Verfächerung been-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 99


100<br />

Workshop Schaut Euch diese Typen an<br />

Schaut Euch diese Typen an<br />

den wollen, der immer auch Reaktion auf Grenzen der<br />

Stadtplanung, Grenzen der Medizin ist, wenn wir wirklich<br />

integrieren wollen, müssen wir ein Stück weit deinstitutionalisieren.<br />

Deinstitutionalisierung heißt nicht Auflösung<br />

oder Abschaffung der Instituionen.<br />

Ich meine, dass die jeweiligen Institutionen wieder überlegen<br />

müssen, was eigentlich ihr Kerngeschäft ist, was<br />

ist die Leitidee. Da hätte ich jetzt gerne die Kollegin des<br />

Mütterzentrums kritisch gefragt: Wenn ein Mütterzentrum<br />

plötzlich immer mehr Aufgaben bekommt und sich des Armutsproblems<br />

entledigt, indem es den Besuchern sagt:<br />

Man kann bei der „Tafel“ ein kostenloses Essen bekommen,<br />

halte ich das für keine systematisch gute Lösung.<br />

Und zwar deshalb, weil das Mütterzentrum auf die Art<br />

nicht konsequent deinstitutionalisiert. Weil man sich vor<br />

der Einsicht verschließt, dass so ein Tafelessen diese Familien<br />

auf Dauer nur abhängig macht. Es lässt sie nicht<br />

selber kochen, lässt sie nicht mit dem Geld selber wirtschaften.<br />

Und es bringt auch nicht alternativ zustande,<br />

dass fünf Sozialhilfeempfänger sich zusammentun und<br />

gemeinsam kochen. Alle Formen der Selbsthilfe fallen<br />

mit solchen Hilfsangeboten weg. Wir müssen es schaffen,<br />

solche auf Dauer angelegten Standardlösungen von Problemen<br />

zu hinterfragen.<br />

Bei Schulen zum Beispiel. Wir wollen doch nicht die<br />

Schule infrage stellen, aber wir wollen die Kernfrage wieder<br />

stellen, nämlich was muss man eigentlich in dieser<br />

Gesellschaft lernen? Die entscheidenden Dinge lerne<br />

ich als Jugendlicher sowieso nicht mehr in der Schule,<br />

die lerne ich aus dem Fernsehen, aus dem Internet, von<br />

Freunden, die lerne ich überall, nur nicht in der Schule.<br />

Wie kriegen wir es also hin, dass wieder gelernt wird?<br />

Dann übernimmt Schule einen Teil, die Familie einen<br />

Teil, der Verein einen Teil, Nachbarschaft einen Teil,<br />

usw. Dann sind wir dort, wo wir konzeptionell gerne sein<br />

wollen. Ich wage zu behaupten, bei den Schulen beginnen<br />

wir die Diskussionen erst. Die Lehrer bzw. die GEW<br />

reagieren hysterisch, wenn wir sagen, dass wir Freiwillige<br />

am Unterricht beteiligen. Wir beteiligen systematisch<br />

die Bürgerschaft, und zwar Betroffene, Nachbarn und andere,<br />

die am Produktionsprozess Schule Anteil haben.<br />

Im dritten Feld, dem Pflegebereich, muss jetzt zügig die<br />

Diskussion geführt werden, nicht weitere Stützpunkte geschaffen<br />

werden. Eine wichtige Arbeitsgruppe diskutiert<br />

gerade, keine neuen Pflegestützpunkte aufzumachen,<br />

sondern die vorhandenen im Nachbarschaftsbereich<br />

zu integrieren. In den Verhandlungen haben wir einen<br />

harten Partner, der ist härter als der Staat, das sind die<br />

Kassen und Versicherungen. Die Kassen und Versicherungen<br />

wollen Einzelfallbewertungen haben. Warum<br />

nicht? Aber dann muss man über Erfolg reden. Was ist<br />

ein Erfolg? Das ist schon eine spannende Frage.<br />

Ich will deutlich machen, dass ich mit Ihnen der Meinung<br />

bin, dass wir quartiersbezogen denken müssen.<br />

Aber wenn wir nicht nur auf mittelstandsbeseelten Menschen<br />

sitzen bleiben wollen, sondern tatsächlich des<br />

Lebens ganze Vielfalt und die Eigenverantwortung und<br />

Solidarität im Blick haben, das bürgerschaftliche und<br />

zivilgesellschaftliche Denken, dann muss ich das Quartier<br />

als Mittel zum Zweck nutzen, nicht als Selbstzweck.<br />

Das Quartier ist das Mittel, um letztlich Lebensfragen zu<br />

lösen: das Ältersein, Jüngersein, miteinander klarkommen,<br />

das Leben bewältigen, auch mit Arbeitslosigkeit<br />

oder Krankheit oder sonstigem klarzukommen.<br />

Entsprechend ergeben sich hier Anforderungen, die jetzt<br />

den Rahmen sprengen, aber ich deute an: Wir müssen<br />

viel mehr über die Milieus in dieser Gesellschaft wissen,<br />

weil sich Mittelstandmilieus und Arbeitermilieus unterschiedlich<br />

verhalten. In Kaiserslautern muss ich mit der<br />

klassischen Arbeiterwohlfahrt daherkommen, die den<br />

Seniorenkreis machen, das ist die Form, die sie verstehen<br />

und akzeptieren. Wenn dort jemand nicht zum Geburtstag<br />

kommt, dann wird nachgeschaut, ob er krank<br />

ist. So beginnt deren Form von Selbsthilfe. Ein anderes<br />

Milieu geht völlig anders vor und findet sich vielleicht nur<br />

über ein Senioren-Theaterprojekt. Während eine dritte<br />

Gruppe vielleicht nur die ultimative Alten-WG fordert. Jemand<br />

anders wiederum meint, es müsse vor allem die<br />

Betreuung in der Nachbarschaft gewährleistet sein, weil<br />

da im 4. Stock die Blumen gegossen werden müssen.<br />

Wir brauchen milieuorientierte, auf Lebensfelder und<br />

Eigenverantwortung orientierte Bürgerschaftskonzepte,<br />

die zusammenpassen müssen mit den staatlichen Konzepten<br />

von Fallmanagement und Budgets. Das ist die


Aufgabe, vor der wir stehen, nicht vor der Frage der Zusammenfassung<br />

der Institutionen.<br />

Das bewusst zu organisieren, ist nichts anderes als „modern<br />

community organizing“. Eine deutsche Antwort auf<br />

Organizing: wir organisieren die Betroffenen, wir organisieren<br />

die Freiwilligen, wir organisieren die Fachkräfte. Und<br />

zwar nicht gegeneinander, sondern dass sie auf Augenhöhe<br />

bzw. als Partner miteinander kooperieren, weil sonst in<br />

allen Debatten immer nur die Fachkräfte reden. Auf Dauer<br />

schadet das auch den Fachkräften.<br />

TN: Eine Nachfrage zur Deinstitutionalisierung. Meinen<br />

Sie damit, dass wir nicht so sehr fragen sollten, wer macht<br />

was auf welche Weise, sondern erst die Frage nach dem<br />

Ziel stellen müssen?<br />

Konrad Hummel: Ja, es ist genau richtig, dass diese typisch<br />

deutsche Frage, wer macht was wann wie, nach<br />

meiner Vorstellung frühestens an vierter Stelle käme. An<br />

erster Stelle kommt die Frage: Was ist Euer Kerngeschäft?<br />

Was ist das Kerngeschäft des Mütterzentrums? Etwa die<br />

Arbeit der Stadt Braunschweig zu minimieren – oder was?<br />

Das Kerngeschäft ist Mütter zu mobilisieren, damit sie selber<br />

ihre Probleme lösen, das ist das Kerngeschäft. Jeder<br />

hat ein Kerngeschäft.<br />

Deinstitutionalisieren hat damit zu tun, dass ich präzise<br />

zurückfrage, gerade im Hinblick auf die Eigenverantwortung<br />

und Solidarität der Betroffenen. Man kann der Stadt<br />

oder wem auch immer durchaus sagen: So wie ihr euch<br />

das vorstellt, können wir es nicht lösen. Unabhängig vom<br />

Geld, auch mit mehr Geld nicht.<br />

Mit anderen Worten: Wir müssen immer wieder die Frage<br />

stellen: Um was geht es jetzt gerade? Danach erst geht es<br />

um die Frage: Sind das die richtigen Formen und Partner<br />

und Akteure? Habe ich alle Akteure dabei?<br />

Mein Lieblingsbeispiel: Sprachintegration junger Migranten.<br />

Die deutsche Antwort heißt: Mehr Geld für deutsche<br />

Lehrer, die Kinder in Deutsch unterrichten. Eigentlich<br />

Blödsinn. Wer konsequent denkt, muss zunächst die Frage<br />

nach dem Kerngeschäft der Integration junger Migrantenkinder<br />

stellen. Die muss über die Eltern laufen. Wenn<br />

ein deutscher Lehrer ein Kind beschult, während die Mutter<br />

daheim Null Deutsch spricht, dann treibt das Kind in<br />

die Situation, dass es immer besser deutsch spricht, aber<br />

daheim sich niemand dafür interessiert. Also muss ich<br />

die türkische Mutter mit auf den Weg nehmen. Typische<br />

deutsche, verfehlte Antwort: Die Volkshochschule macht<br />

Deutschkurse für türkische Mütter.<br />

Wir haben inzwischen 500 Stadtteilmütter in Augsburg<br />

mobilisiert, die die Zweisprachigkeit in verschiedenen<br />

Sprachen organisieren. Wenn aber die daraus resultierende<br />

Dynamik richtig verstanden wird, lässt das die Männer<br />

nicht kalt, das lässt die gesamte Familie nicht kalt. Es<br />

können Eifersuchtsdramen in den Familien auftauchen,<br />

weil sich die türkischen Frauen emanzipieren. Da können<br />

plötzlich auch Migranten-Männer zu Partnern werden, usw.<br />

Das wäre alles nicht zustande gekommen, wenn deutsche<br />

Lehrer die Kinder in Deutsch unterrichtet hätten.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 101


Workshop<br />

Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

Zum Verhältnis von familiärer und „öffentlicher“ Erziehung<br />

„Von der Leyen wird immer umstrittener. (...) 500.000<br />

neue Betreuungsplätze geplant. Die siebenfache Mutter<br />

will bis zum Jahre 2013 500.000 neue Betreuungsplätze<br />

für Kinder unter 3 Jahren schaffen.und bekam dafür<br />

am Montag vom CDU-Parteipräsidium unter Führung<br />

von Angela Merkel Rückhalt. Nach der Sitzung hielt allerdings<br />

der Unmut in Teilen der Union. Die Kritiker aus<br />

dem konservativen Flügel fürchten um eins der wichtigsten<br />

Merkmale der Unionsparteien, das traditionelle<br />

Familienbild mit berufstätigem Vater und Hausfrau, die<br />

sich um die Kindererziehung kümmert. (...) Der CSU-<br />

Politiker Ramsauer sagte dem ‚Münchner Merkur‘ vom<br />

Donnerstag: ‚Viele in der Union betrachten so manche<br />

Vorstellungen der Ministerin nicht als ihre Familienpolitik.‘<br />

Der Vorschlag von der Leyens bedeute, dass die<br />

außerfamiliäre Betreuung von Kindern zum alleinigem<br />

Leitbild würde. Bayerns Landtagspräsident Alois Glück<br />

(CSU) warnte die Schwesterpartei davor, berufstätige<br />

Eltern zu bevorzugen. ‚Der Eindruck ist momentan jedenfalls<br />

mit der Politik der Bundesfamilienministerin<br />

verbunden, und das kann nicht unsere Position sein‘,<br />

bemängelte Glück im Deutschlandfunk. Die Familienpolitik<br />

dürfe nicht zur Unterabteilung der Arbeitsmarktpolitik<br />

werden.“<br />

Focus online vom 14.02.07<br />

Input:<br />

Dr. Dagmar Voelker<br />

(Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Leipzig)<br />

„Frühe Kindheitserfahrungen und ihr Einfluss auf die<br />

Persönlichkeitsbildung - Erkenntnisse aus einer<br />

aktuellen Studie zur Krippenerziehung in der DDR“<br />

Moderation:<br />

Petra Sperling<br />

Petra Sperling: Zum Einstieg drei Zitate, die deutlich machen,<br />

wie heiß umstritten die Fragen sind, mit denen wir<br />

uns in diesem Workshop beschäftigen wollen:<br />

Krippenkinder gehen öfter auf das Gymnasium<br />

ura. FRANKFURT, 3. März. Kinder, die eine Krippe besuchen,<br />

gehen später mit höherer Wahrscheinlichkeit auf<br />

das Gymnasium als solche, die bis zum Alter von drei Jahren<br />

zu Hause betreut wurden. Zu diesem Schluss kommt<br />

eine am Montag veröffentlichte Studie der Bertelsmann-<br />

Stiftung, die die Bildungsverläufe von 1000 Kindern der<br />

Jahrgänge 1990 bis 1995 untersuchte. Der positive Effekt<br />

auf den Bildungsweg mache sich vor allem bei Kindern,<br />

deren Eltern einen Hauptschulabschluss haben,<br />

sowie bei Einwandererkindern bemerkbar. So steige die<br />

Wahrscheinlichkeit, das Gymnasium zu besuchen, für<br />

die erste Gruppe um 83 Prozent, für die zweite um 56<br />

Prozent. 16 Prozent der untersuchten Kinder besuchten<br />

eine Krippe, die meisten erst im Alter von zwei Jahren und<br />

zwei Drittel von ihnen halbtags. Von den Krippenkindern<br />

besuchte jedes zweite später das Gymnasium, von den<br />

zu Hause betreuten 36 Prozent. Weil das Lebenseinkommen<br />

eines Gymnasiasten höher als das eines schlechter<br />

Ausgebildeten sei, entstehe langfristig ein durchschnittlicher<br />

„Netto-Nutzen“ von 13 616 Euro je Kind, das eine<br />

Krippe besuche. Die Kosten eines Krippenplatzes würden<br />

so mehr als wettgemacht, argumentieren die Verfasser.<br />

Nach ihren Berechnungen hätte es zudem einen<br />

volkswirtschaftlichen Nutzen von 2,1 Milliarden Euro je<br />

Geburtsjahrgang bedeutet, wenn 35 Prozent der Kinder<br />

eines Jahrgangs eine Krippe besucht hätten. Diese Quote<br />

strebt Familienministerin von der Leyen (CDU) mit dem<br />

Ausbau der Krippenplätze an.<br />

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Sonntagszeitung vom 4.3.2008, Seite 5


Dagegen steht die These einer defizitären Entwicklung und<br />

eines höheren Kriminalitätsrisikos bei Krippenkindern:<br />

Entwicklung, höheres Kriminalitätsrisiko<br />

Aus der Rezension zu einem Buch von Wolfang de Boor<br />

„Kinderkriminalität, Chancen einer grundlegenden Prävention“<br />

„Die Urangst des Kleinkindes wird durch die ständige Nähe<br />

der primären Bezugsperson beschwichtigt. So entsteht<br />

Urvertrauen. Es ermöglicht freundliche Empfindungen<br />

gegenüber anderen Menschen, führt zu sozialen Beziehungen<br />

und verhindert brutales, aggressives Verhalten.<br />

Als kontinuierliche primäre Bezugsperson sieht de Boor<br />

idealerweise die Mutter; doch kann sie auch durch eine<br />

andere Person ersetzt werden.<br />

Die „Kinderkrippenkultur“ der früheren DDR sieht der<br />

Autor äußerst kritisch: „Frühmorgens wurden Säuglinge<br />

und Kleinkinder aus dem Schlaf gerissen, verpackt und in<br />

Säuglingsheimen oder Kinderkrippen abgeliefert. Abends<br />

holte man sie wieder ab. Aber Vater und Mutter waren<br />

erschöpft. Für die Kinder blieben nur Reste an Zeit und<br />

Kraft. Die Folgen der emotionalen Vernachlässigung - als<br />

frühkindliche Deprivation bezeichnet - wurden v. a. von Autoren<br />

aus den einstmals sozialistischen Ländern beschrieben.“<br />

De Boors Schlussfolgerung: Die Mutter leiste mit ihrem<br />

Engagement die grundlegende Kriminalprävention. Weder<br />

Krippe, noch Kindergarten, Schule oder andere öffentliche<br />

Einrichtungen seien in der Lage, die Mutter zu ersetzen.“<br />

Newsletter 10/2007 (Austrocare)<br />

Dagmar Voelker: Der ausgedruckte Titel des Workshops<br />

lautet: „ Nachttöpfe und Menschwerdung – zum Verhältnis<br />

von familiärer und öffentlicher Erziehung“ - „Frühe Kindheitserfahrungen<br />

und ihr Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung<br />

– Erkenntnisse aus einer aktuellen Studie zur Krippenerziehung<br />

in der DDR“ – eigentlich müsste es heißen:<br />

„Was bedeutet frühe Fremdbetreuung in der Entwicklung<br />

eines Menschen“ – und was die DDR betrifft, hätten wir<br />

unserer Studie lieber den Titel gegeben: „Es war halt so“.<br />

Vielleicht lässt sich durch die Betrachtung schwieriger<br />

Fremdbetreuungsarrangements, wie sie in der DDR mit<br />

fast flächendeckender Krippenerziehung der Säuglinge<br />

und Kleinkinder , strengen Erziehungsplänen, kaum Elternbeteiligung<br />

in der Krippenerziehung, keine Eingewöhnungszeiten<br />

- praktiziert wurden, besonders viel lernen<br />

für die angestrebte Krippenpraxis der Jetztzeit. Unserer<br />

Familienministerin hat bis 2013 ein umfassendes Recht<br />

der bis dahin geborenen Kinder auf einen Krippenplatz<br />

in Aussicht gestellt. Das bedeutet die Ausbildung von ca.<br />

70 – 90000 Krippenerzieherinnen bis dahin, und bis jetzt<br />

gibt es noch keine detaillierten Vorstellungen darüber, wie<br />

diese ausgewählt und ausgebildet werden sollten, damit<br />

diese Riesenaufgabe gelingen kann.<br />

In der DDR gab es bis 1989 das dichteste Netz von Kinderkrippen<br />

in Europa. 80 % aller 0-3jährigen hatten einen<br />

Krippenplatz, es gab 7707 Einrichtungen mit 348 058<br />

Plätzen. Die Altersgrenze der Krippenaufnahme verschob<br />

sich im Lauf der Jahre seit 1950 erheblich nach oben, auch<br />

die Zahl der Wochenkrippen nahm ab 1970 ab. Seit 1976<br />

gab es das „Babyjahr“ mit bezahlter Freistellung eines Elternteils<br />

von der Arbeit, so dass ab dieser Zeit die Kinder<br />

seltener unter 1 Jahr in der Krippe aufgenommen wurden.<br />

Die Krippen unterstanden dem Gesundheitsministerium<br />

und die Mitarbeiterinnen hatten eine pflegerische oder<br />

pädagogische Ausbildung als Kinderkrankenschwester<br />

oder Krippenerzieherin.<br />

In den Haltungen zum Kind wurde dabei von einem Defizitmodell<br />

ausgegangen: Kinder sind werdende Erwachsene<br />

– alles, was sie noch nicht wissen und können, wird als<br />

Mangel verstanden. Außerdem wären Kinder grenzenlos<br />

formbar – das ist das „Tabula rasa – Modell“, sie sind leer<br />

und müssen gefüllt werden. Zuletzt ging man von einem<br />

Kollektivierungsmodell aus: Kinder haben sich ein angepasstes,<br />

rational bewusstes und gesellschaftsverpflichtendes<br />

Verhalten anzueignen. Diese Umsetzung erfolgte<br />

über ein einheitliches Erziehungsprogramm. Man war der<br />

Überzeugung, nur durch die Lenkung eines Erwachsenen<br />

kann sich ein Kind entwickeln. Deshalb sollten die Kinder<br />

auch so früh wie möglich in die Krippe aufgenommen werden,<br />

um früh mit der Prägung der Kinder zu sozialistischen<br />

Persönlichkeiten zu beginnen.<br />

2004 fanden wir sechs analytisch arbeitende Kollegen<br />

uns zusammen, um ein Forschungsprojekt zu den Folgen<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 103


104<br />

Workshop Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

früher Trennungen von den Hauptbezugspersonen durch<br />

Krippenerziehung in der DDR zu gestalten. Diese Arbeit<br />

war etwa 2000 geplant worden und wurde von der Stiftung<br />

zur Aufarbeitung der DDR – Diktatur unterstützt. Das Thema<br />

wurde also lange bevor die Problematik früher Fremdbetreuung<br />

durch die Medien sehr kontrovers diskutiert<br />

und hoch emotional aufgeladen wurde, aufgenommen.<br />

Wir wurden sozusagen durch die Tagespolitik eingeholt,<br />

die uns auch anregte und den Blick für die Notwendigkeit<br />

der „Vergangenheitsbewältigung“ schärfte. Wir haben viel<br />

Zeit und Engagement in diese Arbeit gesteckt, die neben<br />

der Neugier des Entdeckens auch durch den unterschwelligen<br />

Wunsch, ein Stück unserer eigenen DDR - Lebensgeschichte<br />

zu bearbeiten, motiviert war.<br />

Wir waren fünf Frauen und ein Mann, vier Frauen kannten<br />

sich schon seit dem Studium und hatten eine DDR<br />

- Vergangenheit, eine westdeutsche Kollegin hatte Forschungserfahrungen<br />

und einen Außenblick für unser Vorgehen.<br />

Wir interviewten 18 Frauen und 2 Männer zu ihren<br />

Krippenerfahrungen und der anschließenden Lebensgeschichte.<br />

Die Teilnehmer waren zwischen 1968 und 75<br />

geboren und hatten selbst Kinder, die sie in Kindereinrichtungen<br />

abgegeben hatten, diese Erfahrung also auch<br />

als Eltern erlebt hatten. Wir gewannen die Interviewten<br />

teils durch Aushänge im Kindergarten, teils durch persönliche<br />

Vermittlung und machten mit ihnen ein einmaliges,<br />

mit Tonband aufgezeichnetes Interview, das später transskibiert<br />

und erst von jedem einzeln, dann in der Gruppe<br />

ausgewertet wurde. In unseren Köpfen half beim Interview<br />

ein erarbeiteter Leitfaden, die Erzählungen bestimmter<br />

Themenbereiche zu Krippenerfahrung, zu den familiären<br />

Bedingungen und der weiteren Entwicklung bis zur Elternschaft<br />

zu erfassen, während wir die Teilnehmer zunächst<br />

aufforderten, frei zu erzählen und unsere Aufmerksamkeit<br />

zwischen dem Erzähltem und den in uns ausgelösten<br />

Gefühlen hin und her ging.<br />

In der Gruppenauswertung entwickelten wir dann verschiedene<br />

Perspektiven für die Auswertung, von denen<br />

ich nur einige nennen will: Motive für die Teilnahme und<br />

die Interaktion mit dem Interviewer, die Lebensumstände<br />

der Eltern, die Gründe für die Krippenabgabe der Kinder,<br />

Auswirkungen der Trennungserfahrung auf die psychische<br />

und körperliche Gesundheit, das Erleben der Adoleszenz<br />

und der Wende, die Reaktualisierung früher Trennungserfahrungen<br />

bei der eigenen Elternschaft, der Einfluß der<br />

Krippenbetreuung auf die Erziehung der eigenen Kinder<br />

und Überlegungen zur transgenerationalen Weitergabe<br />

von Lebens- und Verhaltensmustern.<br />

Beim Anhören dieser Lebensgeschichten stieg sehr viel<br />

DDR – Atmosphäre mit ihrer Enge und Angepasstheit auf.<br />

Wir empfanden oft tiefe Trauer über die Sprachlosigkeit<br />

der frühen schmerzlichen Erfahrungen und die stillschweigende<br />

Angepasstheit der Interviewten. Wir wollten ihnen<br />

durch diese Untersuchung eine Sprache verleihen, damit<br />

diese Erfahrungen nicht ungehört verschwinden. Wir hatten<br />

selber keine Krippe besucht, als junge Eltern ebenfalls<br />

Beruf und Kinderbetreuung vereinen wollen und für unsere<br />

Kinder verschiedene, individuelle Lösungen – teils<br />

mit Krippe, teils mit anderen Ressourcen gefunden und<br />

fanden die staatlich protegierte Krippenerziehung in der<br />

DDR schon damals sehr problematisch. Von den Interviews<br />

waren wir meist sehr betroffen. Besonders dann,<br />

wenn wir spürten, dass es wenig Gefühl für die eigenen<br />

Lebensgeschichte und auch wenig Nachdenken über das<br />

eigene Leben gab. Bemerkungen, wie „Das war halt so“<br />

oder „ das hat mir doch nicht geschadet“, „das haben<br />

alle so gemacht“ kamen sehr häufig und wurden wie eine<br />

Fahne hochgehalten.<br />

Dadurch, dass eigene sprachliche Erinnerungen für die<br />

frühe Krippenzeit nicht verfügbar sind, waren wir auf unser<br />

analytisches Instrumentarium an genauem Erfassen,<br />

was zwischen Interviewer und Interviewtem passiert,<br />

angewiesen. Es war eine Situation zwischen zwei Unbekannten<br />

in verschiedenen Rollen: die eine Person war eingestimmt<br />

und aufgefordert, über ihr Leben zu erzählen,<br />

die andere hatte das im Interview Erlebte aufzunehmen,<br />

ihren Gefühle nachzuspüren, es vom eigenen Hintergrund<br />

abzugrenzen und das Aufgenommene kritisch zu verarbeiten.<br />

In dieser Szene spiegelt sich etwas vom Abgegebenwerden<br />

in eine unbekannte Situation wider, die vielleicht<br />

etwas mit dem existentiellen Erleben der Frühtrennung zu<br />

tun hat. Zum Beispiel zeigte es sich, dass die Teilnehmer,<br />

die bis zu einem Vierteljahr in die Krippe abgegeben wurden,<br />

einem höheren Grad an Anpassung und Identifikati-


on mit dem Interviewer aufwiesen als später abgegebene.<br />

Die Gegenübertragungsgefühle in der Auswertungsgruppe<br />

waren hier durchweg heftiger bei den früh abgegebenen<br />

Kindern. Es gab tiefe Berührung, Trauer und Mitgefühl,<br />

angestrengte Spannung und Unruhe bis zu Angst, auch<br />

Ärger, aber kaum Distanz. Der Trennungszeitpunkt in der<br />

Früherfahrung unserer Interviewten spielte also eine erhebliche<br />

Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung unserer<br />

Interviewten, die ja auch keine Eingewöhnungszeiten in die<br />

Krippen hatten und meist 8-9 Stunden dort untergebracht<br />

waren. Es ist daher anzunehmen, dass die Bewältigungsstrategien<br />

der früh abgegebenen Kinder deshalb eher zu<br />

Identifikation uns Anpassung mit den Autoritäten führten.<br />

Versorgungswünsche wurden als aussichtslos eher verborgen<br />

als bei den später abgegebenen, bei denen der<br />

latente Protest viel deutlicher war. Sie können sich vorstellen,<br />

dass sich solche Erfahrungen, die zu Haltungen in der<br />

Persönlichkeitsentwicklung führen, sehr deutlich selbst in<br />

dem kleinen Ausschnitt eines Interviews über das eigene<br />

Leben zeigen.<br />

Was ist nun herausgekommen aus unserer Studie?<br />

1) Die Ergebnisse unserer Untersuchung von Erfahrungen<br />

in den DDR – Kinderkrippen sind spezifisch und lassen<br />

sich nicht ohne weiteres auf die aktuelle Krippenbetreuung<br />

übertragen. Eine Pauschalverurteilung der DDR – Krippen<br />

wird der Realität nicht gerecht. Es gab große Krippen mit<br />

sehr unpersönlich, rigidem Umgang mit den Kindern und<br />

kleine, ländliche oder Betriebskrippen mit kleinen Gruppen<br />

und konstantem Personal, gutem Kontakt zwischen<br />

Eltern und Erzieherinnen. Hier konnten auch familiäre Defizite<br />

ausgeglichen werden ( in der DDR gab es oft sehr<br />

junge Eltern, oft ungefestigt, überfordert)<br />

2) De Eltern – Kindbeziehung und die Einstellung der Eltern<br />

zur Fremdbetreuung ist entscheidend dafür, wie sich<br />

eine frühe Fremdbetreuung in der Krippe auf das Kind<br />

auswirkt. In der DDR erfolgte die Fremdbetreuung meist<br />

aus staatlichen Vorgaben, die Familie hatte kaum Mitspracherechte,<br />

was zu großen Belastungen der Kinder und Eltern<br />

führte. Aber es gab auch gegenteilige Erfahrungen.<br />

3) Die Qualität der Beziehung zwischen Krippenerzieherin<br />

und Kind ist ebenso von Bedeutung. In den Interviews haben<br />

wir viel von vereinnamenden Zwängen gehört – Mittagsschlaf,<br />

Aufessen, nicht sprechen dürfen – es wurde<br />

deutlich, wie wichtig ausgewogene, auf die Individualität<br />

des Kindes abgestimmte, dyadische Beziehungen zwischen<br />

Erzieherin und Kind sind, die nur eine Betreuungsschlüssel<br />

von 1: 3 oder 1:4 möglich machen. Ebenso gehört<br />

eine gute und enge Elternarbeit zu dieser Qualität.<br />

4) Die meisten Interviewpartner beschrieben die Krippenerfahrung<br />

positiv, gaben ihre eigenen Kinder erst viel später,<br />

nämlich 14,5 Monate später in eine Einrichtung und<br />

zwar mit einer ausreichenden Eingewöhnungszeit. Dies<br />

geschah einerseits aus Einsicht, andererseits war es eine<br />

Anpassungsreaktion an die veränderten Verhältnisse.<br />

5) Der Zeitpunkt der Krippenaufnahme muss besonders<br />

sorgfältig bedacht werden. Dabei haben wir festgestellt,<br />

dass bei unseren Teilnehmern die sehr frühe Krippenaufnahme<br />

ein hohes gesundheitliches Risiko darstellt. Elternzeit<br />

wird meist als Beraubung an der Berufszeit angesehen,<br />

während sie aus Sicht des Kindes eine Beraubung<br />

seiner Zeit mit den Eltern darstellt.<br />

6) Die ärztliche und gesellschaftliche Fürsorge für das Kind<br />

sollte auf die Eltern – Kind –Beziehung erweitert werden.<br />

Der Zeitpunkt der Krippenaufnahme sollte sich nach den<br />

Bedürfnissen von Eltern und Kind richten und nicht nur<br />

nach äußeren Erfordernissen. Eine ausschließliche Familienbetreuung<br />

für ein Kleinkind ist auch oft nicht die Garantie<br />

für eine optimale Entwicklung. Bei einer Entscheidung<br />

für oder gegen eine Krippenbetreuung sollte immer bedacht<br />

werden, welcher individuelle Weg die Eltern – Kind<br />

– Beziehung entlastet und fördert. Hierher gehört auch die<br />

Anerkennung der Väter. In unserer Untersuchung war vor<br />

allem die Abwesenheit der Väter als zusätzlicher Risikofaktor<br />

auffällig. Es sollte also bei der Betreuungsentscheidung<br />

die Bedeutung des Vaters mitbedacht werden und<br />

nach Möglichkeiten gesucht werden, die Familienarbeit<br />

sinnvoll aufzuteilen, ohne die berufliche Entwicklung für<br />

ein Elternteil nachhaltig zu beeinträchtigen.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 105


