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1937 Für Clara ist es ein Herzensbedürfnis, zu stehen, wenn sie ...

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<strong>1937</strong>Für <strong>Clara</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>ein</strong> Herzensbedürfnis, <strong>zu</strong> <strong>stehen</strong>, <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> ihren Führer<strong>sie</strong>ht. Sie steht, und <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> nicht wüsste, dass <strong>es</strong> leider nur Bilder vonihm sind, <strong>sie</strong> würde sogar <strong>zu</strong>r L<strong>ein</strong>wand winken. Doch Franz steht nurauf, weil er nicht auffallen will. Wie vielen geht <strong>es</strong> noch so wie ihm? ImReich <strong>sie</strong>ht <strong>es</strong> nicht gut aus mit der freien M<strong>ein</strong>ungsäußerung. Max ausReichmannsdorf hat sich gerade erst das neu erschienene WörterbuchThe English Duden gekauft, damit er wenigstens die Nachrichten derLondoner BBC versteht. Wie sagte am Montag s<strong>ein</strong>e Frau? Hitlers Frisörbemüht sich vergeblich, die Schmalztolle Adolfs schön nach hinten <strong>zu</strong>bürsten, <strong>sie</strong> fällt aber jed<strong>es</strong> Mal wieder in <strong>ein</strong>er Strähne nach vorn aufs<strong>ein</strong>e Stirn. „M<strong>ein</strong> Haar lässt sich eben nur schwer legen“, sagt Hitler.Darauf m<strong>ein</strong>t der Frisör: „Geben Sie nur Pr<strong>es</strong>sefreiheit, m<strong>ein</strong> Führer, dasollen Sie mal sehen, wie Ihnen die Haare <strong>zu</strong> Berge <strong>stehen</strong>!“ 1 AnfangFebruar kommen Journal<strong>ist</strong>en der Münchener Neu<strong>es</strong>ten Nachrichtendann tatsächlich auf den Dreh, <strong>ein</strong>e Faschingsausgabe ihrer Zeitung <strong>zu</strong>drucken. Darin <strong>ist</strong> das umgearbeitete Märchen vom Rotkäppchen wohlschon der b<strong>es</strong>te Beitrag. Jedenfalls <strong>ist</strong> s<strong>ein</strong>e Satire bald auch woandersin aller Munde. Darin wird jed<strong>es</strong> nur mögliche Nazi-Wort <strong>ein</strong>gebaut, dasirgendwie hin<strong>ein</strong>passt. Voilà! „Es war <strong>ein</strong>mal vor vielen, vielen Jahren inDeutschland <strong>ein</strong> Wald, den der Arbeitsdienst noch nicht gerodet hatte,und in di<strong>es</strong>em Wald lebte <strong>ein</strong> Wolf. An <strong>ein</strong>em schönen Sonntag nun, <strong>es</strong>war gerade Entedankf<strong>es</strong>t, da ging <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong><strong>es</strong> BDM-Mädel durch denWald. Es hatte <strong>ein</strong> rot<strong>es</strong> Käppchen auf und wollte s<strong>ein</strong>e arische Großmutterb<strong>es</strong>uchen, die in <strong>ein</strong>em Mütterheim d<strong>es</strong> NSV untergebracht war.In der Hand trug <strong>es</strong> <strong>ein</strong> Körbchen mit <strong>ein</strong>er Pfundspende und <strong>ein</strong>er FlaschePatenw<strong>ein</strong>. Da begegnete ihm der böse Wolf. Er hatte <strong>ein</strong> braun<strong>es</strong>Fell, damit niemand gleich von Anbeginn s<strong>ein</strong>e rassefremden Absichtenmerken sollte. Rotkäppchen dachte auch nichts Bös<strong>es</strong>, weil <strong>es</strong> ja wusste,dass alle Volksschädlinge im Konzentrationslager saßen, und glaubte,<strong>ein</strong>en ganz gewöhnlichen bürgerlichen Hund vor sich <strong>zu</strong> haben.»Heil Rotkäppchen«, sagte der Wolf. »Wo gehst du hin?« Rotkäppchenantwortete: »Ich gehe <strong>zu</strong> m<strong>ein</strong>er Oma ins Mütterheim.« - »So«, sagteder Wolf. »Aber dann bringe ihr doch <strong>ein</strong> paar Blumen, mit denen dasAmt für Schönheit der Holzarbeit den Wald g<strong>es</strong>chmückt hat!« Sogleichmachte sich Rotkäppchen daran, <strong>ein</strong> Ernt<strong>es</strong>träußchen <strong>zu</strong> pflücken. DerWolf aber eilte <strong>zu</strong>m Mütterheim, fraß die Großmutter auf, schlüpfte inihre Kleider, steckte sich das Frauenschaftsabzeichen an und legte sich1 Hirche, S. 971


<strong>1937</strong>ins Bett. Da kam auch Rotkäppchen schon <strong>zu</strong>r Tür her<strong>ein</strong> und fragte:»Nun, liebe Oma, wie geht <strong>es</strong> dir?« Der Wolf versuchte, die volksnaheStimme der Oma nach<strong>zu</strong>machen, und antwortete: »Gut, m<strong>ein</strong> lieb<strong>es</strong>Kind!« Rotkäppchen fragte: »Warum sprichst du heute so andersartig<strong>zu</strong> mir?« Der Wolf antwortete: »Die Rednerausbildung am Vormittaghat mich sehr beansprucht.« - »Aber Oma, was hast du für großeOhren?« - »Damit ich das Geflüster der Meckerer b<strong>es</strong>ser hören kann!« -»Was hast du denn für große Augen?« - »Damit ich die Wühlmäuschenb<strong>es</strong>ser sehen kann!« - »Was hast du denn für <strong>ein</strong>en großen Mund?« -»Du weißt doch, dass ich in der Kulturgem<strong>ein</strong>de bin!« Und mit di<strong>es</strong>enWorten fraß er das arme Rotkäppchen, legte sich ins Bett und schlief ins<strong>ein</strong>er verantwortungslosen Art sofort <strong>ein</strong> und schnarchte.Da ging draußen der Kreisjägerme<strong>ist</strong>er vorbei. Er hörte ihn und dachte:Wie kann <strong>ein</strong>e arische Großmutter so rassefremd schnarchen? Und alser nachsah, da fand er den Wolf, und er schoss ihn, obwohl er k<strong>ein</strong>enJagdsch<strong>ein</strong> für Wölfe hatte, auf eigene Verantwortung hin tot. Dannschlitzte er ihm den Bauch auf und fand Großmutter und Kind noch lebend.War das <strong>ein</strong>e Freude! Der Wolf wurde dem Reichsnährstand <strong>zu</strong>gewi<strong>es</strong>enund <strong>zu</strong> Fleisch im eigenen Saft verarbeitet. Der Kreisjägerme<strong>ist</strong>erdurfte an der Uniform <strong>ein</strong>en goldg<strong>es</strong>tickten Wolf tragen, Rotkäppchenwurde <strong>zu</strong>r Unterführerin im BDM befördert, und die Großmutter durfteauf <strong>ein</strong>em funkelnagelneuen KdF-Dampfer <strong>ein</strong>e Erholungsreise nachMadeira machen.“ 2 Natürlich haben die Redakteure dann Ärger mit demStaat bekommen, aber sagen Sie nicht, das hat sich nicht gelohnt. Di<strong>es</strong>eZeitung hat mehr <strong>zu</strong>m Nachdenken geboten, als sonst so im Angebot <strong>ist</strong>.In di<strong>es</strong>en Jahren wird im Reich <strong>ein</strong> geflügelt<strong>es</strong> Wort geboren: zwischenden Zeilen l<strong>es</strong>en. Um die scharfe Zensur wissend, finden Journal<strong>ist</strong>enandere Möglichkeiten, um ihre Kritik an das Publikum <strong>zu</strong> bringen. Bald<strong>ist</strong> hier <strong>zu</strong> hören: Die Frankfurter Zeitung wird jetzt enger gedruckt.Warum? Damit man nicht mehr so viel zwischen den Zeilen l<strong>es</strong>en kann. 3In Berlin sitzt Paul in s<strong>ein</strong>em f<strong>ein</strong>en neuen S<strong>es</strong>sel und li<strong>es</strong>t die Anzeigender Deutschen Allgem<strong>ein</strong>en Volkszeitung vom 13. Februar. Er will sichmal wieder <strong>ein</strong>en schönen Abend mit s<strong>ein</strong>er Hertha gönnen – und da <strong>ist</strong><strong>ein</strong>e Menge <strong>zu</strong> finden: Sie könnten in di<strong>es</strong><strong>es</strong> Theater in der Behrenstraßegehen. Dort spielt <strong>zu</strong>r Zeit The English Theatre Barretts of Wimpole St.2 Hirche, S. 135f.3 Hirche, S. 1192


<strong>1937</strong>Das wäre was. Oder hier: Curt Götz <strong>ist</strong> nur noch <strong>ein</strong>e Woche im Theateram Kurfürstendamm <strong>zu</strong> sehen in Towarisch, di<strong>es</strong>em Stück von Jacqu<strong>es</strong>Duval. Im Theater d<strong>es</strong> Volk<strong>es</strong> wird heute <strong>ein</strong> Operettenabend gebotenmit Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß, das Deutsche Theater inder Schumannstraße zeigt Androklus und der Löwe d<strong>es</strong> bekannten IrenGeorge Bernard Shaw. Der inzwischen 81-jährige <strong>ist</strong> im Reich nicht nurals Pazif<strong>ist</strong> und Politiker bekannt, auch s<strong>ein</strong>e Dramen werden g<strong>es</strong>chätzt.Sie könnten auch ins Kabarett Alt-Bayern am Bahnhof Friedrichstraßegehen und sich Das Weltstadtprogramm anschauen. Im Wintergartenläuft Varieté, wie <strong>es</strong> s<strong>ein</strong> soll. Oder gehen <strong>sie</strong> mal wieder ins Kino? ImCapitol am Zoo gibt <strong>es</strong> San Franzisko, am W<strong>ein</strong>bergsweg im PrenzlauerBerg zeigen <strong>sie</strong> Der Hund von Baskerville, in <strong>ein</strong>em Kino in der Turmstraß<strong>ein</strong> Moabit läuft Der Ritt in die Freiheit. Aber da fällt s<strong>ein</strong> Blick auf<strong>ein</strong>e gerahmte Anzeige – das wird genial: endlich <strong>ist</strong> der Weltstar JackHylton mit s<strong>ein</strong>em Orch<strong>es</strong>ter und der jazzigen britischen Dance-Musicwieder auf Gastspiel in der Scala, wie jed<strong>es</strong> Jahr. Das <strong>ist</strong> was für Hertha!Berlin bleibt eben doch Berlin.Man darf sich <strong>ein</strong>fach nur nicht all<strong>es</strong> <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>fach vorstellen, denn sonst<strong>ist</strong> <strong>es</strong> gänzlich unmöglich, die Zusammenhänge <strong>zu</strong> ver<strong>stehen</strong>. Es <strong>ist</strong> dochnicht jeder von den Zuständen im Land bege<strong>ist</strong>ert, der da auf der Straßeherumlaufen darf. Nehmen Sie den Oberbürgerme<strong>ist</strong>er von Leipzig. Das<strong>ist</strong> <strong>ein</strong>e große Stadt und er <strong>ist</strong> prominent. Daraus kann man ableiten, ermüsse <strong>ein</strong> großer Nazi s<strong>ein</strong>; schließlich wurde Adenauer, der Kölner OBschon 1933 aus dem Amt getrieben. Man kann sich aber auch <strong>ein</strong>mal injemanden hin<strong>ein</strong>denken, der aufmerksam beobachtet, was hier vor sichgeht, und versucht, in s<strong>ein</strong>em Amt auf die Entwicklung bei uns Einfluss<strong>zu</strong> nehmen. Das geht b<strong>es</strong>ser im Amt als ohne Amt – so lange man nichtvon anderen aus dem Amt gejagt wird. Andererseits kann man natürlichauch mit s<strong>ein</strong>em Rücktritt <strong>ein</strong> Zeichen setzen, muss jedoch bedenken,dass man dann effektiv noch weniger gegen die Zustände machen kann.Im April <strong>1937</strong> hält <strong>es</strong> der Leipziger Oberbürgerme<strong>ist</strong>er Carl FriedrichGoerdeler schließlich nicht mehr aus. Ende vergangenen Jahr<strong>es</strong> hattensich die Nazis nach <strong>ein</strong>er Propagandaschlacht durchg<strong>es</strong>etzt und für dieEntfernung d<strong>es</strong> Mendelssohn-Denkmals g<strong>es</strong>orgt – nicht etwa weil <strong>sie</strong>b<strong>es</strong>onders viel von Musik verstünden, sondern weil <strong>sie</strong> im Kompon<strong>ist</strong>enFelix Mendelssohn Bartholdy in erster Linie <strong>ein</strong>en Juden sehen. Als der3


