Nummer 157 - Nordfriisk Instituut
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Matthias Theodor Vogt:<br />
in varietate concordia<br />
Minderheiten als Elemente<br />
deutscher und europäischer Kultur<br />
Millionen von Menschen in Europa gehören nationalen und kulturellen Minderheiten<br />
an. Für die EU und ihre einzelnen Staaten stellt dieser Sachverhalt ein wichtiges Politikfeld<br />
dar. Der Rat der vier autochthonen Minderheiten in Deutschland hatte am 8.<br />
März 2006 zu einem Parlamentarischen Abend in die Vertretung des Landes Schleswig-Holstein<br />
in Berlin geladen. In seinem Referat beleuchtete Prof. Dr. Matthias Theodor<br />
Vogt von der Universität Zittau/Görlitz zentrale Fragestellungen zu den Minderheiten<br />
aus verfassungspolitischer Perspektive. NORDFRIESLAND bringt Auszüge.<br />
Innerhalb der deutschen Kultur ist das Hochdeutsche<br />
lediglich eine Übereinkunft, analog<br />
übrigens zu einem Auftrag der Oberlausitzer<br />
Stände aus dem Jahre 1691 an eine Kommission,<br />
aus der Vielzahl der von Dorf zu Dorf und Tal zu<br />
Tal differierenden sorbischen Lokalidiome eine<br />
„durchgehends gebräuchliche wendische Sprache“<br />
zu schaffen. 1 Die Hannoversche Aussprache<br />
des Hochdeutschen als Modell korrekten<br />
Sprechens hat sich gerade einmal seit 100 Jahren<br />
durchgesetzt, zunächst im Ergebnis einer 1898<br />
im Apollosaal des Königlichen Schauspielhauses<br />
zu Berlin am Gendarmenmarkt abgehaltenen<br />
„Konferenz zur deutschen Bühnenaussprache“ 2<br />
und später im Ergebnis der vom Norddeutschen<br />
Rundfunk deutschlandweit ausgestrahlten Fernsehnachrichten.<br />
Was hochdeutsch aussieht, klingt allerdings in der<br />
tatsächlichen Sprechpraxis regional höchst unterschiedlich.<br />
Richard Wagners Libretto zum „Ring<br />
des Nibelungen“ erschließt seine Feinheiten erst,<br />
wenn es von einem Sachsen vorgetragen wird.<br />
Ähnliches gilt beispielsweise von Goethes Gedichten<br />
und dem Hessischen. Eine Allensbacher<br />
Umfrage ergab 1998, zum hundertsten Jahrestag<br />
der Aussprachekonferenz, dass im Bundesdurchschnitt<br />
51 % der Befragten angaben, die Mundart<br />
der Gegend, in der sie leben, sprechen zu können,<br />
in Bayern 72 % (außer in München), und dass<br />
jeder Dritte nur in Ausnahmefällen Hochdeutsch<br />
spricht. 3<br />
Deutsche Kultur ist also weit mehr als die Kultur<br />
des Hochdeutschen. Die gängige Definition<br />
jedoch, wie sie zum Beispiel der Förderpraxis<br />
der Bundeskulturstiftung zugrunde liegt, lässt<br />
urbane Kultur als die einzig wahre gelten. Dass<br />
sich mit ländlich-dörflicher Kultur beispielsweise<br />
die Länder des Baltikums über Jahrhunderte<br />
erfolgreich gegen die russische Überformung gestemmt<br />
haben und dass sie diese nun mit Witz<br />
und Sachverstand in die europäische Debatte<br />
einbringen, hat sich in den Hauptstädten der<br />
alten EU noch nicht überall herumgesprochen.<br />
Einheit – Einherzigkeit<br />
Die Spannung zwischen den „feinen Unterschieden“,<br />
um mit Pierre Bourdieu 4 zu sprechen, und<br />
dem Raum einheitlicher politischer Aktion<br />
prägt die beiden suprastaatlichen Ausformungen<br />
Europas, die seit dem Zweiten Weltkrieg<br />
parallel zueinander aufgebaut wurden. Der am<br />
5. Mai 1949 gegründete Europarat basiert auf<br />
dem Prinzip der Ermöglichung von Vielfalt<br />
und bezahlt dafür mit relativer Machtlosigkeit.<br />
Empfehlungen wie die Europäische Charta für<br />
Regional- oder Minderheitensprachen sind<br />
weder von einem Finanzinstrument noch von<br />
ernsthaften Sanktionsmechanismen untersetzt.<br />
Die am 9. Mai 1950 ins Leben gerufene Europäische<br />
Union wiederum baut auf Einheitsräumen<br />
auf und ist mit diesem Prinzip in den französischen<br />
und niederländischen Referenden 2005<br />
gescheitert. Die vom Vatikan 1931 angesichts<br />
der damaligen Vielzahl autoritärer Regime empfohlene<br />
Lösung einer „Subsidiarität“ („Oben“<br />
ist zur Hilfe, zum „subsiduum“, verpflichtet, um<br />
„Unten“ eigenständiges Handeln zu ermöglichen)<br />
ist leichter in (europäische) Verfassungs-<br />
Nordfriesland <strong>157</strong> � März 2007 17