106<br />

Workshop Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

Was wir diskutieren sollten, sind die Fragen: Welche Werte<br />

wollen wir unseren Jüngsten weitergeben? Wie viel Individualität<br />

und wie viel Kollektiv braucht eine zukunftsfähige<br />

Gesellschaft?<br />

TN: Unsere Erfahrung als Träger einer Kindertagesstätte<br />

in Köln ist, dass Eltern, die ihre Kinder schon sehr früh in<br />

die Einrichtung geben, das meistens aus wirtschaftlichen<br />

Zwängen heraus tun. Allerdings geht es dabei meistens<br />

nicht um eine Ganztagsbetreuung von 8 bis 9 Stunden,<br />

sondern um einige Stunden, also eher halbtags. Wir legen<br />

bei der Aufnahme sehr viel Wert auf die Eingewöhnungszeit.<br />

Ein anderer Aspekt ist, dass es für diese Kinder in der<br />

Regel sehr gut ist, für ein paar Stunden auch einmal aus<br />

einer häuslichen Umgebung herauszukommen, wo man<br />

sich nicht sehr intensiv um sie kümmert.<br />

Petra Sperling: Wir dürfen nicht vergessen, dass es Anfang<br />

der 90er Jahre eine gründliche Neuorientierung in<br />

der Krippenerziehung in Ost und West gegeben hat. Die<br />

Krippen- und Kitaleitungen wurden geschult und es wurde<br />

ihnen der Situationsansatz nahe gelegt. Das heißt: auf die<br />

momentan vorhandenen Bedürfnisse des Kindes zu reagieren,<br />

statt den Tagesablauf starr durchzustrukturieren<br />

– mit Frühstück, Töpchen, Beschäftigung, also eher frei<br />

zu schauen, was liegt an. Das bedeutet auch für das Kind<br />

mehr Freiraum zur Persönlichkeitsentwicklung.<br />

TN: Ein entsprechendes Umdenken hat nicht erst in den<br />

90er Jahren stattgefunden, sondern es hat auch in der<br />

DDR schon Mitte der 80er Jahre begonnen. Das wurde<br />

zwar unterschiedlich umgesetzt, aber es hat nicht erst mit<br />

der Wende begonnen. Es gab sogar ein entsprechendes<br />

offizielles neues Erziehungsprogramm.<br />

TN: Das kann ich so nicht bestätigen. Ich selbst bin Jahrgang<br />

67, komme aus Greifswald. Ich bin selbst nicht in die<br />

Krippe gegangen und hatte deswegen erst im Jahr 2000<br />

mehr mit dem Thema zu tun, als wir uns für unsere 1999<br />

geborene älteste Tochter nach einem Betreuungsplatz umsahen,<br />

also gut 10 Jahre nach der Wende. Ich hatte den<br />

Eindruck, auf einer Zeitreise zu sein. In der ersten Kita,<br />

die wir uns ansahen, sind wir im Treppenhaus einem Plan<br />

begegnet, wo der Tag minutiös durchstrukturiert war mit<br />

Bezeichnungen wie ‚Hygienezeit’ oder so ähnlich, gruselig.<br />

Wir haben dann schließlich eine Einrichtung gefunden, die<br />

Montessori-Pädagogik machen wollte, aber auch da war<br />

es so, dass die Leitung große Schwierigkeiten hatte, den<br />

DDR-geschulten Mitarbeiterinnen die Grundlagen dieses<br />

Konzeptes zu vermitteln. Ich höre das ähnlich nach wie<br />

vor aus dem Kollegenkreis. Dieser Paradigmenwechsel ist<br />

noch nicht richtig angekommen.<br />

Dagmar Voelker: Es braucht offenbar Zeit. Bis sich das<br />

wirklich verändert, das dauert wahrscheinlich mehr als<br />

eine Generation.<br />

TN: Ich glaube, dass hier im Westen etwas ganz Wichtiges<br />

passiert war. Es gab die kritische Auseinandersetzung mit<br />

der öffentlichen Erziehung im Zusammenhang der Studentenbewegung.<br />

Und da hat es eine starke Suche nach<br />

Alternativen gegeben. Dabei wurde auch über die Landesgrenzen<br />

hinaus geguckt und u.a. die Montessori-Pädagogik<br />

entdeckt. Aber das große Erlebnis in den 70er Jahren<br />

in Berlin war Reggio/Emilia in Italien. Wir sind geradezu<br />

nach Reggio gepilgert. In Reggio/Emilia in Norditalien wurde<br />

die öffentliche Erziehung als Alternative zur kirchlichen<br />

Kleinkindpädagogik entwickelt. Ausgangspunkt war hier<br />

ein ganz anderes Menschenbild als in Kindern nur die werdenden<br />

Erwachsenen zu sehen. Kindheit wird vielmehr als<br />

eine Lebensphase mit eigener Bedeutung gesehen. Ich erinnere<br />

an einen Satz wie „Jedes Kind hat 1000 Sprachen“.<br />

Es ging nicht darum, den Kindern etwas auszutreiben,<br />

sondern sie in allem zu fördern, was in ihnen angelegt ist,<br />

alle Sinne zu entfalten und alle Fähigkeiten zu entdecken<br />

und zu entwickeln., auch schon im Krippenalter. Auf dieser<br />

Grundlage sind viele selbständige, meist kleinere Einrichtungen<br />

im Laufe der letzten 30 Jahre entstanden und haben<br />

großen Einfluss auf die Erziehungsdiskussion gehabt.<br />

TN: Ich habe heute in der U-Bahn das Gespräch zweier<br />

Kita-Erzieherinnen mit gehört, die sich über die geplante<br />

Ausweitung des Rechtsanspruches auf einen Kita-Platz<br />

unterhalten haben und dabei vor allem die Befürchtung


hatten, dass dadurch schließlich noch mehr an Arbeit<br />

und Ansprüchen auf sie zukommen würde, wo sie doch<br />

schon jetzt mit allen Anforderungen an Datenerfassung<br />

etc. extrem überfordert seien. Sie machten den Eindruck,<br />

die Kinder in ihrer Einrichtung eher als Belastung<br />

zu empfinden. Das ist bestimmt keine gute Grundlage,<br />

um denen das Gefühl zu vermitteln, geliebt und gewollt<br />

zu sein. Ich komme aus dem Westen – und wenn ich an<br />

meine eigene Kita-Erfahrung zurückdenke, erinnere ich<br />

mich daran, dass vieles ganz schrecklich war. Wenn eins<br />

der Kinder etwas angestellt hatte, mussten sich z.B. alle<br />

anderen in einer Reihe aufstellen und mussten dann SO<br />

machen – und das war im Westen, in Niedersachen. Es<br />

ist nicht alles eine Systemfrage. Im Osten wie im Westen<br />

gab es das eine und das andere, es hängt von den<br />

Menschen ab, die schließlich den Kindern gegenüber<br />

stehen.<br />

Dagmar Voelker: Kein Kind würde sich so eine Institution<br />

wie die Kinderkrippe ausdenken. Aus der Perspektive<br />

des Kindes besteht dafür kein Bedarf. Aber die Frage der<br />

Fremdbetreuung von Kindern ist keine neue Angelegenheit<br />

sondern zieht sich durch die ganze Geschichte der<br />

Menschheit hindurch. Sie hat etwas mit Notwendigkeiten<br />

der Lebensgestaltung von Erwachsenen zu tun. Die Aufgabe<br />

der Krippe besteht vor allem darin, die Trennung von<br />

den eigentlichen Bezugspersonen so gut wie möglich zu<br />

ermöglichen. Trennung bedeutet in jedem Fall Stress. Eine<br />

gute Krippe reduziert den Stress. Es geht nicht darum, keine<br />

Probleme damit zu haben, sondern sie möglichst gut<br />

zu bewältigen.<br />

Petra Sperling: Wichtig ist das Alter, in dem die Trennung<br />

stattfindet. Aus entwicklungspsychologischer Sicht lebt<br />

das Kind bis zum Alter von 3 Jahren in einer symbiotischen<br />

Beziehung zu einer primären Bezugsperson.<br />

Dagmar Voelker: Symbiose würde ich nicht sagen. Zwar<br />

ist es bei jedem Kind verschieden, aber es ist ja so, dass<br />

das Kind von Geburt an nicht ständig nur mit einer einzigen<br />

Person zu tun hat.<br />

TN: Ich finde, hier wird ein zu einseitiges Bild gezeichnet.<br />

Wenn wir an die gutbürgerlichen Schichten der Vergangenheit<br />

denken, dann ist auch da eine Element von Fremderziehung<br />

gang und gäbe, wenn die Kinder schon früh einem<br />

Kindermädchen anvertraut<br />

werden. Hat ihnen das geschadet?<br />

Wäre es nicht<br />

vielleicht eher eine Mangel,<br />

wenn ihnen nur eine einzige<br />

Bezugsperson zur Verfügung<br />

stünde, noch dazu nur<br />

eine weibliche? Ich sehe es<br />

jedenfalls als eine positive<br />

Entwicklung an, dass auch<br />

andere, nicht zuletzt die<br />

Väter, als Bezugspersonen<br />

eine Rolle zu spielen beginnen.<br />

Ebenso sehe ich es<br />

als positiv an, dass Mütter<br />

anfangen, ihren Tagesablauf<br />

so zu gestalten, dass nicht alles von der Beziehung<br />

zum Kind abhängt, sondern dass sie auch ihren eigenen<br />

Bedürfnissen nachgehen können. Das führt zu einer größeren<br />

Zufriedenheit mit der Situation und insofern auch<br />

dazu, eine bessere Mutter zu sein.<br />

TN: Es ist fraglich, ob Kreuz- und Quer-Vergleiche über die<br />

Zeiten wirklich sinnvoll sind, weil jede Situation in ihrem<br />

eigenen gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden<br />

muss. In einer konkreten Situation gibt es bessere und<br />

schlechtere aktuell realisierbare Lösungen, aber kaum die<br />

Möglichkeit zu radikalen Alternativen, die einem gänzlich<br />

anderen Kontext entstammen.<br />

Petra Sperling: Ich schlage vor, nicht die Frage nach guten<br />

oder schlechten Zeiten in den Mittelpunkt zu stellen, sondern<br />

die Frage, was machen wir daraus als Stadtteilzentren<br />

für unsere Konzepte und unsere Arbeit.<br />

TN: Wir sollten nicht nur von Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten<br />

reden, so sinnvoll das auch ist, sondern wir<br />

müssen auch die Ausgangsbedingungen mitdenken. So<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 107


108<br />

Workshop Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

kann es nicht um einen bloßen Ausbau gehen, wenn dabei<br />

Gruppengrößen von 20 oder mehr Kindern entstehen, also<br />

Situationen, die für Kinder nicht förderlich sind. Wir erleben<br />

in Nordrhein-Westfalen gerade eine Parallelentwicklung<br />

an den Ganztagsschulen, wo aus Geld- und Personalmangel<br />

z.B. zwei Gruppen aus je 25 Kindern sich einen<br />

Raum teilen sollen – und damit eine immense qualitative<br />

Verschlechterung der Betreuungssituation gegenüber der<br />

bisherigen Horterziehung stattfindet. Eine scheinbar positive<br />

Entwicklung wie der Ausbau der Ganztagsbetreuung<br />

erweist sich in der Realität als negativ. Da verwalten wir<br />

einen Notstand und vernachlässigen die individuelle Förderung<br />

der Kinder massiv.<br />

TN: Die Frage der Betreuungsqualität spielt auch bei der<br />

Frage Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine Rolle. Ich<br />

möchte als Frau arbeiten gehen können, aber um dabei<br />

entspannt und effektiv zu sein, brauche ich zugleich das<br />

Gefühl, dass meine Kinder in der Fremdbetreuung gut<br />

aufgehoben sind. Deswegen habe ich ein Interesse daran,<br />

dass die Erzieher/innen in den Kindertagesstätten<br />

nicht gänzlich überfordert sind, weil man sich nur auf den<br />

Ausbau von Quantitäten konzentriert. In diesem Zusammenhang<br />

spielt m.E. auch die Frage der Bezahlung eine<br />

Rolle. Wenn Menschen im Erzieherberuf schlecht bezahlt<br />

werden, drückt sich darin auch eine gewisse Missachtung<br />

ihres Aufgabengebietes aus.<br />

Petra Sperling: Die geplante Schaffung von 500.000 neuen<br />

Plätzen bis 2013 bedeutet eine große Herausforderung,<br />

insbesondere wenn wir sehen, wie viele Defizite und Unterbesetzungen<br />

es in der aktuellen Situation bereits gibt.<br />

TN: Das klingt jetzt wieder so, als sei alles schlecht. Ich<br />

finde, dass sich in den letzten Jahren auch im Rahmen<br />

der gesetzlichen Rahmenbedingungen und der aktuellen<br />

Finanzierungsmöglichkeiten hervorragende Betreuungseinrichtungen<br />

entwickelt haben, wobei die konkreten<br />

Veränderungsbedarfe von unten formuliert werden, von<br />

den Eltern und von den Mitarbeiter/innen. Der Bedarf an<br />

zusätzlichen Krippenplätzen wird nicht von Frau von der<br />

Leyen erfunden, er wird vielmehr von den Eltern geäußert<br />

und an uns herangetragen. Wir reagieren darauf – und<br />

sind für diese Arbeit gut aufgestellt, weil sie bei uns nicht<br />

im luftleeren Raum stattfindet, wir haben die Erfahrung<br />

mit Anschlusseinrichtungen wie Kita und Betreuungsangeboten<br />

in Kooperation mit Schulen. Eltern werden als Experten<br />

mit einbezogen und unterstützt, wenn sie sich für<br />

Verbesserungen (auch durch ehrenamtliche Mitwirkung)<br />

engagieren. Insofern sind wir Bestandteil eines großen<br />

Netzes, mit dem wir viel selbst bewegen können. Gerade<br />

deshalb brauchen wir nicht nur Forderungen an andere zu<br />

stellen, brauchen uns aber auch nichts überstülpen zu lassen,<br />

was wir nicht für richtig halten.<br />

TN: Ich bin mit diesem Beitrag nicht 100% zufrieden. Auf<br />

der einen Seite hast Du Recht: es wird viel geleistet, aber<br />

es kann bessere Arbeit geleistet werden, wenn wir mit einigen<br />

unserer Forderungen Erfolg haben. Wir dürfen nicht<br />

darauf verzichten, diese Forderungen zu formulieren. Und<br />

dabei geht es im Wesentlichen um Geld und um Qualifizierung.<br />

TN: Was wir in den Nachbarschaftshäusern an Leistung<br />

entwickelt haben, hängt nicht in erster Linie mit der Finanzierung<br />

zusammen, teilweise sogar im Gegenteil. Wir<br />

haben in den letzten Jahren erhebliche Mittelkürzungen<br />

hinnehmen müssen und haben trotzdem unsere Arbeit immer<br />

wieder verbessert.<br />

TN: Man kann die Berliner Verhältnisse nicht so verallgemeinern.<br />

Es gibt in der Bundesrepublik Regionen, wo noch<br />

sehr viel Nachholbedarf besteht.<br />

TN: Auch in Berlin ist nicht alles so toll. Ich höre aus der<br />

Praxis Berichte über den Ersatz von Fachpersonal durch<br />

Hilfskräfte, über den Einsatz von ‚Subunternehmern’ bei<br />

den Eigenbetrieben in Bereichen, in denen früher Stammpersonal<br />

beschäftigt war. Der Ausbau von Betreuungskapazitäten<br />

hat manchmal etwas Fabrikmäßiges.<br />

TN: Wir müssen die richtige Balance zwischen der Betonung<br />

dessen, was wir erreicht haben, und weitergehenden<br />

Forderungen finden. Wir sollten uns nicht wie Kinder ver-


halten, die darauf bestehen, alles zu bekommen, aber wir<br />

sollten auch klar sagen, wo die Grenzen dessen sind, was<br />

wir leisten können, wenn sich die Rahmenbedingungen<br />

nicht verbessern. Der soziale Bereich mit seinen Gutmenschen<br />

sollte sich nicht als beliebig ausbeutbar darstellen.<br />

Das ist auf Dauer kontraproduktiv. Beschäftigte in<br />

der freien Wirtschaft würden sich nicht in gleicher Weise<br />

moralisch unter Druck setzen lassen, sondern ggfs. klarere<br />

Grenzen ziehen.<br />

TN: In der ‚freien Wirtschaft’ gibt es inzwischen eine Reihe<br />

von Beschäftigungsverhältnissen, die sehr viel prekärer<br />

sind als das, was im sozialen Bereich immer noch üblich<br />

ist.<br />

TN: Zurück zur Frage des Ausbaus der Krippenbetreuung.<br />

Was ist die Haupt- und was ist die Nebenseite? Erst einmal<br />

ist es doch eine tolle Sache, dass, bezogen auf die Bundesrepublik,<br />

ein Ausbau in so gewaltigen Dimensionen (sind<br />

es nicht sogar 750.000 Plätze und nicht nur die 500.000,<br />

von denen hier immer die Rede war) ins Auge gefasst wird.<br />

Und zur Frage der Kürzungen: diese letzten Jahre, in denen<br />

die Förderung immer mehr heruntergefahren wurde,<br />

haben leider auch einen sehr positiven Effekt gehabt. Sie<br />

haben uns gezwungen, kreativer und flexibler mit der Situation<br />

umzugehen. Das ist ein erst mal unangenehmer Nebeneffekt,<br />

den ich aber eigentlich ganz toll finde. Wieder<br />

zurück zur Krippenbetreuung: was ist denn nun eigentlich<br />

das Fazit, ist die Krippenbetreuung unter dem Strich eher<br />

positiv oder eher negativ zu bewerten?<br />

Petra Sperling: Ich schlage eine differenziertere Betrachtungsweise<br />

vor. Diejenigen, die Projekte planen, haben<br />

eine andere Perspektive als die, die vor Ort anpacken müssen<br />

und den Druck ganz anders erleben. Als Arbeitgeber<br />

muss ich mir die Frage stellen, was mute ich denen zu.<br />

TN: Ich möchte die Fragestellung noch einmal von einer<br />

anderen Seite aus aufrollen. In Berlin hat es die Übertragung<br />

eines Großteils der kommunalen Kindertagesstätten<br />

an Freie Träger gegeben, mit Interessenbekundungsverfahren<br />

usw. dem vorausgegangen ist, und in solchen<br />

Kommissionen habe auch ich gesessen, dass ermittelt<br />

wurde, was kostet überhaupt ein Kindergartenplatz in<br />

Berlin, was müssen wir da für Forderungen stellen. Jahrzehntelang<br />

hatte in Berlin niemand sagen können, was<br />

so ein Kindergartenplatz kosten soll. Und dann haben<br />

wir ausgehandelt, dass die Freien Träger im Großen und<br />

Ganzen die Kosten erstattet bekommen sollten, die ein<br />

Kita-Platz in öffentlicher Trägerschaft kostet. Danach<br />

gab es dann die Ausschreibung zur Übertragung von 60<br />

Prozent der Einrichtungen in freie Trägerschaft. Es gab<br />

dann eine Menge Gegenwehr, nicht zuletzt von den Gewerkschaften,<br />

die vor allem wegen angeblich schlechterer<br />

Arbeitsbedingungen bei den Freien Trägern den<br />

Mitarbeiter/innen im öffentlichen Dienst Angst machen<br />

wollten. Wir haben demgegenüber mit den Inhalten und<br />

Rahmenbedingungen der Arbeit vor Ort geworben und<br />

dabei auch viele Mitarbeiter/innen überzeugen können.<br />

Heute kann man feststellen, dass bestimmt 95% aller<br />

Mitarbeiter/innen, die zum Freien Träger gewechselt<br />

sind, froh und glücklich<br />

mit ihrer Entscheidung<br />

sind. Das liegt vor allen<br />

an den veränderten Rahmenbedingungen<br />

und den<br />

Möglichkeiten, auf erkannte<br />

Bedarfslagen vor Ort,<br />

insbesondere auch von<br />

Eltern, angemessen und<br />

flexibel zu reagieren. Ich<br />

bin optimistisch, dass sich<br />

die Dinge, auch das, was<br />

Ursula von der Leyen angeschoben<br />

hat, weiter positiv<br />

entwickeln werden. Es geht<br />

schließlich um etwas, für<br />

das es aus Elternsicht – und insbesondere aus der Sicht<br />

von Frauen, die Familie und Beruf vereinbaren wollen,<br />

einen Bedarf gibt. Es ist doch toll, wenn wir Frauen endlich<br />

mehr Möglichkeiten bekommen, einen Beruf auszuüben,<br />

zu studieren, uns fortzubilden usw. usw. Das ist<br />

doch toll!<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 109


110<br />

Workshop Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

TN: Es hat doch wenig Sinn, die Sache nur Schwarz oder<br />

Weiß zu sehen. Es geht doch vielmehr darum, sich auf den<br />

Boden der Tatsachen zu stellen und dann zu fragen, wie<br />

man die Krippenerziehung am Besten gestaltet.<br />

TN: Das ist mir zu unentschieden. Sind Sie nun dafür oder<br />

dagegen?<br />

TN: Für mich war die wichtigste Erkenntnis in dieser Diskussion,<br />

dass es schon immer Fremdbetreuung gegeben<br />

hat. Die Frage, ob ja oder nein, ist sinnlos. Es geht nur<br />

um das Wie. Welche Ansprüche, Wünsche und Phantasien<br />

haben wir dazu.<br />

Nachttöpfe und Menschwerdung<br />

Petra Sperling: Ich möchte zum Schluss noch einmal eine<br />

Frage an Sie richten, Frau Völker. Sie haben bei Ihren Interviews<br />

nicht nur darauf geachtet, was gesagt wurde, sondern<br />

auch Wert darauf gelegt, die Stimmung zu ergreifen<br />

und die Situation wie eine Szene zu erleben, damit auch<br />

das wahrgenommen wird, was nicht gesagt werden kann.<br />

Was haben Sie denn heute hier in diesem Sinne registriert?<br />

Dagmar Voelker: In dieser Gruppe ging es nicht nur um<br />

die Diskussion von Fachfragen, sondern auch um sehr persönliche<br />

eigene Erfahrungen. Es ist mir aufgefallen, dass<br />

es sich nicht zu einer Ost-West-Kontroverse entwickelt hat<br />

und dass Sie wieder zu Ihrem eigentlichen Thema gefunden<br />

haben, zu der Frage: was machen wir konkret in unserer<br />

Praxis.


Das Buch zum Workshop<br />

Mit Beiträgen von<br />

Agathe Israel, Ingrid Kerz-Rühling, Luise Köhler,<br />

Irene Misselwitz, Peter Vogelsänger, Dagmar Völker<br />

Krippen-Kinder in der DDR<br />

Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die<br />

Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheit<br />

300 S., Format 20,7x 14,5 cm, Pb.,<br />

Preis: 24,90/sFr 44,-, ISBN: 978-3-86099-869-4<br />

• In ganz Deutschland wird eine Krippendiskussion<br />

geführt: Wie müssen Krippen aussehen, damit sich<br />

die Kleinkinder körperlich und psychisch gesund entwickeln,<br />

wenn es jetzt zur Regel wird, Kinder ab dem<br />

zweiten Lebensjahr außerfamiliär zu betreuen?<br />

• Das Buch vermittelt denjenigen, die in der Frühbetreuung<br />

arbeiten oder ihre Kinder in eine Krippe geben<br />

wollen, wertvolle Erkenntnisse anhand der Erfahrungen<br />

aus der DDR.<br />

• Krippen-Kinder in der DDR geht den Auswirkungen<br />

der frühen Krippenbetreuung nach. Dabei wird besonders<br />

der körperlich-seelischen Gesundheit und der Persönlichkeitsentwicklung<br />

Aufmerksamkeit geschenkt.<br />

Der spätere Einfl uss auf die eigene Elternschaft durch<br />

die Verschränkung von familiären, institutionellen und<br />

subjektiven Faktoren wird hervorgehoben.<br />

• Die Befunde dieser qualitativen Untersuchungen stellen<br />

die Autorinnen und der Autor in den Kontext aktueller<br />

entwicklungspsychologischer Erkenntnisse und<br />

psychoanalytischer Konzepte. Besonderer Wert wird<br />

auf den Bezug zu der aktuellen Betreuungsdebatte von<br />

Kleinkindern gelegt. Die Ergebnisse betonen die Qualität<br />

der Beziehungen in den Einrichtungen und messen<br />

der Bewältigung von Entwicklungsschritten der Kinder<br />

eine zentrale Bedeutung bei.<br />

Brandes & Apsel Verlag<br />

Scheidswaldstr. 22<br />

60385 Frankfurt am Main<br />

Tel. 069/272 995 17 11 Fax 069/272 995 17 10<br />

E-Mail: presse@brandes-apsel-verlag.de<br />

www.brandes-apsel-verlag.de<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 111


112<br />

Workshop<br />

Heute ratlos, morgen super?<br />

Das weite Feld der Erziehungsratgeber – Trends und Moden<br />

Kind isst nicht richtig. Das sind zum Beispiel die Themen.<br />

Die Doku-Soap habe ich ungefähr 1 ½ Jahre lang<br />

gemacht.<br />

TN: Mich interessiert das total, weil ich muss gestehen,<br />

dass ich unendlich viele Vorbehalte, ungefähr 500 oder<br />

so, habe. Wie kommt die Familie dazu? Ich finde, das hat<br />

immer was Exhibitionistisches. Was hast Du in den Familien<br />

erlebt?<br />

Inputs:<br />

Aicha Katjivena (Erzieherin, Berlin)<br />

„Als Supermama unterwegs -<br />

Erziehungstipps aus dem Fernsehapparat“<br />

Charlotte Weidenhammer<br />

(Menschenskinder, Darmstadt)<br />

und Paula Diederichs (Schreibabyambulanz)<br />

„Identität und Authentizität in der Erziehung“<br />

Moderation:<br />

Reinhilde Godulla<br />

Reinhilde Godulla: Wie hat es sich ergeben, dass Du von<br />

der Jugendarbeit bei Outreach zur Supermama wurdest?<br />

Aicha Katjivena: Ich habe gerne bei Outreach gearbeitet.<br />

Dann wurden uns ganz spontan die Finanzen gestrichen,<br />

somit war das Projekt vorbei und ich bin arbeitslos geworden.<br />

Dann wurde ich angesprochen, ob ich mir vorstellen<br />

könnte, so etwas zu machen, und sollte zu einem Interview<br />

gehen. Das habe ich dann auch gemacht. Innerhalb<br />

von drei Wochen hat es sich dann ergeben, dass ich bei<br />

der ersten Familie saß.<br />

Supermama ist ein Fernsehformat, eine Doku-Soap. Das<br />

soll ein Erziehungsratgeber sein, der bei alltäglichen Problemen,<br />

die die Familien haben, helfen soll. Mein Kind<br />

putzt keine Zähne. Mein Kind geht nicht ins Bett. Mein<br />

Aicha Katjivena: Ich persönlich bin sehr antiautoritär<br />

und liberal erzogen worden. Meine Eltern sind Akademiker,<br />

mein Vater macht selber Filme, allerdings politische<br />

oder dokumentarische Filme. Für mich war es so, dass<br />

ich definitiv zu diesem Job gekommen bin, weil ich in<br />

einer Notlage war, nämlich arbeitslos. Ich brauchte einfach<br />

eine Arbeit. Die habe ich in dem Moment gekriegt,<br />

ich meine, jeder ist ein bisschen käuflich. Ich habe mich<br />

auf etwas eingelassen, von dem ich nicht wusste, was<br />

es ist. Ich hatte gar keine Vorstellung, was es bedeutet,<br />

soziale Unterstützung unter den Rahmenbedingungen<br />

einer Doku-Soap zu machen und noch bei einem Privatsender<br />

zu arbeiten.<br />

Die Erfahrungen konnte ich dann sammeln. Es ist – wie<br />

das Format schon sagt – eine Doku-Soap, da geht es um<br />

Sensation, es geht um Quoten, das ist ein rein wirtschaftlicher<br />

Geschäftszweig. Es geht nicht um Emotionen, es<br />

geht nicht um den Menschen vor der Kamera, sondern<br />

es geht darum, die Werbepausen zu füllen usw., also ein<br />

sehr gewinnorientiertes Geschäft. Die Menschen, die<br />

vor der Kamera arbeiten, zählen wenig, wir sind Protagonisten<br />

und müssen gut funktionieren. Die Eltern müssen<br />

sich also so schlecht wie möglich verhalten, die Kinder<br />

müssen so laut wie möglich sein, damit die Quote steigt.<br />

Das ist die Wahrheit.<br />

TN: Gibt es da ein Briefing, das jemand sagt, Ihr müsst<br />

heute besonders schlecht benehmen? Oder wird gesagt,<br />

macht mal wie sonst auch?<br />

Aicha Katjivena: Natürlich wird gesagt: Macht das so wie<br />

sonst auch.