<strong>1937</strong>OB di<strong>es</strong>e Barbarei nicht verhindern kann, tritt er endgültig <strong>zu</strong>rück. 4 Er<strong>ist</strong> natürlich auf der anderen Seite auch <strong>ein</strong> Promi, der sich das le<strong>ist</strong>enkann. Den können <strong>sie</strong> nicht still und heimlich <strong>ein</strong>sperren. Für Aktionenwie di<strong>es</strong>e würde Otto Normalverbraucher abgehen in <strong>ein</strong> Lager. Da sindja inzwischen auch noch <strong>ein</strong> paar da<strong>zu</strong>gekommen, wie man so unter derHand hört. Hier funktioniert ja nichts so gut wie der Buschfunk. Freilich<strong>ist</strong> <strong>es</strong> nicht die perfekte Lösung <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>treten, aber <strong>es</strong> <strong>ist</strong> sicher auchnicht die Lösung, ins Exil <strong>zu</strong> gehen. Dann wird die Masse derer, die sichhier wehren könnten, ja immer kl<strong>ein</strong>er. Aber wer will andererseits denHelden spielen und sich verprügeln lassen? Wer jedoch nach Englandgeflohen <strong>ist</strong> wie Sebastian Haffner*, der bekommt dort wenigstens wasfür die Augen geboten, denn in London wird am 12. Mai Georg VI. alsneuer König gekrönt.Wenn wir jetzt schon mal auf der Insel sind, können wir uns hier auchnoch <strong>ein</strong> paar schöne Tage machen und die Kabinettssit<strong>zu</strong>ng am 23. Maiabwarten. Dann setzen wir uns da mit r<strong>ein</strong>, ob <strong>es</strong> in W<strong>es</strong>tminster regnetwie immer oder nicht. Die Einschät<strong>zu</strong>ng der Lage in der Welt nimmt derPremiermin<strong>ist</strong>er Stanley Baldwin persönlich vor und er wählt <strong>ein</strong>deutigeWorte: „Wir haben in Europa zwei Verrückte, die frei herumlaufen. Wirmüssen uns auf das Schlimmste vorbereiten.“ 5 Es bedarf k<strong>ein</strong>er großenFanta<strong>sie</strong>, um sich <strong>zu</strong> denken, dass er Stalin und Hitler m<strong>ein</strong>t. Zumind<strong>es</strong>twas Hitler angeht, sind die M<strong>ein</strong>ungen in England weiterhin g<strong>es</strong>palten,auch in den Zirkeln der Macht in der City und in W<strong>es</strong>tminster. Manch<strong>es</strong>ehen in ihm die Quittung für die Überheblichkeit, mit der London dasDeutsche Reich nach dem Krieg behandelt hat, andere sehen ihn als denGaranten dafür, dass der Kommunismus nicht überschwappt auf andereLänder in Europa. Es <strong>ist</strong> schlimm genug, dass die Tschechoslowakei sichso eng an Moskau schmiedet – <strong>ein</strong> bürgerlich<strong>es</strong> Land, <strong>wenn</strong> auch sichernicht mit sonderlich großzügigen bürgerlichen Freiheiten. Selbst Pariswird ja heute noch scheel ang<strong>es</strong>chaut wegen d<strong>es</strong> Vertrag<strong>es</strong> mit Moskau.Wie schnell kann aus der jetzigen Linksregierung <strong>ein</strong>e kommun<strong>ist</strong>ischeFührung auf der anderen Seite d<strong>es</strong> Ärmelkanals werden! Wer will das?In der Zeitung steht, dass in Russland wahrsch<strong>ein</strong>lich schon seit <strong>ein</strong>igenMonaten politische Schauproz<strong>es</strong>se stattfinden, in denen sich g<strong>es</strong>tandeneMänner – warum auch immer – der wild<strong>es</strong>ten Verbrechen für schuldig4 St<strong>ein</strong>bach, Widerstand, S. 230 und 3005 Falin, S. 464


<strong>1937</strong>erklärt haben sollen. Wer weiß, was <strong>sie</strong> mit denen <strong>zu</strong>vor gemacht hatten.Danach wurden die alle umgebracht. Solche Zustände wollen <strong>sie</strong> auf gark<strong>ein</strong>en Fall bei sich in England bekommen. Das will selbstverständlichauch in Frankreich k<strong>ein</strong>er. Oder doch? Aber nicht doch! Erst allmählichwird das Ausmaß der Greuel in der Sowjetunion bekannt – wobei jederdi<strong>es</strong>e Meldungen anders aufnimmt: als antisowjetische Propaganda, alsschauerlichen Beweis für das W<strong>es</strong>en di<strong>es</strong><strong>es</strong> Bolschewismus oder als wasauch immer. Richtig <strong>ist</strong>, dass <strong>1937</strong> und 1938 drei von fünf Marschällender Sowjetunion hingerichtet werden. Das betrifft im Einzelnen MichailTuchatschewski, Alexander Jegorow und Wassili Blücher. Weiter betrifftdas elf Stellvertreter der Volkskommissars für Verteidigung, 75 der 80Mitglieder d<strong>es</strong> Obersten Kriegsrat<strong>es</strong> und 14 der 16 Armeekommandeure.Umgebracht oder schikaniert werden alle acht Admirale d<strong>es</strong> Land<strong>es</strong>, dieallerme<strong>ist</strong>en Korpskommandeure, 136 von 199 Divisionskommandeurenund 221 Brigadekommandeure. Sie alle haben Namen, <strong>ein</strong>e Biographieund <strong>ein</strong>e Familie, doch so genau will das in London gar niemand wissen.Einerseits hatten <strong>sie</strong> dort genau vor den Soldaten Angst, die bald tot s<strong>ein</strong>werden, und andererseits sind di<strong>es</strong>e toten Soldaten der lebende Beweisdafür, dass man den Kommunismus schon ganz richtig <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>chätzt hat.Da muss k<strong>ein</strong>e Stat<strong>ist</strong>ik auch noch die Anzahl der Offiziere und Soldatenniederer Dienstgrade aufl<strong>ist</strong>en, um London vor jener Gefahr <strong>zu</strong> warnen,die der Bolschewismus in sich birgt. Es sind mehrere Zehntausend. DieZahl derer, die in Deutschland <strong>1937</strong> in Konzentrationslagern <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>perrtsind, <strong>ist</strong> jedenfalls nicht höher – und die leben hinter dem Draht weiter,und das <strong>ist</strong> nicht so endgültig wie gefoltert und dann hingerichtet – sagtman sich vermutlich in London. Dort denkt man sicher auch, dass jetztdiejenigen in Deutschland wegg<strong>es</strong>perrt bleiben, die Untaten vollbringenkönnten, wie <strong>sie</strong> in der Sowjetunion jetzt an der Tag<strong>es</strong>ordnung sind.In London weiß man natürlich nicht, dass Berlin im Hintergrund an derAktion beteiligt <strong>ist</strong>. R<strong>ein</strong>hard Heydrich aus Halle an der Saale, der Chefder Geheimen Staatspolizei oder auch G<strong>es</strong>tapo, will die Krisensituationin Moskau ausnutzen, um das sowjetische Militär <strong>zu</strong> schwächen. Er kamAnfang d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> <strong>1937</strong> schon auf die Idee, über „die Geheime Staatspolizeidem sowjetrussischen Geheimdienst – OGPU – auf dem Wege überden tschechischen Nachrichtendienst gefälschte Schriftstücke über angeblicheVerratshandlungen Tuchatschewskis und anderer russischer5


<strong>1937</strong>Spruch kur<strong>sie</strong>ren: „Luther sagte, was er glaubte; Hitler glaubte, was ersagt; Goebbels glaubt nicht, was er sagt. Schacht sagt nicht, was erglaubt.“ 9 Es <strong>ist</strong> ja auch nicht sonderlich kompliziert heraus<strong>zu</strong>bekommen,was Hjalmar Schacht glaubt, denn er macht aus s<strong>ein</strong>em Herzen k<strong>ein</strong>eMördergrube. Er als Min<strong>ist</strong>er le<strong>ist</strong>et <strong>es</strong> sich, <strong>wenn</strong> auch vorsichtig, Kritik<strong>zu</strong> üben. Schacht glaubt noch immer, was viele Leute vor ihm ebenfallsdachten: di<strong>es</strong><strong>es</strong> Regime wird nicht mehr lange dauern. Dabei sind s<strong>ein</strong>eHoffnungen gar nicht so unbegründet. Als Wirtschaftsmin<strong>ist</strong>er weiß er,dass man <strong>es</strong> nicht ung<strong>es</strong>traft ganz <strong>ein</strong>fach irgendwo wegnehmen und <strong>es</strong>woanders hin<strong>ein</strong>pumpen kann. Die Wirtschaft <strong>ist</strong> in di<strong>es</strong>em Sinne auch<strong>ein</strong>e Art Organismus, der auf die Dauer nicht immer<strong>zu</strong> ung<strong>es</strong>traft hinundherg<strong>es</strong>chubst werden kann. Er hofft, dass der ganze Spuk sehr raschin sich <strong>zu</strong>sammenbricht. Dr. Gisevius versucht bei s<strong>ein</strong>en Begegnungenmit Schacht, ihn immer wieder an<strong>zu</strong>stacheln, dass er die Inflation laufenlassen soll, damit den Leuten <strong>ein</strong> Licht aufgeht; aber Dr. Schacht erklärtihm den Unterschied zwischen sich und ihm. Gisevius wolle eben <strong>ein</strong>enZusammenbruch und er selbst nicht, weil er weiß, was das gerade für diekl<strong>ein</strong>en Leute bedeuten würde, und an die Inflation vor fünfzehn Jahrenkönnen <strong>sie</strong> sich beide nur <strong>zu</strong> gut erinnern. Der Ritt in die Freiheit nachParis <strong>ist</strong> freilich nicht für jeden so unproblematisch wie für den Hjalmar.Karl-Ernst kann sich nicht <strong>ein</strong>fach in <strong>ein</strong>en Zug setzen und abdampfen<strong>zu</strong>r Weltausstellung, sonst wäre di<strong>es</strong>er Witz hier nicht entstanden: „DerMos<strong>es</strong> war doch sehr b<strong>es</strong>chränkt“, sagt <strong>ein</strong> Jude <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>em Freund. „Wiekannst du so etwas sagen, wo er uns doch aus Ägypten geführt hat übersMeer . . . “ Darauf sagt der Freund: „Eben darum! Hätte er uns nicht geführt,hätte ich jetzt <strong>ein</strong>en englischen Pass.“ 10 Auch in anderen Belangenkann er wenig machen, ob nun im Reich all<strong>es</strong> in Ordnung <strong>ist</strong> oder nicht.Dafür hat der Ludwig die richtige Position. Ludwig Beck <strong>ist</strong> der Generalstabschefder Wehrmacht. Das schafft ihm <strong>ein</strong>igen Bewegungsfreiraum.Ihn kann man auch nicht <strong>ein</strong>fach so verhaften wie Karl-Ernst. LudwigBeck <strong>sie</strong>ht deutlich die Bedrohung für Deutschland, die von der Hektikausgeht, die Hitler in der Außenpolitik an den Tag legt. Mit Karl-Ernstkann Ludwig darüber nicht sprechen, denn di<strong>es</strong>en Mann kennt er garnicht. Mit anderen kann er jedoch ins G<strong>es</strong>präch kommen. Manche derMänner denken ähnlich wie er, und Beck <strong>ist</strong> genau der richtige Mann,um in diplomatischer Mission Deutschland auf dem rechten Pfad <strong>zu</strong> hal-9 Hirche, S. 9210 Hirche, S. 897


