anderen Ende der Skala, der Idee von Nietzsches›Übermenschen‹ diametral entgegengesetzt,steigt man die Darwinsche Evolutionsleiterhinunter und landet beim Tier.« (HelenStoddart) Der Zirkus des 19. Jahrhundertsstellt den durchtrainierten, überlegenenKörper des Athleten dem deformierten, inferiorenKörper der »Missgeburt« schonungslosgegenüber. Es ist in diesem Zusammenhangüberaus bemerkenswert, dass die Kostümierungdes Superman (also des in wörtlicherÜbersetzung »Übermenschen«!) mit seinenüber einem eng anliegenden, einteiligenKörperanzug getragenen Shorts aus derklassischen Kleidung des Zirkusathleten, des»Manns aus Stahl« (so auch eine BezeichnungSupermans), hergeleitet zu sein scheint.Der bösartige Held und der gutherzigeSchurke»In Comics, Rockmusik, Zirkus-Shows undKarneval-Vorführungen wird der archetypischeAußenseiter nicht durch die Frau,den Homosexuellen, den Juden, die Rothautoder den Schwarzen repräsentiert […].Durch alle Jahrhunderte seit Menschengedenkenist es der seltsam geformte Körper,mit dem die Andersartigkeit verkörpertwird.« (Rosemarie Garland Thomson) Wagneraber hat seinen Mime mit Attributen ausder gesamten Palette von Außenseitern versehen:In seiner Musik und seiner Sprechweiseträgt Mime unverkennbar jüdischeZüge, in seiner stets auch von ihm selbstpropagierten Mutterrolle klingen homosexuelleFacetten an, sein Körper ist – wie wirbereits erfahren haben – deformiert, sogarmit einer dunkleren Hautfarbe stattet ihndarin, vorhandene Motive und Archetypenaus den unterschiedlichsten Mythen zwarzu verwenden, dem vorgegebenen Schemadabei aber eben gerade nicht zu folgen, sondernein ganz eigenes, ebenso widersprüchlicheswie modernes Drama zu gestalten.Wagner laut seiner ursprünglichen Regieanweisungaus. Wagner macht aus derTrickster-Figur des Mime einen vielschichtigenCharakter. In der Rezeptionsgeschichtegemeinhin auf den lächerlichen, bösartigenZwerg reduziert, scheint Mime inseiner allzu übertrieben gespielten (mütterlichen)Fürsorge doch auch immer wiedereine innere Verbundenheit mit seinem Pflegekinddurchblicken zu lassen. Der Tricksterist gut und böse zugleich. Und umgekehrt istauch Siegfried alles andere als ein makelloserHeld. Wohl gewinnt er am Ende desdritten Ring-Teils seine »Prinzessin« Brünhilde.Aber anders als Superman ist er nichtetwa ausgezogen, um die Welt zu retten,sondern um eigene, rein egoistische Motivezu verfolgen. Dabei ist ihm jede höhere Moralvollkommen fremd: Er tötet seine Gegnergewissenlos und ohne zu zögern. Dem vonihm niedergestreckten Pflegevater, dem einzigenMenschen, den er bis dahin in seinemLeben kennen gelernt hat, weint er keineeinzige Träne nach. Ob das der Stoff ist, ausdem Helden gemacht sind?Wagners Genie besteht nicht zuletzt auchOper von Richard WagnerZweiter Tag der Tetralogie Der Ring des Nibelungen Wolfgang Bozic Barrie Kosky Klaus Grünberg Klaus Bruns Ulrich LenzRobert Künzli Johannes Preißinger Béla Perencz Stefan Adam /Frank Schneiders Albert Pesendorfer Julie-Marie Sundal Brigitte Hahn Ania Vegry / Hinako Yoshikawa Sonntag, 10. April 2011, 11 Uhr Sonntag, 17. April 2011, 16 Uhr — Live imRadio auf NDR Kultur.Mit freundlicher Unterstützung vonHauptsponsor
Wie Doris Kraus die Bibliothek organisiert und noch viel mehrAuf der Rückseite ihrer Tür kleben unzähligekleine Zettel, die nur darauf warten, vorneangehängt zu werden: »Bin im Archiv«, »Gradeauf der Probe!