TN: Die Kamera tut dann ihr eigenes.<br />

Aicha Katjivena: Ja. Es geht ganz klar darum, gute und<br />

viele laute Bilder zu bekommen, extreme Bilder, um hinterher<br />

zu zeigen, wie es dann super ist.<br />

TN: Wie war denn der Ablauf? Ich dachte, dass die Familien<br />

Schauspieler sein müssen, weil das zwischendrin so<br />

was von peinlich ist für die Familien. Sind das wirklich reale<br />

Familien?<br />

Aicha Katjivena: Das sind reale Familien und auch reale<br />

Situationen, in denen die Familien leben. Ich würde gerne<br />

diese Familie als Beispiel nehmen, weil das einfacher ist.<br />

Bei der Familie ist der Vater relativ groß und ein sehr kräftiger<br />

Typ, so wie er das Kind angefasst hat, das sah eigentlich<br />

schlimmer aus, als es war. Es wirkte sehr extrem, weil<br />

er so groß ist und sie halt so klein. In dieser Situation war<br />

es so, dass der Vater gerade von der Arbeit gekommen ist.<br />

Er wurde direkt von der Mutter mit dieser Situation konfrontiert,<br />

das war bei denen alltäglich so. Der wurde immer<br />

gezwungen, diese Situation zwischen der Mutter und den<br />

Kindern zu klären, und auch immer mit einzugreifen. Nach<br />

einem langen Arbeitstag war er oft sehr gestresst und hat<br />

dann überreagiert.<br />

Ich denke, das sieht man sehr deutlich. Aber da man das<br />

nicht weiß, da sie sehr viel zusammengeschnitten haben,<br />

alleine das Gespräch mit dem Kind dauerte 1 ½ Stunden,<br />

sie haben nur das herausgefiltert, was sie brauchen. Dasselbe<br />

bei dieser Schularbeits-Szene. Dem Kind wurden<br />

vorher Aufgaben gegeben, obwohl es gar keine Schularbeiten<br />

auf hatte, das war auch das, was sie gesagt hat,<br />

nämlich, das sind ja nur so ne Aufgaben. Das ist natürlich<br />

für sie schwierig zu verstehen, dass sie jetzt zusätzlich<br />

noch was machen soll und sich in eine Situation reinfinden<br />

muss, die nicht real ist, sondern die provoziert wurde. Sie<br />

hat natürlich dementsprechend reagiert, weil sie natürlich<br />

keine Lust darauf hatte.<br />

Ich denke, wenn man sich solche Formate anguckt, ist<br />

es wichtig, sich zu überlegen, dass die Leute, die vor der<br />

Kamera stehen, oft nicht wissen, was hinter der Kamera<br />

passiert. Es werden Situationen ganz bewusst provoziert,<br />

um eben Bilder zu bekommen. Vielleicht kann ich noch<br />

dazu sagen, dass sie nicht von mir provoziert wurden, weil<br />

ich ja auch einer von den Idioten bin, die vor der Kamera<br />

standen.<br />

TN: Bist Du da wirklich in die Familie eingezogen?<br />

Aicha Katjivena: Nein. Wir haben natürlich beide da nicht<br />

gewohnt. Man kann da ja auch nicht wohnen, also diese<br />

Familie hier, die hätte den Platz gehabt, weil sie ein<br />

großes Haus hatten, aber die meisten Familien haben<br />

nicht den Platz. Die Familien, die von dem Sender ausgewählt<br />

worden sind, sind natürlich immer sozial schwache<br />

Familien. Das ist ganz klar, weil man für das Fernsehen,<br />

für das Format, mehr reißerische Szenen bekommt, auch<br />

weil die Wohnungen enger sind, wir kommen zu viert in<br />

die Wohnungen rein, die Redakteurin, ein Kameramann,<br />

ein Tonmann und ich, wenn dann noch fünf Kinder da sind<br />

und zwei Eltern dazu, da ist auch viel Stress angesagt und<br />

die stehen auch alle sehr unter Strom, also die Eltern und<br />

auch die Kinder.<br />

Dass es in solchen Situationen eskaliert, das ist ja relativ<br />

normal. Die Eltern wollen natürlich nur das Beste von sich<br />

zeigen, denen ist überhaupt nicht bewusst, was Fernsehen<br />

bedeutet. Was es bedeutet, wenn ein Fernsehsender<br />

von einem was möchte. Ich denke, da werden auch ganz<br />

bewusst Leute geholt, denen das nicht bewusst ist.<br />

TN: Wie kommen die Familien denn dazu? Bewerben die<br />

sich?<br />

Aicha Katjivena: Die ersten Familien werden durch Zeitschrifteninserate<br />

gesucht. Sobald diese Sendung ein<br />

bisschen bekannt ist, melden die sich freiwillig, ob man<br />

es glaubt oder nicht, und zwar richtig doll. Nach der zweiten<br />

oder dritten Sendung gab es bis zu 120 Anrufe von<br />

Familien, die da Hilfe wollten. Und davon suchen sie sich<br />

natürlich die besten raus.<br />

TN: Ist bekannt, was mit den Familien danach passiert?<br />

Wenn die ganzen Nachbarn das im Fernsehen sehen. Von<br />

der Sendung Supernanny habe ich gehört, dass es so<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 113


114<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

weit geht, dass Leute sogar umgezogen sind, weil sie<br />

den Druck nicht mehr aushalten konnten. Insofern habe<br />

ich diese 500 Zweifel von Frau Grass auch.<br />

Aicha Katjivena: Also bei dieser Familie hier, für die war<br />

das sehr gut, weil die Nachbarn immer nicht verstanden<br />

haben, was bei denen los ist. Also dieses Schreien war<br />

bei denen tagtäglich so. Vor der Sendung wurden die von<br />

den Nachbarn gemieden, die hatten sich was weiß ich vorgestellt,<br />

was die da drin machen mit denen. Durch diese<br />

Sendung bekamen sie aber einen Einblick und konnten<br />

sehen, was da wirklich los ist. In diesem Fall hat es der<br />

Familie geholfen.<br />

Ich habe auch noch E-Mail-Kontakt mit dieser Familie ganz<br />

besonders, weil das meine dritte Sendung war und wir uns<br />

in dieser Drehphase sehr lange kannten. Da habe ich auch<br />

gelernt oder gemerkt, dass ich von mir auch ein Stück geben<br />

muss, um etwas zu bekommen. Und das die Familien<br />

ausgesucht sind, das hat auch noch eine Weile gedauert,<br />

bis ich das gemerkt habe.<br />

TN: Melden sich die Familien, weil sie wirklich Hilfe wollen<br />

oder weil sie Geld dafür kriegen?<br />

Aicha Katjivena: Ich denke, beides spielt eine Rolle.<br />

Natürlich ist das Geld eine der Hauptmotivationen, aber<br />

auch, weil die wirklich davon überzeugt sind oder waren,<br />

dass sie Hilfe bekommen, und zwar schnelle Hilfe.<br />

In den ersten vier Sendungen haben die Eltern 1.500 Euro<br />

bekommen. Als die Sendung bekannt war, wurde es weniger,<br />

dann waren es unter 1.000 Euro, also 800 oder so.<br />

TN: Wie läuft das ab? Gibt es ein Vorgespräch? Bist Du<br />

dann schon dabei?<br />

Aicha Katjivena: Nein. Es gibt irgendwelche Casting-Teams,<br />

die direkt zu den Familien fahren. Vorab werden die Familien<br />

befragt, in welchen Situationen sie Probleme haben. Dann<br />

kommen die Casting-Teams und filmen die Situation, sprechen<br />

mit den Eltern. Das sind sozusagen die Vorstellungsfilme.<br />

Das ist dann auch das, was man manchmal an Anfang<br />

von den Familien sieht, welche Probleme da vorhanden sind.<br />

Diese Castingaufnahmen wurden uns gezeigt, wir waren<br />

ja zwei Supermamas, damit wir uns vorab ein Bild über<br />

die Familien machen konnten. Ich habe mir diese Bänder<br />

vielleicht für die ersten fünf Sendungen angeguckt, danach<br />

habe ich das gelassen, weil die Problematiken, die<br />

die Eltern zeigen wollen, sind ganz andere, als die, die sie<br />

wirklich haben.<br />

Wenn ich mir diese Aufnahmen vorher angeguckt habe,<br />

war ich immer sehr fokussiert auf das dargestellte Problem,<br />

nicht auf das, was wirklich in der Familie los ist. Deswegen<br />

habe ich mir das ziemlich schnell abgewöhnt.<br />

TN: Hattest Du das Gefühl, dass Du den Leuten helfen<br />

konntest?<br />

Aicha Katjivena: Hm, das ist ein ambivalentes Gefühl.<br />

Ich würde auch zum gleichen Teil Nein sagen,<br />

weil ich glaube, dass man nicht innerhalb von sechs<br />

Tagen großartig was verändern kann. Man kann vielleicht<br />

einen Gedankenanstoß geben, aber mehr kann<br />

man nicht machen. Mir persönlich war es immer ganz<br />

wichtig, den Eltern weiterführende Hilfe zu besorgen<br />

bzw. ihnen Adressen rauszusuchen, wo sie nach dem<br />

Dreh hingehen können. Das wurde am Anfang vom<br />

Fernsehsender nicht so gemacht, aber ich habe darauf<br />

bestanden, weil ich der Meinung bin, dass man nicht<br />

irgendwas beginnen kann und die Leute einfach damit<br />

stehen lassen kann.<br />

Während dieser 1 ½ Jahre hatte ich auch ein Arbeitstelefon,<br />

da konnten mich die Familien auch privat anrufen.<br />

Ich habe ja für die gearbeitet, das war in dem Bereich inclusive<br />

und das war auch mein persönlicher Wunsch. Ich<br />

dachte auch, vielleicht ist das noch von mir aus so eine<br />

Art Wiedergutmachung für diese Schmerzen, die sie letztendlich<br />

beim Betrachten ihrer eigenen Sendung vielleicht<br />

erfahren. Also ich hatte eben ein total schlechtes Gewissen,<br />

ganz oft.<br />

Ich habe diese Sendung nicht mit einem großen Selbstbewusst<br />

gedreht und gesagt, oh, ich bin so toll, ich gehe<br />

in die Familie rein, wenn ich da rausgehe, ich tolle Frau,<br />

dann sind die total gut, dann sind die perfekt. Das habe<br />

ich nicht gesagt.


TN: Hast Du mal erlebt, welche Wirkung die Sendung auf<br />

andere Familien hat? Da werden ja in kurzer Zeit einfache<br />

Lösungen angeboten, die zum Nachmachen anregen.<br />

Aicha Katjivena: Ich hatte mal eine Sendung, da ging es<br />

um Schnuller und Flasche. Da habe ich einige Tricks angewandt,<br />

die eine Kindergartengruppe dann auch ausprobiert<br />

hat, da hat die gesamte Gruppe aufgehört, Schnuller<br />

und Flasche zu nehmen. Das ist zum Beispiel was, was ich<br />

als positiv empfinde. Da hat eine Technik, die man angewandt<br />

hat, funktioniert, das ist ein schönes Feedback.<br />

Es ging einfach darum, dass jeder Mensch Phasen hat,<br />

in denen er wächst, und es Veränderungen gibt, also vom<br />

Kleinkind zum Kind, usw. Das Kind war schon drei bzw.<br />

fast vier, es ging darum, ihn aus dieser Kleinkindphase<br />

herauszuheben. Das haben wir mit einem Ritual gemacht,<br />

wo er selber die Nuckel von den Flaschen durchgeschnitten<br />

hat und auch die Schnuller weggeworfen hat. Dafür hat<br />

er eine riesengroße Tasse bekommen, das fand er ganz<br />

toll. Das haben die Eltern einfach nachgemacht mit der<br />

Kindergartengruppe und die Kinder waren dann schnullerund<br />

nuckelfrei. Das ist jetzt ein Beispiel, ich weiß nicht, ob<br />

das bei allen Familien was bewirkt hat.<br />

Aber die Techniken, die man anwendet, die kennt jeder,<br />

der mit Kindern arbeitet. Das sind ganz normale Sachen,<br />

die man in seiner Ausbildung lernt oder im Laufe der Jahre<br />

an Erfahrungen sammelt.<br />

TN: Du hast da einfach ein Stück Verantwortung übernommen,<br />

also Du hast Dich auf Mist eingelassen und das Beste<br />

draus gemacht.<br />

Aicha Katjivena: Genau.<br />

Paula Diederichs: So würde ich das sehen. Ich finde es<br />

erst mal gut, dass Du das sagst. Ich fände es gut, wenn<br />

wir wirklich mal darüber jetzt reden wollen, weil ich habe<br />

in den letzten 10 Jahren mindestens 20 Fernsehauftritte<br />

gehabt, Schrei-Babys ist ja das Thema Nummer 1, und vor<br />

allen Dingen mit den Gewaltübergriffen. Die Sender rufen<br />

dann an wir brauchen unbedingt eine Schrei-Baby-Familie,<br />

bitte liefern Sie uns die. Dann wird ausgehandelt, was<br />

kannst du machen. Letzte Woche war ich auf einem Kongress<br />

in Österreich. Da gab es eine Diskussion, wo ganz<br />

viele Leitungskräfte<br />

aus den sozialen<br />

Dienstleistungsbranchen<br />

waren,<br />

mit dem Thema:<br />

Soziale Arbeit und<br />

Fernsehen, wie<br />

können die zusammenkommen?<br />

Es<br />

sprach auch der<br />

Journalist, der mit<br />

dieser Natascha Kampusch, die jahrelang im Kellerverlies<br />

gehalten wurde, ein Exklusiv-Interview gemacht hat. Er hat<br />

berichtet, wie die Heranführung an die Presse ausgehandelt<br />

wurde. Das wurde sehr vorsichtig gemacht. Sie hatte<br />

einen Sozialarbeiter dabei, um alles abzusprechen.<br />

Die Presse ist geil, das ist ganz wichtig. Als Menschen, die<br />

mit Menschen arbeiten, müssen wir sehen, wie machen<br />

die das nur? Bei Dir finde ich gut, auch wenn Du nicht<br />

wusstest, worauf Du Dich eingelassen hast, hast Du noch<br />

sehr viel Gutes draus machen können.<br />

Das habe ich auch mit der Zeit gelernt, den Journalisten<br />

ganz klar Grenzen zu setzen. Passen Sie mal auf, unter<br />

den und den Bedingungen bin ich bereit, ansonsten<br />

nicht. Oder eben Kohle rüber, das ist irgendeine Spende.<br />

Die kommen an und machen Druck, wieso, Sie haben<br />

doch was davon. Aber wir brauchen keine Werbung,<br />

darum geht es nicht. Das ist eine Arbeit, in erster Linie<br />

bin ich in der Schweigepflicht mit den Eltern, die sind<br />

mir anvertraut. Ich mache das aus der Retrospektive,<br />

ich mache gestellte Szenen, und die Eltern werden auch<br />

nicht alles vor der Kamera sagen. Ich bin wie ein Schutz<br />

für die Eltern vor der Presse. Dann können wir rausgehen<br />

und uns kümmern, dass die Nachbarschaftsheime<br />

genannt werden, dass die Spender genannt sind und<br />

solche Sachen, weil wir da schon Überraschungen erlebt<br />

haben.<br />

Das ist ein Plädoyer dafür, vorsichtig damit umzugehen,<br />

ganz klar zu sagen, was wir wollen von denen, und dann<br />

ins Geschäft zu kommen, weil filmen tun die in jedem Fall,<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 115


116<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

sie gehen dann einfach auf die Straße und holen sich die<br />

welche und dann werden sie verhökert. Wir können ein<br />

bisschen dazu beitragen, dass es eine seriösere Geschichte<br />

wird.<br />

Uns war es wichtig, diese ganze Symptomatik in die Presse<br />

zu bringen, also dass es diese Schrei-Babys gibt, weil das<br />

Alltag in Deutschland ist. Das gibt es nicht nur in bestimmten<br />

Schichten.<br />

Aicha Katjivena: Das ist in allen Schichten Alltag. Ich habe<br />

19 Sendungen gedreht und darunter waren auch einige<br />

aus gehobenen Schichten und Akademiker, nicht viele, ich<br />

glaube, es waren nur zwei oder drei Familien, aber die gab<br />

es auch. Die Frau hatte alle Erziehungsratgeber, alles, was<br />

man sich vorstellen kann, die war besser bestückt als Eure<br />

Bibliothek. Das war unglaublich, aber sie hat uns trotzdem<br />

gerufen.<br />

Charlotte Weidenhammer: Das ist ja auch ganz oft die<br />

Erfahrung in den Schrei-Baby-Ambulanzen, dass es nicht<br />

vorrangig Leute aus dem sozial schwachen Milieu sind,<br />

sondern ganz, ganz viel Bildungsbürgertum, Leute, die<br />

wahnsinnig viel gelesen haben, die wahnsinnig hohe Ansprüche<br />

haben. Daran scheitern sie eigentlich. Die es nie<br />

gut genug machen können. Sie meinen, keine Identität als<br />

Eltern zu haben und saugen alles an Informationen auf,<br />

aber sie können damit nicht umgehen, weil sie es nicht<br />

zuordnen können. Also die Informationen gehen rein,<br />

aber sie kommen nicht wieder raus. Für die Kinder ist das<br />

auch schrecklich, weil das, was bei den Eltern rauskommt,<br />

kommt ohne Überzeugung oder ohne emotionale Resonanz,<br />

sondern es ist ein Programm. Ein Programm ist dann<br />

schrecklich, weil es völlig rigide ist und abgespalten, oder<br />

die Kinder machen sich darüber lächerlich, weil man etwas<br />

macht, was man eigentlich gar nicht ausfüllen kann.<br />

TN: Diese Sendungen wie Supernanny oder Supermama sind<br />

natürlich auch ein Ausdruck von großer Hilflosigkeit. Viele Eltern<br />

wissen es einfach nicht, zumal diese Erziehungsratgeber<br />

nicht wirklich weiterhelfen. Mir ist aufgefallen, dass es<br />

in der letzten Zeit auch immer neue Erkenntnisse gibt, auch<br />

wissenschaftliche, die zum Teil sich völlig widersprechen.<br />

Es gibt diese berühmten Zeitfenster, was die Eltern völlig<br />

paralysiert, nun geht es aber, und wenn jetzt nicht, dann<br />

ist alles vorbei. Diese Hilflosigkeit und diese falsche oder<br />

fehlende Identität als Eltern, das ist wirklich das Hauptproblem.<br />

Ich frage mich schon in meiner Rolle als diejenige,<br />

die eben Angebote für Eltern konzipiert, wie kann ich<br />

dem begegnen? Ich möchte eben jetzt nicht diesen Trends<br />

entsprechen, sondern dahin kommen, dass die Eltern für<br />

sich wieder ein Empfinden für ihren Weg kriegen.<br />

TN: Könnte es sein, dass diese schrillen Erziehungsratgeber<br />

für manche Menschen die Wirkung haben, aha, es gibt<br />

ja möglicherweise da Hilfe für mich, und motiviert es unter<br />

Umständen dazu, tatsächlich Hilfe in den Beratungsstellen<br />

aufzusuchen? Ist das ein Effekt, den man nachvollziehen<br />

kann?<br />

Aicha Katjivena: Es gab am Anfang, als die Sendung rauskam,<br />

ein großes Aufschreien. Ich wurde auch wirklich diffamiert<br />

von tausenden von Stellen, es gab Briefe, E-Mails,<br />

der Kinderschutz hat sich auch eingeschaltet. Wir hatten<br />

Rückmeldungen von den Jugendamtsstellen, wir haben<br />

viel in Richtung Schweinfurt bzw. Bayern gedreht, die ganz<br />

klar gesagt haben, dass sie viel mehr Anrufe von Leuten<br />

bekommen, die Hilfe suchen.<br />

TN: Das kann ich nur bestätigen, ich arbeite bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle<br />

in Hohenschönhausen-Lichtenberg. Ich<br />

habe als Familienhelferin gearbeitet. Als diese ersten Supernanny-Sendungen<br />

anliefen, haben wir uns als Kolleginnen<br />

erst mal sehr geärgert, weil wir dachten, da wird<br />

den Eltern suggeriert, dass es schnelle Lösungen gibt, aber<br />

die gibt es nicht. Dann haben wir aber festgestellt, dass es<br />

Eltern gab, die sagten, dass sie früher nie eine Familienhilfe<br />

akzeptiert hätten, aber jetzt sehen sie im Fernsehen, da<br />

kommt jemand in die Familie und die helfen wirklich. Das<br />

hatte schon auch einen positiven Effekt.<br />

Es gibt ja mehrere, die Supernanny und die Supermamas,<br />

was mir gefehlt hat, dass man auch vor dem Bildschirm<br />

sagt, wie lange man jetzt tatsächlich miteinander gearbeitet<br />

hat, dass man ein bisschen was erreicht hat, aber<br />

letztendlich müssen die wirklich dranbleiben, sonst wird


es vielleicht wieder wie vorher, und ich gebe jetzt die Anlaufstellen<br />

vor Ort bekannt. Das ist ganz wichtig, dass die<br />

da dranbleiben. Das wäre auch uns wichtig gewesen, dass<br />

die Eltern, mit denen wir arbeiten, das auch hören bzw.<br />

sehen.<br />

Aicha Katjivena: Aber das war auch so. Nur das Problem<br />

war, es gab einen Abspann, da stand, dass es die und die<br />

Beratungsstellen gibt, da können die Leute sich hinwenden.<br />

Das wurde natürlich auch immer wieder mal angesprochen.<br />

Ich wollte auch noch sagen, dass wir in den Familien<br />

100 Stunden gedreht haben. Das muss man sich<br />

einfach vorstellen, in 6 Tagen bis zu 100 Stunden drehen,<br />

das sind dann einfach locker 20-Stunden-Tage. Da kann<br />

man sich vorstellen, dass die Leute total angespannt sind,<br />

man selber auch. Ich habe zum Teil nur zwei oder drei<br />

Stunden geschlafen, um am nächsten Tag wieder in die<br />

Familie zu gehen, wieder 16 Stunden durchzuhalten. Das<br />

ist definitiv zu viel. Das geht gar nicht.<br />

Zum Beispiel diese Elterngespräche, im Fernsehen wird<br />

gesagt, dass wir zwei Tage beobachten, aber es war<br />

nur ein Tag. Da konnte man sehen, dass die Eltern natürlich<br />

extrem unter Druck waren, ich komme da rein,<br />

gucke mir 5 Stunden an, was die machen, dann setze<br />

ich mich hin und sage: Also ich habe gesehen … Das ist<br />

ein totales Problem, weil ich hatte selber extreme Probleme,<br />

mich da so reinzuhängen, weil ich selber Mutter<br />

bin und ganz genau weiß, wie sich das anfühlt, wenn<br />

mir einer sagen würde, mein Sohn ist jetzt so und so,<br />

ich wäre der Person ins Genick gesprungen. Da hatte<br />

ich auch richtige Probleme und auch Ängste, den Leuten<br />

zu begegnen. Mein Kameramann hat mich gehasst,<br />

weil die Elterngespräche haben bei mir drei Stunden<br />

gedauert, weil ich einfach nicht in der Lage war, mich<br />

hinzusetzen und meine Beobachtungen aufzuzählen<br />

und zu beurteilen. Ich habe immer versucht, so freundlich<br />

wie möglich das anzubringen. Am Ende von diesen<br />

urlangen Gesprächen, wo die schon teilweise gar nicht<br />

mehr wussten, was sie alles erzählt haben, habe ich alles<br />

kompakt wiederholt, dann allerdings auch mit härteren<br />

Worten, was ich in dem Gespräch selbst gar nicht<br />

gemacht habe.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 117


118<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

Das muss man einfach auch mal verstehen. Mir haben<br />

die Eltern ganz oft extrem Leid getan. Ich mir selber<br />

auch, weil es einfach Situationen und Zustände gab, wo<br />

man dann auch<br />

nicht mehr weiß,<br />

wie man damit<br />

umgehen soll.<br />

Auch ich wurde ja<br />

ausgespielt. Wenn<br />

man reinkommt,<br />

verhalten sich die<br />

Eltern erst mal<br />

ganz anders als<br />

sie eigentlich sind,<br />

sie wollen sich so gut darstellen wie möglich. Wenn das<br />

der Redakteurin zu lange gedauert hat, dann hat sie provoziert.<br />

Solche Situationen sind ganz oft passiert.<br />

Ich habe auch eine Weile gebraucht, um zu verstehen,<br />

dass ich die Macht habe zu entscheiden, was als Nächstes<br />

in dem Film passiert. Das war mir wirklich nicht bewusst.<br />

Ich dachte, was passiert jetzt alles mit mir, was<br />

soll ich jetzt tun. Ich habe wirklich eine Weile gebraucht,<br />

um zu verstehen, dass, wenn ich etwas nicht richtig finde,<br />

dann können die das auch nicht machen, weil sie<br />

brauchen mich ja, um diese Sendung zu beenden. Das<br />

hat wirklich bestimmt 5 Sendungen gedauert, bis ich gemerkt<br />

habe, wenn ich mich weigere, dann können die<br />

nichts machen.<br />

Das habe ich dann auch schamlos ausgenutzt. Es gab<br />

mal die Situation mit einem Jungen, 10 Jahre, der ist total<br />

zusammengebrochen. Da kam das Kamerateam rein,<br />

denen habe ich die Tür ins Gesicht gedrückt und habe sie<br />

rausgeschmissen. Es gab Eltern, die mir intimste Details<br />

erzählt haben. Da ich überhaupt nicht technisch bewandert<br />

war, habe ich nicht geschnallt, dass ich noch verkabelt<br />

war, die Eltern auch. Sie baten um ein Gespräch<br />

im Nebenzimmer, um mit mir was zu besprechen. Dann<br />

haben sie oft die Tür gefilmt und das Gespräch aufgenommen.<br />

Das kriegt man ja nicht mit, gerade wenn man<br />

die Sendung dann nicht sieht. Ich hatte mir ganz selten<br />

diese Sendung selber angeguckt, also habe ich gar<br />

nicht gewusst, was die da alles gemacht haben. Das<br />

hat mir aber eine Freundin erzählt, ich hatte mir eine<br />

Kopie besorgt. Aber da war es bei mir auch vorbei.<br />

Ich habe dann meine Sendungen auch abgedreht – und<br />

das war’s. Ich wurde vor drei Wochen von RTL2 noch mal<br />

angerufen und gefragt, ob ich das noch mal machen würde.<br />

Ich konnte ganz klar Nein sagen. Ich wurde auch mit<br />

Geld gelockt – und ich konnte immer noch Nein sagen.<br />

Für mich war es wichtig, mich da abzugrenzen und irgendwann<br />

zu sagen, okay, bis hierhin und nicht weiter.<br />

Das war eigentlich ein ganz tolles Gefühl. Auch mal zu<br />

sehen, es geht einfach gar nicht ohne mich.<br />

TN: Die haben jetzt niemanden mehr?<br />

Aicha Katjivena: Nein. Sie machen die Sendung nicht<br />

mehr, weil nach 19 Sendungen ist einfach alles, was man<br />

sich so vorstellen kann, einfach ausgelutscht. Du hast<br />

fast alles gemacht, was es so an alltäglichen Erziehungsproblemen<br />

gibt. Denn der Unterschied zwischen der Supernanny<br />

und den Supermamas ist ja, dass wir zwei wirklich<br />

alltägliche Probleme präsentiert haben, während die<br />

Supernanny in Familien dreht, wo die Konflikte zum Teil<br />

schon so extrem sind, die Kinder auch schon in Therapien<br />

sind, die arbeitet mit Ritalin, also das sind einfach ganz<br />

andere Konditionen. Die Kinder kriegen Ritalin, auch während<br />

der Drehs, also sorry, da werden die Kinder zum Arzt<br />

geschleppt und Rezepte werden verschrieben usw. Das ist<br />

einfach Fernsehen.<br />

Ich finde es wichtig, dass man sieht, dass es auch Unterschiede<br />

gibt, dass die Formate unterschiedlich sind. Wir<br />

hatten zum Beispiel, Trash-Fernsehen, einen Ganztagsdreh<br />

nach dem anderen, während Frau Saalfrank viel<br />

mehr Zeit für die einzelnen Sendungen hatte. Da konnte<br />

es auch einmal entspannt zugehen. Auch der technische<br />

Hintergrund ist anders. Es gibt bis zu 5 Kamerateams, die<br />

Kameras werden überall festgelegt, teilweise werden die<br />

Wohnungen vorher renoviert, damit die alle chic aussehen.<br />

Dann geht man da mal hoch, dann erzählt sie denen<br />

was, dann geht sie wieder runter, der Rest wird dann ohne<br />

sie gedreht. So. Das ist ein ganz anderes Arbeiten, sie hat<br />

es wesentlich entspannter und kann sich natürlich auch<br />

viel besser vorbereiten.


Ich hatte einen extremen Fall: ein Kind von 7 Jahren, das<br />

einfach nicht einschlafen wollte. Ich war nachts um 1 Uhr<br />

immer noch in der Familie, weil es nicht klappte. Da bin<br />

ich an den Rand meiner Möglichkeiten und meiner Nerven<br />

gekommen und total ausgerastet. In dieser Sendung<br />

habe ich dann harsch gesagt: Du bringst jetzt dein Kind<br />

in die Badewanne und dann schläft es da. Häh? Ich hatte<br />

eine Perücke auf, die war schief, ich hatte ein Hemd<br />

an, das hing wirklich schon, die Hose rutschte, während<br />

ich dieses Kind am Arm in sein Zimmer schleifte, weil<br />

ich nicht mehr konnte. In solche Situationen kommt man<br />

dann. Mir hat das Kind einfach total Leid getan, aber ich<br />

konnte einfach nicht mehr. Ich hatte nicht die Kraft und<br />

auch nicht die Möglichkeiten, diese Redakteurin und<br />

das ganze Team aus dieser Wohnung rauszubringen,<br />

weil wenn die nicht gehen, was soll ich machen, ich sitze<br />

irgendwo in der Walachei und das Hotel ist aber 20 oder<br />

50 Kilometer entfernt.<br />

TN: Ich finde das sehr spannend, weil das ist ja eine Eltern-Symptomatik,<br />

die Du dort erlebt hast. Du bist an<br />

Deine Grenzen gekommen, hast total die Kontrolle verloren<br />

und hast reagiert, wie Du es eigentlich nie tun würdest.<br />

Das ist ja ein Schritt zurück, aber provoziert durch<br />

die Situation.<br />

Aicha Katjivena: Ich war auch ausgeliefert in dieser<br />

Situation, weil ich immer unruhiger wurde, dieses Kind<br />

hampelte und nölte. Es ging darum, dass dieses Kind<br />

nicht mehr bei der Mutter im Bett schlafen sollte, die<br />

haben zusammen in einem Bett geschlafen, unter einer<br />

Decke und mit einem Kissen. Das Kind hatte aber ein<br />

eigenes Zimmer und sollte nun dort schlafen. Und das<br />

Kind schlief nicht. Es sollte dann so tun, die Augen flackerten,<br />

das funktionierte gar nicht. Das Ende vom Lied<br />

war, dass sich das Kind in die Wanne gelegt hat, weil<br />

ich gesagt habe, dass ich nicht mehr kann. Dann sind<br />

wir aus dieser Familie rausgegangen, am nächsten Tag<br />

habe ich mich geweigert, da wieder hinzugehen. Und ich<br />

habe es auch nicht gemacht. Die mussten dann mit den<br />

Schnipseln, die wir hatten, den Film zu Ende bringen.<br />

Da war ich kurz davor aufzuhören. Aber dann habe ich<br />

auch wieder gemerkt, ich habe mir das vorgenommen<br />

und wer weiß, wer in Zukunft meinen Platz einnehmen<br />

würde. Wie Du schon gesagt hast, da habe ich eine Verantwortung<br />

übernommen, die ich eigentlich nicht tragen<br />

kann. Ich habe mich aber trotzdem bemüht, mit meinem<br />

Anspruch und mit dem, was ich gelernt habe, umzugehen,<br />

das so umzusetzen, dass ich damit auch leben kann.<br />

Das war für mich das Wichtigste, dass ich mich selber im<br />

Spiegel noch angucken kann nach diesen Sachen, okay,<br />

das war vielleicht nicht so toll, aber hey, es war okay, damit<br />

kann ich leben. Das war wahnsinnig schwer, einfach<br />

aus diesem Druck und dieser Verantwortung.<br />

Ich habe wahnsinnig viel Feedback von der schwarzen<br />

Community bekommen, was noch mal einen ganz anderen<br />

Aspekt aufwirft, nämlich dass die gesagt haben, hey,<br />

eine schwarze Frau im deutschen Fernsehen, wir haben<br />

Jahrhunderte lang den weißen Kindern den Hintern abgewischt<br />

und kein Geld dafür gekriegt. Und in Deutschland,<br />

was einfach weiß ist, als schwarze Frau im Fernsehen<br />

so was machen zu können, das hat die total gefreut,<br />

weshalb ich wahnsinnig viel Feedback gekriegt habe.<br />

Diese Sachen haben mich zum Teil auch gestärkt, damit<br />

ich in der Lage war, die nächste Sendung zu drehen. Ich<br />

hatte dadurch im Hinterkopf nicht nur meine Scham, das<br />

ich was tue, was eigentlich total schrecklich ist, wo ich<br />

auch nicht wirklich dazu stehe oder das nicht gut finde,<br />

sondern auch den Ansporn, das trotzdem zu tun und so<br />

gut wie möglich zu machen.<br />

TN: Sie haben auch noch ein Buch herausgegeben, einen<br />

Erziehungsratgeber.<br />

Aicha Katjivena: Wir haben da gar nichts geschrieben,<br />

sondern da gab es natürlich einen Ghostwriter, das ist ja<br />

klar. Da geht es auch wieder nur um Geld. Als ich am Anfang<br />

gehört habe, dass es im Rowohlt-Verlag erscheint,<br />

dachte ich, wow, seriös. Dann kam auch der Schreiber,<br />

der sehr bekannt ist, Bernhard Schön heißt er, er<br />

schreibt ganz viele Erziehungsratgeber, Kinderbücher<br />

usw., und hat über mehrere Tage, ganz lange, insgesamt<br />

bestimmt zwei Monate, mit uns geredet, über unsere Erziehungsvorstellungen<br />

usw. Das wurde dann in diesem<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 119


120<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

Buch umgesetzt. Nur sollten wir erst Geld kriegen, wenn<br />

die Auflage von 70.000 Exemplaren verkauft ist, was natürlich<br />

nie passiert ist, deswegen haben wir auch kein<br />

Cent davon gesehen.<br />

TN: Das ist jetzt schon überall in der Grabbelkiste.<br />

Aicha Katjivena: Eigentlich war es für die Tonne.<br />

Reinhilde Godulla: Es gab ja ganz viel Kritik, in einem<br />

<strong>Rundbrief</strong>-Artikel sind einige Zitate aus Web-Blogs in diesem<br />