<strong>1937</strong>ten. Hans Speidel*, nunmehr Leiter der Abteilung „Fremde Heere W<strong>es</strong>t“beim Generalstab d<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong> in der Reichshauptstadt, erinnert sich:„Im Frühjahr <strong>1937</strong> hatte ich <strong>ein</strong>e Reise General Becks nach Paris vor<strong>zu</strong>bereiten,die auf Anregung d<strong>es</strong> Militärattaché, General Kühlenthal, undd<strong>es</strong> Chefs d<strong>es</strong> französischen Generalstabs, General Gamelin, <strong>zu</strong>standekam. Zur »Tarnung« wurde <strong>ein</strong> B<strong>es</strong>uch der Weltausstellung angegeben.Die Reise Becks nach Paris vom 16. bis 20. Juni <strong>1937</strong> sollte s<strong>ein</strong>em Anliegen,<strong>ein</strong> b<strong>es</strong>ser<strong>es</strong> Verhältnis der beiden Nachbarnationen her<strong>zu</strong>stellen,dienen. Ich begleitete ihn auf di<strong>es</strong>er Reise und bemerkte den tiefenEindruck, den Beck auf die französischen G<strong>es</strong>prächspartner, auch aufden Kriegsmin<strong>ist</strong>er Daladier und Marschall Pétain machte.“ 11Hans Speidel weiß sehr gut, warum Beck der rechte Mann <strong>ist</strong>: „Die überragendePersönlichkeit im Generalstab d<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong> war der Chef, Generalder Artillerie Ludwig Beck. S<strong>ein</strong>e Ersch<strong>ein</strong>ung war <strong>ein</strong>drucksvoll: <strong>ein</strong>mittelgroßer, schlanker Mann mit <strong>ein</strong>em schmalen Kopf, nach EduardSpranger dem »<strong>ein</strong><strong>es</strong> Denkers, den s<strong>ein</strong> Berufsweg auf den b<strong>es</strong>onderenZweig strategischen Denkens geführt hat«. S<strong>ein</strong>e durchge<strong>ist</strong>igten G<strong>es</strong>ichtszügeverrieten Selbstbeherrschung und Disziplin. Die Lauterkeits<strong>ein</strong><strong>es</strong> Charakters ver<strong>ein</strong>igte sich mit <strong>ein</strong>em scharf g<strong>es</strong>chliffenen Ge<strong>ist</strong>,der durch <strong>ein</strong>e umfassende Bildung bereichert wurde. Von großer B<strong>es</strong>cheidenheitund Vornehmheit, von hoher Pflichtauffassung geprägt,lebte er nach der Moltk<strong>es</strong>chen Forderung »mehr s<strong>ein</strong> als sch<strong>ein</strong>en«. Wi<strong>es</strong><strong>ein</strong> großer Vorgänger Moltke verkörperte Beck den Typ d<strong>es</strong> Generalstabschefsvollkommen. Er fasste die Aufgabe d<strong>es</strong> Generalstabs nichteng, sondern stellte <strong>sie</strong> in <strong>ein</strong>en größeren Rahmen. Dabei betonte er vorallem die ethischen Grundlagen. Wie <strong>ein</strong>st Gneisenau suchte er durchKriegsakademie und militärische Bildungsanstalten <strong>ein</strong>e Verbindungder Armee mit dem deutschen Ge<strong>ist</strong><strong>es</strong>leben <strong>zu</strong> schaffen, der Generalstabsollte unabhängig, innerlich frei <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er typusbildenden Kraft werden.Beck wurde in s<strong>ein</strong>er erzieherischen Aufgabe nicht müde, die Persönlichkeit<strong>zu</strong> bilden, den Funktionär aus<strong>zu</strong>schalten. Doch s<strong>ein</strong>e Gedankenund Ideale konnte er bei der <strong>zu</strong>nehmenden Amoralität d<strong>es</strong> Regim<strong>es</strong>nicht durchsetzen. Bei s<strong>ein</strong>en Übungsreisen, den Kriegs- und Planspielen,waren Taktik und Strategie für Beck nie <strong>ein</strong> starr<strong>es</strong> Dogma, sondernstets Bewegung, lebendige Kraft.“ 1211 Speidel, S. 7012 Speidel, S. 69f.8


<strong>1937</strong>Ludwig <strong>ist</strong> s<strong>ein</strong>er Zeit <strong>ein</strong> Stück voraus: „General Beck, schon damals <strong>ein</strong>überzeugter Europäer, sah die Idee der Nationalstaaten für überholt an.Damals und später äußerten alle französischen G<strong>es</strong>prächspartner –nicht <strong>zu</strong>letzt Marschall Pétain –, dass General Beck k<strong>ein</strong> Vertreter <strong>ein</strong><strong>es</strong>»militar<strong>ist</strong>ischen oder revanchelustigen Deutschlands« sei, sondern b<strong>es</strong>tedeutsche militärische Tradition verkörpere.“ 13 Di<strong>es</strong>er Mann war schongut: „Der Generalstab drängte auf Maß und Zurückhaltung. Die damalsaufkommende politische und militärische Euphorie und Überheblichkeitwurde auf Weisung Becks scharf bekämpft. Klarheit und Wahrheitim Berichtsw<strong>es</strong>en ließen jedoch mancherorts <strong>zu</strong> wünschen übrig.“ 14 ZumChef d<strong>es</strong> dortigen Generalstabs Maurice Gamelin sagt Ludwig Beck jetztin der französischen Hauptstadt Paris, „dass der Friede Europas, ja derWelt, garantiert sei, <strong>wenn</strong> Frankreich und Deutschland ihren alten Streitbegraben würden und die deutsche und die französische Armee gem<strong>ein</strong>sam<strong>ein</strong>en rocher de bronze für den Frieden darstellten.“ 15Berlin war, <strong>ist</strong> und bleibt <strong>ein</strong> heiß<strong>es</strong> Pflaster. Kriegsmin<strong>ist</strong>er Werner vonBlomberg, den sich Hindenburg als konservativen Gegenpol <strong>zu</strong> Hitlerdachte, reicht im Juni <strong>1937</strong> offiziell die schriftliche Erklärung <strong>ein</strong>, in derer schreibt, dass „k<strong>ein</strong> Anlass gegeben sei, <strong>ein</strong>en Angriff auf Deutschlandvon irgend<strong>ein</strong>er Seite <strong>zu</strong> befürchten“ 16 . Warum hält er di<strong>es</strong>e Zusicherungfür wichtig, <strong>wenn</strong> der Kanzler öffentlich ständig vom Frieden in der Weltspricht? Schwant ihm etwas? Hat Hitler unter vier Augen Andeutungengemacht? Hat von Blomberg inzwischen doch mal <strong>ein</strong>en Blick in Hitlerserst<strong>es</strong> Buch geworfen? In M<strong>ein</strong> Kampf wird doch geklärt, was bei Hitlerim Kopf vor sich geht. Während die me<strong>ist</strong>en Leute im Reich <strong>zu</strong>r Arbeitgehen, wird auf den Fluren der Macht in Berlin getuschelt. Di<strong>es</strong>er oderjener hat etwas aufg<strong>es</strong>chnappt und ihm dämmert, dass ihr Führer nichtdie gleichen Vorstellungen wie <strong>sie</strong> hat, wie <strong>es</strong> mit der neu ent<strong>stehen</strong>denGroßmacht Deutschland weitergehen soll. Gerade der Kriegsmin<strong>ist</strong>er <strong>ist</strong>schon hin und wieder mit dem Führer im G<strong>es</strong>präch. Er erfährt auch am24. Juni als <strong>ein</strong>er der ersten davon, dass der Operationsplan „Grün“ nunfertig vorliegt. Eine Tschechoslowakei soll <strong>es</strong> bald nicht mehr auf derLandkarte geben, doch der Plan <strong>sie</strong>ht k<strong>ein</strong>erlei gewaltsam<strong>es</strong> Vorgehen13 Speidel, S. 7114 Speidel, S. 7215 Speidel, S. 7116 Der Nürnberger Proz<strong>es</strong>s II, S. 3179


<strong>1937</strong>vor. 17 Außenmin<strong>ist</strong>er Konstantin von Neurath befand, dass „<strong>es</strong> nicht angebrachtsei, den Kreis der durch unsere Rh<strong>ein</strong>landaktion aufgeworfenenProbleme unnötig <strong>zu</strong> erweitern.“ 18Den <strong>ein</strong>fachen Leuten entgeht nicht, dass <strong>sie</strong> über ihre Arbeit und was<strong>sie</strong> da herstellen, mit anderen nicht sprechen dürfen. Seit langem schonhängen in vielen Betrieben Plakate der Aktion F<strong>ein</strong>d hört mit 19 , die vomChef d<strong>es</strong> Geheimdienst<strong>es</strong> Admiral Wilhelm Canaris ins Leben gerufenworden war. F<strong>ein</strong>d hört mit! wurde schnell <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em geflügelten Wort.Bald war das der Schlachtruf, <strong>wenn</strong> beim Tuscheln jemand in die Nähekam. Die Leute kommentieren ihre zwi<strong>es</strong>pältige Freude über den neuenArbeitsplatz auf ihre Weise: Ein Mann <strong>ist</strong> in <strong>ein</strong>er Kinderwagenfabrikb<strong>es</strong>chäftigt. Da er k<strong>ein</strong> Geld hat, aber für s<strong>ein</strong>e Frau <strong>ein</strong>en Kinderwagenhaben möchte, „b<strong>es</strong>chafft“ er sich die verschiedenen Fabrikationsteileaus den verschiedenen Abteilungen. Als er <strong>sie</strong> <strong>zu</strong> Hause <strong>zu</strong>sammensetzt,was m<strong>ein</strong>en Sie wohl, was daraus geworden <strong>ist</strong>? Ein Maschinengewehr!20 Aber in der Zeitung geht <strong>es</strong> doch dauernd um den Frieden? Dasglauben viele und alle hoffen <strong>es</strong> sehr, doch di<strong>es</strong>er und jener äußert daranZweifel: Goebbels klopft an die Himmelstür, aber Petrus erklärt ihm,dass er in die Hölle müsse. Um ihn <strong>zu</strong> trösten, sagt er, so schlimm sei <strong>es</strong>gar nicht in der Hölle, und erlässt ihn durch <strong>ein</strong> Fernrohr in die Hölleblicken. Dort <strong>sie</strong>ht er <strong>ein</strong>e behagliche Bar, leicht bekleidete Mädchen,W<strong>ein</strong> und Sekt . . . und getröstet geht er von dannen. Aber als er in derHölle <strong>ist</strong>, wird er von den Teufeln nach allen Regeln der Kunst gezwickt,gezwackt, gequält. Entrüstet ruft er: „Satan, wo <strong>ist</strong> denn der Barbetrieb,den mir Petrus vom Himmel aus zeigte?“ Darauf erwidert Satan: „Das<strong>ist</strong> nur Propaganda, all<strong>es</strong> Propaganda, Herr Min<strong>ist</strong>er!“ 21 D<strong>es</strong>halb <strong>ist</strong> <strong>es</strong>vielleicht noch der b<strong>es</strong>te Vorschlag, die Zeitungen gar nicht <strong>zu</strong> l<strong>es</strong>en, wie<strong>es</strong> mancher vorschlägt: Hase <strong>ist</strong> tot. Er hat die Zeitung gel<strong>es</strong>en und <strong>ist</strong>von der Straßenbahn überfahren worden. Nutzanwendung: Li<strong>es</strong> k<strong>ein</strong>eZeitung. 22 Ein gut<strong>es</strong> Beispiel für Goebbels’ Propaganda <strong>ist</strong> s<strong>ein</strong>e Berichterstattungüber di<strong>es</strong>en Bürgerkrieg in Spanien. Dort knallt <strong>es</strong> schon <strong>ein</strong>17 Falin, S. 4318 Dokumente I, S. 4819 Höhne, S. 18420 Hirche, S. 12021 Hirche, S. 10122 Hirche, S. 11910