« oder »Sofort wieder zurück«.Doris Kraus ist auf alles vorbereitet,sie hat den Überblick. Sie ist die multifunktionaleBibliothekarin, die sich neben Tausendenvon Notenblättern auch um Vertragsverhandlungenüber Urheberrechteund sogar den Transport aller Tasteninstrumentekümmert.Die Bibliothek an sich gleicht ein bisscheneinem U-Boot – viele Schränke hintereinanderlassen sich mit Hilfe großer Räder auseinandersteuern, und man meint es manchmalauch piepsen und surren zu hören.Zwischen den einzelnen Wänden verschwindetDoris Kraus wie der Wind undhat im Nu gefunden, was das Musikerherzbegehrt, denn es ist alles sorgfältigst archiviert– auch wenn es hier und dort etwasgemütlich-durcheinander aussehen mag,hat doch alles seinen festen Platz, und nichteinmal die kleinste Note kommt abhanden.Sogar uralte Partituren aus vorigen Jahrhundertensind noch vorhanden, so zum BeispielGötterdämmerung und Siegfried (1887)von Richard Wagner, zuletzt aus demSchrank geholt – mit dem Kommentar »Vorsicht,heilige Note!« – für GMD Wolfgang Boziczur Einarbeitung in die beiden noch fehlendenTeile der Ring-Produktion (Siegfriedkommt am 17. April, Götterdämmerung am12. Juni 2011 heraus). Herr Bozic würde dieseSchätze zwar am liebsten behalten, wirdsie aber schweren Herzens unversehrt wiederabliefern.Die ungewöhnlichste Aufgabe in DorisKraus’ weitem Arbeitsfeld ist allerdings dieständige Lokalisierung des Foyer-Flügels,der sich nach Lust und Laune an unterschiedlichenOrten aufhält, ob Marschner-Saal oder Laves-Foyer, sie findet ihn überall;die zeitaufwändigste Aufgabe ist wohl dieZusammenstellung der Orchesterausschnitte(oder, wie sie es liebevoll nennt, die »Logistikdes Notenherbeizauberns«) vor allem fürBallette: Sie setzt fein säuberlich, gewissermaßenNote für Note, zusammen, was derjeweilige Choreograph sich an Musik für seineaktuelle Produktion ausgesucht hat. Dahersind die Stücke, wie der Zuschauer siebei der Vorstellung am Ende zu hören bekommt,absolute Unikate, von der Bibliothekarinper Hand hergestellt. Zur Zeit arbeitetsie an dem Ballett Stirb du, wennst kannst(Uraufführung am 19. März 2011), für dassich Choreograph Jörg Mannes acht unterschiedlicheTeile aus Partituren von Ravel,Mahler, Schubert, Strauss und Mozart ausgesuchthat. »Das kann zeitlich manchmalganz schön knapp werden«, sagt Kraus nichtohne Stolz. »Für den Opernball oder mancheBallette kann das Endergebnis auch gut undgerne mal aus zwanzig Teilen bestehen!«.Dass sie daran etwas länger sitzt undmanchmal auch beinahe Nachtschichtenschieben muss, kann man sich da gut vorstellen.Trotzdem ist das Ballett Ein Sommernachtstraumihr favorisiertes Stück deraktuellen Spielzeit.Ansonsten kümmert sich Doris Kraus darum,dass die <strong>Staatsoper</strong> <strong>Hannover</strong> auch wirklichdas spielen darf, was sie gerne möchte. Sieführt Verhandlungen mit Rechteinhabern,die sich teilweise über mehrere Monate erstreckenkönnen. Bei manchen Stückenbeißt allerdings selbst die versierte Bibliothekarinauf Granit, wie etwa bei Liedernder Beatles, die man gerne auf dem Opernballmit dem 60er Jahre-Motto »All You NeedIs Love« Ende Februar gespielt hätte (dieComputerfirma Apple musste jahrelangeVerhandlungen mit Hinterbliebenen führen,bis sie endlich – seit November 2010 –Songs der Beatles online zum Verkauf anbietendurfte. So lange hatte Doris Krausleider nicht Zeit!). Auf die Frage, wieso mandie Musik nicht trotzdem einfach spielenkönnte, erwidert sie ernst, dass man in soeinem Falle mit hohen Bußgeldern und sogareiner Absage der betroffenen Veranstaltungrechnen könne.Die Lieblingsnote der Bibliothekarin, dieMusikwissenschaft und Gesang an der UniversitätWürzburg studiert hat, ist die Partiturabschriftvon Heinrich Marschners OperHans Heiling aus der Zeit vor 1921 – immerhinwar Marschner unter Ernst August von<strong>Hannover</strong> Musikdirektor dieser Stadt, zudemist sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahrein großer Fan seiner Oper Der Vampyr. DaDoris Kraus nach ihrem Studium auch alsSängerin tätig war, sind ihr alle künstlerischenAbläufe bestens bekannt, und esschließt sich der Kreis, wenn sie noch heutebegeistert im Anschluss an ihre Arbeit imExtrachor der <strong>Staatsoper</strong> singt.