Zusammenhang abgedruckt worden. Aber das haben<br />

ja auch sehr viele Leute geguckt, das waren über 4 Millionen<br />

bei jeder Sendung. Die haben das ja nicht alle aus<br />

Schadenfreude geguckt.<br />

Aicha Katjivena: Ich habe niemandem erzählt, dass ich diese<br />

Sendung drehe. Mein Vater, der politische Filme dreht,<br />

und meine Mutter, die für die ZEIT schreibt, da hatte ich<br />

ganz große Probleme, denen das zu erzählen. Ganz lange<br />

habe ich das also gar keinem erzählt. Die erste Sendung<br />

kam am 20. September 2004 raus. An dem Tag habe ich<br />

dann meine Mutter angerufen, hm, ich habe da, tut mir ja<br />

so Leid, ich weiß ja, Dein Anspruch. Die hat gesagt, bist<br />

du blöd, finde ich total gut, mach doch, super. Also die hat<br />

ganz anders reagiert, als ich dachte, und ich musste auch<br />

mit meinen eigenen Schamgefühlen umgehen.<br />

TN: Diese Kinderschutzgeschichten waren sehr negativ.<br />

Leider sieht man so etwas nicht nur im Fernsehen, wir haben<br />

mehrere solche Fälle im Bekanntenkreis. Ich denke,<br />

es ist ja wahrscheinlich auch so. Von daher ist es auch<br />

positiv zu sehen, man kann die Leute darüber erreichen,<br />

so platt und reißerisch dieses Medium ist, aber es kann<br />

natürlich auch bewirken, dass sich mehr Leute trauen, bei<br />

Beratungsstellen anzurufen und nach Hilfe zu fragen.<br />

TN: Ich glaube schon, dass es tatsächlich Leute gibt, für<br />

die das ein Anstoß ist, selber was zu machen, obwohl ich<br />

auch glaube, dass die überwiegende Mehrzahl sagen<br />

wird, na, so schlimm ist es bei uns ja noch nicht, das ist<br />

ja vergleichsweise harmlos bei uns. Was ich aber – nach<br />

wie vor – unglaublich problematisch finde, das ist die Tatsache,<br />

dass diese Familien vor der Kamera sich gar nicht<br />

bewusst darüber sind, was da läuft. Da wird ihre Not total<br />

ausgenutzt. Ich frage mich: Was passiert mit diesen Familien<br />

hinterher?<br />

TN: Das ging mir auch so. Bis heute Morgen dachte ich, es<br />

ist nicht wahr, das sind Schauspieler, keine echte Familie<br />

würde sich dem aussetzen.<br />

TN: Auch wie sich die Rolle des Kindes in einer Klasse<br />

dann verändert, wenn das alle gesehen haben.<br />

Aicha Katjivena: Das war das größte Problem. Deswegen<br />

habe ich bei schwierigen Situationen die Tür zugehauen,<br />

den Kameramann rausgeschoben, weil das an<br />

die Grenzen geht. Viele Kinder wollten gar nicht gedreht<br />

werden, aber wurden gar nicht gefragt. Die meisten Familien<br />

wurden von den Müttern angemeldet. Bei einer einzigen<br />

Familie hatte der Vater angerufen, aber bei allen<br />

anderen wollten die Mütter die Hilfe haben. Ganz viele<br />

von denen wollten auch ganz konkret Hilfe von mir, weil<br />

sie sich von mir etwas Bestimmtes erhofft haben. Viele<br />

haben sich auch gemeldet und gesagt, sie würden lieber<br />

zur Supermama Miriam gehen oder zu mir. Sie sehen die<br />

Sendungen, die eine Supermama liegt einem, die andere<br />

nicht, und sie erhoffen sich natürlich Hilfe.<br />

Das größte Problem innerhalb dieser Familienstrukturen<br />

waren ganz oft die Männer, dermaßen untergebuttert waren.<br />

Ich habe denen ganz oft gesagt Wo hast Du Deine<br />

Eier? Weil die überhaupt nicht in der Lage waren, sich<br />

selber zu spüren, also auch die Identität als Mann zu haben,<br />

die Rolle innerhalb dieser Familie auch einnehmen<br />

zu können. Das ist vielen total schwer gefallen. Die sind<br />

einfach arbeiten gegangen, weil alles andere zu Hause<br />

sie so belastet, dass sie gesagt haben, da komme ich<br />

halt abends hin, ansonsten bin ich außerhalb und mache<br />

mein Ding.<br />

Ein Vater war dabei, der hat im Schichtdienst bei Daimler<br />

gearbeitet, jeder Mensch weiß, so eine Schicht geht 9<br />

Stunden, also es gibt keine 12-Stunden-Schichten, aber<br />

der war immer 12 Stunden weg. Hinterher habe ich raus-


gekriegt, der geht nachmittags nach der Arbeit erst mal<br />

ins Café, weil zu Hause Stress ist und die Frau sofort was<br />

will. Das war eigentlich bei fast allen Familien so, dass die<br />

Frauen der dominante Part waren.<br />

Bei einem Beispiel war der Mann ein unheimlicher Waschlappen,<br />

wo ich dachte, die Frau hat bestimmt einen Liebhaber.<br />

Da hattest Du einen Tagesplan, dass die Frau jeden<br />

Mittag von 16 bis 17.30 Uhr frei hat, in der Zeit ist er dann<br />

zuständig für die Kinder. Gestern dachte ich, da geht die<br />

bestimmt zu einem Lover. Und das war dann auch so.<br />

TN: Ich sehe natürlich auch ganz stark den Part, was<br />

mit den Männern, die im Fernsehen sind, aber ich sehe<br />

darüber hinaus auch diesen Zeitgeist, in dem wir glauben,<br />

wir könnten die Dinge so schnell lösen. Das hat<br />

ja eine so eine Suggestion, da kommt jemand für ein<br />

paar Tage und dann wird alles gut. Das ist ja auch oft<br />

der Anspruch, den Eltern an die Umwelt oder an sich<br />

selber haben, wenn ich das so mache, dann klappt es.<br />

Das ist für mich wirklich ein Knackpunkt, weil das ist<br />

so ein Streueffekt. Das sind 19 Familien, aber die 4<br />

Millionen Leute, die das sehen, kriegen die Botschaft,<br />

dass man es schnell lösen kann. Eigentlich zeigt ihnen<br />

mal wieder jemand, die können das, ich muss das nur<br />

richtig machen, aber sie können es nicht umsetzen, insofern<br />

ist es eine Wiederholung des Gefühls, dass sie<br />

es nicht geschafft haben, ich habe als Mutter oder Vater<br />

versagt.<br />

Aicha Katjivena: Bei diesen Drehs ist mir auch aufgefallen,<br />

dass es in Deutschland so gut wie keinen kulturellen<br />

Rückhalt gibt. Ich komme aus einer großen Familie. Aber<br />

es geht darum, nach außen zu zeigen, ich bin ganz toll, ich<br />

kann alles, ich bin eine Supermama, meine Familie läuft<br />

rund, bei mir ist alles gesund, ich habe keine Probleme<br />

mit meiner Familie oder meinem Mann, bei mir ist alles<br />

perfekt. Das ist das Wunschdenken. Das ist das Ziel, was<br />

alle erreichen wollen.<br />

Dazwischen, wenn man die Realität sieht, so wie das<br />

Leben läuft, ich habe eben kann Geld, weil wir arbeitslos<br />

sind, ich kann mir das nicht leisten, das hat extrem<br />

große Auswirkungen auf die Familien allgemein. Es gibt<br />

keinen kulturellen Hintergrund und sie haben nichts, woran<br />

sie sich richtig orientieren können. Das habe ich bei<br />

allen Familien erlebt.<br />

TN: Es wird ja suggeriert, dass es eine richtige und eine<br />

falsche Erziehung gibt. Wenn der Vater mit dem Kind alleine<br />

ist, kommt der möglicherweise recht gut damit klar.<br />

Aicha Katjivena: Eigentlich immer, das war kein Problem.<br />

TN: Manchmal ist es auch so, wenn der Vater nicht da<br />

ist und die Mutter alleine ist, dann gelten diese Regeln<br />

auch. Kinder können zweisprachig aufwachsen, Kinder<br />

können sich am Vater orientieren, sie können sich auch<br />

an der Mutter orientieren, aber wenn beide sich auf den<br />

kleinsten gemeinsamen Nenner einigen müssen, dann<br />

geht gar nichts mehr. Meine Hoffnung ist, dass diese Erziehungsberatung<br />

bringt, wenn sich die Eltern nicht reduzieren<br />

müssen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner,<br />

sondern wirklich ihre Autonomie ausleben können, dass<br />

sie authentisch werden, es zu einer wirklich persönlichen<br />

Beziehung zu den Kindern kommt.<br />

Aicha Katjivena: Du redest von Menschen, die miteinander<br />

kommunizieren, die in einer Partnerschaft leben und<br />

miteinander reden. Die Erfahrung, die ich gemacht habe,<br />

da war es genau das Gegenteil. Da haben die Beziehungsprobleme<br />

von den Eltern eine so große Rolle gespielt, das<br />

ist ja immer so, alles hat eine Auswirkung, auch auf die<br />

Kinder. Eigentlich habe ich ja Elternberatung gemacht,<br />

weil die Arbeit mit den Kindern war während dieser Drehs<br />

immer der kleinste Teil. Erst mal musst du ja diese familiären<br />

Probleme aufarbeiten bzw. aufdecken, damit du<br />

überhaupt was machen kannst.<br />

TN: Im Gegenteil. Ich möchte gerne, dass die Eltern an<br />

dieser Stelle nicht kommunizieren, sondern dass sie ein<br />

Stück getrennt sich mit diesem Kind konfrontieren. Dass<br />

die Eltern nicht miteinander kommunizieren können, das<br />

ist ein ganz anderes Thema. Das hat natürlich in der Paarberatung<br />

dann eine hohe Bedeutung, aber nicht unbedingt<br />

in der Kindererziehung.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 121


122<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Ich gehe soweit und sage, ein Kind braucht keine sich vertragenden<br />

Eltern, sondern ein Kind braucht einen Vater<br />

und eine Mutter. Wenn das beides da ist, dann geht es<br />

einem Kind gut.<br />

Aicha Katjivena: Ich habe Dich auf jeden Fall verstanden.<br />

Aber wenn die Eltern zusammen sind und sich nur streiten<br />

und es permanent Stress gibt, wie soll sich dann das Kind<br />

verhalten? Es liebt beide Eltern, es will beiden Eltern genügen,<br />

es will von beiden Eltern die Aufmerksamkeit, aber<br />

wie kann das Kind das bekommen, wenn die beiden sich<br />

ständig bekriegen? Das ist doch total schwierig. Die tun<br />

ja dann nur so, als ob, miteinander, obwohl es gar nicht<br />

so ist.<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

Paula Diederichs: Ich sehe es nicht so, dass die einzelnen<br />

Elternteile autonom sind. Das geht nicht. Es gibt da<br />

ein Bindungskonstrukt. Sie müssen zwar beide auch eine<br />

eigene Beziehung zu den Kindern aufbauen, aber das ist<br />

nicht völlig unabhängig von der des Partners / der Partnerin.<br />

Ich sehe ein großes Problem im Verlust von etwas,<br />

das wir intuitive Elternschaft nennen. Wie gehen Leute<br />

heute an Elternschaft ran? Sie lesen Bücher, am besten<br />

sich widersprechende, Ratgeber oder wissenschaftliche<br />

Abhandlungen. Damit machen sie sich selbst total kirre.<br />

Sie verlieren ihre Intuition. Das kann nicht gut gehen. Diese<br />

Eltern müssen erst mal wieder eine Beziehung zu sich<br />

selbst aufbauen. Sie müssen sich spüren: Wer bin ich als<br />

Mama, wer bin ich als Papa? Was hier nachwirkt, ist diese<br />

Nachkriegsgeschichte, die mal als vaterlose Gesellschaft<br />

beschrieben worden ist.<br />

TN: Ihr heißt „Supermama“. Das suggeriert, dass Kindererziehung<br />

eigentlich Mamas Sache ist.<br />

Paula Diederichs: Diese Aggressionsgeschichten haben<br />

für mich als Therapeutin eindeutig etwas damit zu<br />

tun, dass der Vater nicht anwesend ist. Vielleicht hält er<br />

das Kind, aber er ist nicht wirklich da. Er ist vielleicht die<br />

Pappnase der Mutter, die die Regie führt. Aber ich habe<br />

da inzwischen auch Hoffnung. Es gibt junge Väter, die da<br />

einfach ran wollen und sagen, ich will am Erziehungspro-


zess beteiligt werden. Es gibt die traditionellen Väter, die<br />

arbeiten gehen und sagen Mach du mal zuhause, dann<br />

gibt es die, die keinen Plan haben und dann gibt es die,<br />

die sich richtig beteiligen wollen und jetzt auch in dieser<br />

frühkindlichen Zeit.<br />

TN: Wir stellen ja schon seit langem fest, dass die traditionelle<br />

Großfamilie bei uns in Deutschland ja gar nicht mehr<br />

existiert, wenn es hoch kommt, haben wir Kleinfamilien.<br />

Das heißt, dass ein Heer von jungen Leuten herangewachsen<br />

ist oder heranwächst, die keine Geschwister haben,<br />

die auch keine Beziehung zu Cousinen und Cousins haben.<br />

Es ist nicht ausgeschlossen, dass junge Menschen<br />

Eltern werden, die noch nie ein Baby im Arm hatten. Woran<br />

sollen die sich orientieren?<br />

Ich sehe es am eigenen Beispiel, eine Tochter, 18 Jahre<br />

alt, sagt, Mama, wenn ich mal Mutter werde, ich muss vorher<br />

irgendwo ein Praktikum machen, ich weiß gar nicht,<br />

wie ich damit umgehen soll. Da hilft es auch nicht zu lesen.<br />

Da fehlt einfach was. Wie gehen wir damit um?<br />

Charlotte Weidenhammer: Ja, aber auch die Außenwelt<br />

versucht uns immer durch die Ratgeber vorzugaukeln, wir<br />

können da eine Abkürzung nehmen, wir können uns ein<br />

bisschen was anlesen, dann wissen wir, wie es geht und<br />

dann machen wir es. Eigentlich ist ja die Geschichte der<br />

frühen Kindheit eine Geschichte von Bindung und Anbindung.<br />

Um das leisten zu können, müssen wir eigentlich<br />

in Kontakt treten mit unserer eigenen Bindungserfahrung<br />

und Bindungsgeschichte. Wie war das bei uns? War es<br />

gut, war es nicht gut? Wie haben wir uns gefühlt?<br />

Und das Kind, das wird uns damit konfrontieren, mit unserer<br />

eigenen Bindungsgeschichte, mit unserem Konstrukt,<br />

wie es in uns ist. Die ganzen Ratgeber tun ja so, als<br />

müssten wir das nicht. Wir wissen jetzt wie es geht, wir<br />

können einfach loslegen, aber, was diese Geburt in uns<br />

auslöst oder wenn das Kind nicht schlafen will, das wird<br />

da nicht mit in Bezug gesetzt.<br />

Ich glaube, das ist dieser Zeitgeist, jetzt machen wir das<br />

mal schnell, alles schnell, das Problem wird gelöst, Programm,<br />

und fertig. Diese eigentliche Konfrontation, die<br />

versuchen wir zu umgehen. Ich glaube, dass jeder Mensch<br />

diese Liebe für ein Kind hat. Es ist auch nicht selbstverständlich<br />

zu einer jungen Frau zu sagen, es ist da, du<br />

musst es nur irgendwie rausholen, sondern es kommt wie<br />

eine Direktive von oben: so wird’s gemacht, so wird’s gemacht<br />

– und jeder sagt es noch dazu anders, es gibt also<br />

20 Möglichkeiten, es falsch zu machen. Der Selbstbezug<br />

wird nicht hergestellt:, also z.B.will ich, dass das Kind bei<br />

mir im Bett schläft oder habe ich da überhaupt keinen<br />

Bock drauf, will ich es stillen oder finde ich das doof, egal,<br />

aus welchem Grund? Es gibt immer hohe abstrakte Ansprüche,<br />

manchmal noch durch Wissenschaft untermauert,<br />

aber es wird völlig ausgeblendet, was ich selbst will,<br />

wie finde ich mich als Frau, wie möchte ich mein Leben<br />

gestalten, möchte ich arbeiten gehen usw.<br />

TN: Ich habe vier Kinder, alle ziemlich weit auseinander.<br />

Es war wirklich jedes Mal anders, das erste Kind durfte<br />

nur auf dem Rücken liegen, das zweite sollte nur auf dem<br />

Bauch liegen, aber eigentlich kannte ich mich doch jetzt<br />

aus, ich müsste doch wissen, wie es geht. Nach neuesten<br />

Wissenschaften, jetzt doch nicht. Als lies bitte mal dieses<br />

Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“ - aber genau das<br />

habe ich nicht ausgehalten, ich habe mein Kind nicht<br />

schreien lassen, weil ich es nicht ausgehalten habe. Ja,<br />

dann bin ich eben mit dem Kind ins Bettchen, bis es 5<br />

ist oder 6 oder 7, ja, aber das passt. Das hat sich dann<br />

von ganz alleine gelöst, ich habe mir keinen Stress damit<br />

gemacht.<br />

Aicha Katjivena: Das ist doch auch okay.<br />

TN: Ich habe einen Vortrag über Familien gehört, da kam<br />

auch durch, was für eine autoritäre und hierarchische Welt<br />

das war, und diese Intuition, dafür gab es gar kein Wort. Wenn<br />

ich mich erinnere, wie früher gesprochen wurde, da hat man<br />

gar nicht über Gefühle gesprochen, so wie man auch nicht<br />

in der Ich-Form geredet hat, sondern man hat man gesagt,<br />

statt ich, oder sollte man nicht. Für Intuition gibt es im Deutschen<br />

auch kein Wort. Wenn ich an meine Oma denke, die<br />

hat sich für den Profi im Umgang mit Babys gehalten, man<br />

hat sie auch gerufen, wenn ein Baby geboren wurde. Sie hat<br />

die Babys gehalten, das sah ganz komisch aus.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 123


124<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

Da war nichts von dieser Intuition zu spüren, sondern sie<br />

war einfach eine, die gut gelernt hatte, was diese Schwestern<br />

früher gesagt hatten, die ins Haus kamen, wenn ein<br />

Kind kam. Das waren keine Hebammen, sondern katholische<br />

Schwestern. Die haben gesagt, wenn ein Kind<br />

schreit, dann weiten sich die Lungen, das ist gut. Ein Kind<br />

muss alle vier Stunden gefüttert werden. Und das Kind<br />

wurde mit einem Abstand gehalten, da kam überhaupt<br />

kein Kontakt zustande. Dann hat sie mit der Flasche gefüttert,<br />

Stillen hat man zum Glück in den 60-er Jahren abgeschafft,<br />

dieses lästige Gedöns, weil die Hebamme sagte,<br />

man muss das Kind öfter anlegen, weil sonst die Milch<br />

weg geht. Das Ziel war ja – alle vier Stunden.<br />

Und so wurde den Frauen über Jahrzehnte die Intuition<br />

auch ausgetrieben bis zum Anschlag. Das, was ich jetzt in<br />

den PEKiP-Gruppen in Hohenschönhausen vor mir habe,<br />

ist das Ergebnis dessen. In der DDR wurde es auch noch<br />

ein bisschen länger fortgeführt als im Westen, 120 Jahre<br />

länger, es gab so ein paar Nischen, ja, alle vier Stunden,<br />

durchschlafen, Töpfchen, das war genau das, was meine<br />

Oma auch gesagt hat.<br />

TN: Es war staatlich, es war viel verstaatlicht. Es gab sogar<br />

Kindergärten, wo die Kinder die ganze Woche hingehen<br />

konnten und die Eltern ihr Kind nur am Wochenende bekamen.<br />

TN: Da war ich auch, ein Wochenheim.<br />

TN: Das Thema dieser Tagung ist ja „Familien unter Generalverdacht<br />

oder Heiligenschein“. Was mir selber, ich<br />

habe auch zwei Kinder, auffällt, ist die Geschichte mit<br />

dem Generalverdacht. Ich habe für mich gemerkt, wenn<br />

ich alleine mit meinen Kindern im Kontakt bin, ist das<br />

alles easy. Aber es kommen von außen Anforderungen,<br />

Schule, Kita und es wird immer heftiger, also das heißt, in<br />

den Moment, wo ich spüre, ich habe als Mutter auch eine<br />

Aufgabe für die Gesellschaft, ich habe bitte-schön so ein<br />

Kind zu produzieren, das keinen Ärger macht und wehe<br />

wenn, das macht mir als Mutter tierischen Stress. Es ist<br />

gar nicht Stress im Umgang mit meinem Kind an sich, aber<br />

diese Erwartungen, deswegen finde ich auch den Titel dieser<br />

Tagung gut. Diese Unsicherheit, die auch eine Rolle<br />

spielt, auch die Intuition, die nicht mehr so da ist, aber die<br />

Erwartungen, die an die Familien gestellt werden, was die<br />

alles machen müssen, dass das Kind, was da rauskommt,<br />

ganz bestimmte Kriterien erfüllen muss, um in dieser Gesellschaft<br />

on top zu sein. Das ist der Stress. Der fängt mit<br />

der Schwangerschaft an.<br />

Charlotte Weidenhammer: Dieses Buch „Jedes Kind kann<br />

schlafen lernen“ ist sehr plakativ, das ist ja wie die Aussage,<br />

dass jedes Kind Abitur machen kann. Die müssen<br />

ja alle toll sein. Dieser Stressfaktor hat natürlich indirekt<br />

auch etwas mit dem Verlust von Traditionen zu tun. Wir<br />

haben nicht mehr die Großfamilien mit fünf Kindern, wo<br />

eines vielleicht den Hauptschulabschluss macht, egal,<br />

eines macht vielleicht das Abitur. Heute müssen alle unbedingt<br />

perfekt sein. Sie dürfen auch nicht hibbelig sein,<br />

das ist ja auch ein ganz großes Problem. Das ist ja nicht<br />

nur für die Eltern eine Herausforderung, sondern auch für<br />

die Kinder, in was für einer Glocke die groß werden, um<br />

zu funktionieren. Und wirklich auch die Schwierigkeit, sich<br />

dem zu verweigern, das ist vielleicht das falsche Wort, sich<br />

dem entgegenzustellen und zu sagen, mein Kind ist eben<br />

hibbelig und es kriegt trotzdem kein Ritalin – oder es ist so<br />

und so und es darf auch sein. Das ist natürlich wahnsinnig<br />

schwierig.<br />

Reinhilde Godulla: Torsten ist seit 6 Monaten Familienhelfer.<br />

Ist da der Fokus nur auf das Kind oder auch auf Mutter<br />

oder Vater?<br />

TN: Wie der Begriff Familienhelfer schon sagt, der Fokus<br />

liegt auf der Familie. Es gab lange Zeit eine Trennung zwischen<br />

Einzelfallhilfe und Familienhilfe, ich glaube, das gibt<br />

es in Berlin nicht mehr. Das heißt jetzt direkt Familienhilfe.<br />

Es gibt in der Behindertenhilfe noch den Einzelfallhelfer.<br />

Wenn man merkt, die Familie lässt den Helfer nicht so zu,<br />

dann verkauft man es auch als Einzelfallhilfe für das Kind,<br />

weil die Eltern so rüberkommen, mein Kind macht keine<br />

Hausaufgaben, schreit viel, kann nicht schlafen, was auch<br />

immer. Der Fokus liegt auf dem Kind. Sie haben alles versucht,<br />

sie haben Ratgeber gelesen usw. Wie auch schon


festgestellt wurde, ist es eigentlich so, dass die Eltern so<br />

belastet sind oder in ihrer Beziehung nicht klar kommen,<br />

dass die Kinder auffällig werden.<br />

Man muss mit den Eltern was machen, aber wenn die<br />

Eltern es nicht zulassen, weil es in ihren Augen an dem<br />

Kind liegt, was sollen wir denn besprechen, weil mein Kind<br />

macht ja keine Hausaufgaben. Wenn die Einsicht nicht da<br />

ist, dann wird das als Hilfe für das Kind verkauft, aber der<br />

Fokus ist schon auf der ganzen Familie.<br />

TN: Wie ist es bei Dir? Hast Du Eltern, die empfänglich sind<br />

oder machst Du auch erst mal den Weg über das Kind?<br />

TN: Man kommt über das Kind erst mal leichter in die<br />

Familie. Es ist auch ganz wichtig, da eine Beziehung zu<br />

dem Kind aufzubauen, weil dann die Kinder eigentlich ein<br />

Stück weit alleine sind in der Familie. Die kriegen immer<br />

alles ab, die werden angeschrieen, bei denen klappt irgendwie<br />

alles nicht, sie haben wenig Selbstwertgefühl und<br />

wenig Selbstbewusstsein, wo sollen sie das auch herkriegen,<br />

wenn sie immer das Gefühl haben, sie machen alles<br />

falsch? Da muss man einen Kontakt herstellen und eine<br />

Bindung eingehen, das ist ganz wichtig.<br />

Paula Diederichs: Zu diesem Perfektionismus: Wir haben<br />

1-Frau-Familien oder 1-Mann-Familien, die allein erziehend<br />

sind, oder eben Patchwork-Familien. Das birgt natürlich<br />

ein unheimliches Potenzial für Aggressionen oder<br />

Auseinandersetzungen. Ich reise viel herum und kriege<br />

mit, dieser Mutter-Perfektionismus spielt sich jeden Tag<br />

an den Supermarktkassen ab. Da sagt ja keiner, ich helfe<br />

Ihnen, ich nehme Ihnen das Kind mal ab, gehen Sie mal<br />

einkaufen, wie ich das teilweise in Italien oder Portugal<br />

erlebt habe. Du gehst in ein Restaurant essen, der Kellner<br />

sagt, ich passe auf das Kind auf, das nichts passiert,<br />

essen Sie mal in Ruhe. Das passiert in Deutschland? Da<br />

fliegst du aus der Kneipe raus. Oder die Mutter mit dem<br />

Kinderwagen, die in Berlin vor der defekten Rolltreppe<br />

steht und um Hilfe fragt, bekommt mit mehr Schnauze als<br />

Herz vorgehalten Das hättest du dir vorher überlegen sollen.<br />

Das sind die Nettigkeiten, die dir hier passieren. Da<br />

wird der Mutter ganz klar die Verantwortung zugewiesen<br />

und vermittelt, du hast die Verantwortung für das Kind und<br />

du kannst auf der emotionalen Ebene keinerlei Hilfe von<br />

deinen Mitmenschen erwarten.<br />

Von den Müttern wird erwartet, dass sie gute Kinder produzieren,<br />

aber die Verwirrung von der Fachseite ist unglaublich<br />

heftig und wird hier in Deutschland fast kriegerisch geführt.<br />

Es gibt jetzt zum Beispiel einen Feldzug von einem<br />

S c h l a f f o r s c h e r<br />

aus Dresden, der<br />

rausgekriegt hat,<br />

dass die Kinder<br />

auf dem Rücken<br />

liegen müssen, die<br />

dürfen nicht im Elternbett<br />

schlafen,<br />

die kriegen einen<br />

Schlafsack an, maximal<br />

noch einen<br />

Nuckel, die sollen platt auf dem Rücken gebettet liegen.<br />

Der predigt das so, alle Wissenschaftler sagen, der hat<br />

Recht, alle Kinder müssen so gebettet werden. Wenn du<br />

das nicht tust, dann riskierst du, dass dein Kind am plötzlichen<br />

Kindstod stirbt. Willst du das?<br />

In Baden-Württemberg hat die Gesundheitsministerin jetzt<br />

angeordnet, dass Sicherheit vorgeht und dem plötzlichen<br />

Kindstod zu Leibe gerückt werden muss und hat deshalb<br />

alle Hebammen des Bundeslandes angewiesen, den Eltern<br />

beizubiegen, ihre Kinder so zu betten. Die ziehen vor den<br />

Kadi, wenn die Hebamme das nicht weitergibt. Der Verlust<br />

von Intuition wird vom Staat oder von der Wissenschaft<br />

teilweise so verordnet. Ich meine, das widerspricht aller<br />

Bindungsforschung, aber dieser Krieg tobt hier. Den gibt<br />

es beim Thema Stillen oder beim Thema Impfen. Wenn<br />

eine Mutter kommt und wissen will, ob sie ihr Kind impfen<br />

lassen soll oder nicht, dann stehen auf dem Podium<br />

die Impfgegner und die Impfbefürworter und beschimpfen<br />

sich gegenseitig, du Mörder. Dabei will die Mutter nur Hilfe<br />

haben, aber es spitzt sich hier ganz schön zu.<br />

Charlotte Weidenhammer: Die Eltern werden doch gar<br />

nicht ernst genommen. Die Ärzte und Kinderkrankenschwestern<br />

denken alle, och, das kann ich, ich weiß doch,<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 125