<strong>1937</strong>Jahr lang und die Fasch<strong>ist</strong>en <strong>sie</strong>gen ohne <strong>zu</strong> <strong>sie</strong>gen. Hinter vorgehaltenerHand erzählt man sich: „Welch<strong>es</strong> <strong>ist</strong> die größte Stadt Europas?“ Unddie Antwort lautet: „Madrid. Seit Monaten marschieren dort schon dieTruppen <strong>ein</strong> – und die Stadt <strong>ist</strong> immer noch nicht b<strong>es</strong>etzt.“ 23 Was aufder anderen Seite die Rolle d<strong>es</strong> eigenen Land<strong>es</strong> im spanischen Bürgerkrieganbelangt, fragen die Leute: „Wer <strong>ist</strong> der tüchtigste Exporteur?“und beantworten sich die Frage selbst: „Adolf Hitler; denn er liefert all<strong>es</strong>franco.“ 24 Die kostenlose Unterstüt<strong>zu</strong>ng für den Boss der Fasch<strong>ist</strong>en inSpanien spricht sich jetzt allmählich auch im Deutschen Reich herum.Wenn man danach geht, was in den Zeitungen steht, <strong>ist</strong> ja hier bei unsim Reich auch die Welt in Ordnung. Man muss beide Augen <strong>zu</strong>machen,um den allgegenwärtigen Mangel nicht <strong>zu</strong> bemerken. Hören wir uns malum: Der Hitler ohne Frau, die Schlächter ohne Sau, die Bäcker ohneTeig – das <strong>ist</strong> das Dritte Reich. 25 Natürlich haben Sie Recht, reim’ dich,oder ich fr<strong>es</strong>s’ dich, aber was hier von Mund <strong>zu</strong> Mund geht, das <strong>ist</strong> nichtKunst sondern Kritik. Di<strong>es</strong>er Aufruf <strong>ist</strong> auch nichts für 108-prozentigeunserer Volksgenossen: Deutsche, tragt deutsche Wolle, herg<strong>es</strong>tellt ausHirng<strong>es</strong>pinsten Adolf Hitlers, Lügengeweben, Goebbels’ Geduldsfädend<strong>es</strong> deutschen Volk<strong>es</strong> und aus alten Lumpen der SA. 26 Einer der Sprücheäußert sich über die Aussichten, <strong>wenn</strong> das hier noch zwei Jahre so läuftwie bisher und nimmt Be<strong>zu</strong>g auf den Unterschied in der Leib<strong>es</strong>fülle vonGöring und von Goebbels: „Wie <strong>sie</strong>ht <strong>es</strong> am Ende d<strong>es</strong> ersten Vierjahr<strong>es</strong>plan<strong>es</strong>aus?“ – „Göring wird in die Hose von Goebbels passen.“ 27 Heitersind die Aussichten nicht. Kurt Hirche hört, dass jemand irgendwo auf<strong>ein</strong>em Hindenburg-Denkmal über Nacht <strong>ein</strong> Plakat angebracht hat, aufdem <strong>zu</strong> l<strong>es</strong>en stand: „Steig hernieder, greiser Streiter, d<strong>ein</strong> Gefreiterkann nicht weiter!“ 28 N<strong>ein</strong>, er hört nicht, wo das war – und selbstredenderfährt er auch nicht, wer das war. Das heraus<strong>zu</strong>bekommen, fällt danneher in den Aufgabenbereich der G<strong>es</strong>tapo.Wer nicht prominent <strong>ist</strong> und trotzdem aufmuckt, <strong>ist</strong> ganz schnell vonder Bildfläche verschwunden. Seit Jahren schon gibt <strong>es</strong> nur noch zwei23 Hirche, S. 12024 Hirche, S. 7125 Hirche, S. 13126 Hirche, S. 13027 Hirche, S. 13128 Hirche, S. 9711


<strong>1937</strong>Institutionen, in denen man vor der staatlichen Willkür relativ sicher <strong>ist</strong>.Die <strong>ein</strong>e <strong>ist</strong> die Wehrmacht und dann sind da noch die Kirchen. Nur dieKirchen jedoch nutzen ihren Spielraum, um sich kritisch <strong>zu</strong> äußern. Dr.Gisevius, der immer mal am Sonntag in die Kirche von Pastor Niemöllerin Berlin-Dahlem geht, soll hier von di<strong>es</strong>em Teil der Kirchen berichten:„Nur die Kirche spricht damals offen aus, wohin die Dinge treiben. Si<strong>es</strong>temmt sich gegen das immer beängstigendere Tempo di<strong>es</strong>er Bewegung<strong>zu</strong>m Abgrund. Und gerade die Gegenüberstellung mit den Offizierenmacht ersichtlich, mit wie viel Mut die Ge<strong>ist</strong>lichen beider Konf<strong>es</strong>sionenkämpfen. Vielleicht muss ich <strong>ein</strong>schränken, nicht die Kirche als solchekämpft. In ihrer organisatorischen Umhüllung verstecken sich tausendbürokratische Wenn und Aber, ungezählte diplomatische Bedenken undleider auch so manche Philosophien vom kl<strong>ein</strong>eren Übel.“ 29 Bleibt an<strong>zu</strong>merken,dass viele Leute im Inland wie im Ausland di<strong>es</strong>e Ansicht teilen.Doch im Übel sehen <strong>sie</strong> trotzdem <strong>ein</strong> Übel. „Da gibt <strong>es</strong> Bischöfe, die überihren Sprengel nicht hinaussehen wollen und sich damit begnügen, dassdi<strong>es</strong>er intakt bleibt. Da gibt <strong>es</strong> Bischöfe, die schweigen, <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> redensollten, und die reden, <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> schweigen sollten. Aber fast möcht ichsagen, wie sollte <strong>es</strong> anders s<strong>ein</strong>?“ Voller Stolz vermerkt Gisevius: „Di<strong>es</strong>gerade macht den Kirchenkampf <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em solch bedeutsamen, weit überüber die deutschen Grenzen hinausreichenden Ereignis, dass sich plötzlichneue Führerpersönlichkeiten herausschälen. Mit <strong>ein</strong>em Male wirdersichtlich, dass <strong>es</strong> nicht <strong>ein</strong>e Institution <strong>ist</strong>, die da kämpft, dass <strong>es</strong> vielmehrMenschen von Fleisch und Blut sind, die durch ihren persönlichenEinsatz alle jene Lügen strafen, welche so tun, als sei das Chr<strong>ist</strong>entum<strong>ein</strong>e längst überholte Angelegenheit und als gehe der Streit nur noch um<strong>ein</strong> leer<strong>es</strong> Dogma, um Traditionen, um Vergangen<strong>es</strong>. Wie immer die G<strong>es</strong>chichtedi<strong>es</strong><strong>es</strong> Kirchenkampf<strong>es</strong> g<strong>es</strong>chrieben werden mag und wie vieleNamen dann rühmend erwähnt werden müssen, <strong>ein</strong> Name wird immeran erst<strong>es</strong> Stelle genannt werden: der Martin Niemöllers. Hitler hat ihnals »den« kirchlichen Antipoden gehasst.“ 30 Gisevius <strong>sie</strong>ht, dass sich derPfarrer nach zwei Seiten verteidigen muss – <strong>ein</strong>erseits gegen die Nazis,„<strong>wenn</strong>gleich nicht immer bemerkt wurde, dass die Unverdrossenheit,mit der er als unbekannter Pfarrer das Risiko der ersten vier Jahre aufsich nahm, fast noch höher <strong>ein</strong><strong>zu</strong>schätzen <strong>ist</strong> als die Ungebrochenheit,mit der der prominente Häftling später das Konzentrationslager ertrug“,29 Gisevius I, S. 32830 Gisevius I, S. 32812


<strong>1937</strong>und andererseits muss „sich Niemöller ausgerechnet denen gegenüber<strong>zu</strong>r Wehr setzen, die ihm s<strong>ein</strong>er ganzen Herkunft nach am nächstenstanden und deren Argumentationen ihm am geläufigsten waren. Daswaren die »Patrioten«, jene braven Kirchenchr<strong>ist</strong>en aus der Zeit von»Thron und Altar«, denen das neuralgische Leiden d<strong>es</strong> deutschen Prot<strong>es</strong>tantismus,s<strong>ein</strong> bedenklicher Hang, jedweder Regierung untertan <strong>zu</strong>s<strong>ein</strong>, auch dann noch <strong>zu</strong> schaffen machte, als die Hitler-Diktatur wahrhaftignur noch <strong>ein</strong>e Verhöhnung aller echten Obrigkeit darstellte. Di<strong>es</strong>eMenschen waren k<strong>ein</strong><strong>es</strong>wegs Nazis. Sehr oft standen <strong>sie</strong> in offener Opposition.Nichts wünschten <strong>sie</strong> sehnlicher, als dass di<strong>es</strong>e braune Gewissensqualvon ihnen genommen werden möchte. D<strong>es</strong>halb war ihnenNiemöller als kämpferischer Mensch sympathisch. Aber, warum <strong>ist</strong> erimmer so unvorsichtig? Muss er all<strong>es</strong> gleich so scharf sagen?“ 31Am 1. Juli <strong>1937</strong> endlich fühlt sich Hitler stark genug, Martin Niemöllerverhaften und in das KZ Sachsenhausen bringen <strong>zu</strong> lassen. ZahlreicheGe<strong>ist</strong>liche und gläubige Chr<strong>ist</strong>en prot<strong>es</strong>tieren dagegen. Das kann nichtsan der Tatsache ändern, dass der Pfarrer in Haft bleibt; aber die Herrenan der Macht wissen auch, dass di<strong>es</strong>e Tatsache nichts daran ändert, dassviele Deutsche ihr braun<strong>es</strong> System jetzt noch stärker ablehnen, wissen,dass <strong>sie</strong> sich Niemöllers Schweigen teuer erkauften. S<strong>ein</strong> gelegentlicherZuhörer Dr. Gisevius reg<strong>ist</strong>riert, dass Hitler Martin Niemöller <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>emPrivatgefangenen macht und ergänzt: „Viele Zeugenaussagen b<strong>es</strong>tätigen,wie wutverzerrt d<strong>es</strong> Tyrannen G<strong>es</strong>icht wurde, sobald er nur den Namendi<strong>es</strong><strong>es</strong> mutigen Dahlemer Pfarrers hörte. Sollte nicht di<strong>es</strong>e Tatsache all<strong>ein</strong>schon begreiflich machen, warum das deutsche Kirchenvolk beiderKonf<strong>es</strong>sionen Niemöller vor allen andern <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>em Helden erkor?“ 32 Inder Lagerzelle noch kann Niemöller, auf s<strong>ein</strong>e „immer größer werdendePersonalgem<strong>ein</strong>de“ 33 <strong>ein</strong>wirken. 1938 wird der Proz<strong>es</strong>s stattfinden.Polens Außenmin<strong>ist</strong>er Beck zaubert unterd<strong>es</strong>sen s<strong>ein</strong>e kreative Abwandlungd<strong>es</strong> W<strong>es</strong>tpakts vom Dezember 1936 wieder aus dem Schreibtisch;doch nun <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät. K<strong>ein</strong>er will mehr <strong>ein</strong>en W<strong>es</strong>tpakt und Englandsetzt mehr oder weniger auf <strong>ein</strong>e Politik d<strong>es</strong> Appeasement. London willdas erstarkende Deutsche Reich b<strong>es</strong>änftigen. Das neue Deutschland sollbekommen, was <strong>es</strong> will, <strong>wenn</strong> <strong>es</strong> nicht schmatzt beim Essen und <strong>wenn</strong> <strong>es</strong>31 Gisevius I, S. 32932 Gisevius I, S. 32833 Ebd., S. 32813