126<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

wie es geht, wenn ein Kind schreit, dann muss man ein<br />

paar Tipps geben und das Problem hat sich erledigt. Nach<br />

dem Motto, wenn du uns nicht glaubst, dann bist du selber<br />

schuld.<br />

Ich erlebe ganz viel, dass die Ärzte dann eben sagen, das<br />

geht nicht so weiter, Sie müssen mal dieses Programm machen,<br />

„Jedes Kind kann schlafen lernen“, hier haben Sie<br />

das Buch, tschüss. Oder selbst Schreibabyambulanzen: du<br />

kriegst einen Termin in zwei Wochen, dann kriegst du eine<br />

Stunde, wo man das besprechen kann und kannst dann<br />

mit drei oder vier Blätter mit Tipps nach Hause gehen.<br />

TN: Mir wurde gesagt: Sie haben ein Schreikind, viel Spaß<br />

zu Hause.<br />

Charlotte Weidenhammer: Was nach meiner Erfahrung<br />

wirklich sehr viel hilft, wenn man mit den Eltern erst mal<br />

rausfindet, wo eigentlich ihrs ist und das dauert vielleicht<br />

eine Weile. Es gibt natürlich auch Eltern, die das erst mal<br />

gar nicht haben, also die so wenig Vorbilder in ihrem eigenen<br />

Leben hatten, wo sie sagen, das hat sich gut angefühlt,<br />

dass ihnen so ein Skript fehlt. Es fehlt ihnen so<br />

eine Art innerer roter Faden, wie sie das machen wollen.<br />

Da finde ich es spannend, dass die Eltern, wenn sie zu mir<br />

kommen, eine ganze Weile sehr gerne sofort ihr Kind abgeben.<br />

Sie geben es ab und wollen, dass ich es halte, und<br />

gucken einfach nur zu, was da eigentlich passiert.<br />

Dann installiert es sich sehr schnell, einfach über diese<br />

Erfahrung, ja, das geht, ich kann mir das auch – wie<br />

das Kinder auch machen – über Nachahmung abgucken,<br />

das rieselt irgendwie in mich rein, was ich auch eine tolle<br />

Erfahrung finde, weil es relativ schnell geht. Eigentlich<br />

haben die Eltern ja ihre Vorstellungen, aber sie sind irgendwie<br />

verschüttet gegangen. Es braucht eigentlich nur<br />

eine Weile Zeit und eine Akzeptanz auch davon und keine<br />

Beurteilung von ihrem Tun, bis die da langsam mit nach<br />

draußen kommen und auch ein Stück Authentizität wieder<br />

finden. Eine Freundin sagt, dass das Kind unbedingt im<br />

Bett schlafen muss, weil das sonst schlecht ist, aber eigentlich<br />

will ich viel lieber meine Ruhe haben, sonst kann<br />

ich gar nicht schlafen. Es kann auch umgekehrt sein, dass<br />

die Schwiegermutter sagt, wie, bei dir im Bett, das geht ja<br />

gar nicht, und die Mutter ganz glücklich ist, wenn sie das<br />

Kind zu sich holen darf. Damit ist eigentlich jeder Ratgeber<br />

ad absurdum geführt bis zu einem gewissen Grad, weil<br />

die Sache und die Leute unterschiedlich sind.<br />

TN: So wenig wie es genormte Babys gibt, gibt es die Wahrheit,<br />

wie man Babys erzieht, deswegen denke ich, es konkretisiert<br />

sich darauf, Eltern wirklich in ihrer Intuition zu<br />

stärken, in ihrer Autonomie. Eltern brauchen natürlich in<br />

manchen Situationen professionelle Berater, aber was sie<br />

noch mehr brauchen, das ist tatsächlich ein Familiennetz,<br />

also dass Eltern sich auf der Peer-Ebene austauschen und<br />

spüren, dass es unterschiedliche Wahrheiten gibt, unterschiedliche<br />

Erziehungsstile und unterschiedliche Wege.<br />

Sie müssen mitkriegen, dass sie nicht die große Wahrheit<br />

von den Professionellen, wenn ich deren Tipps umsetze,<br />

ist alles in Ordnung, sondern sie müssen darin gestärkt<br />

werden, damit sie auch Mut haben, etwas auszuprobieren<br />

und entsprechend ihrer Intuition zu leben. Ich glaube, das<br />

kriegen sie doch mehr, wenn sie sich mit anderen Familien<br />

austauschen.<br />

Aicha Katjivena: Es ist auch okay, wenn es nicht funktioniert,<br />

so wie es auch okay ist, nicht perfekt zu sein.<br />

TN: Das ist genau der Punkt, um den es eigentlich geht.<br />

Wie sieht es denn in Wirklichkeit aus? Wo sind denn diese<br />

Eltern? Wie begegnen ihnen die Fachleute im Familienzentrum,<br />

im Kindergarten? Von da wird ja das System anders<br />

bedient. Wer sagt ihnen denn: hört auf Euren Bauch?<br />

Wir reden bei uns nicht von Intuition, wir sagen Bauch.<br />

Bauch, da komme ich eher mit klar. Das ist doch ein Lösungsansatz.<br />

Ich finde es unheimlich wichtig, dass sich die<br />

Fachkräfte, die den Erstkontakt mit den Eltern haben, in<br />

der Spielgruppe und im Kindergarten, sich mit dem Bauch<br />

beschäftigen.<br />

Diese Verantwortung wahrzunehmen und entsprechend<br />

zu überlegen, was entwickeln wir, und nicht auf diesen<br />

Formalisierungszug aufzuspringen. Auch wir haben Elterntraining<br />

gehabt, haben aber alles wieder runtergefahren,<br />

weil das ganz anders laufen muss. Und dafür finde<br />

ich leider kein passendes Programm, was mir mein


Leben und meine Arbeit erleichtern würde, sondern unsere<br />

KollegInnen sind alle gefordert, auf den Bauch zu<br />

achten und die Angebote neu zu entwickeln. Es reicht<br />

nicht aus, das nur festzustellen, sondern es muss Auswirkungen<br />

haben und Informationen müssen zu denjenigen<br />

gelangen, die mit den Kindern in den Familien<br />

arbeiten, bis nach oben, in die Schulen rein. Das ist ein<br />

ganz langer Prozess.<br />

Der hat leider auch mit Geld zu tun, mit Druck, mit Wirtschaftlichkeit,<br />

das weiß ich. Ich leite seit 12 Jahren Eltern-Kind-Gruppen,<br />

die kommen im Alter von 18 Monaten<br />

an, wir haben schon runtergeschraubt, weil die Kinder ja<br />

immer früher in die Krippen gebracht werden oder in die<br />

Kitas. Zwei Stunden einmal pro Woche. Das ist nicht nur<br />

Singen, Spielen, Tralala, sondern wenn wir gemeinsam<br />

frühstücken, ergibt sich immer ein Gespräch, jede Mutter<br />

beteiligt sich, ob es um Erziehung geht. Wir haben immer<br />

ein Thema, was richtig heiß diskutiert wird. Manchmal<br />

frage ich selber nach, du hattest Schwierigkeit mit dem<br />

Schlafen, was machst du jetzt? Dann kommen alle anderen<br />

und sagen was, da bildet sich ganz viel. Bei denen<br />

kann man auch wunderbar sagen, einmal im Monat gibt<br />

es einen Elternabend, da könnt ihr noch mal tiefer in ein<br />

Thema einsteigen, vielleicht auch mal ohne Kinder. Das<br />

ist der Weg, den wir gehen.<br />

TN: Das Problem, was ich sehe, weil ich auch mit Kostenträgern<br />

zu tun, ist immer das Kreisjugendamt. Das<br />

Kreisjugendamt in Schleswig-Holstein leidet unter dem<br />

enormen Kostendruck, der da ist. Das heißt, wir gehen<br />

rein in die Ausschüsse und melden an, dass wir mehr<br />

Geld brauchen. Damit provozieren wir die Reaktion<br />

der Politik, dass sie Lösungen haben wollen, wie alles<br />

schneller und kostengünstiger geht. Das ist doch auch<br />

die Realität. Geld regiert die Welt, es geht auch darum.<br />

Insofern haben auch die Jugendämter ein großes Problem,<br />

Erfolg darzulegen, und zum Beispiel unsere Elternlernwerkstatt<br />

wird vom Jugendamt finanziert. Doch<br />

nicht, weil die uns gut finden, sondern weil sie sagen,<br />

das ist doch mal was ganz Konkretes und da können wir<br />

Ergebnisse erwarten.<br />

Charlotte Weidenhammer: Ich möchte etwas über die Entwicklung<br />

in Darmstadt berichten. Wir haben vor zwei Jahren<br />

unser Haus „Menschenskinder – Werkstatt für Familienkultur“<br />

ins Leben gerufen. Wir waren uns dabei dessen<br />

bewusst, dass wir uns einem Tabuthema annähern. Die<br />

Eltern wollen perfekt sein und nicht gerne zugeben, dass<br />

dass manches nicht so gut läuft. Mir war wichtig, dass wir<br />

einen Ort finden, wo Krise und Alltag sich mischen und wo<br />

ganz klar gemacht wird, das ist hier zusammen und das<br />

gehört auch zusammen. Das ist ungewöhnlich, weil sonst<br />

die Krise und die Normalität wenig Berührung miteinander<br />

haben. Für mich war das ein großes Experiment, weil<br />

ich vorher praktisch als Untermieter mit den Schreibabys<br />

in einer anderen Praxis tätig war.<br />

Dann kam dieses Haus, es ist eigentlich sehr klein, unten<br />

ist ein großer Gemeinschaftsraum, dann geht es nach<br />

oben, oben ist der Bewegungsraum, wo praktisch diese<br />

Praxis ist. Am Anfang war es extrem, da kam eine dickere<br />

Tür, aber unten ist praktisch ein offener Bereich, wo<br />

an drei Tagen in der Woche einfach Familien mit ihren<br />

Kindern kommen, gleichzeitig hatte ich oben die Schrei-<br />

Babys. Das hat sich als ganz toll erwiesen, weil das befruchtet<br />

sich total, also sowohl die Leute, die unter Isolation<br />

leiden, kommen und sehen andere Eltern, die da sind,<br />

und auch die unten sitzen, hören zwangsläufig, was da<br />

oben passiert. Da ist eine ganz große Offenheit in kürzester<br />

Zeit entstanden, die ich als ganz wertvoll empfinde.<br />

Parallel hat die Stadt uns zwei Jahre lang ignoriert, es gibt<br />

keinen Bedarf, man braucht und will uns nicht, vor allem<br />

die Städtische Familienbildungsstätte hat da ganz viel<br />

uns Gegenwind gegeben, weil wir ein Konkurrenzunternehmen<br />

mit einer Seele waren, was bei ihnen schon lange<br />

verloren gegangen war. Im Sommer gab es einen Fall, wo<br />

Zwillinge geschüttelt wurden in Darmstadt, was durch die<br />

Presse ging. Es erschien dann ein Artikel über die Schrei-<br />

Baby-Ambulanz, wo ein Redakteur sehr gut recherchiert<br />

hat, in dem Fall also überhaupt nicht reißerisch und auch<br />

sehr fundiert. Er hatte auch eine Mutter interviewt, die<br />

sich da sehr offenbart hat. Und interessanterweise war<br />

gerade eine Woche vorher der Sozialdezernent bei uns<br />

gewesen und hatte uns wieder einmal gesagt, es gäbe<br />

keinen Bedarf und er brauche uns nicht, auch für die<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 127


128<br />

Workshop Heute ratlos, morgen super<br />

Heute ratlos, morgen super<br />

Schreibaby-Ambulanz gäbe es keinen Bedarf. Schließlich<br />

gibt es eine Anlaufstelle für drogensüchtige Mütter und für<br />

Teenager-Schwangere, das reicht aus.<br />

Dann erschien dieser Artikel und dieser Redakteur hatte<br />

auch in der Stadt angerufen und gefragt, was es denn<br />

als städtisches Angebot für Eltern, die nicht mehr weiter<br />

wissen, gibt. Er bekam wieder zur Antwort, drogensüchtige<br />

Mütter und Teenager. Er hat das dann auch so ganz<br />

nüchtern in dem Artikel geschrieben. Daraufhin habe ich<br />

Anrufe bekommen von ganz entrüsteten Eltern, dass das<br />

Angebot nicht reicht. Plötzlich haben die gemerkt, keine<br />

Ahnung, was passiert ist, aber der Wind drehte sich. Plötzlich<br />

pushen sie mich wie verrückt und schreiben mich auf<br />

alle Fahnen drauf. Die Stadt Darmstadt und die Schrei-<br />

Ambulanz fand ich schon drei Mal in der Zeitung, bevor<br />

ich wirklich mit denen in Verhandlung getreten war. Ich<br />

muss ganz doll aufpassen, dass die mich nicht da verheizen.<br />

Im Prinzip ist es wieder eine Modeerscheinung,<br />

auf einmal ist die frühe Kindheit wichtig, wir haben die<br />

Bindung entdeckt, das ist auch eine Gefahr. Auch ist die<br />

Frage für mich, was mache ich daraus und wie gehe ich<br />

damit um?<br />

Ich denke, es ist sowieso etwas, was gerade im Kommen<br />

ist, also diese frühe Zeit als Präventionsfeld zu entdecken,<br />

wo es dann auch Gelder gibt. Letzte Woche war ich<br />

auf dieser Präventionskonferenz, die haben sich ganz<br />

schnell viele Projekte gesucht, die da teilhaben sollten.<br />

Es gibt ein Projekt, was sie jetzt starten, frühe Hilfen. Was<br />

ich als fast gruselig erlebe, ist die Konkurrenz, die auch<br />

ganz schnell entsteht, dass sich die ganzen Träger um<br />

den lächerlich kleinen Topf streiten. Das sind ungefähr<br />

30 Träger, die das unbedingt machen wollen, aber das<br />

sind alles Jugendhilfen, die noch nie mit früher Kindheit<br />

was zu tun gehabt haben. Die suchen sich sofort raus,<br />

ja, dann machen wir diesen A-Kurs und diesen B-Kurs ...,<br />

aber sie haben eigentlich keine Ahnung, was ich höchst<br />

bedenklich finde. Aber was ist eigentlich mit den Eltern<br />

oder den Kindern?<br />

Paula Diederichs: Ich wollte noch sagen, wie wir die Familienbegleitung<br />

machen, das sind ja nicht nur Schrei-Babys,<br />

sondern die sind bis 3 Jahren. Das haben wir von der Stiftung<br />

erlaubt bekommen, also von den Geldgebern, dass<br />

wir diese Begleitung machen können, wie wir die begleiten,<br />

das ist wirklich Bauch, Intuition, auf dem Weg zu sich<br />

selbst, damit sie sich wieder finden. Ich erlebe das als unglaublich<br />

bereichernd. Ich war früher auch Erzieherin und<br />

Sozialarbeiterin. Wie schön es ist, die einzubinden, das<br />

passiert wirklich in allen Nachbarschaftsheimen, wo wir<br />

sind, das ist ganz toll. Und die Türkinnen haben wir in der<br />

Osloer Straße auch gekriegt. Parallel zu dem Tag, wo die<br />

Schrei-Babys nicht da waren, hat ein türkisches Frauenfrühstück<br />

stattgefunden, also es hat vier Jahre gebraucht,<br />

bis die Kontakt hatten, bis sie wirklich gekommen sind,<br />

aber mit der Einrichtung des Frühstücks hat es plötzlich<br />

geschnackelt.<br />

Die Art und Weise, wie in den Nachbarschaftsheimen miteinander<br />

umgegangen wird, das finde ich ganz toll. Ich<br />

habe mich auch bewusst dafür entschieden, da zu bleiben,<br />

statt die anderen Angebote, ins Krankenhaus zu gehen,<br />

anzunehmen. Es ist zwar gut, dass es das in Krankenhäusern<br />

auch gibt, aber ich bleibe in dem Rahmen, weil es<br />

vom Anspruch her zusammenpasst.<br />

TN: Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es ja um<br />

eine Haltung. Und die Haltung ist nicht an einen Ort gebunden.<br />

Das kann in Schulen und Kitas genauso stattfinden.<br />

Damit sind wir wieder beim Netzethema. Das<br />

funktioniert ja nur, wenn es nicht exklusiv an einen Ort<br />

gebunden ist sondern sich allgemein als Haltung verbreitet.<br />

Aicha Katjivena: Für alle, die im sozialen Bereich arbeiten<br />

oder mit Menschen zu tun haben, ist es natürlich wahnsinnig<br />

wichtig, selbstreflektiert genug zu sein, um zu sehen,<br />

was für eine Haltung habe ich, was möchte ich gerne<br />

vermitteln. Man muss auch schauen, ob das abzukoppeln<br />

ist von dem, was der Träger für eine Konzeption hat oder<br />

welches Leitbild er hat. Manchmal gibt es eine bestimmte<br />

Konzeption, nach der du arbeiten musst, das ist meine<br />

Haltung bzw. Vereinbarung mit dem, was der Träger vermitteln<br />

will.<br />

Ich würde auch gerne noch was zum Berliner Bildungsprogramm<br />

sagen, weil das arbeitet eben mit dem Bauch.


Es geht darum, dass Erzieher auch noch mal merken, von<br />

dieser Rolle wegzukommen, immer zu moderieren und zu<br />

sagen, ich habe 20 Jahre lang Erfahrung, ich habe dies<br />

und das gemacht, von da wegzukommen und zu gucken,<br />

was kriege ich von den Kindern? Auch mal zu gucken, wo<br />

leben die Kinder und mit deren sozialem Umfeld, mit den<br />

Lebensumständen, in denen sie sich befinden, mit arbeiten<br />

zu können und das mit einzubeziehen, zum Beispiel<br />

auch in meinem Bild über diese Familie. Man muss wertschätzend<br />

genug sein, um nicht meine Sicht der Dinge<br />

oder meine pädagogischen Ansätze denen überzustülpen,<br />

sondern zu überlegen, wie ich sie stärken kann. In<br />

der Familienhilfe ist es wahnsinnig wichtig, die Kinder, die<br />

mit ihren Eltern allein gelassen werden, zu stärken, um<br />

ihnen Möglichkeiten zu geben, in ihrer Familie zu überleben,<br />

ohne dass sie daran zerbrechen. Das ist ein wichtiger<br />

Aspekt, mit den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen<br />

zu arbeiten. So ist es auch wichtig zu gucken, was das<br />

mit mir macht, wer ich bin und was kann ich geben oder<br />

was will ich.<br />

TN: Die Erfahrung sagt ja, dass es sich wieder umkehrt.<br />

Zu DDR-Zeiten waren Hausbesuche ja ganz normal, Beratungen<br />

ganz normal, also immer im Kontext mit der Familie.<br />

So wie man eine Wohnung betritt, hat man ja ein<br />

anderes Bild von dieser Familie. Da soll man ja wieder<br />

hin. Ich finde es auch ganz wichtig, dass bestimmte Dinge<br />

in der Zeit der Kita mit Eltern noch viel besser funktionieren,<br />

weil man automatisch ins Gespräch kommt, weil<br />

die Eltern die Kinder selber abgeben. Da ist eine Beziehung<br />

einfacher als in der Schule und je älter die Kinder<br />

werden, desto schwieriger wird es ja, an sie heranzukommen.<br />

In die Schule werden Eltern nur gebeten, wenn Auffälligkeiten<br />

sind, was schade ist, denn man sollte positiv<br />

denken und an die Ressourcen anknüpfen, die bei dem<br />

Kind und in der Familie da sind. Ich finde, das haben wir<br />

vernachlässigt. Wir sollten den Weg wieder gehen, damit<br />

wir immer diesen gemeinsamen Blick von Familie schaffen<br />

können. Wenn die Familie zu klein wird, dann müssen<br />

wir gucken, wie wir sie ergänzen können durch andere<br />

Menschen.<br />

Reinhilde Godulla: Allgemein bei Elternabenden ist das<br />

mittlerweile sehr wenig. Ich habe von 1984 bis 1990 im<br />

Kinderschülerladen gearbeitet, da war eine intensive<br />

Auseinandersetzung, es wurde alles besprochen. Heute<br />

unterrichte ich zukünftige Erzieher/innen im Pestalozzi-<br />

Fröbel-Haus in ihrem Praktikumssemester und bin einigermaßen<br />

erschüttert, dass es Elternarbeit in den einzelnen<br />

Einrichtungen so gut wie gar nicht mehr zu geben<br />

scheint oder einmal alle zwei Monate. Dieser Klassiker,<br />

wie er für mich immer selbstverständlich war, ist nicht<br />

mehr oft vorhanden. Oder einfach die Möglichkeiten für<br />

die Eltern, sich auszutauschen, das ist relativ selten geworden.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 129


130<br />

Workshop<br />

Workshop<br />

Pass-genau?<br />

Familienbilder und Rollenklischees im<br />

interkulturellen Kontext<br />

Inputs:<br />

Dr. Haci-Halil Uslucan:<br />

„Familienrollen und Erziehungsstile bei Migranten<br />

aus der Türkei“<br />

Haroun Sweis (Radio Multikulti und Outreach Berlin)<br />

„Medienverhalten arabischer Familien in Deutschland“<br />

Petra Kindermann und Svetlana Krabel<br />

(NBH Prinzenallee)<br />

„Unterstützung von Familien aus Ex-Jugoslawien -<br />

rund um die Schule“<br />

Moderation:<br />

Herbert Scherer<br />

Haci-Halil Uslucan: Erziehung scheint gegenwärtig schwieriger<br />

denn je geworden zu sein. Populärwissenschaftliche<br />

Werke, die einen Erziehungsnotstand feststellen, erfreuen<br />

sich einer großen Beliebtheit. Einig ist man sich darüber,<br />

dass in den letzten Jahrzehnten ein grundlegender Wandel<br />

in den Erziehungsvorstellungen stattgefunden hat, der mit<br />

gesellschaftlichen Veränderungsprozessen einherging. Immer<br />

seltener bildet die so genannte „Normalbiographie“,<br />

die gewöhnlich über den Arbeitsmarkt geregelt wird, für<br />

Jugendliche das Leitbild. Allgemein stehen heute Jugendliche<br />

sowohl unter gesteigerten Entscheidungsoptionen<br />

und zugleich auch unter höherem Entscheidungsdruck.<br />

Jugendliche können und müssen heute mehr entscheiden<br />

denn je; d.h. aber auch, dass sich ihnen neue Chancen<br />

und neue Risiken eröffnen. Dieser Anstieg von Gestaltungsmöglichkeiten<br />

bedeutet zugleich, dass einerseits<br />

Jugendliche selbst immer mehr zu Entscheidungsträgern<br />

werden und andererseits die Kriterien für Entscheidungen<br />

immer subjektiver und offener werden, weil ein Rückgriff<br />

auf traditionale Vorgaben mehr und mehr an Verbindlichkeiten<br />

einbüßt.<br />

Von diesen Prozessen sind Migranten und deren Kinder<br />

oft deutlich stärker betroffen als Einheimische. Die<br />

Grundanforderungen, eine Balance zwischen dem Eigenem<br />

und dem Fremden zu halten, sind für ausländische<br />

Familien und Kinder wesentlich höher als für Einheimische.<br />

Für sie gilt: Zuviel Wandel und Aufgeben des Eigenen<br />

führt zu Chaos, zu wenig Wandel zu Rigidität. Sie<br />

müssen einerseits über die Differenz zum Anderen, eigene<br />

Identität bewahren, andererseits aber auch, sich<br />

um Partizipation kümmern, das Fremde übernehmen.<br />

Integration nach innen und Öffnung nach außen stellen<br />

sich als notwendige, aber teilweise widersprüchliche<br />

Anforderungen dar. Diese Belastungen können zu Streß<br />

und Verunsicherung führen. Kinder aus Migrantenfamilien<br />

müssen insbesondere in der Jugendphase nicht nur<br />

die allgemeine Entwicklungsaufgabe bestehen, eine angemessene<br />

Identität und ein kohärentes Selbst zu entwickeln,<br />

sondern sich, anders als ihre deutschen Altersgenossen,<br />

auch noch mit der Frage der Zugehörigkeit zu<br />

einer Minderheit auseinander setzen und dementsprechend<br />

eine „ethnische Identität“ ausbilden. Diese ethnische<br />

Kategorisierung ist ein relevantes Merkmal in der<br />

Sozialisation von Migrantenkindern, weil dadurch über<br />

Zeiten und Generationen hinweg die symbolische Stabilität<br />

der Eigengruppe garantiert wird.<br />

Was im Einzelnen für Kinder und Jugendliche gilt, ist nicht<br />

minder für die gesamte Familie relevant; denn bei einer<br />

familialen Migration sind die Familienmitglieder gezwungen,<br />

zusätzlich zur alltäglichen Gestaltung des Familienlebens,<br />

ihr Verhaltensrepertoire zu erweitern, zu ändern<br />

und umzuorganisieren. In dem Maße jedoch, indem eine<br />

Akkulturation, d.h. ein allmählicher Erwerb der Standards<br />

der Aufnahmekultur erfolgt, findet in der Regel auch eine


Entfernung von den Werten der Herkunftskultur statt; dieser<br />

Widerspruch, sich einerseits in die Mehrheitsgesellschaft<br />

zu integrieren, andererseits aber auch kulturelle<br />

Wurzeln nicht ganz aufzugeben, gestaltet sich insbesondere<br />

im erzieherischen Kontext als spannungsgeladen.<br />

Denn besonders Kinder, die sich - aufgrund ihrer schulischen<br />

Sozialisation im Einwanderungsland - vermutlich<br />

rascher und intensiver als ihre Eltern an die Kultur des<br />

Einwanderungslandes akkulturieren, verlieren dadurch<br />

gleichzeitig ihre sozialisatorischen Bindungen an ihre<br />

Herkunftskultur.<br />

Die intensivere Akkulturation der Kinder führt dazu, dass<br />

Eltern merken, dass die Kinder sich ihnen entfremden.<br />

Aus ihrer Sicht fühlen sie sich genötigt, die Kinder stärker<br />

an ihre eigene Kultur zu binden - bei uns macht man<br />

das aber so, mach das nicht wie die Deutschen. Diese<br />

verstärkte Disziplinierung der Kinder und die Erinnerung<br />

an eigenkulturelle Verhaltensweisen können zu stärkeren<br />

Spannungen führen.<br />

Ich will Ihnen noch zwei, drei Daten aus unserer Stichprobe<br />

darlegen. Wir haben nach den Bildungshintergründen<br />

der Eltern gefragt, das Ergebnis ist nicht nur für diese<br />

Stichprobe gültig, sondern mit einigen anderen Studien,<br />

die ich mit türkischen Familien durchgeführt habe, fast<br />

abbildungsgleich. Wir haben hier 3 bzw. 4 % Deutsche,<br />

die gar keinen Abschluss angegeben haben, 10 bis 12 %<br />

türkische Familien, die überhaupt keinen Abschluss hatten,<br />

und rund 35 % türkische Mütter, die nur einen Grundschulabschluss<br />

haben.<br />

Hierzu muss man wissen, dass in der Türkei bis 1998<br />

nur eine 5-jährige Schulpflicht bestand, erst seit 1998,<br />

also seit knapp 10 Jahren, gibt es eine 8-jährige Schulpflicht.<br />

Der größte Teil der klassischen Arbeitsmigranten, wie<br />

jetzt meiner Elterngeneration, die in den 60-er und 70-<br />

er Jahren gekommen sind, haben eine Grundschulbildung<br />

als höchsten Bildungsabschluss. Das heißt, das<br />

sollte uns noch mal zum Denken Anlass geben: was wir<br />

manchmal fordern, wenn wir sagen, die Eltern unterstützen<br />

ihre Kinder zu wenig oder sind zu wenig beteiligt<br />

an deren Bildungslaufbahn. Wie kann eine Mutter, die<br />

selbst nur eine Grundschulbildung hat, mit dem Kind<br />

in der 7. Klasse sitzen und für Mathe oder für Deutsch<br />

lernen? Das wird oft von Sozialpädagogen oder Lehrern<br />

schnell gesagt, hier, die kümmern sich zu wenig, aber<br />

der Bildungshintergrund ist ein Aspekt, den wir mit berücksichtigen<br />

müssen.<br />

Während bei den Vätern vielfach über das Militär noch so<br />

was wie eine elementare Nachsozialisation erfolgt, wenn<br />

sie in den Dörfern wenig oder keine kontinuierliche Schule<br />

hatten, entfällt bei den Frauen zum Teil auch das, da hat<br />

manche zwar eine 5-jährige Grundschule, die aber eventuell<br />

nicht kontinuierlich durchgeführt wurde.<br />

Wir haben vier verschiedene Erziehungsstile abgefragt.<br />

Man stellt fest, dass die türkischen Mütter strenger sind<br />

als die deutschen Mütter. Auf einer Skala von 1 bis 5 ist<br />

der Wert von 1,74 noch ein relativ moderater Wert. Die Unterstützung<br />

durch die türkische Mutter ist etwas geringer,<br />

aber sehr groß sind die Unterschiede bei der Disziplin. Türkische<br />

Mütter wie Väter erwarten stark ein diszipliniertes<br />

Verhalten von ihren Kindern. Das heißt, nach außen soll<br />

das eigene Verhalten und das Verhalten des Kindes ordentlich<br />

und artig sein, den Eltern keinen Ärger machen,<br />

den Besuch artig begrüßen, die Hierarchie einhalten, das<br />

waren wichtige Aspekte für die Eltern.<br />

Wir haben die Jugendlichen selber gefragt, wie sie die elterliche<br />

Erziehung wahrnehmen. Dort stellt man fest, dass<br />

die stärksten Unterschiede bei der Verhaltensdisziplin liegen.<br />

Türkische Jugendliche haben berichtet, dass ihre Eltern<br />

von ihnen ein artiges, ordentliches, diszipliniertes Verhalten<br />

erwarten. Auch hier, die Strenge der Mütter wurde<br />

höher wahrgenommen, die Unterstützung etwas geringer.<br />

Und das ist für alle Eltern jetzt ein Schlag ins Gesicht, wenn<br />

sie die Unterstützungswahrnehmung der Jugendlichen, der<br />

türkischen wie der deutschen, und die Unterstützungsleistung,<br />

die Eltern meinen zu geben, sehen. Eltern meinen,<br />

ihre Kinder deutlich stärker zu unterstützen, als das, was<br />

bei den Jugendlichen ankommt. Das ist bei deutschen und<br />

türkischen Familien gleich.<br />

Wenn man hier jetzt grob zusammenfasst, könnte man<br />

sagen, türkische Familien erziehen dysfunktional. Die<br />

Strenge ist höher ausgeprägt, die Unterstützung ist geringer<br />

ausgeprägt, es gibt eine stärkere Inkonsistenz, d.h.<br />

Unberechenbarkeit. ABER: wir haben bei den Bildungs-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 131


132<br />

Workshop Pass-genau?<br />

Pass-ganau?<br />

hintergründen gesehen, dass sie sehr asymmetrisch,<br />

sehr schief, waren. Wir haben einen Großteil türkischer<br />

Eltern, die nur eine Grundschulbildung haben, auf der<br />

anderen Seite hatten wir bei den deutschen Vätern 50<br />

% mit Abitur.<br />

Eigentlich sind generell Vergleiche zwischen Deutschen<br />

und Migranten soziologisch nicht korrekt, auch nicht der<br />

Vergleich türkische Jugendliche versus deutsche Jugendliche<br />

im Bereich Jugendgewalt, wie es häufig gemacht<br />

wird. Korrekter wäre der Vergleich deutsche Unterschicht<br />

versus türkische Migranten, denn der größte Teil der türkischen<br />

Familien – das ist meine Hypothese - ist aus der<br />

Unterschicht. Wir haben hier den Vergleich einer Gesamtgesellschaft<br />

mit einer spezifischen Population. Vor diesem<br />

Hintergrund haben wir gefragt: wenn wir die Bildungshintergründe<br />

vergleichen, wie sieht es dann aus?<br />

Wir haben uns die Gruppe angeguckt, die die Hauptschule<br />

als höchsten Bildungshintergrund hat und dann deutsche<br />

Eltern mit Hauptschule und türkische Eltern mit Hauptschule<br />

verglichen. Was sagen die Daten jetzt? Bis auf den<br />

Aspekt der Verhaltensdisziplin, der war sehr robust, also<br />

auch da haben türkische Eltern mehr Disziplin gefordert,<br />

aber in den anderen Dimensionen hat sich das nämlich<br />

umgekehrt. Das heißt, türkische Mütter mit Hauptschule<br />

haben mit weniger Strenge erzogen als deutsche Mütter<br />

mit Hauptschule. Die Unterstützungsleistung der türkischen<br />

Mütter war höher und sie waren konsistenter.<br />

Einen ähnlichen Befund haben wir bei den Vätern. Wenn<br />

man das salopp zusammenfasst, haben türkische Eltern<br />

mit Hauptschulabschluss besser erzogen als deutsche Eltern<br />

mit Hauptschulabschluss.<br />

Eine Erklärung, die wir uns versuchsweise zurechtgelegt<br />

haben, warum das so ist: Gerade wenn Sie bedenken, dass<br />

ein Großteil türkischer Eltern nur fünf Jahre Schulbildung<br />

hat, ein kleiner Teil vielleicht acht Jahre, dann sind zehn<br />

Jahre Schulbildung für türkische Eltern im Vergleich zu<br />

der Referenzgruppe, zu den anderen Türken, schon eine<br />

hohe Bildung. Sie sind bildungsaufsteigend und deutlich<br />

offener in Richtung moderner Orientierung der Erziehung,<br />

während Hauptschule für deutsche Eltern, deren Referenzgruppe<br />

andere deutsche Eltern sind, Bildungsverlierer<br />

sind. Das ist der klassische Unterschied.<br />

Wenn man die Bildungshintergründe parallelisiert, verkehren<br />

sich die Unterschiede. Deshalb müssen wir unsere<br />

Klischees auch dahin gehend revidieren, dass wir prüfen,<br />

ob wir hier angemessene Gruppen vergleichen. Das was<br />

wir vielfach bei Migranten sehen und schnell kulturalisieren,<br />

würden wir in der deutschen Unterschicht sogar in<br />

krasseren Formen sehen. Einige Studien zeigen, dass bei<br />

gleicher Ausgangslage, bei der gleichen Einkommenslage,<br />

Kinder in muslimischen Familien besser versorgt sind,<br />

was die Grundversorgung wie saubere Kleidung, warmes<br />

Essen angeht, als die gleiche soziale Schicht in deutschen<br />

Familien.<br />

Das zeigen auch die Daten: 54 % der türkischen Familien<br />

haben ein Haushaltseinkommen, das zu den untersten<br />

10 % gehört. Dieser Satz ist bei deutschen Familien 7<br />

%. 48 % aller deutschen Familien, aber nur 20 % aller<br />

türkischen Familien haben ein mittleres Haushaltseinkommen.<br />

Also die Armutskonstellation ist wichtig, wenn<br />

wir Familien und deren Erziehungsziele vergleichen wollen,<br />

Migrantenfamilien sind deutlich stärker von Armut<br />

betroffen. Und arme Kinder haben, das zeigen Berechnungen,<br />

ein doppelt so großes Desintegrationsrisiko<br />

wie Kinder in Durchschnittseinkommens-Familien. Das<br />

bedeutet, dass Schullandheimfahrten nicht gewährt<br />

werden, dass angesagte Kleidung nicht gekauft werden<br />

kann, weil sie von Armut deutlich stärker betroffen sind.<br />

Die Auswirkungen von Armut in Bezug auf die Integration<br />

– sind bei armen Kindern doppelt so stark wie bei<br />

Kindern in Familien mit Durchschnittseinkommen in Migrantenhaushalten.<br />

Ein weiteres entwicklungspsychologisches Risiko ist die<br />

hohe Kinderzahl. Die Forschung zeigt, dass bei mehr als<br />

drei Geschwistern die Gefahr besteht, auch wenn der Altersabstand<br />

der Geschwister sehr eng ist, dass ältere<br />

Kinder übersozialisiert werden. Wenn eine Familie ein<br />

3-jähriges, 5-jähriges und ein 1-jähriges Kind hat, dann<br />

ist man geneigt, das 5-jährige Kind als älter und reifer zu<br />

betrachten. Das 1-jährige Kind quäkt mehr und fordert<br />

mehr ein, während das 3-jährige Kind und das 5-jährige<br />

Kind als reifer betrachtet werden. Wäre nur ein Kind da,<br />

käme der 5-Jährige voll auf seine kindlichen Kosten. Die<br />

Gefahr ist in Migrantenfamilien deutlich stärker, weil


dort Familienbildung und Familienwerte relativ schnell<br />

und zügig abgehakt sind. Im Alter von 20 bis 35 ist man<br />

Familie und die Kinder sind dicht beieinander.<br />

Studien zeigen, dass 24 % der deutschen 8-9-jährigen Kinder<br />

Altersabstände zu Geschwistern von unter zwei Jahren<br />

haben, bei Migrantenkindern waren es insgesamt 80 %,<br />

die dicht benachbart auf die Welt kamen. Mit Blick auf die<br />

Adoleszenz zeigt sich, dass bei Kindern, die nahe beieinander<br />

sind, die Adoleszenz spannungsreicher ist, die 14-<br />

bis 16-Jährigen dort haben einfach stärkere Konfliktfelder,<br />

als wenn der Geschwisterabstand größer ist.<br />

TN: Gibt es Erfahrungswerte über die Gewalterfahrungen<br />

von Kindern und Jugendlichen? Erleben türkische Familien<br />

ihre reale Situation als arm, was ja faktisch nach<br />

den Einkommensverhältnissen die Untersuchung gezeigt<br />

hat?<br />

Haci-Halil Uslucan: Zur ersten Frage: Das wäre ein Fachvortrag<br />

für sich, weil unsere Studien nämlich genau<br />

dieser Frage nachgehen, Erziehung und Gewalt. Wir haben<br />

sowohl in Berlin, vorher in Magdeburg, als auch in<br />

der Türkei Studien zu dem Thema Erziehung und Gewalt<br />

durchgeführt. Was sich interessanterweise zeigt, auch<br />

die Gewalttaten, ähnlich bei der Erziehung: wenn man<br />

einfach deutsche und türkische Jugendliche generell vergleicht,<br />

sind türkische Jugendliche deutlich stärker gewaltbelastet.<br />

Wenn man aber wiederum Jugendliche in<br />

Hauptschulen betrachtet, hatten türkische Jugendliche<br />

immer noch höhere Werte, aber das war statistisch nicht<br />

bedeutsam, weil wir sehr viel mehr türkische Jugendliche<br />

als deutsche auf Hauptschulen haben.<br />

Die Gewalttaten in Hauptschulen sind generell höher als in<br />

Gymnasien. Da unterscheiden sich Türken von Deutschen,<br />

was die aktive Gewalttat betrifft, nicht groß. Wo es aber in<br />

der Tat große Unterschiede gibt, das ist die Akzeptanz von<br />

Gewalt, Akzeptanz von Männlichkeitsideologien, dass sich<br />

ein Mann zur Not mit Gewalt wehren muss, dass es richtig<br />

ist, dem anderen zu zeigen, wo es langgeht, wenn der über<br />

die Stränge schlägt. Also solche gewalttätigen Ideologien,<br />

da war die Akzeptanz bei türkischen Jugendlichen (?) deutlich<br />

stärker.<br />

Was die häusliche Gewalt betrifft: Wir haben auch die Eltern<br />

nach eigenen Gewalterfahrungen durch ihre Eltern<br />

gefragt, also quasi über drei Generationen hinweg. Es hat<br />

sich gezeigt, dass mütterliche Integration ein ganz wichtiger<br />

Aspekt war, ob die von den Müttern in ihrer eigenen<br />

Kindheit erfahrenen Gewalt weitergegeben wird oder<br />

nicht. Mütter, die gut integriert waren, haben viel weniger<br />

Gewalt weitergegeben. Eine Studie, die wir in der Türkei<br />

durchgeführt und mit einer ostdeutschen Stichprobe verglichen<br />

haben, hat gezeigt, dass die Jugendlichen in der<br />

Türkei zwar höhere Werte von Familiengewalt angegeben<br />

haben, also dass ihre Eltern sie stärker diszipliniert haben,<br />

zugleich aber das Klima in der Familie besser eingeschätzt<br />

haben als die ostdeutschen Jugendlichen. Das bedeutet:<br />

herrscht in deutschen Familien Gewalt vor, ist die<br />

Eltern-Kind-Beziehung deutlich stärker belastet. Während<br />

Gewalt in einigen türkischen Familien Teil des Erziehungsauftrages<br />

der Eltern zu sein scheint. Gewalttätiges Verhalten<br />

der Eltern produziert dort nicht unbedingt ein Gefühl,<br />

dass man sich abgelehnt oder entwertet fühlt, sondern die<br />

Eltern erziehen eben.<br />

TN: Es ging um die Reaktion der Eltern auf auffälliges Verhalten.<br />

Der Jugendliche wird von der Polizei nach Hause<br />

gebracht, er ist bei Dealerei oder Hehlerei erwischt worden,<br />

wie ist die Reaktion der Eltern türkischer oder deutscher<br />

Herkunft?<br />

Haci-Halil Uslucan: Einzelfälle haben wir nicht abgefragt,<br />

aber aus meiner Erfahrung ist die Reaktion schon mal geschlechtsspezifisch,<br />

bei Jungen anders als bei Mädchen.<br />

Bei Mädchen wäre die Reaktion deutlich stärker und intervenierender.<br />

Bei den Jungen könnte man noch mal differenzieren,<br />

ob es ein Teil der jugendlichen Sozialisation ist,<br />

z.B. bei einer Prügelei, wo man sagen könnte, er probiert<br />

sich als Mann aus. Diebstahl, Drogen, da ist die Reaktion<br />

der Eltern zum Teil sehr massiv, also auch ihrerseits mehr<br />

mit Gewalt verbunden, was die Gewalt von Jugendlichen<br />

natürlich noch verstärkt.<br />

Noch zur Frage der Armut. Ich glaube, die ist nicht eindeutig<br />

zu beantworten. Ein Teil der Eltern sagt: Trotz Sozialhilfe<br />

leben wir hier in Deutschland besser, weil in irgendeiner<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 133


134<br />

Workshop Pass-genau?<br />

Pass-ganau?<br />

Weise die Grundversorgung abgesichert ist. Andererseits<br />

kenne ich aus dem türkischen Kontext auch viele Eltern,<br />

die sich jetzt – nach langjähriger Arbeitslosigkeit – fragen,<br />

ob es sich lohnt in Deutschland zu bleiben, nur um<br />

am Leben zu bleiben, und die dann auch zurückkehren.<br />

Wenn sie hier keine Perspektive haben, gehen sie auch<br />

zurück, weil irgendwie durchs Leben kommen sie auch in<br />

der Türkei. Aber das ist sehr stark herkunftsbedingt, aus<br />

welchen Konstellationen sie kommen, sind sie Flüchtlinge,<br />

können sie überhaupt zurück, welche Perspektiven haben<br />

sie, wenn sie zurückgehen?<br />

TN: Gibt es Untersuchungen oder Erkenntnisse darüber,<br />

welche Rolle bei der Integration das Internet spielt, also<br />

die selbstverständliche Nutzung, Zugang eines Bildungsmittels<br />

für Pubertierende, aber auch für Eltern?<br />

Haci-Halil Uslucan: Wir haben das so nicht gefragt. Ich<br />

glaube, es gibt eine Studie an der Uni Potsdam, über das<br />

Mediennutzungsverhalten von Migranten, 2000/2001,<br />

Fernsehen, Internet. Die wurde auch mit türkischen Migranten<br />

durchgeführt. Aus meiner eigenen Erfahrung kann<br />

ich sagen, dass da die Haltung der Eltern sehr gespalten<br />

ist. Einerseits weil sie aus ihrer Sicht nicht kompetent genug<br />

sind, die Kinder sich also alles angucken und runterladen,<br />

wovon die Eltern meinen, es sei wichtig für die Schule.<br />

Aber sie können nicht kontrollieren, was ihre Kinder<br />

anschauen, auf welche Seiten sie gehen. Sie sind nicht in<br />

der Lage, Filter einzubauen.<br />

Was in der türkischen Community die Runde macht - vielleicht<br />

ist es in der arabischen Community ähnlich - dass<br />

sehr viele Mädchen aus stark behüteten und konservativen<br />

Elternhäusern über Internet-Foren irgendwelche Bekanntschaften<br />

machen und dann ausreißen. Die Eltern fallen<br />

dann aus allen Wolken, weil sie ihre Töchter stark behütet<br />

haben aufwachsen lassen: statt was für die Schule zu machen,<br />

haben sie Bekanntschaften im Internet gemacht und<br />

waren dann weg. Das sind zwar Einzelberichte, aber das ist<br />

die andere Seite der Internetnutzung. Die Eltern sind vielfach<br />

medial nicht kompetent genug, um der Internetnutzung<br />

Grenzen zu setzen oder sie zu kontrollieren. Das wird<br />

wahrscheinlich bei den deutschen Eltern genauso sein.<br />

TN: Ich denke auch, dass Eltern-Kind-Beziehungen sich<br />

verschoben haben. Der Vater fühlt sich reduziert auf<br />

nichts, überhaupt die Eltern. Die Jugendlichen sind den<br />

Eltern gegenüber, was Internet und Zugang angeht, natürlich<br />

weitaus überlegen. Diese Überlegenheit spielt in Konflikten<br />

eine große Rolle.<br />

Haci-Halil Uslucan: Das ist ein kritischer Punkt in der Erziehung.<br />

Die Kinder werden zu Eltern ihrer Eltern. Sie müssen<br />

sie in diese Gesellschaft hineinsozialisieren. Da kehrt<br />

sich genau diese traditionelle Form der Hierarchie, dass<br />

Kinder nach oben gucken zu ihren Eltern, plötzlich um.<br />

Was erfahren die Kinder? Sie erfahren, dass ihre Eltern<br />

Angst haben bzw. sie erleben sie als ohnmächtig. Nicht die<br />

Mutti zeigt, wo es langgeht, sondern man muss der Mutter<br />

zeigen, wo es langgeht. Und sie sind dann als Eltern ihrerseits<br />

nicht mehr souverän, sondern abhängig – bis zur<br />

Erpressung. Wenn ich abhängig bin, dann kann ich nicht<br />

mehr souverän erziehen.<br />

Das ist eine starke Überforderung für die Kinder. Sie kommen<br />

manchmal mit 11 oder 12 in einen problematischen<br />

Kontext, wenn Kinder zum Beispiel Übersetzerdienste<br />

beim Frauenarzt machen müssen. Das betrifft einmal die<br />

Schamgrenze der Eltern, aber gleichzeitig sind sie abhängig<br />

und hilflos. Das sind Aspekte, die die Erziehung noch<br />

erschweren.<br />

TN: Sie sagten, Sie haben eine empirische Studie fürs Bundesministerium<br />

gemacht. Ist die irgendwie zugänglich?<br />

Haci-Halil Uslucan: Sie haben Teile davon veröffentlicht,<br />

die im Internet zugänglich sind. Ich habe selbst in einigen<br />

Fachzeitschriften veröffentlicht.<br />

Haroun Sweis: Bevor ich auf das Medienverhalten der<br />

arabischen Welt eingehe, möchte ich darauf hinweisen,<br />

dass man die arabische Welt und islamische Welt nicht<br />

verwechseln sollte. Wenn ich jetzt von Arabern spreche,<br />

dann meine ich Menschen aus den 22 arabischen Staaten,<br />

die in der Arabischen Liga sind – und sonst nichts. Die<br />

islamische Welt ist anders als die arabische Welt. Es sind<br />

nicht alle Araber Moslems, sondern in bestimmten ara-


ischen Ländern, wie im Libanon, da sind 50 % Christen<br />

und 50 % Moslems, bei den Palästinensern sind zwischen<br />

10 und 15 % Christen, in Tunesien zum Beispiel gibt es<br />

eine größere Gruppe von Juden. Soweit als Einstieg.<br />

Man schätzt die Zahl der Araber in Berlin zwischen 40.000<br />

und 60.000. Diese Zahlen sind unterschiedlich zu lesen.<br />

Dazu zählen auch die staatenlosen Palästinenser bzw.<br />

Menschen, die einen ungeklärten Aufenthaltsstatus haben<br />

oder Menschen, die staatenlos sind oder die gar nicht<br />

arabisch sprechen. Wenn man diese alle nicht dazu zählt,<br />

ergibt sich eine kleinere Zahl.<br />

Es gibt vier Gruppen von Arabern in Deutschland bzw. in<br />

Berlin. Früher waren es drei Gruppen, seitdem Berlin die<br />

Hauptstadt ist, ist eine Gruppe dazugekommen. Mit der<br />

fange ich an, das ist die Gruppe der Botschafter bzw. die<br />

Angehörigen der Botschaften in Berlin. 22 arabische Staaten<br />

sind mit 22 Botschaften vertreten, dazu 22 Familien<br />

und Mitarbeiter. Die haben kaum Kontakte zu den Arabern<br />

in der Stadt, außer bei einem Empfang, aber da werden<br />

nur spezielle Leute eingeladen.<br />

Die zweite Gruppe, die von Anfang an in Deutschland war,<br />

das sind die Studenten und Intellektuellen. Die Ersten<br />

sind direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen, in<br />

den 50-er und 60-er Jahren. Diese Gruppe hatte bis zum<br />

Anfang der 90-er Jahre auch kaum Kontakte zu anderen<br />

Arabern in der Stadt oder in Deutschland. Die sind meistens<br />

mit Deutschen verheiratet, meistens sind männliche<br />

Studenten gekommen, haben Kinder, die Kinder sprechen<br />

kaum oder gar nicht Arabisch. Viele von denen lassen sich<br />

auch scheiden und heiraten eine neue Frau aus dem arabischen<br />

Milieu, das entstanden ist.<br />

Die dritte Gruppe ist die Gruppe, die damals, Anfang der<br />

70-er Jahre, als Vertragsarbeiter gekommen sind. Das<br />

sind meistens Tunesier, Marokkaner und Algerier. Diese<br />

Gruppe ist in Berlin sehr wenig vertreten, aber in Nordrhein-Westfalen,<br />

im Süden, wo die Autoindustrie ist, sind<br />

ziemlich viele aus Tunesien, auch in der Gastronomie, das<br />

ist eine große Gruppe.<br />

Die vierte Gruppe sind die Asylbewerber, die während<br />

des Libanon-Kriegs in Massen nach Deutschland gekommen<br />

sind. Damals über Ost-Berlin, weil man für Ost-Berlin<br />

kein Visum brauchte, sie sind über die Friedrichstraße in<br />

West-Berlin gelandet. Das ist die größte Gruppe. Das sind<br />

Libanesen, Palästinenser und ein Teil Kurden aus dem<br />

Libanon, von denen viele ursprünglich eigentlich aus der<br />

Türkei stammen, die sich hier aber als Libanesen ausgegeben<br />

haben. Man hat gehört, dass sie erwischt wurden und<br />

man sie in die Türkei abschieben wollte oder abgeschoben<br />

hat, obwohl die Kinder noch nie in der Türkei waren.<br />

Das sind die vier Gruppen, die früher nichts miteinander<br />

zu tun hatten. In den letzten Jahren gibt es untereinander<br />

Kontakte, aber – das ist das Verhalten der Araber<br />

– was das Fernsehen, Internet und Zeitungen betrifft,<br />

diese Menschen, die aus dem Libanon gekommen sind,<br />

also hier in Berlin sind das ca. 40.000 Asylbewerber, sind<br />

im Allgemeinen alle Analphabeten. Die Älteren sind ohne<br />

Schule aufgewachsen, viele Palästinenser sind im Flüchtlingslager<br />

aufgewachsen und haben auch keine Schulbildung.<br />

Es gibt dort das System der Grundschule bis zur 6.<br />

Klasse, aber im Allgemeinen ist kaum einer in die Schule<br />

gegangen, weil sie arbeiten mussten, um die Familie zu<br />

ernähren.<br />

Dann kommen wir auf die Zahl der Kinder. 6 Kinder, das<br />

ist nichts, im Allgemeinen sind es zwischen 10 und 15 Kinder.<br />

Ich bin nicht selbst im Flüchtlingslager aufgewachsen,<br />

aber ich bin in eine Schule in Jordanien gegangen, eine<br />

Unesco-Schule. Wir waren 14 Kinder.<br />

Diese Menschen haben in der Regel keine Ausbildung. Sie<br />

kamen nach Deutschland und haben versucht, hier Fuß zu<br />

fassen. Wenn man sich an die alten Gesetze in Deutschland<br />

aus den 70-er und 80-er Jahren erinnert, die Eltern<br />

mussten damals nicht zur Schule gehen und Deutsch lernen,<br />

auch die Kinder mussten nicht zur Schule gehen. So<br />

entstanden diese Generationen, die wir hier auf der Straße<br />

erleben. Die Leute sprechen deutsch, weil sie es auf<br />

der Straße gelernt haben, aber sie haben Schulbildung,<br />

manche können weder deutsch noch arabisch.<br />

Anfang der 80-er Jahre kamen für diese Menschen die<br />

sogenannten arabischen Fernsehsatelliten. Das erste Programm<br />

hieß Al Dschasira, was jeder mittlerweile kennt,<br />

der Vorreiter war ein BBC-Sender Arabic Service Fernsehen.<br />

Das wurde auch über Satellit ausgestrahlt, aber das<br />

hat kaum einer angeschaut. Das war eine Zusammenarbeit<br />

zwischen der BBC London und Saudi-Arabien, aber<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 135


136<br />

Workshop Pass-genau?<br />

Pass-ganau?<br />

ich glaube, die lief nur ein halbes Jahr. Al Dschasira war<br />

für die Araber war das etwas Besonderes. Zum ersten Mal<br />

hört man 24 Stunden Nachrichten, und zwar die Nachrichten,<br />

die man vorher nie gesehen oder gehört hatte,<br />

Live-Schaltungen, alles mögliche. Nach meiner Information<br />

sind es mittlerweile zwischen 400 und 600 arabische<br />

Fernsehsender, die auch in Berlin und weltweit zu empfangen<br />

sind.<br />

Vom Inhalt her: Es gibt keinen einzigen arabischen Sender,<br />

der unabhängig ist. Al Dschasira wird niemals einen<br />

negativen Bericht über Katar senden. Alles andere wird<br />

gesendet, aber über das Land, von dem die Finanzierung<br />

kommt, wird nichts laut, außer natürlich was gut ist. Die<br />

anderen Nachrichtensender sind ähnlich. In Saudi-Arabien<br />

gibt es Al Arabia mittlerweile, das ist auch bekannt, Al<br />

Manar von Hisbollah, Hamas hat inzwischen vier Sender,<br />

einer der bekanntesten ist Al Aksa. Das sind die Nachrichtensender.<br />

Dann kommt die Unterhaltung. Die meisten<br />

Sender sind Unterhaltungssender. Es gibt Sender,<br />

die 24 Stunden senden, Hokuspokus, Telefonnummern<br />

von Frauen, Heiratsanzeigen, aber auch Musik, MTV gibt<br />

es mittlerweile auch in Arabisch. Aber die Unterhaltungssender<br />

werden am meisten eingeschaltet. In den letzten<br />

Jahren laufen auch in Berlin pausenlos die Sender. Ich bin<br />

noch nie in eine Wohnung gekommen, wo der Fernseher<br />

aus war und ich habe noch nie eine arabische Familie gesehen,<br />

die ein deutsches Programm eingeschaltet hatte,<br />

niemals. Bei den Intellektuellen guckt mal die Ehefrau,<br />

weil die Kinder kein Arabisch sprechen, aber bei diesen<br />

Familien läuft das Fernsehen Tag und Nacht. Bei den Männern<br />

ist es meistens Al Aksa. Mittlerweile gibt es auch zwei<br />

voll amerikanisch finanzierte Sattelitenfernsehprogramme<br />

aus dem Irak.<br />

TN: Was ist mit Sportübertragungen?<br />

Haroun Sweis: Es gibt auf Arabisch sechs oder sieben<br />

Sportkanäle, ich habe sie noch nie angeguckt.<br />

TN: Ich meine, ob sie hiesige Sportarten angucken, Fußball-Europameisterschaft?<br />

Haroun Sweis: Doch, solche Ereignisse wie die Weltmeisterschaft,<br />

obwohl viele auch die arabischen Sender einschalten,<br />

weil die das dort umsonst senden. Mein Sohn<br />

ist 12, der guckt sehr viel Sport im deutschen Programm,<br />

aber er weiß, wo Sport in den arabischen Sendern ausgestrahlt<br />

wird, weil die auch Spiele wie Hamburg gegen<br />

Bremen live senden. Insofern brauchen sie es nicht live im<br />

deutschen Fernsehen anzuschauen.<br />

Das Verhalten von Frauen und Männern, was die Medien<br />

betrifft: Im Allgemeinen gucken Männer und Jungens diese<br />

Nachrichtensender, Frauen sehen mehr die Serien.<br />

Mittlerweile sind die türkischen Fernsehserien sehr bekannt,<br />

und zwar dadurch, dass viele Männer und Frauen<br />

sich scheiden lassen wollen. In einer türkischen Serie hat<br />

die Frau die Macht, sich scheiden lassen, weil es offiziell<br />

erlaubt ist, sich über Handy scheiden zu lassen.<br />

Noch wichtiger sind aber die Nachrichten. Das ist eigentlich,<br />

was wichtig für uns in Deutschland oder in Berlin<br />

ist. Es gibt Sender wie 24 Stunden, in denen nicht nur<br />

gezeigt wird, dass jemand den anderen geschlagen hat<br />

oder jemand gestritten hat. Sondern es wird detailliert<br />

gezeigt, wie Menschen mit dem Messer geschlachtet<br />

werden, wie einem lebendigen Menschen mit der Bohrmaschine<br />

in den Kopf Löcher gebohrt werden. Also ich<br />

habe diesen Sender mittlerweile gelöscht, weil ich das<br />

nicht sehen konnte. Das war 24 Stunden. Viele Jugendliche<br />

schauen sich diesen Sender an. Aber auch im<br />

normalen Programm wird Brutalität gezeigt. Da gibt es<br />

vielleicht nicht diese Bilder mit der Bohrmaschine, aber<br />

zumindest die Leichenteile.<br />

Vorgestern war ein israelischer Angriff auf Gaza, bei dem<br />

6 Menschen umgekommen sind. Die Leute wollten, dass<br />

Hamas und 24-Stunden die ganzen Leichen zeigen. Viele<br />

Jugendliche bzw. deren Eltern gucken sich das an. Mit<br />

diesen Bildern gehen die Kinder am nächsten Tag in die<br />

Schule.<br />

Das ist ihr Medienverhalten. Was in den deutschen Medien<br />

gezeigt wird, wissen die Älteren gar nicht. Sie kontrollieren<br />

gar nicht mehr, weil sie Analphabeten sind und<br />

die Kinder zu Hause das anschauen was sie wollen. Wenn<br />

sie überhaupt zu Hause sind, denn bei der Kinderanzahl<br />

werden die Kinder meistens auf die Straße geschickt, da-


mit die Eltern ihre Ruhe haben oder die Mutter mit ihren<br />

Freundinnen Kaffee trinken kann. Es werden auch oft kleine<br />

Kinder auf die Straße geschickt, um in der 2-, 3- oder<br />

4-Zimmer-Wohnung Ruhe zu haben.<br />

Zu dem Thema, dass die Leute kein deutsches Programm<br />

sehen - ich habe mal einen Versuch gemacht: jeder kennt<br />

die Moderatorin Eva Herman. Über sie wurde im Fernsehen<br />

eine kleine Geschichte zeigt. Diese Frau ist mittlerweile<br />

in der arabischen Welt bekannter als Merkel. Bei jedem<br />

Anruf aus dem Ausland fragen mich die Leute, ob ich diese<br />

Frau kenne. Das zeigt, dass die Leute das arabische Programm<br />

sehen und kein deutsches Programm.<br />

Ich habe noch ein Beispiel: Wir waren damals in der Rütli-<br />

Schule, waren zufällig in der Sonnenallee und dort kam<br />

jemand zu mir und machte mich an, dass ich bei Radio<br />

Multikulti falsche Nachrichten verbreite, indem ich erzählt<br />

habe, dass die Rütli-Schule zu ist bzw. die Polizei vor der<br />

Tür steht, weil das nicht stimmen würde, weil sein Sohn in<br />

diese Schule geht. Ich sagte, aber die Schule ist zu und die<br />

Polizei ist da. Ach, meinte er, komm, arabische Nachrichten<br />

sind wohl immer falsch. Plötzlich ruft der Sohn an. Da<br />

musste der zugeben, dass er gar nicht in der Schule war,<br />

sondern mit Freunden woanders war. Also auch von der<br />

Seite haben die nicht mitgekriegt, dass die Schule überhaupt<br />

geschlossen ist, obwohl die Medien darüber berichtet<br />

haben. Auf der anderen Seite, es gibt für die Araber<br />

in der Stadt oder in Deutschland keine Möglichkeit, Nachrichten<br />

in Arabisch zu lesen oder zu hören, außer bei den<br />

arabischen Sendern, die wenig über Deutschland berichten.<br />

In Berlin oder in Deutschland gibt es keine einzige arabische<br />

Zeitung. Es gibt zwei oder drei Anzeigenzeitungen,<br />

aber darin sind keine Artikel zu lesen. Radio Multikulti gibt<br />

es auch nur noch bis Ende des Jahres, danach gibt es das<br />

auch nicht mehr.<br />

Von der deutschen Behörde gibt es auch arabisches Radio<br />

und Fernsehen, aber das ist eher ins Ausland gerichtet,<br />

die bringen kaum Nachrichten über Deutschland oder das<br />

Verhalten der Araber.<br />

Was das Internet betrifft, die Araber, die Arabisch lesen<br />

und schreiben können, lesen mehr arabisches Internet als<br />

deutsches Internet, weil sie kaum Deutsch gelernt haben,<br />

seit sie damals vor 20 oder 30 Jahren hierher gekommen<br />

sind. Im Internet gibt es eine Reihe von Organisationen<br />

mit eigenen Auftritten. Die werden gelesen und auch interaktiv<br />

benutzt. Die Kommentare, die man da lesen kann,<br />

besonders aus Berlin, sind meistens erschreckend, weil<br />

die kommentieren als würden sie nicht in Deutschland leben,<br />

sondern in dem jeweiligen Land. Was sie hier in 20<br />

oder 30 Jahren erlebt haben, spielt anscheinend keine<br />

Rolle. Ähnlich ist das bei den Fernsehsendern, bei denen<br />

die Menschen anrufen können. Es sind sehr viele Anrufe<br />

aus Deutschland dabei und besonders aus Berlin. Mittlerweile<br />

kenne ich fast alle mit Namen, die da anrufen, aber<br />

ich kenne viele auch persönlich. Und die sprechen, denke<br />

ich, genau das Gegenteil von dem, was sie in Deutschland<br />

oder in Berlin sagen, wenn man sie in der Öffentlichkeit,<br />

also auf Veranstaltungen sieht oder hört, sind die anders,<br />

als wenn man die im Fernsehen arabisch hört. Das ist wie<br />

eine Identitätsspaltung. Das ist wie eine, also politisch gesehen<br />

sind die anders, gesellschaftlich sind die anders,<br />

lehnen vieles ab, werfen den Deutschen vor, keine Moral<br />

zu haben und ihre Kinder vernichten zu wollen. Sie wollen<br />

ihre Kinder nicht kaputtmachen lassen, deswegen isolieren<br />

sie sich in ihren Wohnvierteln an der Sonnenallee in<br />

Neukölln, Kreuzberg oder Wedding oder in Kreuzberg. Und<br />

sie leben so sehr in ihrer Welt, dass sie mittlerweile an<br />

der Sonnenallee nicht mehr in Euro bezahlen sondern in<br />

Lira. Sie wissen, wie teuer 1 Kilo Tomaten im Libanon ist,<br />

aber nicht, was es bei Karstadt oder in einem deutschen<br />

Land kostet.<br />

TN:: Ich arbeite im Wedding, da ist es anders, viel gemischter<br />

und überhaupt nicht so stringent. In unserem<br />

Nachbarschaftshaus sind sehr viele arabische Familien,<br />

die nicht zu den Intellektuellen von der Unis gehören,<br />

sondern die eigentlich in den Wohnhäusern drumherum<br />

wohnen, sehr viele kommen aus den Flüchtlingslagern<br />

im Libanon oder Palästinenser sind über den Libanon bis<br />

hierher geflüchtet, wo zum Beispiel der Bildungsstand, die<br />

Voraussetzungen, völlig unterschiedlich sind. Es gibt gut<br />

ausgebildete Frauen, zum Beispiel aus dem Irak, auch Palästinenserinnen.<br />

Haroun Sweis: Aber die kriegen keine Arbeit.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 137


138<br />

Workshop Pass-genau?<br />

Pass-ganau?<br />

TN: Ja, keine Arbeit, aber sie können lesen, schreiben,<br />

haben zum Teil auch gute Ausbildungen, aber<br />

arbeiten hier immer unterhalb ihrer Ausbildung. Sie<br />

haben den Hintergrund und das Interesse, ihre Kinder<br />

z.B. bei Hausaufgaben zu unterstützen. Es gibt auch<br />

Frauen, die sehr gut Deutsch können, gerade aus den<br />

muslimischen Kreisen. Ich habe da total andere Erfahrungen.<br />

Haroun Sweis: Natürlich gibt es viele gut ausgebildete Palästinenser,<br />

von denen habe ich nicht geredet. Das sind<br />

die, die auch wollen, dass ihre Kinder vielleicht deutsches<br />

Fernseh-Programm gucken. Ich habe von der Gruppe geredet,<br />

die wirklich nichts anderes tun als zu arbeiten oder<br />

sie kriegen Hartz-IV.<br />

TN: Das sind aber nicht die Intellektuellen.<br />

Haroun Sweis: Nein, nein. Die haben aber woanders<br />

studiert. Aber das ist eine Minderheit. Selbst wenn die<br />

Jugendlichen bzw. Kinder von ihnen im Jugendtreff ein<br />

deutsches Programm sehen, zu Hause sehen sie arabische<br />

Programme.<br />

TN: Das ist widersprüchlich, aber diese Einordnung fand<br />

ich jetzt nicht so passend.<br />

Haroun Sweis: Zum Beispiel kenne ich Leute, die haben<br />

im Libanon studiert, viele Frauen vor allem, Biologie und<br />

so was, die sind seit 10 oder 15 Jahren hier und haben<br />

noch nie in dem Beruf gearbeitet. Aber die haben Kinder<br />

und die Kinder sind sehr gut, weil die Eltern mit den Kindern<br />

auch arabisch sprechen, also sie erklären Dinge auf<br />

Arabisch. Aber das sind Ausnahmen, die dort als Lehrer<br />

oder Mediziner ausgebildet sind. Wobei zum Beispiel bei<br />

Medizinern die Zeugnisse hier nicht anerkannt werden,<br />

so müssen sie als 1-Euro-Jobber arbeiten, aber trotzdem<br />

sind sie gut ausgebildet.<br />

Das ist eine Gruppe für sich alleine, die versucht auch viel<br />

in der Stadt zu machen, die sind zum Beispiel im Wedding<br />

besonders stark vertreten.<br />

TN: Aber die Mehrheit kommt aus dem Libanon, aus dem<br />

Flüchtlingslager, die haben ein anderes Leben. Ich sehe<br />

auch den Unterschied zwischen den Leuten aus Syrien<br />

oder dem Iran oder Jordanien, das ist jeweils eine andere<br />

Kultur.<br />

Haroun Sweis: Die meisten Palästinenser sind aus dem Libanon.<br />

Sie durften aber dort nicht arbeiten, denn im Libanon<br />

sind für Palästinenser 94 Berufe verboten. Das heißt,<br />

jemand, der dort gelernt hat oder einen Uni-Abschluss<br />

gemacht hat, hat nur im Flüchtlingslager eine Arbeitserlaubnis.<br />

Auch als Mediziner, obwohl im Libanon Mediziner<br />

gesucht werden. Im Flüchtlingslager gibt es einen einzigen<br />

Arbeitgeber, das ist die UNRA (United Nations Relief and<br />

Rehabilitation Administration).<br />

Und was das Internet betrifft, da gibt es mittlerweile Jugendliche,<br />

die auch auf deutsche Seiten gehen, die lesen<br />

und schreiben können. Da gibt es plötzlich ganz andere<br />

Verhaltensnormen, Männer und Frauen chatten miteinander,<br />

verabreden sich für den nächsten Tag über SMS, ohne<br />

dass der Vater gefragt wird usw. Das ist ein sehr konfliktträchtiges<br />

Feld.<br />

Herbert Scherer: Das Ganze interessiert uns wegen der<br />

Frage, wie wir damit umgehen. Im Augenblick kriegen wir<br />

Einblicke, aber die Praxis-Dimension fehlt noch. Bevor wir<br />

uns der Frage zuwenden, wie wir mit diesen teilweise neuen<br />

Erkenntnissen umgehen, hören wir noch einen dritten<br />

Einblick und zwar in Bereiche, die ganz besonders schwierig<br />

sind. Jugoslawien ist ja ein Land, das es nicht mehr gibt,<br />

und Bürgerkriege haben die ehemalige Republik abgelöst.<br />

Die Menschen aus Ex-Jugoslawien sind zum Teil hierher<br />

gekommen und bringen noch recht frische traumatisierende<br />

Erfahrungen mit. Es gibt eine Gruppe, die verstärkt<br />

– auch in Berlin – auftaucht und mit der es besondere<br />

kulturelle Kommunikationsprobleme zu geben scheint,<br />

die Roma aus Jugoslawien, ich weiß nicht, ob sie auch<br />

aus anderen Ländern kommen. Das Nachbarschaftshaus<br />

Prinzenallee, heute integriert in die Osloer Straße, hat seit<br />

einigen Jahren Erfahrungen mit dieser Gruppe, die im Soldiner<br />

Kiez besonders präsent ist, aber auch in anderen<br />

Stadtteilen Berlins.