<strong>1937</strong>England nicht auf s<strong>ein</strong>e Speisekarte setzt. Der andere Teil d<strong>es</strong> Plan<strong>es</strong> <strong>ist</strong>nicht derart friedlich. Das offizielle London hofft auf <strong>ein</strong>en militärischenZusammenstoß zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, inder die Zustände auch immer schlimmer werden. Sollen sich die beidenVerrückten in Europa doch ihre Hörner an<strong>ein</strong>ander abstoßen! Natürlichmuss für di<strong>es</strong>en Teil d<strong>es</strong> Plan<strong>es</strong> noch <strong>ein</strong>e Hürde genommen werden; dastört noch di<strong>es</strong>er wolhynische Krautsalat zwischen Deutschland und derRäterepublik: da gibt <strong>es</strong> die Kaschuben und die Slowaken, die Zigeuner,die Ukrainer, die Juden, die Weißrussen, die Tschechen, die Polen, dieRuthenen, und an Deutschen mangelt <strong>es</strong> auch in k<strong>ein</strong>em di<strong>es</strong>er Länder.Es inter<strong>es</strong><strong>sie</strong>rt in London am Rand, wer wo in der Mehrheit oder in derMinderheit <strong>ist</strong>. Die Führung in London hofft darauf, dass das DeutscheReich die Tschechoslowakei und Polen in s<strong>ein</strong>e breiten Arme nimmt, umB<strong>ein</strong>freiheit <strong>zu</strong> bekommen für die große Schlacht im Osten. Die soll <strong>es</strong> jaum Gott<strong>es</strong> willen nicht gewinnen, aber <strong>es</strong> soll derart g<strong>es</strong>chwächt werden,dass die Engländer dann gefahrlos auf dem Kontinent für Ruhe sorgenkönnen. Die Kolonien hat England letztlich auch nicht durch <strong>ein</strong>e übergroßeFriedfertigkeit erlangt. Das <strong>ist</strong> Politik made in London. Unlogischsind die Gedankenspiele allemal. Manche der Politiker hoffen im Ernst,dass sich Hitler die Teile nimmt, bei denen er <strong>es</strong> für richtig hält, dass eraber Rumpfstaaten von Polen und der Tschechoslowakei übrig lässt. Aufk<strong>ein</strong>en Fall sollen di<strong>es</strong>e Länder Gegengewichte <strong>zu</strong> Deutschland bilden –trotz ihrer militärischen Möglichkeiten, da das Moskau <strong>zu</strong>r Schutzmachtfür di<strong>es</strong>e Länder aufwerten würde. Es wird sogar erwogen, <strong>ein</strong>e Wiederver<strong>ein</strong>igungDeutschlands mit Österreich <strong>zu</strong> ermöglichen, damit sich dasReich etwas länger gegen die sowjetische Übermacht behaupten kann. 34In Deutschland dreht sich di<strong>es</strong>en Sommer fast all<strong>es</strong> um die Künste. Wieman weiß, gehört der Führer ja selbst <strong>zu</strong> den unverstandenen Geni<strong>es</strong>, sodass <strong>es</strong> nicht erstaunt, dass er das neue „Haus der Deutschen Kunst“ imbayerischen München höchstpersönlich eröffnet. Markus <strong>ist</strong> auf jedenFall schwer be<strong>ein</strong>druckt. Nicht nur die Frankfurter Zeitung bringt dasmonumentale Ereignis am 19. Juli auf der Titelseite: „Die weite Säulenreihed<strong>es</strong> neuen Haus<strong>es</strong>, die rot und goldenen Standarten dazwischen,die g<strong>es</strong>chlossenen Abteilungen von Wehrmacht und uniformierten Gliederungender NSDAP, welche die Prinzregentenstraße säumten – all dasver<strong>ein</strong>igte sich an di<strong>es</strong>em Sonntagmorgen, bei aufgeklärtem Himmel, <strong>zu</strong>34 Quigley, Appeasement, Die britische Mitschuld am Zweiten Weltkrieg, S. 9 und 3814


<strong>1937</strong><strong>ein</strong>er Dokumentation von Macht und Ordnung. Im Empfangsraum d<strong>es</strong>Haus<strong>es</strong>, der wie die Ausstellungshallen selber s<strong>ein</strong> Licht von oben empfängt,sammelten sich bis zehn Uhr die Gäste: die g<strong>es</strong>amte Reichsregierung,Mitglieder d<strong>es</strong> Diplomatischen Korps, Reichs- und Gauleiter derNSDAP und andere führende Männer, sämtlich mit ihren Damen. In derersten Stuhlreihe gewahrte man auch die Witwe d<strong>es</strong> Erbauers, Frau Prof<strong>es</strong>sorTroost. In den Seitenschiffen der Halle, hinter <strong>ein</strong>er Kette vonMännern der SS, fand <strong>stehen</strong>d noch <strong>ein</strong>e Anzahl von Geladenen Platz.Die hier innen waren, vernahmen den Akt der Übergabe d<strong>es</strong> Haus<strong>es</strong>, dieWorte d<strong>es</strong> Münchner Gauleiters Wagner, d<strong>es</strong> Vorsitzenden der G<strong>es</strong>ellschaft»Haus der Deutschen Kunst«, Herrn von Finck, und den Dankd<strong>es</strong> Führers und Reichskanzlers nur durch Lautsprecher: di<strong>es</strong> vollzogsich vor dem Portal auf der Freitreppe.Dann betrat Adolf Hitler den feierlichen Raum, gefolgt von den genanntenHerren, ferner vom Reichskriegsmin<strong>ist</strong>er und Reichsluftfahrtmin<strong>ist</strong>er.Nach der Darbietung <strong>ein</strong><strong>es</strong> Weihechors (Städtischer Chor Augsburgunter Otto Jochum) erteilte Gauleiter Wagner sogleich dem Führer undReichskanzler das Wort.Es will fast überflüssig ersch<strong>ein</strong>en, hier s<strong>ein</strong>e Rede <strong>zu</strong> charakteri<strong>sie</strong>ren:<strong>sie</strong> war, obwohl verzweigt, deutlich und entschieden genug. Nicht überflüssigaber <strong>ist</strong> <strong>es</strong>, von der außerordentlichen inneren Anteilnahme d<strong>es</strong>Sprechenden an s<strong>ein</strong>em Gegenstand <strong>ein</strong>en Begriff <strong>zu</strong> geben, welcherallen Hörern spürbar werden musste, die eigenste Leidenschaft und denTon d<strong>es</strong> persönlichen Erlebens <strong>zu</strong> bezeichnen, welche hier <strong>ein</strong>drucksvollvernehmlich geworden sind.Auch denen, die di<strong>es</strong>e Rede nur l<strong>es</strong>en, wird <strong>es</strong> nicht entgehen können,dass <strong>sie</strong> <strong>ein</strong>e Abrechnung darstellt mit G<strong>es</strong>innungen und Theorien, diedas öffentliche Kunstleben der hinter uns liegenden Epoche b<strong>es</strong>timmten– <strong>ein</strong>e Abrechnung, die heute noch nicht beendet <strong>ist</strong>.Di<strong>es</strong>e Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ng, welche durch die Gleichzeitigkeit der GroßenDeutschen Kunstausstellung mit der bereits angekündigten Schaustellung»Entartete Kunst« (<strong>sie</strong> wird von morgen ab <strong>zu</strong>gänglich s<strong>ein</strong>) ebensoschlagend illustriert wird wie durch den Entschluss Adolf Hitlers,<strong>ein</strong>en unerbittlichen Säuberungskrieg im Bereich der Kunst <strong>zu</strong> führen –di<strong>es</strong>e Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ng wurde in der Rede <strong>zu</strong>gleich mit den Waffenscharfer Ironie wie mit den Mitteln philosophischer Erörterung geführt.“35 Es gibt nun noch k<strong>ein</strong>e Befragungsergebnisse, wie wer hier über35 Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 19. Juli <strong>1937</strong>, S. 115


<strong>1937</strong>die Stelle gelacht hat, dass die führenden Männer d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> sämtlichmit ihren Damen aufmarschiert seien, wo doch ausgerechnet der Führerohne derartige Begleitung nach München kommt. Klar <strong>ist</strong> nur, dass <strong>es</strong>nicht allen Beobachtern entgeht. Davon zeugen Sprüche wie der: „Werwie <strong>ein</strong> Barbar regiert und Napoleon markiert, in Österreich geboren,den Bart englisch g<strong>es</strong>choren – wer italienisch grüßt, deutsche MädchenKinder kriegen lässt, aber selber k<strong>ein</strong>e Kinder machen kann – das <strong>ist</strong> <strong>ein</strong>deutscher Mann!“ 36 Insofern hat die Frankfurter Zeitung an di<strong>es</strong>em Tagschon absolut recht: „Deutsch s<strong>ein</strong> heißt klar s<strong>ein</strong>.“Der Führer <strong>ist</strong> genau der Richtige. Ein Frauenheld, <strong>ein</strong> Philosoph und<strong>ein</strong> Kunstkenner. Agathe <strong>ist</strong> ja <strong>ein</strong> extra neugierig<strong>es</strong> Weibsbild. Zu gernewürde <strong>sie</strong> erfahren, warum <strong>sie</strong> den unverstandenen jugendlichen Hitlerdamals nicht an der Wiener Kunstakademie haben wollten. Man wird janoch mal fragen dürfen. Hatte er das Können der Renaissance in s<strong>ein</strong>erMappe? Mit Hilfe von Farbe und Pinsel den röhrenden Hirsch so genauwie nur irgendmöglich auf die L<strong>ein</strong>wand <strong>zu</strong> bringen? Haben <strong>sie</strong> sich ander Akademie die Waldlichtung im Mondsch<strong>ein</strong> ang<strong>es</strong>chaut und g<strong>es</strong>agt,dass sich das <strong>ein</strong>zigartig als G<strong>es</strong>chenk <strong>zu</strong>m Geburtstag der Oma eignet?Hat das jugendliche Genie verstanden, dass Mitte d<strong>es</strong> 19. Jahrhundertsdie Fotografie aufkam und die Realität absolut mühelos und zeitsparendauf Papier wiedergeben konnte? Ist ihm klar, dass jeder Versuch <strong>ein</strong><strong>es</strong>Realismus in der Kunst dann nur der Fotografie hinterher hechelte? Dieneuen Formen kamen doch nicht von ungefähr! Nehmen Sie nur di<strong>es</strong>enImpr<strong>es</strong>sionismus. Das kann so <strong>ein</strong> Foto noch nicht – Emotionen bei derBetrachtung der Lichtung im Mondsch<strong>ein</strong> darstellen. Oder dann di<strong>es</strong>erExpr<strong>es</strong>sionismus, der Dadaismus und der Kubismus und das all<strong>es</strong>.Aber weil dann der röhrende Hirsch so vermatscht aus<strong>sie</strong>ht, mag Hitlerdas neumodische Zeugs nicht. Das wird Stück für Stück <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>ammelt inden Museen Deutschlands und kommt erst in di<strong>es</strong>e Zur-Schau-Stellung„Entartete Kunst“ und danach wird <strong>es</strong> am b<strong>es</strong>ten <strong>ein</strong>fach verbrannt wiedie Bücher vor vier Jahren. Das muss all<strong>es</strong> weg. Das Volk soll jetzt entscheiden,was Kunst <strong>ist</strong>; vielleicht rechnet sich Adolf Hitler ja Chancenaus, doch noch an der Kunstakademie angenommen <strong>zu</strong> werden, <strong>wenn</strong>dort die Kunstkritiker im Blaumann, möglichst noch mit <strong>ein</strong>er Pulle Bieram Hals dasitzen und über s<strong>ein</strong>e großartigen Kunstwerke urteilen.36 Hirche, S. 9716


<strong>1937</strong>In s<strong>ein</strong>em Namen fährt der Präsident der Reichskammer der bildendenKünste Prof<strong>es</strong>sor Ziegler in Deutschland herum und entscheidet vor Ort,was deutsche Kunst und was entartet <strong>ist</strong>. In München berichtet er dannvon den haarsträubenden Ergebnissen s<strong>ein</strong>er Exkursionen: „Ich war mirklar darüber, dass die Anzahl der in den vergangenen Jahren angekauftenWerke ungeheuer groß s<strong>ein</strong> würde. Maßlos erstaunt war ich darüber,dass noch bis vor wenigen Tagen in deutschen öffentlichen Museen undSammlungen teilweise di<strong>es</strong>e hier nach München gebrachten Verfallskunstdokumenteausg<strong>es</strong>tellt und damit seitens der Leiter di<strong>es</strong>er Anstaltenden deutschen Volksgenossen die B<strong>es</strong>ichtigung <strong>zu</strong>gemutet wurde. Essind die hier gezeigten Produkte allerdings nur <strong>ein</strong> Teil der in den vorgenanntenAnstalten noch vorhandenen. Es hätten Eisenbahnzüge nichtgereicht, um die deutschen Museen von di<strong>es</strong>em Schund aus<strong>zu</strong>räumen.Das wird noch <strong>zu</strong> g<strong>es</strong>chehen haben, und zwar in aller Kürze. Es <strong>ist</strong> <strong>ein</strong>eSünde und Schande, dass man die Anstalten mit di<strong>es</strong>em Zeug voll gehängthat und die örtliche und anständig lebende deutsche Künstlerschaftgerade in di<strong>es</strong>en Stätten kaum oder nur schlechte Ausstellungsmöglichkeitenb<strong>es</strong>itzt.“ 37Bis vor wenigen Tagen hingen die Me<strong>ist</strong>er der Moderne in DeutschlandsMuseen. Im Jahr <strong>1937</strong>. Auf <strong>ein</strong>em Ausstellungsplakat wird <strong>ein</strong> herzlichunglücklicher Vergleich ang<strong>es</strong>tellt, um <strong>zu</strong> verdeutlichen, was „entarteteKunst“ sei. Da wird <strong>ein</strong> verliebter Eindruck von <strong>ein</strong>er jungen Frau demBild <strong>ein</strong><strong>es</strong> schnurrbärtigen älteren Arbeiters gegenüberg<strong>es</strong>tellt, wobeider real<strong>ist</strong>isch gemalte Arbeiter b<strong>es</strong>ser abschneidet. Die Unterschriftlautet: „Lebensvoller Ausdruck <strong>ein</strong>e deutschen Arbeiters, der nichtsmehr von Verhet<strong>zu</strong>ng und Klassenhass in s<strong>ein</strong>en Zügen zeigt, sondernsich bewusst <strong>ist</strong>, dass s<strong>ein</strong>e Arbeit gleichberechtigt mit jeder anderen<strong>zu</strong>m Aufbau d<strong>es</strong> Vaterland<strong>es</strong> beiträgt. Das ausgezeichnete Bild schuf<strong>ein</strong>e Frau, Else Schmidt von der Velde.“ 38 Das fällt ja auch Gott sei Dankniemandem auf, dass das Propagandasülz <strong>ist</strong>. Wir sind ja alle bekloppt.Zusammeng<strong>es</strong>tellt wurde die Ausstellung „Entartete Kunst“ vom Kennerder Kunst Prof<strong>es</strong>sor Ziegler selbst. Die Dortmunder Zeitung schreibt am20. Juli, er habe „<strong>ein</strong>e große Zahl von Scheußlichkeiten <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er Schau<strong>zu</strong>sammeng<strong>es</strong>tellt“. Ganz so schlimm kann <strong>es</strong> aber wohl nicht gew<strong>es</strong>ens<strong>ein</strong>, <strong>wenn</strong> in demselben Artikel kritisch darauf hingewi<strong>es</strong>en wird, dass37 Dortmunder Zeitung, 20. Juli <strong>1937</strong>, S. 238 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen, Albertas Limited, London 200917


<strong>1937</strong>der Kunstkenner Prof. Ziegler maßlos erstaunt war, dass noch bis vorwenigen Tagen in deutschen Museen und Sammlungen teilweise di<strong>es</strong>ehier nach München gebrachten Verfallskunstdokumente ausg<strong>es</strong>tellt unddamit seitens der Leiter di<strong>es</strong>er Anstalten den deutschen Volksgenossen<strong>zu</strong>gemutet wurden. Und die B<strong>es</strong>ucher sind ja auch nicht ausgeblieben.Das lag sicher auch daran, dass die Bilder <strong>ein</strong> paar Leuten gefielen. DasPlakat erläutert auch, was die versammelte Staatsführung als wertvolledeutsche Kunst an<strong>sie</strong>ht – die „Kalenberger Bauernfamilie“ <strong>zu</strong>m Beispiel,die den Leuten mit di<strong>es</strong>en Worten angepri<strong>es</strong>en wird: „Ein wundervoll<strong>es</strong>Bild deutschen Familienlebens. Im Hintergrunde <strong>ein</strong> Ausschnitt aus derLandschaft Kalenbergs, das <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>s der vielen Duodezfürstentümerd<strong>es</strong> zerrissenen Vorkriegsdeutschlands gew<strong>es</strong>en <strong>ist</strong>.“ 39 Es handelt sich indem Zusammenhang auch nicht um offizielle Propaganda. Wo denkenSie denn hin? Brauchen Sie mehr von di<strong>es</strong>em Sülz? „Di<strong>es</strong><strong>es</strong> prachtvolleBild d<strong>es</strong> rh<strong>ein</strong>ischen Me<strong>ist</strong>ers Prof<strong>es</strong>sor Artur Kampf zeigt uns <strong>ein</strong>e Episodeaus den Tagen der Freiheitskriege gegen den korsischen Eroberer.Auch damals war das deutsche Volk <strong>zu</strong>m Opfergang bereit. »Der Königrief und alle, alle kamen!«“ 40 Es schlägt dem Fass den Boden aus, dassausgerechnet dem Bildnis <strong>ein</strong><strong>es</strong> weiteren Mann<strong>es</strong> di<strong>es</strong>e Lob<strong>es</strong>hymne g<strong>es</strong>ungenwird: „Wohl <strong>ein</strong><strong>es</strong> der b<strong>es</strong>ten Führerbildnisse, die je g<strong>es</strong>chaffenwurden, verdanken wir dem Berliner Maler Franz Triebsch.“ 41 Ein wenigfolgerichtig <strong>ist</strong> <strong>es</strong> schon, dass nur <strong>ein</strong>en Monat später mit dem Bau d<strong>es</strong>Konzentrationslagers Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar imschönen Thüringen angefangen wird. Das Gelände wird <strong>ein</strong>gezäunt undbewacht, damit sich k<strong>ein</strong>er beim Skilanglauf hierher verirrt. Wenn dasder Führer wüsste. Na gut. Das denkt k<strong>ein</strong> Mensch heute mehr. Wer vondem Lager weiß, kann sich denken, dass das aus Steuermitteln bezahltwird, und wer davon nichts weiß, muss nicht darüber nachdenken. Aberwo <strong>ist</strong> der Führer?Kanzler Hitler bereitet sich auf den großen Staatsb<strong>es</strong>uch d<strong>es</strong> Duce ausItalien vor. Im September <strong>ist</strong> <strong>es</strong> dann soweit. Generalstabschef Beck <strong>ist</strong>ebenfalls <strong>zu</strong>r Vorbereitung aufgerufen und sucht sich die richtigen Leutefür die Delegation <strong>zu</strong>sammen, darunter auch Hans Speidel, den Leiter39 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen Nr. 33, Albertas Limited, London 200940 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen Nr. 33, Albertas Limited, London 200941 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen Nr. 33, Albertas Limited, London 200918


<strong>1937</strong>der Abteilung „Fremde Heere W<strong>es</strong>t“ d<strong>es</strong> Generalstabs, den er noch ausParis kennt. Bei der Reise in das Reich jenseits der Alpen begleitet denitalienischen Staatschef Mussolini auch <strong>ein</strong>e große Militärdelegation mitMarschall Badoglio an der Spitze. Wegen s<strong>ein</strong>er Position im Generalstabwird auch Speidel <strong>zu</strong> den G<strong>es</strong>prächen hin<strong>zu</strong>gezogen. Die Herren redenüber „<strong>ein</strong>e militärische Zusammenarbeit im Frieden, aber auch in <strong>ein</strong>ermöglichen kriegerischen Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ng. Badoglio machte <strong>ein</strong>enmenschlich vornehmen, gebildeten und militärisch g<strong>es</strong>chulten Eindruck.Mussolini trat er sehr frei gegenüber. Mussolini sprach mich aufden Paris-B<strong>es</strong>uch General Becks, insb<strong>es</strong>ondere auf das VerhältnisDeutschland-Frankreich und den Ausbildungsstand d<strong>es</strong> französischenHeer<strong>es</strong> an. Von außerordentlich starkem Willen geprägt, selbstbewusst,herrisch, zeigte er sich im persönlichen G<strong>es</strong>präch von <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>drucksvollen,sehr unmittelbaren Liebenswürdigkeit. Der große Zapfenstreichim Stadion, bei dem Mussolini kurz sprach, bildete den Abschluss d<strong>es</strong>B<strong>es</strong>uch<strong>es</strong>, der die mitreißende Wirkung der Diktatoren auf die Massenerneut <strong>zu</strong>m Bewussts<strong>ein</strong> brachte.“ 42 So weit die Schilderung von Speidel.Der <strong>ein</strong>zelne Mann <strong>ist</strong> vom Jubel <strong>ein</strong>er Masse be<strong>ein</strong>druckt. Er kann janicht abschätzen, wie viele Leute den Staatsb<strong>es</strong>uch <strong>ein</strong>fach ausblendenund lieber <strong>zu</strong>r Trabrennbahn gehen oder <strong>zu</strong>m Flohmarkt.Max in Reichmannsdorf erzählt s<strong>ein</strong>er Emma den neu<strong>es</strong>ten Witz überden Duce, der sich bei der Gelegenheit gleich über den Dialekt der Leuteim thüringisch-fränkischen Lauscha lustig macht: Eine Abordnung derLauschaer will Benito Mussolini b<strong>es</strong>uchen. Sie setzen sich in <strong>ein</strong>en Zugnach Rom. Als <strong>sie</strong> angekommen sind, wandern <strong>sie</strong> wohlgemut <strong>zu</strong>r Villad<strong>es</strong> Duce. Doch als <strong>sie</strong> das Türschild sehen, sind <strong>sie</strong> bitter enttäuschtund gehen wieder nach Hause. Dort werden <strong>sie</strong> gefragt, warum <strong>sie</strong> dennnun doch nicht beim Duce waren, woraufhin die Delegation erklärt, aufdem Türschild habe g<strong>es</strong>tanden: „Benito Mussolini“ und das heißt ganzklar: Bin nicht da, Mussolini. 43 Und nicht nur in Reichmannsdorf gibt <strong>es</strong>überall die schönsten Witze über den gloriosen Staatsb<strong>es</strong>uch aus Rom.Ein anderer geht so: Hitler b<strong>es</strong>ucht Mussolini und geht mit ihm <strong>zu</strong>mSchwimmen. Adolf hat die Badehose an, Benito badet ohne. Warum?42 Speidel, S. 7343 Von m<strong>ein</strong>em Vater überliefert.19


<strong>1937</strong>Adolf will hinter der Badehose den letzten Arbeitslosen verbergen, aberBenito will herabschauen können auf den letzten Rebell. 44Folgender Witz nimmt Hitlers arrogante innenpolitische Art auf’s Korn:Chamberlain, Mussolini und Hitler <strong>stehen</strong> an <strong>ein</strong>em Teich und wollenausprobieren, nach w<strong>es</strong>sen Methode die me<strong>ist</strong>en Fische gefangen werdenkönnen. Chamberlain beginnt. Er zündet sich <strong>ein</strong> Pfeifchen an, setztsich gemächlich ans Ufer, wirft s<strong>ein</strong>e Angel aus – und hat nach zweiStunden <strong>ein</strong>en Eimer voll gefangen. Nun kommt Mussolini dran. Derspringt kopfüber in den Teich und greift sich <strong>ein</strong>en fetten Hecht. Hitlerlächelt, streicht s<strong>ein</strong>e Locke <strong>zu</strong>rück und befiehlt, das Wasser d<strong>es</strong> Teich<strong>es</strong>ab<strong>zu</strong>lassen. Zu Hunderten zappeln jetzt die Fische am Boden. Hitlersteht, triumphierend um sich blickend, daneben. „Nun, so nehmen Siedoch die Fische!“ drängen Chamberlain und Mussolini. Da sagt Hitler:„Erst sollen <strong>sie</strong> mich darum bitten!“ 45 Vielleicht <strong>ist</strong> <strong>es</strong> ja auch gerade di<strong>ein</strong> di<strong>es</strong>er Form b<strong>es</strong>chriebene Art Hitlers, die die Ereignisse vorantreibt.Er drängelt nicht; er wartet den geeigneten Zeitpunkt ab.Wenn Hitler etwas beherrscht, dann <strong>ist</strong> <strong>es</strong> die Ausnut<strong>zu</strong>ng vorgegebenerSituationen. Er hat s<strong>ein</strong>e Vorstellungen, was g<strong>es</strong>chehen soll, doch er trittdamit nicht hervor, sondern wartet Situationen ab, in denen er s<strong>ein</strong>eVorstellungen unterbringen kann. Eine der ganz großen Visionen <strong>ist</strong> dievon der Ausdehnung d<strong>es</strong> Lebensraum<strong>es</strong> d<strong>es</strong> deutschen Volk<strong>es</strong>. Er hattedas Thema ja schon in der Woche s<strong>ein</strong>er Amts<strong>ein</strong>führung fünf Jahre <strong>zu</strong>vorim Kreis der führenden Generäle der Reichswehr angerissen – undwar damals auf taube Ohren g<strong>es</strong>toßen. Nach dem Fiasko d<strong>es</strong> Weltkrieg<strong>es</strong><strong>ist</strong> die übergroße Mehrheit der Deutschen vom Kriegspielen bedient. Sokam <strong>es</strong> ja überhaupt <strong>zu</strong>m Ende d<strong>es</strong> Kaiserreich<strong>es</strong>. Di<strong>es</strong>en Krieg nahmendoch viele Deutsche dem Kaiser arg übel. Klug, wie Hitler <strong>ist</strong>, lässt er dasThema für Jahre ruhen; er wartet, bis sich s<strong>ein</strong>e Herrschaft hinreichendgef<strong>es</strong>tigt hat und bis <strong>ein</strong>er di<strong>es</strong>er Generäle <strong>ein</strong> Thema anreißt, bei demer s<strong>ein</strong>e Visionen neu an den Mann bringen kann.Die Generäle sehen die innen- und außenpolitischen Erfolge Hitlers und<strong>sie</strong> sehen die militärische Unterlegenheit d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong>. Sie wissen um dieÜberlegenheit der Staaten rund um das Reich und <strong>sie</strong> fürchten den Neid44 Hirche, S. 9445 Hirche, S. 7720