Petra Kindermann: Vor vier Jahren haben wir ein Integrations-Projekt<br />

angefangen. Vor einem Jahr wurde das<br />

abgeschlossen und wir haben es ein bisschen umgewandelt<br />

in einen Treffpunkt. Der Treffpunkt nennt sich B.I.S.I.,<br />

Beratung, Information, Selbsthilfe und Integration. Das ist<br />

eine Anlaufstelle für Migrantinnen und Migranten aus dem<br />

Berliner Soldiner Kiez.<br />

Unser Thema heute sind die Roma-Familien, die meine<br />

Kollegin Svetlana Krabel betreut, zusammen mit dem Kollegen<br />

Petrovic, der heute leider nicht da ist, selber Roma<br />

und Schul-Mediator, der diese Ausbildung hier bei der RAA<br />

gemacht hat.<br />

Unsere Arbeit ist sehr auf Schulen bezogen. Wir unterstützen<br />

Familien in ihrem Kontakt und Dialog mit Schulen,<br />

aber auch mit Behörden und geben Unterstützung in ganz<br />

allgemeinen sozialen Problemen, die die Familien haben.<br />

Die Schwerpunkte in der Arbeit mit den Schulen liegen<br />

zum einen in der Teilnahme an Elternabenden oder Elternversammlungen,<br />

bei denen wir bei Bedarf sowohl sprachlich<br />

als auch vermittelnd auf Gespräche oder eventuelle<br />

Auseinandersetzungen einwirken.<br />

Zum anderen melden sich Schulen aber auch bei uns, die<br />

Einzelgespräche suchen oder um sich auf konkrete Hilfekonferenzen<br />

für einen Schüler vorzubereiten, mit dem es<br />

Probleme gibt. Da werden wir dann eingeladen. Es melden<br />

sich aber auch Kitas und Schulen bei uns, die uns als Vermittler<br />

nutzen, um Kontakt zu den Familien zu bekommen,<br />

die auf Anfragen der Schulen oder Kitas nicht reagiert haben.<br />

Im Laufe des Projekts wird immer deutlicher, dass diese<br />

Hilfen von den Eltern, besonders von den Müttern, immer<br />

gerne angenommen wurden, und diese Hilfe auch dann<br />

die Grundlage war, um das Gespräch mit den Schulen aufzunehmen.<br />

In den letzten zwei Jahren haben wir starken Zulauf von<br />

Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. So waren im<br />

letzten Projektjahr ungefähr 45 % der Hilfesuchenden aus<br />

Ex-Jugoslawien, ca. 30 % türkische und 25 % arabische<br />

Familien.<br />

Die Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien, die zu uns<br />

kommen, sind zu 80 % bosnischer Herkunft, sehr häufig<br />

mit Roma-Migrationshintergrund, und zu 20 % Kosovo-<br />

Albaner und Makedonier. Der Bedarf an Beratung und<br />

Unterstützung bei Roma- Familien ist sehr groß und die<br />

Schule ist häufig ein Konfliktfeld.<br />

Was sind die geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe<br />

für die Schulproblematik vieler Roma-Familien?<br />

Nach unterschiedlichen Schätzungen leben zwischen 8<br />

bis 10 Millionen Sinti und Roma auf diesem Kontinent,<br />

rund drei Viertel in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas.<br />

Dabei steht „Sinti“ für die mitteleuropäischen<br />

Gruppen und „Roma“ als Sammelname für Gruppen überwiegend<br />

südosteuropäischer Länder. Damit sind sie die<br />

größte ethnische Minderheit. Die Menschen sind so verschieden<br />

wie ihre Herkunftsländer und ihre individuellen<br />

Lebensgeschichten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie als sogenannte<br />

„Zigeuner“ (Roma und Sinti) seit Jahrhunderten<br />

verfolgt und im besten Fall in allen Ländern nur geduldet<br />

sind. Eine halbe Million Sinti und Roma wurden im Zweiten<br />

Weltkrieg in den Konzentrationslagern ermordet. Das nur<br />

als Hintergrund der Probleme.<br />

Mit dem Zusammenwachsen Europas seit 1989 waren erneut<br />

die Roma die größten Verlierer dieser Entwicklung.<br />

Sie wurden überall zum Sündenbock für negative Entwicklungen.<br />

An vielen Orten brach offener Hass aus. Während<br />

der Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien<br />

gerieten Roma zwischen die Fronten, die beteiligten Parteien<br />

rekrutierten unter Gewaltanwendung in den Roma-<br />

Dörfern Soldaten. Überall wurden Roma an den untersten<br />

Rand der Gesellschaft gedrängt. Der Europarat hat auf diese<br />

Entwicklung 1993 mit einer Resolution hingewiesen,<br />

in der Roma/Sinti als „Echte europäische Minderheit“ anerkannt<br />

sind.<br />

Der offene Hass, von dem ich sprach, da erinnern sich<br />

bestimmt viele an die Roma, die durch Brandstiftung an<br />

den Wohnwagen vertrieben wurden. Dann gab es eine Geschichte<br />

in Italien, nach einem Mord an einer Italienerin<br />

durch einen rumänischen Roma sollten erst alle rumänischen<br />

Roma abgeschoben werden.<br />

In Deutschland leben etwa 70.000 Sinti und Roma – aus<br />

ihrer Geschichte heraus - mit deutschem Pass. Ungeachtet<br />

ihrer 600-jährigen Geschichte in Deutschland und ihrer<br />

Anerkennung als nationale Minderheit werden Sinti und<br />

Roma zum überwiegenden Teil als Ausländer wahrgenom-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 139


140<br />

Workshop Pass-genau?<br />

Pass-ganau?<br />

men. Bis heute hat diese Gruppe keine gesellschaftliche<br />

Lobby zur Unterstützung ihrer Kämpfe gefunden. Und<br />

erst durch die Selbstorganisation der Roma und Sinti<br />

Ende der 70-er Jahre begannen diese Strukturen aufzubrechen.<br />

Es leben etwa 50.000 Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien<br />

seit mehr als 15 Jahren hier und ihre Kinder sind<br />

zum Teil hier geboren. Das ist die Gruppe, mit der meine<br />

Kollegin am stärksten zusammenarbeitet. Bis 2005 waren<br />

etwa zwei Drittel der Familien lediglich geduldet. Sie<br />

mussten jederzeit mit ihrer Abschiebung rechnen. Für<br />

sie galten nach Gesetzeslage in der Flüchtlingspolitik<br />

eingeschränkte Rechte. Sie durften in der Regel nicht<br />

arbeiten, erhielten nur 70 Prozent des Sozialhilfesatzes,<br />

hatten keinen Anspruch auf Kindergeld oder Erziehungsgeld.<br />

Sie hatten auch kein Anrecht auf die Teilnahme an<br />

Sprach- und Integrationskursen. Eine Ausbildung oder<br />

auch das Führen eines Gewerbes war verboten. Besonders<br />

schwer war es für Flüchtlingskinder, die mit ihren<br />

Familien jahrelang in sogenannten Übergangsheimen<br />

untergebracht waren. Für die Kinder galt nur der freiwillige<br />

Schulbesuch, das heißt, es bestand für sie keine<br />

Schulpflicht und sie hatten sogar kein Anrecht zur<br />

Schule zu gehen. Es hing vor allem von den Kommunen<br />

und Initiativen ab, wie stark die Einschränkungen für die<br />

Flüchtlinge waren und welche Förderung sie erfuhren.<br />

Für die Roma-Familien bedeutete das damalige Ausländergesetz<br />

eine Verlängerung der Erfahrungen, die sie schon<br />

z.B. in Bosnien gemacht hatten. Roma-Kinder sind in den<br />

südosteuropäischen Ländern laut einer Untersuchung<br />

des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin<br />

in Zusammenarbeit mit UNICEF beim Schulbesuch stark<br />

benachteiligt.<br />

Wenn sie überhaupt eingeschult werden, kommen sie oft<br />

auf reine Roma-Schulen, die meistens schlecht ausgestattet<br />

sind und wo es an qualifiziertem Personal fehlt. Oft werden<br />

Roma-Kinder mit fadenscheinigen Begründungen an<br />

Sonderschulen verwiesen. Das Bildungsniveau für Roma<br />

ist nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und nach<br />

den Balkankriegen in den meisten Ländern noch mal gesunken.<br />

So ist in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien,<br />

Serbien und im Kosovo der Anteil der Roma, die nicht<br />

lesen und schreiben gelernt haben, bei den 14- bis 24-Jährigen<br />

deutlich höher als bei der mittleren Generation der<br />

heute 25- bis 34-Jährigen. Roma-Kinder in Südosteuropa<br />

sind in starkem Maße vom Schulbesuch ausgeschlossen.<br />

In Bosnien-Herzegowina gehen beispielsweise 80% der<br />

Roma- Kinder überhaupt nicht in die Schule.<br />

Am 1.1.2005 trat das jetzige Ausländergesetz in Kraft, das<br />

die Lebensbedingungen der Flüchtlinge erleichterte. Nach<br />

diesem Gesetz gibt es nur noch eine befristete Aufenthalterlaubnis,<br />

die Kettenduldung ist abgeschafft, und langjährig<br />

geduldete Flüchtlinge bekommen das erste Mal eine<br />

Aufenthalterlaubnis, die Erwerbstätigkeit ist gestattet, es<br />

gibt ein Recht auf Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss,<br />

was den Kitabesuch finanziell erleichtert.<br />

Und sie bekommen eine unbefristete Niederlassungserlaubnis.<br />

Die Schulpflicht ist für alle in Deutschland lebenden<br />

Kinder eingeführt und eine berufliche Ausbildung ist<br />

möglich.<br />

Als Folge des bis 2005 erschwerten Zugangs für Flüchtlinge<br />

zur Schule und zur Bildung in Deutschland zeigt<br />

sich bei vielen Roma-Familien ein zurückhaltendes und<br />

unvertrautes Verhältnis zur Schule. Das drückt sich zum<br />

Beispiel in folgenden Problematiken aus: Familien haben<br />

wegen der Erlebnisse von Ignoranz, Ausschluss-Erfahrungen,<br />

Nicht-Akzeptanz und Diskriminierung Angst davor,<br />

ihre Kinder in die Schule zu schicken. Wie in den anderen<br />

europäischen Ländern teilen die unterschiedlichen Roma-<br />

Gruppen auch in Deutschland die Erfahrung, als Zigeuner<br />

beschimpft zu werden.<br />

Viele Kinder sind zu spät eingeschult oder ihr Schulbesuch<br />

ist aufgrund eines unsicheren Aufenthaltes und der<br />

Unmöglichkeit für die Familien, eine klare Perspektive in<br />

Deutschland zu entwickeln, unregelmäßig.<br />

Eltern nehmen wenig an den schulischen Anliegen ihrer<br />

Kinder teil. Sie können ihnen nicht bei den Hausaufgaben<br />

helfen, weil sie Analphabeten sind oder wenig schulische<br />

Erfahrungen haben.<br />

Familien geben bei ablehnenden Haltungen von Schule<br />

und Schulamt schnell auf, weil sie oft nur an ihren Defiziten<br />

gespiegelt werden. Ein Dialog auf gleicher Augenhöhe<br />

findet kaum statt.


Viele Kinder werden überhaupt nicht oder nicht genug<br />

gefördert oder von der Schule im Stich gelassen bzw.<br />

in Sonderschulen geschickt. Viele Kinder fallen durch<br />

schlechte Deutschkenntnisse, demnach schwachen<br />

Schulleistungen, und dem Status Sonderschüler auf.<br />

Manche Kinder werden in der Schule häufiger wegen<br />

schlechten Benehmens bestraft oder sie werden als Störfaktor<br />

wegen häufiger Verspätung im Unterricht und vieler<br />

Fehltage betrachtet.<br />

Viele Kinder fühlen sich wegen ihrer mangelnden<br />

Leistungen und Diskriminierungserfahrungen seitens der<br />

Mitschüler nicht wohl. Viele Kinder schwänzen deswegen,<br />

sie sind krank geschrieben und haben psychosomatische<br />

Störungen, wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder<br />

Schlafstörungen usw.<br />

Mit Blick auf die geschichtlichen, gesellschaftlichen und<br />

sozialen Hintergründe ist es nicht schwer zu erkennen,<br />

wie Schuldistanz und Schulangst entstehen und welcher<br />

Schritte es bedarf, um langfristige Änderungsprozesse in<br />

Gang zu setzen.<br />

Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder erfolgreich sein können,<br />

aber der Enthusiasmus am Anfang der Einschulung<br />

bei den Kindern weicht schnell der Resignation und löst<br />

ihren Rückzug aus. Es wird weiterhin berichtet, dass Sinti-<br />

und Roma-Kinder in Sonderschulen überrepräsentiert<br />

sind, und dass diese Kinder die Schule zu einem unverhältnismäßig<br />

hohen Anteil vorzeitig verlassen.<br />

Der Schlüssel für die Veränderung dieser Situation muss<br />

sein, den Einstieg der Kinder in die Schule zu verbessern.<br />

Da entscheidet sich, ob sie den Schritt aus einer bildungsfernen<br />

Umgebung schaffen. Aus einer Umgebung, die Ablehnung,<br />

Hass und Ressentiments erfahren hat und wo<br />

die Eltern misstrauisch sind, ob ihre Kinder Fuß in der<br />

Schule fassen können. In einer Schule, die wesentlich von<br />

der Mehrheitsgesellschaft geprägt ist. Die Kinder müssen<br />

besser auf die Schule vorbereitet werden, in Vorschulen<br />

und Kindergärten, wo sie möglichst vorurteilsfrei gemeinsam<br />

mit Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft lernen<br />

und spielen.<br />

Schritte, die wir in unserer Arbeit versuchen, sind, dass<br />

wir romastämmige SozialarbeiterInnen als Mediatoren<br />

einsetzen, um Roma-Kinder erfolgreich an die Schule<br />

heranzuführen, was sich in Köln oder in Berlin bewährt<br />

hat. Wir begleiten die Eltern zur Schule, nehmen ihnen<br />

die Ängste und geben Sicherheit. Wir ermutigen und motivieren<br />

die Eltern und die Kinder. Wir geben Informationen<br />

über die Rechte und Möglichkeiten der Familien, um die<br />

schulischen Leistungen ihrer Kinder zu fördern.<br />

Wir unterstützen andererseits die Schulen, um die Probleme<br />

rechtzeitig zu erkennen. Wir beteiligen dabei alle<br />

Seiten und suchen gemeinsam mit den Eltern nach Lösungen.<br />

Zum Beispiel sensibilisieren wir für Mobbing in<br />

der Klasse und besprechen frühzeitig die Fehlstunden<br />

der Kinder. Wir arbeiten an der Früherkennung von Defiziten,<br />

zum Beispiel für die Sprach- und Lernförderung, Förderung<br />

im Regelunterricht, geben Hinweise auf mögliche<br />

Lernhilfen und Angebote im sozialen Umfeld.<br />

Wir machen eine bedarfsorientierte Einzelfallberatung, in<br />

der je nach den schulischen und bildungsrelevanten Prämissen<br />

Einzelfallhilfe für die Sinti und Roma praktiziert<br />

wird, um einen zufrieden stellenden Schulabschluss bzw.<br />

eine Berufsausbildung zu erreichen.<br />

In dem Kontext bieten wir zum Beispiel noch zusätzlich besondere<br />

Lernhilfen für Sinti- und Roma-Kinder durch den<br />

Kollegen an, in Zusammenarbeit mit Schule, Eltern und<br />

Lehrern.<br />

Meine Mitarbeiterin Frau Krabel, Ethnologin und gebürtige<br />

Jugoslawin, wird jetzt weiter berichten, und zwar insbesondere<br />

zur fehlenden Kommunikation zwischen den Schulen,<br />

den Kindern und den Familien.<br />

Svetlana Krabel: Ich werde über die Situation in Bezug<br />

auf die Schule sprechen und die Schwierigkeiten,<br />

die Flüchtlingsfamilien dabei haben, sich frei und offen<br />

dort äußern zu können und ihre eigenen Interessen zu<br />

vertreten.<br />

Mit dem Wissen, dass eine Arbeit im Bereich Schule und<br />

Migrantenkinder keine gute Basis haben kann, wenn<br />

man die Familien und ihre Lebensrealitäten nicht kennt,<br />

haben wir im letzten Jahr eine Befragung über ihre Lebenssituation<br />

mit ungefähr 100 Familien, die im Wedding<br />

leben, durchgeführt. Ein Auszug ist zum Nachlesen<br />

in der Tagungsmappe. Diese Befragung hatte das Ziel,<br />

die Lage von deren schulpflichtigen Kindern zu beleuch-<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 141


142<br />

Workshop Pass-genau?<br />

Pass-ganau?<br />

ten. Dabei suchten wir auch nach Möglichkeiten um die<br />

Lage der Kinder zu verbessern, was auch bedeutet, dass<br />

ihr schulischer Erfolg verbessert wird.<br />

Das Besondere an dieser Befragung war, dass zum ersten<br />

Mal die Eltern die Gelegenheit hatten, frei über ihre Erfahrungen<br />

zu sprechen. Sie ließen uns mit großer Offenheit<br />

daran teilhaben. Damit ermöglichten sie uns, dass wir<br />

wichtige Eindrücke und Informationen zum besseren Verständnis<br />

und zum Überblick erhielten, und zwar über ihre<br />

materielle Lebensgrundlage, über ihre sozialen Verhältnisse,<br />

die Ressourcen in den Familien, wie Wertesysteme,<br />

Bewusstsein, Grad der Bildung oder Bestrebungen. Wir<br />

bekamen auch mehr Informationen über ihre Erfahrungen<br />

mit Krieg und Vertreibung und die damit verbundenen psycho-sozialen<br />

Folgen für die Familienmitglieder.<br />

Aus den Ergebnissen unserer Befragung wurde deutlich,<br />

dass besonders Roma-Familien jahrelang in extrem belastenden<br />

und unsicheren Situationen lebten. Weiter wurde<br />

deutlich, dass die Schulen in keiner Weise diesen besonderen<br />

Umständen Rechnung tragen. Die Kinder werden<br />

nicht in der erforderlichen Weise gefördert – in der Sprache<br />

oder beim Lernen, und die Eltern nicht über ihre Möglichkeiten<br />

und Rechte bezüglich der Förderungsoptionen<br />

informiert.<br />

Mit dieser Befragung wurde uns bestätigt, dass die Gesellschaft<br />

und die Schule als wichtige Institution ungenügend<br />

flexibel sind, sie reproduzieren die Ungleichheit anstatt diese<br />

aufzuheben. Aber ein Leben in normalen – und nicht<br />

ausgrenzenden – Verhältnissen ist die wichtigste Bedingung<br />

für die Entwicklung und den schulischen Erfolg der<br />

Kinder.<br />

Wir haben versucht eine Erklärung auf die Frage zu geben,<br />

wie dieses vorhandene Schulsystem und seine Mechanismen<br />

bei der Problemlösung helfen kann, wie sich das<br />

Schulsystem auf die Integration der ausländischen Schüler<br />

auswirkt, wie weit es Integration verwirklicht oder auch<br />

unmöglich macht.<br />

Wir sind aber auf dieses vorhandene System angewiesen,<br />

was allerdings kein ideales System ist. Das soll uns<br />

aber nicht stoppen, alles Mögliche zu unternehmen, als<br />

Eltern, als Lehrer, als Sozialarbeiter, als engagierter Bürger,<br />

ein besseres Klima in der Gesellschaft zu schaffen<br />

und uns darum zu bemühen, dass jedes Kind motiviert<br />

wird, sich in der Schule zu integrieren und einen Schulabschluss<br />

zu schaffen.<br />

Wir haben schon erwähnt, was es für eine undankbare<br />

Gesetzgebung vor 2005 gab. Ich beziehe mich auf diese<br />

Zeit, wenn ich jetzt über eine junge, erwachsene<br />

Roma-Frau aus Bosnien erzähle. Sie ist mit ihren Großeltern<br />

1992 nach Deutschland geflüchtet, da war sie 7<br />

Jahre alt. Heute ist sie 24 Jahre alt und macht gerade<br />

ihren Hauptschulabschluss bei „Frauenzukunft“. Das<br />

ist ein Projekt, das eine staatlich anerkannte Schule für<br />

erwachsene Frauen unterhält, die aus verschiedenen<br />

Gründen nicht in einer Regelschule ihren Abschluss<br />

machen konnten. Ich bin sehr stolz darauf, dass es mir<br />

gelungen ist, diese Frau zu ermutigen, diesen wichtigen<br />

Schritt in ihrem Leben zu machen, sich ausbilden zu<br />

lassen, obwohl sie niemals zuvor in ihrem Leben eine<br />

Schule besucht hat.<br />

Man kann sich vorstellen, wie schwer es dieser Frau fallen<br />

musste, die komischen Blicke und das Erstaunen der Mitarbeiter<br />

zu ertragen in den zahlreichen Beratungsstellen,<br />

die wir gemeinsam besuchten. Dort haben wir uns informiert,<br />

ob es Ausbildungsmöglichkeiten und wenn ja, welche,<br />

für diese Frau gibt. Sie war mutig genug nicht aufzugeben,<br />

trotz der geäußerten Skepsis und dem Misstrauen<br />

vonseiten ihrer Familie, den Beratungsstellen, am Anfang<br />

auch ihrer jetzigen Schule. Und auch trotz ihrer eigenen<br />

Skepsis.<br />

Einmal fragte sie mich: Wo war das Jugendamt damals,<br />

um mir zu helfen und um meine Großeltern zu beeinflussen,<br />

mich in die Schule zu schicken? Ich konnte<br />

ihr die Frage nicht beantworten. Heute frage ich mich<br />

immer noch, wie das hier in Deutschland möglich sein<br />

konnte. Als sie vor 15 Jahren nach Berlin kam, wollte<br />

ihr Onkel sie in zwei Grundschulen einschreiben. Beide<br />

Schulen haben sie wegen Platzmangels nicht angenommen.<br />

Die Familie hat es dann aufgegeben, weiter<br />

einen Schulplatz für das kleine Mädchen zu suchen, so<br />

dass sie hier aufgewachsen ist, ohne jemals eine Schule<br />

besucht zu haben. Das ist eine Alptraum-Geschichte,<br />

weil es unglaublich ist, dass sie heutzutage überhaupt<br />

möglich ist.


Wie wir alle wissen, werden die Menschen in schwierigen<br />

Lagen immer zur Zielscheibe der schlimmsten Vorurteile.<br />

Gegen eines möchte ich kämpfen, nämlich dass die Schuldistanz<br />

als eine Eigenschaft der Roma-Familien angesehen<br />

wird. Mir wäre es lieber, wenn ich spekulieren könnte,<br />

unter welchen Verhältnissen Schuldistanz entstanden ist<br />

und wie dieses System dazu beigetragen hat. Stattdessen<br />

werde ich eine Geschichte aus meinem Arbeitsalltag<br />

erzählen. Jeden von Euch lasse ich eine eigene Meinung<br />

über das Bildungssystem haben.<br />

Schuldistanz ist – meiner Meinung nach – nur eines von<br />

vielen schlechten Symptomen eines veralteten, unflexiblen<br />

Bildungssystems, das Unterschiede beibehält anstatt sie<br />

abzubauen. Auf einer Mikroebene reproduziert die Schule<br />

die Werte der Mehrheitsgesellschaft, die verkörpert sind<br />

in Nichtanerkennung der Anderen.<br />

In meinem Arbeitsalltag habe ich erlebt, dass eine Klassenlehrerin<br />

nicht wusste, welche Muttersprache ihre<br />

Schülerin spricht, obwohl sie das Mädchen schon vier Jahre<br />

unterrichtete. Ich weiß nicht, wie ich dieses Phänomen<br />

bezeichnen kann. Als Ignoranz? Desinteresse? Soziale Inkompetenz?<br />

Faulheit? Gleichgültigkeit? Ein wichtiger Teil<br />

dieses kleinen Mädchens ist in ihrer Schule bzw. vor ihrer<br />

Klassenlehrerin verborgen geblieben. Diese Diskrepanz<br />

zwischen dem schulischen Leben und dem Familienleben<br />

erfahren viele Kinder.<br />

Was können wir tun, um diese Diskrepanz zu überwinden?<br />

Was tut die Schule und was tut die Klassenlehrerin? Wie<br />

kann sich dieses Mädchen als normal fühlen, wenn es<br />

nicht anerkannt und über seine Muttersprache und ihre<br />

Herkunft geschwiegen wird? Was für eine Meinung wird<br />

sie sich über sich selbst bilden und welches Selbstbewusstsein<br />

wird sie haben? Wie können wir eine Kultur der<br />

Anerkennung pflegen?<br />

Ein sehr gutes Beispiel kommt von einer Freundin von mir,<br />

einer Basketballtrainerin. Sie hat mir erzählt, wie sie bei ihrem<br />

Training einige Übungen mit ihren kleinen Spielerinnen<br />

macht, bei denen in der eigenen Muttersprache manche<br />

Begriffe, die zur Bewegung animieren, laut geschrieen werden,<br />

schneller, wirf in den Korb, komm her. Sie merkt, dass<br />

solche Spiele dem Klima im Team gut tun, weil die kleinen<br />

Mädchen in ihren eigenen Augen größer werden.<br />

Herbert Scherer: Das ist ein gutes Beispiel zum Schluss.<br />

Es gibt offensichtlich Diskrepanzen zwischen dem, was<br />

möglich ist, und dem, was an Möglichkeiten wahrgenommen<br />

wird. Ich denke, das ist der Kern von Eurem Ansatz.<br />

Ihr versucht das, was möglich ist. Aber teilweise ist das ja<br />

erst neuerdings möglich, seit der Gesetzgebung ab 2005.<br />

Jetzt gilt der Aufenthaltsstatus von den EU-Ausländern,<br />

viele Roma gehören jetzt zur EU, wenn sie zum Beispiel<br />

aus Rumänien oder Tschechien kommen. Dinge verändern<br />

sich, aber das Bewusstsein verändert sich erst sehr<br />

viel später. Das schließt auch ein bisschen den Bogen zu<br />

dem, was wir gestern im Anfangsreferat gehört haben,<br />

dass die Rechte und die Wirklichkeit miteinander im Konflikt<br />

stehen.<br />

TN: Ich fände es gut, hier mal Lehrer und Sozialpädagogen<br />

aus dem sozialpädagogischen Dienst dazu zu hören. Die<br />

haben eine andere Sichtweise dazu. Die beschäftigen sich<br />

sehr intensiv mit den Sinti-Familien, weil es ihr Alltagsgeschäft<br />

ist, und es ist eine entsetzliche Hilflosigkeit zu spüren.<br />

Der Vorwurf ist mir einfach zu kurz, dass die Schule<br />

nicht ihre Integrationsaufgabe leistet. Die Lehrer stellen<br />

es anders dar, erstens gibt es keinen regelmäßigen Schulbesuch<br />

der Kinder und zweitens keinen Kontakt zu Eltern.<br />

Das während ihrer Arbeit zu leisten ist für einen Lehrer<br />

im Wedding, wo ihnen die Probleme sowieso bis zum Hals<br />

gehen, dieser Anspruch ist einfach zu hoch.<br />

Wir müssen bei uns als Dienstleister gucken, was wir als<br />

Zuarbeiter für Schulen und sozialpädagogische Dienste<br />

leisten können. Ihr macht ganz viel, aber ich würde gerne<br />

von dieser Vorwurfshaltung wegkommen, weil sie nichts<br />

nützt.<br />

TN: Ich glaube auch, dass die Schule alleingelassen<br />

wird, wir haben die staatliche Schule, teilweise handlungsunfähig.<br />

Die Lehrer leiden natürlich darunter, dass<br />

sie keinen Zugang zu den Familien finden, mit deren Kindern<br />

sie arbeiten. Aber ich will noch mal zurück zu den<br />

arabischen Familien: Bei Ihnen klingt das so, als sei alles<br />

katastrophal. Wir haben z.B. mit dem Projekt Al Nadi<br />

auch ganz andere Erfahrungen gemacht. Da ist es durchaus<br />

gelungen, Kontakt zu palästinensischen Familien<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 143


144<br />

Workshop Pass-genau?<br />

Pass-ganau?<br />

herzustellen. Ausgangspunkt war, dass die Schularbeitsgruppen<br />

überlaufen waren und wir uns eine andere Art<br />

der Unterstützung ausdenken mussten. Wir haben dann<br />

ein Patenschaftsmodell entwickelt und Ehrenamtliche<br />

gefunden, die bereit waren, in die arabischen Familien<br />

zu gehen. Da erhob sich die Frage: sind die arabischen<br />

Familien bereit, ehrenamtliche Deutsche, meistens sind<br />

es Frauen, in ihre Wohnungen zu lassen? Und tatsächlich<br />

klappt das wunderbar und funktioniert bestens. Es<br />

gibt bestimmt auch Grund zum Klagen, dennoch sehen<br />

wir hier sehr kleinteilige schöne Ansätze, die sehr gut zu<br />

uns passen, denn wir sind in unseren Möglichkeiten viel<br />

flexibler und handlungsfähiger, als viele andere Institutionen.<br />

Und genau diese Rolle müssen wir einnehmen.<br />

Haroun Sweis: Ich denke, Projekte wie Al Nadi sind notwendig<br />

und erfolgreich, es gibt auch mehr ehrenamtliche<br />

Mitarbeiter als früher, das ist eine gute Tendenz,<br />

aber zugleich erlebe ich das Verhalten der Araber gegenüber<br />

den Medien als katastrophal. Die Informationen holen<br />

sie im Allgemeinen nicht von deutschen Medien und<br />

nicht von deutschen Informationen, Projekte wie Al Nadi<br />

funktionieren wunderbar, aber nur in einem kleinen Rahmen.<br />

Wenn man jetzt die Situation in Neukölln sieht, da<br />

sieht man ein neues Bild, dazu gehört übrigens auch,<br />

dass viele Kinder nicht zur Schule gehen. Ein großes<br />

Thema ist auch die Gewalt an der Schule. Ich gehe oft<br />

an Schulen mit unserem neuen Projekt Orient-Express<br />

und dann merke ich, dass die Jugendlichen sich in der<br />

Klasse oft genau so verhalten wie sie das von zu Hause<br />

mitbekommen haben. Die Lehrer sagen nichts, auch die<br />

engagierten Lehrer trauen sich manchmal nicht etwas<br />

zu sagen, wenn ein Kind auf einmal vom „Judenstaat“<br />

spricht, weil im Fernsehen immer vom Judenstaat gesprochen<br />

wird. Auf Arabisch sagt man Israel oder Judenstaat.<br />

Juden sind für das Kind alle gleich: sie kämpfen<br />

mit Waffen gegen alle Palästinenser. Und auch die Eltern<br />

machen da keine Unterschiede.<br />

TN: Kennen die Deutschen auch nicht, die Unterschiede<br />

zwischen Judentum, Israel und Zionisten.<br />

Haroun Sweis: Ja, aber die Deutschen sehen diese Bilder<br />

nicht, die im Fernsehen laufen. Die sind das Problem.<br />

TN: Ich fand erst mal für mich auch die kompakten Informationen<br />

von Petra Kindermann gut. Ich wusste gar nicht,<br />

dass Flüchtlinge bis 2005 keine Schulpflicht hatten usw.<br />

Es ist auch wichtig zu wissen, welche Problematik sich<br />

über Jahrzehnte auch in Deutschland aufgebaut hat. Ich<br />

sehe auch, dass sich Dinge, die bis 2005 so waren, sich<br />

noch Jahrzehnte in ihren Auswirkungen weiterschleppen<br />

werden.<br />

TN: Sie durften aber zur Schule gehen.<br />

TN: Aber sie hatten eben keine Pflicht dazu. Ich wohne in<br />

Marzahn und habe eine Zeit im Mädchenzentrum gearbeitet.<br />

Wir hatten dort auch viele bosnische Kinder aus<br />

Familien, die im Wohnheim untergebracht waren. Da gab<br />

es ganz viele Probleme zwischen bosnischen und deutschen<br />

Kindern, weil die deutschen Kinder sauer waren,<br />

dass die bosnischen Kinder nur teilweise zur Schule gekommen<br />

sind. Dann hatten die was verpasst und haben<br />

nachgefragt, so dass es wiederholt werden musste. Es gab<br />

so viele Sachen, die man von einander gar nicht wusste.<br />

Ich finde, ihr macht da eine tolle Arbeit. Auch bei den türkischen<br />

Familien sieht man ja, dass die Probleme über<br />

Jahrzehnte mitgeschleppt werden.<br />

TN: Ich fand an den beiden Beispiel gut, dass deutlich wurde,<br />

dass Menschen in unserer Nachbarschaft leben und<br />

doch wenig Möglichkeiten haben, die Gesellschaft oder<br />

die Nachbarschaft mit zu gestalten. Das fand ich wichtig.<br />

Auch die Information, dass arabische Familien die Informationen<br />

nicht von hier aus dem nachbarschaftlichen<br />

Umfeld nutzen, sondern von weit weg. Oder auch zu wissen,<br />

dass Sinti und Roma lange Zeit keinen Schulzugang<br />

hatten, weshalb sie erst mal wieder mühsam herangeführt<br />

werden müssen. Wie kriegen wir das zusammen gelöst?<br />

Meine Frage wäre, wie kriegen wir die arabische Community<br />

aufgeschlossen dazu, sich über ihre Nachbarschaft zu<br />

informieren?