<strong>1937</strong>der dortigen Eliten. Sie haben inzwischen Erfahrungen g<strong>es</strong>ammelt mitder unkonventionellen Außenpolitik Hitlers und waren nicht nur <strong>ein</strong>malziemlich überrascht, dass <strong>es</strong> trotzdem in Europa immer ruhig gebliebenwar. Andererseits wissen <strong>sie</strong> um die Rohstoffprobleme d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> unddie un<strong>zu</strong>reichende Bewaffnung der Reichswehr, die jetzt als Wehrmachtfirmiert. Hier musste auf jeden Fall Abhilfe g<strong>es</strong>chaffen werden. So bittetvon Blomberg, der Reichswehrmin<strong>ist</strong>er, der jetzt Kriegsmin<strong>ist</strong>er heißt,den Kanzler um <strong>ein</strong>e Zusammenkunft in di<strong>es</strong>er Angelegenheit. Zu di<strong>es</strong>erKonferenz der entscheidenden Männer kommt <strong>es</strong> am 5. November <strong>1937</strong>.Kennen Sie das ebenfalls? Wären Sie auch gerne manchmal Mäuschen?Dabei s<strong>ein</strong>, <strong>wenn</strong> etwas richtig Wichtig<strong>es</strong> pas<strong>sie</strong>rt, was aber irre geheimgehalten wird? Dort führt ja für Otto Normalverbraucher in aller Regelk<strong>ein</strong> Weg r<strong>ein</strong>. Doch Sie sollen Ihre Chance bekommen – aber nur, <strong>wenn</strong>Sie <strong>es</strong> niemandem verraten! Normalerweise findet Kanzler Hitler ja dieStadt Berlin furchtbar und bevor<strong>zu</strong>gt s<strong>ein</strong> Domizil auf dem Dach s<strong>ein</strong>erWelt auf dem Obersalzberg. Wenn er aber mit den Deutschen sprechenmuss, dann begibt er sich schon <strong>ein</strong>mal hinunter in die Stadt Berlin undin die Reichskanzlei. Was er den Generälen am 5. November sagen wird,weiß er genau. Er wird s<strong>ein</strong> Thema vom Lebensraum erneut vortragen.Bei di<strong>es</strong>er B<strong>es</strong>prechung anw<strong>es</strong>end sind der Kanzler Hitler, s<strong>ein</strong> AdjutantHoßbach, Reichskriegsmin<strong>ist</strong>er von Blomberg, die Kommandeure allerWaffengattungen von Fritsch, Raeder und Göring sowie Außenmin<strong>ist</strong>ervon Neurath. Im Raum sind somit <strong>sie</strong>ben Personen. Und Sie. Niemandsonst. Für die Deutschen geht in wenigen Wochen schon das fünfte Jahrder innenpolitischen Stabilität <strong>zu</strong> Ende. In di<strong>es</strong>en fünf Jahren wurde sooft vom Frieden g<strong>es</strong>prochen wie seit dem Ende d<strong>es</strong> Weltkrieg<strong>es</strong> nichtmehr. Die Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ngen auf den Straßen und in den Sälen sindlängst G<strong>es</strong>chichte, und die Unruh<strong>es</strong>tifter, wenige Zehntausend, was beiüber 60 Millionen Einwohnern kaum auffällt, sitzen im Wald in di<strong>es</strong>enKonzentrationslagern. Mit den Jahren wird mancher auch wieder in dieFreiheit entlassen und er schweigt, nicht nur, weil er soll, sondern auch,weil ihm k<strong>ein</strong>er oder fast k<strong>ein</strong>er glaubt. Di<strong>es</strong>en Effekt wird noch manch<strong>ein</strong>er in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten kennen lernen. InG<strong>es</strong>prächen, bei denen der überzeugte Nazi nicht mit in der Runde sitzt,bekommt man dafür die Schlussfolgerung aus vier Jahren Dritt<strong>es</strong> Reich<strong>zu</strong> hören: Ziege und Schnecke wetten mit<strong>ein</strong>ander, wer <strong>zu</strong>erst an <strong>ein</strong>emb<strong>es</strong>timmten Punkt ankommt. Die Schnecke gewinnt natürlich. – Wi<strong>es</strong>o21


<strong>1937</strong>natürlich? – Nun, die Ziege wurde wegen Meckerei ins KZ gebracht. DieSchnecke aber blieb still und <strong>ist</strong> nur gekrochen! – Die Moral: Meckernmusste nicht, kriechen musste! 46 Doch nicht jedem liegt di<strong>es</strong><strong>es</strong> dummeKlappe-Halten. Davon zeugt di<strong>es</strong>er Spruch: Lehmann, der <strong>ein</strong>e Drogerieb<strong>es</strong>itzt, trifft s<strong>ein</strong>en Freund Krause und erzählt ihm niederg<strong>es</strong>chlagen,dass ihm das G<strong>es</strong>chäft g<strong>es</strong>chlossen wurde. „Aber warum denn?“ fragtKrause. „Aus politischen Gründen.“ Krause <strong>ist</strong> überrascht: „Was denn,du und Politik? Das musst du mir erklären!“ Woraufhin Lehmann sagt:„Nun, ich habe Reklame gemacht, wie jeder G<strong>es</strong>chäftsmann, und hab’ans Fenster g<strong>es</strong>chrieben: »Heilerde <strong>zu</strong>m Essen« und drunter: »Heil-Quellen <strong>zu</strong>m Trinken«. Und da hat mir doch <strong>ein</strong><strong>es</strong> Tag<strong>es</strong> <strong>ein</strong>er druntergemalt: »Heil Hitler <strong>zu</strong>m Kotzen!« – Na, <strong>sie</strong>hste, und da war <strong>es</strong> aus!“ 47Di<strong>es</strong>e Männer betreten am 5. November das Gebäude der Reichskanzleiund versammeln sich bei Hitler. Di<strong>es</strong>er betont <strong>zu</strong> Beginn die Bedeutungd<strong>es</strong> Treffens und wünscht, dass die Erklärung, die er vortragen will, imFalle s<strong>ein</strong><strong>es</strong> Tod<strong>es</strong> als s<strong>ein</strong> letzter Wille und T<strong>es</strong>tament betrachtet werde.Der Reichskanzler kommt danach von den Rohstoffproblemen und dermangelhaften Ausrüstung von Wehrmacht und Luftwaffe <strong>zu</strong>m rasantenBevölkerungswachstum infolge s<strong>ein</strong>er erfolgreichen Sozialpolitik. Langfr<strong>ist</strong>igmuss <strong>es</strong> dem<strong>zu</strong>folge darum gehen, die Ernährungsgrundlage derDeutschen <strong>zu</strong> sichern. Daraus ergibt sich <strong>ein</strong> Raumproblem. Er erörtertdi<strong>es</strong>e und jene Überlegung, nur um <strong>sie</strong> im langen Monolog gleich wieder<strong>zu</strong> verwerfen. Konflikte zwischen verschiedenen europäischen Ländernwerden themati<strong>sie</strong>rt, die <strong>zu</strong> Kriegen zwischen ihnen führen können. Di<strong>es</strong>o ent<strong>stehen</strong>de Lage könnte man nutzen, um Österreich mit dem Reichwieder<strong>zu</strong>ver<strong>ein</strong>igen und die Tschechei <strong>zu</strong> annektieren. 48 Für Göring <strong>ist</strong>das k<strong>ein</strong>e Eröffnung mehr; er weiß von Hitlers Ideen schon lange, hatteMussolini, der eigentlich manchmal wegen Österreich lieber Krieg gegenDeutschland geführt hätte, schon im April d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> darüber berichtet.Hitler sagt, <strong>zu</strong>r Verb<strong>es</strong>serung unserer militär-politischen Lage müsse injedem Falle <strong>ein</strong>er kriegerischen Entwicklung unser erst<strong>es</strong> Ziel s<strong>ein</strong>, dieTschechei und gleichzeitig Österreich nieder<strong>zu</strong>werfen, um die Flankenbedrohung<strong>ein</strong><strong>es</strong> etwaigen Vorgehens nach dem W<strong>es</strong>ten aus<strong>zu</strong>schalten.Er führt auch aus, die Angliederung der beiden Staaten an Deutschland46 Hirche, S. 11747 Hirche, S. 10748 Schultze-Rhonhof, S. 43522


<strong>1937</strong>bedeute militär-politisch <strong>ein</strong>e w<strong>es</strong>entliche Entlastung infolge kürzerer,b<strong>es</strong>serer Grenzziehung, durch das Freiwerden von Streitkräften für andereZwecke und durch die dann mögliche Neuaufstellung von Truppenbis in Höhe von etwa 12 Divisionen. 49 Dabei schielt er vor allem auf diemodernen tschechischen Panzer und die High-tech Flugzeuge, die manin der Sowjetunion gekauft hatte.Ja, Göring wusste davon; der Kern der Naziführung hat <strong>es</strong> gewusst. Dieführenden Militärs erfahren am 5. November <strong>1937</strong> von di<strong>es</strong>en Plänen. InDeutschland <strong>ist</strong> sich manch <strong>ein</strong>er aber gar nicht so sicher, ob die Leut<strong>ein</strong> Österreich tatsächlich mit Deutschland ver<strong>ein</strong>igt werden wollen. Vonda rührt das geflügelte Wort her: Der Hitler-Staat hat drei Hauptstädte.Berlin: die Hauptstadt d<strong>es</strong> Dritten Reich<strong>es</strong>, München: die Hauptstadtder Bewegung, Wien: die Hauptstadt der Opposition. 50 Wer sich di<strong>es</strong>enSpruch ausgedacht hat, ahnt nicht, dass viele Österreicher neidisch denwirtschaftlichen Aufschwung betrachten und ihn ebenfalls wollen.Hitler erklärt, das Problem d<strong>es</strong> deutschen Lebensraum<strong>es</strong> sollte bis 1943oder höchstens 1945 gelöst s<strong>ein</strong> und k<strong>ein</strong><strong>es</strong>wegs später. Jetzt will er abwarten,wie sich die sozialen Spannungen in Frankreich entwickeln undob <strong>es</strong> <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em bewaffneten Konflikt zwischen Italien und Frankreichkommt, in den sich England gewiss <strong>ein</strong>schalten wird. Sind di<strong>es</strong>e Ländermit sich b<strong>es</strong>chäftigt, so bleibt das Risiko für Deutschland überschaubar.Führt dann <strong>ein</strong> solcher von ihm erwarteter Krieg in W<strong>es</strong>teuropa wegender gegenseitigen Gebietsforderungen <strong>zu</strong>r Mobilmachung di<strong>es</strong>er Länder,so will er „di<strong>es</strong>e sich nur <strong>ein</strong>mal bietende Gelegenheit für <strong>ein</strong>en Feld<strong>zu</strong>ggegen die Tschechei nutzen“ 51 . Sollten sich andere Staaten natürlich aus<strong>ein</strong>em Krieg der Mittelmeerländer heraushalten, will er das auch tun. Errechnet bei <strong>ein</strong>er Annexion Österreichs und der Tschechei mit dem Zugewinnan Nahrungsmitteln für fünf bis sechs Millionen Menschen, die„zwangsweise Emigration“ von zwei Millionen aus der Tschechei sowie<strong>ein</strong>er Million aus Österreich vorausg<strong>es</strong>etzt. 5249 Der Nürnberger Proz<strong>es</strong>s II, S. 48950 Hirche, S. 8751 Schultze-Rhonhof, S. 32952 Schultze-Rhonhof, S. 32923