Herbert Scherer: Das entscheidende Wort ist ja von Svetlana<br />

gesagt worden, die Brückenfunktion. Es geht nicht<br />

um ein Schwarzer-Peter-Spiel, sondern es geht darum,<br />

was können wir – also unser Bereich – bestenfalls in einer<br />

Situation machen, einerseits die Augen aufmachen und<br />

die Katastrophe hinter den Kulissen sehen. Andererseits<br />

die Brückenfunktion bewusst an den Stellen so wahrnehmen,<br />

wie es jeweils möglich ist. Und die Brückenfunktion<br />

heißt, mit zwei Seiten kommunizieren.<br />

Folien zum Beitrag von Haci-Halil Uslucan<br />

TN: Für mich ist jetzt für unsere Arbeit herausgekommen,<br />

dass wir viel mehr Hintergrundwissen brauchen und zwar<br />

über die Wurzeln. Ich habe keine Ahnung, wie das Verhältnis<br />

zwischen Türken und Arabern ist, deren Sozialisation,<br />

alles, was für unsere Arbeit wichtig ist. Ich nehme einiges<br />

heute mit, vielen Dank.<br />

TN: Jetzt fängt es eigentlich erst an, weil wir immer von<br />

Deutschen und Arabern, von Deutschen und Bosniern, von<br />

Deutschen und Türken sprechen. Die Russland-Aussiedler<br />

sind noch gar nicht erwähnt worden, das ist auch eine eigene<br />

Problematik. Das finde ich spannend, dass es eine<br />

Brückenfunktion auch innerhalb dieser Comunities geben<br />

müsste. Da sind wir, glaube ich, erst am Anfang.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 145


146<br />

Abschlussplenum<br />

„Wohin geht die Reise?“<br />

Herbert Scherer: Zwei Beobachter, Benjamin Eberle und<br />

Katrin Fleischer, haben ihre subjektiven Eindrücke von der<br />

Tagung gesammelt, und möchten sie hier als Anregung an<br />

die Teilnehmer zurückgeben. Es sind Gäste von außerhalb<br />

unseres Verbandes, aber sie sind aus dem Umfeld und<br />

kennen Nachbarschaftseinrichtungen.<br />

Benjamin Eberle: Ich komme von der Arbeiterwohlfahrt<br />

und leite das Begegnungszentrum der AWO in Berlin-Kreuzberg.<br />

Das ist eine Einrichtung, die aus der Migrations-Sozialarbeit<br />

entstanden ist und die seit ca. 30 Jahren existiert.<br />

Ich glaube,<br />

die erste Beratungsstelle<br />

wurde 1973<br />

dort eröffnet.<br />

Seit 1994 haben<br />

wir daraus<br />

ein Nachbarschaftsheim<br />

a u f g e b a u t ,<br />

um näher an<br />

den Bedürfnissen der Menschen – nicht nur der Migranten<br />

– zu sein. Ich komme von außen, aber ich habe eine große<br />

Affinität zu der Nachbarschaftsheim-Bewegung.<br />

Ich fange mit den eher positiven Sachen an. Was mich an<br />

dieser Nachbarschaftsheim-Bewegung immer wieder beeindruckt,<br />

ist das unglaubliche Engagement von unten.<br />

Und dass die Leute die Möglichkeit bekommen, irgendetwas<br />

anzupacken, sie werden unterstützt, ihren Weg zu<br />

gehen bzw. zu finden. Sehr deutlich wird das u.a. an der<br />

Arbeit vom Tauschring in Charlottenburg oder auch bei<br />

diesem jungen Mann von Exit, da ist eine unheimliche Energie<br />

drin. Sie kommt von unten. Es wird nicht von oben<br />

gesagt: so musst du es machen. Sondern die Leute sagen:<br />

Ich habe ein Bedürfnis, das umzusetzen, und dann bekommen<br />

sie dafür Unterstützung von den Nachbarschaftseinrichtungen.<br />

Das hat sich seit Jahren nicht verändert<br />

und das ist immer wieder das Tolle daran.<br />

Eine der großen Herausforderungen ist der demografische<br />

Wandel. Das wissen wir schon länger. Ich finde, dass die<br />

Nachbarschaftsheim-Bewegung, auch das Quartiersmanagement,<br />

erkannt hat, dass in den Bezirken und Quartieren<br />

untereinander ein Informationsfluss nötig ist, um<br />

auf das Älterwerden der Gesellschaft zu reagieren. Das<br />

kann nicht vom Staat kommen, der sagt, wie die Betreuung<br />

sein muss, sondern das müssen sich die Menschen<br />

selbst erarbeiten. Das ist der Ansatz der Mehrgenerationenhäuser,<br />

nicht nur von der Finanzierung her, auch vom<br />

Konzept her finde ich das genau richtig. Es gibt viele gute<br />

Beispiele bei den Nachbarschaftsheimen, wie sie sich neu<br />

organisieren, um sich den heutigen Fragen zu stellen: Wie<br />

wollen die Generationen miteinander leben, wie wollen wir<br />

neue Familiennetzwerke erarbeiten. Diese Bewegung ist<br />

da ganz vorne und sehr innovativ, sie wird sich neue Wege<br />

erarbeiten.<br />

Die andere große Herausforderung, die ich sehe, ist Migration<br />

und Integration. Da bin ich immer wieder erstaunt, wie<br />

naiv und unerfahren die Nachbarschaftsheim-Bewegung<br />

damit umgeht. Nicht nur, weil es schon lange ansteht, vielleicht<br />

nicht in jedem Quartier, aber grundsätzlich schon.<br />

Die Anmerkung, die ich in einem Workshop mitbekommen<br />

habe, bezieht sich darauf, dass sich die sozialen Institutionen<br />

mehr interkulturell öffnen sollen. Was nach dieser<br />

interkulturellen Öffnung kommt, das weiß ich nicht, aber<br />

wir sind dran, einen nächsten Schritt zu machen.<br />

Diese Begriffe ‚interkulturelle Kompetenz’,’ interkulturelle<br />

Öffnung’, die gibt es, seit ich vor 14 Jahren bei der AWO


angefangen habe, das ist wirklich nichts Neues. Es ist gesellschaftlich<br />

angekommen, aber ob man das Jugendamt<br />

öffnet oder ein Nachbarschaftsheim öffnet, das muss jeweils<br />

bei jeder Einrichtung vor Ort erarbeitet werden, denn<br />

es gibt keine Zauberformel. Wir alle leben hier, und es<br />

geht darum, wie wir unser Zusammenleben gemeinsam<br />

gestalten können. Das macht die Nachbarschaftsheim-Bewegung<br />

sehr gut. Aber sie muss die Zielgruppe noch besser<br />

erreichen. Ich sehe hier heute sehr wenige Gesichter<br />

von Menschen mit Migrationserfahrung. Ich sehe keine<br />

Familien hier, nur wenige. Wenn ich auf andere Veranstaltungen<br />

gehe, die Familien sind da, die Menschen sind da,<br />

aber hier fehlt das. Das sollte eigentlich bei einer Bewegung,<br />

die an der Wurzel der Zeit ist, anders sein.<br />

Herbert Scherer: Ich komme gerade aus einer Arbeitsgruppe,<br />

wo das das Thema war und wo wir nicht über Migranten<br />

geredet haben, sondern sie waren unter uns und<br />

haben von ihren Erfahrungen berichtet. Aber wir nehmen<br />

zur Kenntnis, dass wir so wahrgenommen werden.<br />

Katrin Fleischer: Ich finde unsere Nachbarschaftsheim-<br />

Bewegung auch ausgesprochen deutschlastig. Das tut mir<br />

leid. Wir haben unsere Vorzeigehäuser, in denen es eine<br />

gewisse Mischung der Kulturen gibt. Aber sich zu öffnen<br />

heißt nicht nur, darüber reden, sondern es auch praktizieren,<br />

d.h., die Leute gleichberechtigt reinholen.<br />

Herbert Scherer: Katrin ist Geschäftsführerin des Vereins<br />

Berlin 21, sozusagen in Vereinsform eine Nachfolgeorganisation<br />

von der Agenda 21-Bewegung, aber sie ist auch<br />

uns gewissermaßen verbunden als Gründerin des Nachbarschaftszentrums<br />

Kiezspinne in Berlin-Lichtenberg, wo<br />

sie lange Zeit im Vorstand aktiv war.<br />

Katrin Fleischer: Die Themen, die ich bei dieser Tagung<br />

angetroffen habe, fand ich alle total spannend. Ich habe<br />

auch festgestellt, dass es eine sehr undankbare Aufgabe<br />

ist, mal durch drei Workshops zu wandern, um sich einen<br />

Eindruck zu verschaffen. Dann wird man auch noch blöd<br />

angeguckt, weil man nicht angekündigt ist und trotzdem<br />

eine Frage stellt.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 147


148<br />

Abschlussplenum<br />

Was ich bei allen Arbeitsgruppen spannend fand, dass<br />

die alte Regel stimmt, nämlich, dass eine Sache interessant<br />

wird, wenn man hinter die Kulissen guckt. Auch beim<br />

Thema Krippe ist es dann interessant, wenn man sich die<br />

Krippe genauer anguckt, was sie ermöglicht, aber auch<br />

verhindert. Wo muss man die Krippe kritisch betrachten,<br />

wenn es um Fremdbetreuung geht, und wo ist sie aber<br />

auch eine echte Bereicherung?<br />

Ähnlich interessant war es in der anderen Arbeitsgruppe,<br />

wo jemand sagte, dass er bis vor Kurzem nicht wusste,<br />

was der Unterschied zwischen arabischen und türkischen<br />

Familien ist, aber er hatte durch die Arbeitsgruppe mehr<br />

begriffen. Das zeigt mir immer wieder, wie wenig wir eigentlich<br />

hinter die Kulissen gucken.<br />

Die Krippe gab es mal, sie war völlig normal. Dann ist sie<br />

verschwunden, so wie die Schulgärten. Und jetzt kommt<br />

sie plötzlich wieder. Ich freue mich, dass 750.000 Krippenplätze<br />

geschaffen werden sollen, weil ich denke, das<br />

ist eine echte Bereicherung für die Familien.<br />

Es wurde immer darüber geredet, dass man mehr über<br />

die Familien erfahren muss. Da gibt es was ganz Simples,<br />

früher war es zum Beispiel in der DDR staatlich verordnet,<br />

dass mit den Familien gearbeitet werden musste.<br />

Jetzt entdeckt man es gerade wieder, wie wichtig es ist,<br />

mit den Eltern zu reden, damit man begreift, wo die Kinder<br />

herkommen, um zu verstehen, was sie für Probleme haben.<br />

Bestimmte Sachen kommen immer wieder hoch, die<br />

eigentlich schon bekannt sind.<br />

Abschlussplenum<br />

TN: Ich will das ein Stück weit relativieren mit der nicht<br />

geglückten Integration von Migranten. Ich arbeite u.a. in<br />

der Osloer Straße in Berlin-Wedding und komme auch<br />

viel herum. Ich merke, dass wir die türkischen Frauen bei<br />

dem Frauenfrühstück einbeziehen konnten, auch mit den<br />

Themen zur Gesundheit ihrer Kinder. Dass die Türkinnen<br />

im Kiez arbeiten, das finde ich eine sehr gelungene Migrationspolitik.<br />

Es ist so was von selbstverständlich geworden,<br />

das habe ich noch nirgends so erlebt. Das geht<br />

auch ohne Stadtteilmütter, die Türkinnen selbst machen<br />

ihr Frauenfrühstück, sie tanzen da, sie öffnen sich den Angeboten,<br />

die es da gibt, wodurch Begegnungen entstehen.<br />

Es gibt eine Türkin, die künstlerisch begabt ist und dort


Geschichten vorliest, dann werden sie an der Volkshochschule<br />

in die Kurse einbezogen, in die PEKiP-Gruppen, Geburtsvorbereitungskurse.<br />

Das ist über Jahre gewachsen.<br />

Ich kenne ziemlich viele soziale Einichtungen, aber dieses<br />

von der Pike auf, das ist etwas ganz Besonderes bei den<br />

Nachbarschaftseinrichtungen. Es kommt von unten, es<br />

dauert seine Zeit, aber dann geht es.<br />

TN: Ich habe Benjamin Eberle so verstanden, dass er bei<br />

uns ein Arbeitsfeld sieht, nämlich das der Einbeziehung<br />

von Migranten, wo er denkt, dass wir zuwenig hingucken.<br />

Das glaube ich auch, weil die Integration von den Institutionen<br />

wie Jugendamt, Schule, Kita usw. zu wenig geleistet<br />

wird und vielleicht auch nicht von allen geleistet werden<br />

kann, gibt es hier in unserer Gesellschaft riesige Lücken.<br />

Da sollten wir uns vielleicht überproportional anstrengen,<br />

so habe ich ihn verstanden, als Aufforderung, sich dem<br />

Thema mehr zu stellen.<br />

Benjamin Eberle: Eine Kritik steht mir nicht zu, aber ich<br />

glaube, man weiß oft nicht, was man nicht weiß. Es gibt<br />

einzelne Nachbarschaftshäuser, die gelungene Beispiele<br />

für interkulturelle Zusammenarbeit geben, wo ganz viel<br />

passiert. Aber in den Diskussionen in den Pausen oder<br />

nach den Arbeitsgruppen kam heraus, dass es immer<br />

noch eine ziemlich naive Vorstellung über die Verbindung<br />

der Kulturen gibt. Das ist ein langer Weg für unsere Einrichtungen,<br />

wie bei dem Frauenfrühstück, das seit 20 Jahren<br />

existiert. Das heißt nicht, dass es schlecht ist, es ist genau<br />

richtig. Nur es kann viel mehr passieren und es kann auch<br />

in viel mehr Einrichtungen passieren. Darum geht es. Das<br />

ist ein langer Weg, aber wir müssen ihn gehen.<br />

Herbert Scherer: Es gibt jemanden, der die Aufgaben formulieren<br />

und uns die Hausarbeit mit auf den Weg geben<br />

kann, nämlich der Vorsitzende unseres Verbandes, Georg<br />

Zinner. Er hat jetzt für diese Tagung das letzte Wort.<br />

Georg Zinner: Wir sind als Nachbarschaftsheime oder<br />

als Mehrgenerationenhäuser tatsächlich eine Instanz,<br />

die zwischen den Familien und den Institutionen vermittelt<br />

und dazu beiträgt, sowohl die Schulen zu verändern,<br />

als auch dazu beiträgt, dass sich in den Familien etwas<br />

verändert. Wir haben mit diesem Thema was ganz Praktisches<br />

aufgegriffen, etwas Naheliegendes und ganz<br />

Einfaches. Ich bin auch glücklich, dass – wie in der Tagung<br />

ein Jahr zuvor – Beispiele aus der Praxis dargestellt<br />

wurden, die beeindruckend belegen, dass sich Nachbarschaftsheime<br />

diesen Aufgaben stellen. Wenn es vielleicht<br />

von der Teilnehmerstruktur her anders aussieht, stellen<br />

sie sich aber natürlich auch den Aufgaben interkultureller<br />

Arbeit, wir sind vielleicht besser, als es scheint.<br />

Ich bin stolz auf die Nachbarschaftsheime, wie sie sich bewegen<br />

und wie sie sich engagieren und einmischen, und<br />

wie viel Selbstbewusstsein sie mittlerweile auch erworben<br />

haben, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Aufgaben<br />

angehen. Das ist auch etwas, was mich sehr mutig in<br />

die Zukunft blicken lässt.<br />

<strong>Familiennetze</strong> haben tatsächlich eine Rolle in unserer Gesellschaft<br />

eingenommen. Die Familie selbst, früher eine<br />

sehr bedeutende Institution unserer Gesellschaft, verliert als<br />

tragende Institution an Bedeutung, während andere Beziehungsgeflechte<br />

wie Nachbarschaften wichtiger werden. Da<br />

werden Nachbarschaftshäuser zu gesellschaftlich wichtigen<br />

Instanzen. Ich glaube, dass wir uns mit dem Thema noch intensiver<br />

beschäftigen müssen, welche Rolle wir in unserer<br />

Gesellschaft einnehmen wollen. Man soll sich ja immer wieder<br />

vergewissern, warum man etwas macht. Das wäre vielleicht<br />

auch eine Aufgabe für die Tagung im nächsten Jahr.<br />

Wir werden im nächsten Jahr wieder so eine Tagung veranstalten,<br />

das hat gestern die Mitgliederversammlung gefordert<br />

und unterstützt. Diese Tagungen helfen uns, mit einander im<br />

Austausch zu bleiben, unsere Praxis vor den kritischen Ohren<br />

der Kollegen auf den Prüfstand zu legen, damit wir voneinander<br />

profitieren und lernen können, und nicht in einem geschlossenen<br />

Kreis verharren. Sondern dass wir immer wieder<br />

versuchen, über uns hinaus weitere Einrichtungen für unsere<br />

Aufgaben zu interessieren. Vielleicht holen wir noch mehr Studenten<br />

aus den Fachhochschulen zu dieser Tagung.<br />

Mir bleibt, allen, die hier als Teilnehmer mit dabei waren,<br />

zu danken. Aber ich möchte mich auch bei denen bedanken,<br />

die es mit einem guten Gespür für das, was uns interessieren<br />

könnte, geschafft haben, diese Tagung auf die<br />

Beine zu stellen.<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 149


150<br />

Teilnehmerliste<br />

Keziban Aydin<br />

Dr. Clemens Back<br />

Theda Blohm<br />

Barbara Borchers<br />

Tatjana Borodina<br />

Andrea Brandt<br />

Gabriele Colwin<br />

Paula Diederichs<br />

Monika Döhrmann<br />

Benjamin Eberle<br />

Willy Essmann<br />

Ulrike Feige<br />

Kathrin Feldmann<br />

Gabriele Fichtner<br />

Andris Fischer<br />

Dirk Fischer<br />

Kathrin Fleischer<br />

Heidrun Förster<br />

Theo Fontana<br />

Ursula Franz<br />

Kerstin Gerth<br />

Bernd Giesecke<br />

Reinhilde Godulla<br />

Claudia Grass<br />

Angelika Groß<br />

Christiane Grunau<br />

Kirsten Harnisch-Eckert<br />

Bernhard Heeb<br />

Gisela Hübner<br />

Dr. Konrad Hummel<br />

Bengt Jacobs<br />

Klaus Kaiser<br />

Aicha Katjivena<br />

Anke Kehrmann-Panten<br />

Petra Kindermann<br />

Cordula Kleinfeldt<br />

Semih Kneip<br />

Beate Köhn<br />

Romy Kopp-Gödecke<br />

Heike Kötter<br />

Svetlana Krabel<br />

Michaela Kropp-Schwarzbart<br />

Margritt Küntzel<br />

Oliver Kulitz<br />

Timm Lehmann<br />

Bianca Liwicki<br />

Dr. Eberhard Löhnert<br />

Stadtteilmütter / Diakonisches Werk ▪ www.diakonie-portal.de<br />

K.I.O.S.K. auf dem Rieselfeld e.V. ▪ http://kjk.rieselfeld.org<br />

KREATIVHAUS ▪ www.kreativhaus-tpz.de<br />

Gesundheitsamt Potsdam Kinder- u. Jugendgesundheitsdienst ▪ www.potsdam.de<br />

Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der ufafabrik e.V. ▪ www.nusz.de<br />

Biffy Berlin - Big Friends for Youngsters e.V. ▪ www.biffy-berlin.de/cms_biffy/<br />

Schreibabyambulanz Berlin ▪ www.schreibabyambulanz.info/paula_diederichs.htm<br />

Mütterzentrum Braunschweig e.V./ Mehrgenerationenhaus ▪ www.muetterzentrum-braunschweig.de<br />

AWO Begegnungszentrum ▪ www.begegnungszentrum.org/startseite.html<br />

Outreach berlin ▪ www.outreach-berlin.de<br />

Tausendfüßler Kinder- und Familiengarten Kaltenkirchen e.V. /Mehrgenerationenhaus Kaltenkirchen ▪ http://tausendfuessler-kaki.de<br />

Stadtkontor GmbH ▪ www.stadtkontor.de<br />

BALL e.V. ▪ www.ball-ev-berlin.de<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ www.stadtteilzentren.de<br />

Berlin 21 e.V. ▪ www.berlin21.net<br />

ElKize Teltow-Fläming/Diakonisches Werk<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ www.stadtteilzentren.de/<br />

Frei-Zeit-Haus e.V. / Charlotte Treff ▪ http://jugendserver.spinnenwerk.de/~fzh/aussenst/charlotte.htm<br />

Bürgerhaus Bocklemünd ▪ www.buergerschaftshaus.de/<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V., Projekt Network ▪ www.spinnenwerk.de<br />

Nachbarschaftsheim Schöneberg ▪ www.nachbarschaftsheim-schoeneberg.de<br />

Gesundheitsamt Potsdam Kinder- u. Jugendgesundheitsdienst ▪ www.potsdam.de<br />

Wellcome-Koordinierungsstelle ▪ www.wellcome-online.de<br />

Nachbarschaftsheim Neukölln e.V. ▪ www.nbh-neukoelln.de<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ www.stadtteilzentren.de<br />

ehemals Stadtrat für Soziales, Jugend, Familie, Frauen, Senioren, Stiftungen und Wohnen in Augsburg<br />

LABYRINTH - Offenes Kinder- und Jugendhaus und Stadtteiltreff ▪ www.im-labyrinth.de<br />

Malteser Hilfsdienst e.V. ▪ www.malteser-berlin.de<br />

Erzieherin<br />

Tausendfüßler Kinder- und Familiengarten Kaltenkirchen e.V. ▪ http://tausendfuessler-kaki.de<br />

Nachbarschaftsetage Fabrik Osloer Straße ▪ www.fabrik-osloer-strasse.de<br />

Verein für ambulante Versorgung, Kita Abenteuerland ▪ www.vav-hhausen.de<br />

Gangway ▪ www.gangway.de<br />

Fachstelle Berliner Notdienst Kinderschutz ▪ www.kindernotdienst.de<br />

Gemeinwesenverein Haselhorst e.V. ▪ www.gemeinwesenverein-haselhorst.de<br />

Mehrgenerationenhaus Königs Wusterhausen ▪ www.mehrgenerationenhaeuser.de<br />

Nachbarschaftshaus Prinzenallee e.V. ▪ www.nachbarschaftshaus-prinzenallee.de<br />

Hippo Kita des KOTTI e.V ▪ www.kotti-berlin.de<br />

Verein für ambulante Versorgung ▪ www.vav-hhausen.de<br />

NBH Mittelhof, Mehrgenerationenhaus Zehlendorf-Süd ▪ www.nachbarschaftsheim-mittelhof.de/1024/mitte-mhaus.htm<br />

Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V. ▪ www.nachbarschaftsheim-schoeneberg.de<br />

Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin ▪ www.paritaet-berlin.de


Manja Mai<br />

Kerstin Mallok-Gerwien<br />

Annette Maurer-Kartal<br />

Isabelle Meyer<br />

Ingrid Müller<br />

Linda Ortleb<br />

Elke Ostwaldt<br />

Waldemar Palmowski<br />

Norman Pankratz<br />

Dr. Lore-Maria Peschel-Gutzeit<br />

Dorothee Peter<br />

Sandra Pietsch<br />

Ulrike Preißer<br />

Christina Putze<br />

Cornelia Rasulis<br />

Barbara Rehbehn<br />

Friedrich Reinsch<br />

Susanne Rinck<br />

Markus Runge<br />

Barbara Rüster<br />

Gerald Saathoff<br />

Marion Scheidler<br />

Dr. Herbert Scherer<br />

Elena Scherer<br />

Gerd Schmitt<br />

Viola Scholz-Thies<br />

Elke Schönrock<br />

Karl-Fried Schuwirth<br />

Petra Sgodda<br />

Petra Sperling<br />

Sandra Stock<br />

Josella Stolz<br />

Haroun Sweis<br />

Joachim Toll<br />

Evelyn Ulrich<br />

Dr. Haci-Halil Uslucan<br />

Dr. Dagmar Voelker<br />

Hanne Voget-Berkenkamp<br />

Gabriele Wegerich<br />

Katrin Wegner<br />

Charlotte Weidenhammer<br />

Torsten Wischnewski<br />

Torsten Wlock<br />

Ute Wollburg<br />

Bettina Zey<br />

Georg Zinner<br />

Outreach - Marzahn-Hellersdorf ▪ www.outreach-berlin.de<br />

Haus der Generationen und Kulturen ▪ http://milanhorst-potsdam.de/blog/<br />

Stadtteilverein Schöneberg e.V. ▪ www.halkkoesesi.de<br />

K.I.O.S.K. auf dem Rieselfeld e.V. ▪ http://kjk.rieselfeld.org/<br />

NBZ Bürger für Bürger ▪ www.volkssolidaritaet-berlin.de/begegnung/bg_bz_mitt_02.html<br />

Jugendamt Steglitz-Zehlendorf ▪ www.berlin.de/ba-steglitz-zehlendorf/verwaltung/jugend/<br />

Outreach- Mobile Jugendarbeit Treptow-Köpenick ▪ www.outreach-berlin.de<br />

NBH Schöneberg e.V. ▪ www.nachbarschaftsheim-schoeneberg.de<br />

K.I.O.S.K. auf dem Rieselfeld e.V. ▪ http://kjk.rieselfeld.org<br />

Senatorin für Justiz a.D.; Rechtsanwältin ▪ www.fps-law.de/ger/includes/anwaelte/anwalt.php?record%5Bnid%5D=102<br />

Nachbarschaftsheim Neukölln e.V. ▪ www.nbh-neukoelln.de/<br />

Nachbarschaftszentrum Amtshaus Buchholz ▪ www.amtshaus-buchholz.de<br />

Nachbarschaftsetage Fabrik Osloer Straße ▪ www.fabrik-osloer-strasse.de<br />

KREATIVHAUS ▪ www.kreativhaus-tpz.de<br />

DPW Geschäftsstelle Bezirke ▪ www.paritaet-berlin.de<br />

Bürgerhaus am Schlaatz ▪ www.buergerhaus-schlaatz.de<br />

Verein Soziale Stadt Potsdam e.V. ▪ www.soziale-stadt-potsdam.de<br />

Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. ▪ www.nachbarschaftshaus.de<br />

Gemeinwesenverein Heerstr. Nord ▪ www.treffpunkt-heerstrasse.de<br />

NBH Mittelhof ▪ www.nacharschaftsheim-mittelhof.de<br />

Freizeithaus Weißensee / Selbsthilfe-Kontaktstelle ▪ www.frei-zeit-haus.de<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ www.stadtteilzentren.de<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ www.stadtteilzentren.de<br />

Kiezoase Schöneberg / PFH ▪ www.pfh-berlin.de/index.php?/de/inhalt/mehrgenerationenhaus_kiezoase<br />

Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V. ▪ www.treffpunkt-heerstrasse.de<br />

Gemeinwesenverein Haselhorst e.V. ▪ www.gemeinwesenverein-haselhorst.de<br />

Nachbarschaftshaus Wiesbaden e.V. ▪ www.nachbarschaftshaus-wiesbaden.de<br />

Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V. ▪ www.treffpunkt-heerstrasse.de<br />

Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V. ▪ www.treffpunkt-heerstrasse.de<br />

Stadtschloß Moabit, Moabiter Ratschlag e.V. ▪ www.moabiter-ratschlag.de<br />

Tauschring Charlottenburg ▪ www.tauschring-charlottenburg.de.vu<br />

Outreach Berlin ▪ www.outreach-berlin.de<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ www.stadtteilzentren.de<br />

Nachbarschaftshaus am berl ▪ www.vav-hhausen.de/web/inhalt/nbshaus.html<br />

Europäisches Integrationszentrum - Akademie für interkulturelles Management ▪ http://uslucan.eiz-berlin.de<br />

Ärztin für Neurologie und Psychiatrie , Leipzig<br />

Jugend- und Familienzentrum im Nachbarschaftsheim Schöneberg ▪ www.nachbarschaftsheim-schoeneberg.de<br />

Nachbarschaftshaus Wiesbaden e. V. ▪ www.nachbarschaftshaus-wiesbaden.de<br />

TÄKS e.V. / Kiezinseln ▪ www.taeks.de/familie-und-nachbarschaft/kiezinseln<br />

Menschenskinder - Werkstatt für Familienkultur e.V. ▪ www.menschenskinder-darmstadt.de<br />

Pfefferwerk Berlin ▪ www.pfefferwerk.net/stadtkultur/aktuelles/start_aktuell.php<br />

Netti-Internetwerkstatt ▪ www.spinnenwerk.de/netti/<br />

Zeig-Courage ▪ www.zeig-courage.de<br />

Nachbarschaftsheim Mittelhof e.V. ▪ www.nachbarschaftsheim-mittelhof.de<br />

Nachbarschaftsheim Schöneberg ▪ www.nachbarschaftsheim-schoeneberg.de<br />

<strong>Familiennetze</strong> - Jahrestagung Stadtteilarbeit 2008 151


152 Impressum<br />

Impressum<br />

Der <strong>Rundbrief</strong> wird herausgegeben vom<br />

Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.<br />

Tucholskystraße 11, 10117 Berlin<br />

Telefon: 030 280 961 03<br />

Fax: 030 862 11 55<br />

Email: bund@sozkult.de<br />

Internet: www.vska.de<br />

Redaktion: Herbert Scherer<br />

Gestaltung: Hulitschke Mediengestaltung<br />

Druck: Agit-Druck Berlin<br />

Der <strong>Rundbrief</strong> erscheint halbjährlich<br />

Einzelheft: 5 Euro inkl. Versand

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