<strong>1937</strong>Wenn <strong>es</strong> <strong>ein</strong> Wort gibt, das die Reden d<strong>es</strong> Kanzlers charakteri<strong>sie</strong>rt, dannheißt <strong>es</strong> ausufernd. Er redet s<strong>ein</strong>e G<strong>es</strong>prächspartner an die Wand, <strong>ein</strong>eRegel, <strong>zu</strong> der <strong>es</strong> nur wenige Ausnahmen gibt, weil <strong>es</strong> nur wenige wagen,ihm Paroli <strong>zu</strong> bieten und da er <strong>es</strong> auch nur wenigen g<strong>es</strong>tattet. Als er überdie Ösis und die Tschechen spricht, erläutert er erneut die Gedanken auss<strong>ein</strong>em Werk M<strong>ein</strong> Kampf. Es handele sich nicht um die Gewinnung vonMenschen, sondern von landwirtschaftlich nutzbarem Raum. Auch dieRohstoffgebiete seien zweckmäßig im unmittelbaren Anschluss an dasReich in Europa und nicht in Übersee <strong>zu</strong> suchen, wobei die Lösung sichfür <strong>ein</strong> bis zwei Generationen auswirken müsse. Der Kanzler breitet diealte Weisheit vor ihnen aus, die G<strong>es</strong>chichte aller Zeiten vom römischenWeltreich bis <strong>zu</strong>m englischen Empire habe deutlich bewi<strong>es</strong>en, dass jedeRaumerweiterung nur durch Brechen von Widerstand und unter Risikovor sich gehen könne. Auch Rückschläge seien unvermeidbar. Wederfrüher noch heute habe <strong>es</strong> herrenlosen Raum gegeben, jeder Angreiferstoße stets auf den B<strong>es</strong>itzer. 53 Man muss sicher auch sehen, dass <strong>es</strong> nochimmer gang und gäbe <strong>ist</strong>, Grenzziehungen in Frage <strong>zu</strong> stellen. Vielleichtwird das 1957 oder 1977 <strong>ein</strong>mal anders s<strong>ein</strong>, aber vielleicht ja auch nicht.Heut<strong>zu</strong>tage stellt England Forderungen an Irland, Spanien an Italien,Italien an Frankreich, Polen und auch Ungarn an die Tschechoslowakei,Litauen und Russland an Polen und Norwegen an Dänemark. 54Der Redner <strong>ist</strong> sich ganz sicher, dass sich Polen, mit dem Er durch denVertrag von 1934 verbündet <strong>ist</strong>, bei <strong>ein</strong>em Krieg d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> mit <strong>ein</strong>emdritten Staat neutral verhalten wird. Übrigens schließt Hitler noch amselben Tage mit Polen <strong>ein</strong> neu<strong>es</strong> Minderheitenschutzabkommen. 55 Wasandererseits England und Frankreich angeht, so <strong>sie</strong>ht er <strong>ein</strong>en Krieg mitdi<strong>es</strong>en beiden Mächten in den Jahren nach 1943 voraus. 56 Was denkendie anw<strong>es</strong>enden Herren? In den nächsten sechs Jahren fließt noch sehrviel Wasser den Rh<strong>ein</strong> hinunter? Um Wirtschaft und Finanzen sollte ersich jetzt erst <strong>ein</strong>mal vorrangig kümmern, damit <strong>es</strong> ihn in sechs Jahrenüberhaupt noch gibt? Einer der vielen Offiziere, die das Drama, das sichdann in der Reichskanzlei abspielt, nicht erleben, <strong>ist</strong> R<strong>ein</strong>hard Gehlen*.Doch <strong>es</strong> passt hierher, dass er aufschnappt, wie der deutsche Diplomat53 Der Nürnberger Proz<strong>es</strong>s II, S. 40854 Schultze-Rhonhof, S. 32955 Schultze-Rhonhof, S. 43556 Schultze-Rhonhof, S. 43624


<strong>1937</strong>Hasso von Etzdorf* <strong>ein</strong><strong>es</strong> Tag<strong>es</strong> in Anspielung auf den Titel d<strong>es</strong> Buch<strong>es</strong>Die Welt als Wille und Vorstellung d<strong>es</strong> Denkers Arthur Schopenhauerdie völlig wirklichkeitsfremde Denkweise Adolf Hitlers auf den bitterenNenner bringt: Die Welt als Wille ohne Vorstellung. 57Natürlich und selbstverständlich bekäme Hitler Hiebe, <strong>wenn</strong> die Leuteauf der Straße erführen, dass der Kanzler der Herzen <strong>ein</strong> Raumproblementdeckt hat, das er mit militärischen Mitteln <strong>zu</strong> lösen gedenkt – ob nunin sechs oder in zwölf Jahren. Aber wie <strong>sie</strong>ht <strong>es</strong> mit den sechs Deutschenaus, die den Ausführungen d<strong>es</strong> Führers geduldig <strong>zu</strong>hören mussten? SindSie gefügig? N<strong>ein</strong> und nochmals n<strong>ein</strong>! Sie tragen als Soldaten an herausgehobenerStelle Verantwortung für das Wohlergehen d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong>. Vonden <strong>sie</strong>ben Herren im Raum sind drei di<strong>es</strong><strong>es</strong> Regime persönlich: Hitler,Göring und Hoßbach. Der Letztere hat gar nichts <strong>zu</strong> melden; er <strong>ist</strong> derAdjutant. Hitler wird sich nicht widersprechen, und Göring tut <strong>es</strong> nicht.Von den r<strong>es</strong>tlichen vier Männern widersprechen drei. Der Reichskriegsmin<strong>ist</strong>erund Oberbefehlshaber der Deutschen Wehrmacht Werner vonBlomberg trägt militärtechnische Einwände vor genau wie der Oberbefehlshabersd<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong> Generaloberst Freiherr von Fritsch. Gewiss sind<strong>sie</strong> als Soldaten k<strong>ein</strong><strong>es</strong>wegs der Frieden persönlich, aber <strong>sie</strong> schweigennicht, als der bisher so friedliche Kanzler Gedankenspiele offenbart, dieden B<strong>es</strong>tand d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> an sich gefährden. Und der dritte Mann in derRunde? Außenmin<strong>ist</strong>er Konstantin von Neurath hat den Eindruck, dass„die G<strong>es</strong>amttendenz s<strong>ein</strong>er Pläne aggr<strong>es</strong>siver Natur“ <strong>ist</strong>, und reicht beimKanzler s<strong>ein</strong>e Bitte um den Rücktritt <strong>ein</strong>. 58 Doch unser Kanzler lässt ihnzappeln. Ein wenig muss er noch bleiben. Wenige Tage später li<strong>es</strong>t derGeneralstabschef d<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong>, der General der Artillerie Ludwig Beck dieNotizen, die Hitlers Adjutant Hoßbach von der B<strong>es</strong>prechung angefertigthat und verfasst drei Denkschriften gegen <strong>ein</strong>e riskante Außenpolitik anden Kanzler. Beck wird s<strong>ein</strong><strong>es</strong> Postens als Generalstabschef entbunden,als er versucht, noch mehr Generäle gegen Hitler auf<strong>zu</strong>bringen. 59 SiebenGeneräle entschließen sich <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er Verschwörung 60 und hätten Müttervon den Visionen ihr<strong>es</strong> Schwarms erfahren, hätten <strong>sie</strong> sich entschlossen,57 R<strong>ein</strong>hard Gehlen, Der Dienst, S. 12058 Schultze-Rhonhof, S. 32659 Schultze-Rhonhof, S. 33060 Schultze-Rhonhof, S. 35425


<strong>1937</strong>ihn mit dem Schöpflöffel grün und blau <strong>zu</strong> schlagen. Doch das weiß ihrFührer <strong>zu</strong> verhindern.Ereignisreich <strong>ist</strong> der 8. November ’37. In München wird die Ausstellung„Der ewige Jude“ durch Reichspropagandamin<strong>ist</strong>er Dr. Joseph Goebbelsund Bayerns Gauleiter Julius Streicher eröffnet, die in den nächsten Monatendurch unsere Großstädte tingeln wird. Der Völkische Beobachternotiert: „Julius Streicher, der verdiente Vorkämpfer gegen die jüdischeWeltp<strong>es</strong>t, war, wie kaum <strong>ein</strong> zweiter, berufen, Sinn und Bedeutung di<strong>es</strong>erSchau <strong>zu</strong> umreißen.“ 61 Vielleicht <strong>ist</strong> ihm ja <strong>ein</strong>fach nicht aufgefallen,dass wir seit fünf Jahren dabei sind, im Rahmen der Hetze gegen JudenWissenschaftler und Künstler von Weltklasse ins Ausland <strong>zu</strong> schicken?Seit 1933 haben wir auch k<strong>ein</strong>en Nobelpre<strong>ist</strong>räger mehr und <strong>wenn</strong> mansich an<strong>sie</strong>ht, wie Babelsberg <strong>ein</strong>en Künstler nach dem anderen verliert,tut <strong>ein</strong>em der Bauch weh. Viele von ihnen gehen in die USA. Man kannnur hoffen, dass das ferne Hollywood dem großen Babelsberg nicht sehrbald den Rang abläuft bei der Produktion von Filmen der Sonderklasse.Wenn wir als Großmacht auftreten wollen, müssten wir di<strong>es</strong>e Leute hierhegen und pflegen anstatt <strong>sie</strong> <strong>zu</strong> verscheuchen. Können wir uns k<strong>ein</strong>ersinnvolleren Obs<strong>es</strong>sion als dem Judenhass widmen? Wie dusselig sindwir denn nur? In Berlin eröffnet der Gaupropagandaleiter Pg. Wächternoch so <strong>ein</strong>e wegweisende Ausstellung; <strong>sie</strong> heißt „Bolschewismus ohneMaske“. Ach ja, der Pg. Wächter. Der Nazi als solcher tendiert ja da<strong>zu</strong>,die herrliche Sprache Goeth<strong>es</strong> und Schillers mit tausenden Abkür<strong>zu</strong>ngenjämmerlich <strong>zu</strong> verhunzen – schafft damit aber auch viel Freiraum fürdie Interpretation. So kommen die Leute auf der Straße auf die wild<strong>es</strong>tenEinfälle. Aus Pg. wird nicht nur Partei-Gegner, sondern auch Partei-Genießer, Posten gefunden oder Prima Großmutter 62 in Anspielung aufdie heute zwingend erforderliche arische Frau im Stammbaum, will <strong>ein</strong>eFamilie für deutsch gehalten werden. Und noch etwas ereignet sich am8. November. Min<strong>ist</strong>erpräsident Generaloberst Göring fährt extra nachBraunschweig, wo er s<strong>ein</strong>em Hobby fröhnt und an der Reichs-Hubertus-Feier bei den Jägern teilnimmt, sowie <strong>ein</strong>en Adolf-Hitler-Platz <strong>ein</strong>weiht.Vor der Rede von Pg. Wächter hält „der Leiter der fasch<strong>ist</strong>ischen Kulturpropagandaim Ausland, General der Miliz Melchiori, <strong>ein</strong>e zündende61 Völkischer Beobachter, 9. November <strong>1937</strong>, S. 262 Hirche, S. 12326


<strong>1937</strong>Rede, in der er das Gem<strong>ein</strong>same d<strong>es</strong> nationalsozial<strong>ist</strong>ischen und fasch<strong>ist</strong>ischenKampf<strong>es</strong> gegen die rote Weltp<strong>es</strong>t“ 63 hervorhebt.Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, legt am10. November s<strong>ein</strong>en Vorschlag für die Politik gegenüber London vor.Er hielt dort f<strong>es</strong>t: „Wir wollen von England Kolonien und Aktionsfreiheitim Osten, England wünscht von uns militärisch<strong>es</strong> Stillhalten, namentlichim W<strong>es</strong>ten . . . Das englische Ruhebedürfnis <strong>ist</strong> groß. Es lohnt sichf<strong>es</strong>t<strong>zu</strong>stellen, was England für s<strong>ein</strong>e Ruhe zahlen will.“ 64 In Sizilien <strong>ist</strong>der Gedanke von der Schutzgelderpr<strong>es</strong>sung her bekannt. Hitler sammeltRatschläge und M<strong>ein</strong>ungen für s<strong>ein</strong>e Begegnung mit Halifax, der für denbritischen Premier die Beziehungen mit Berlin verb<strong>es</strong>sern soll. Der Lordbereitet sich unterd<strong>es</strong>sen in London auf s<strong>ein</strong>en Gedankenaustausch mitHitler auf dem Obersalzberg vor. Er und s<strong>ein</strong>e politischen Freunde sindder Auffassung, dass <strong>sie</strong> auf <strong>ein</strong>e Drei-Blöcke-Welt hinarbeiten sollten.Sie wollen England mit den USA ver<strong>ein</strong>igen (vielleicht mit <strong>ein</strong>er etwaslängeren Brücke über den Ozean). Das wird dann ihr Atlantischer Block.In Osteuropa und in A<strong>sie</strong>n sehen <strong>sie</strong> die Sowjetunion und dazwischendenken <strong>sie</strong> sich das Deutsche Reich. „Man glaubte, dass di<strong>es</strong><strong>es</strong> SystemDeutschland (nach der Einverleibung Europas) zwingen könnte, Frieden<strong>zu</strong> halten, weil <strong>es</strong> zwischen dem atlantischen Block und der Sowjetunion<strong>ein</strong>gezwängt wäre, während die Sowjetunion <strong>zu</strong>m Frieden gezwungenwerden könnte, weil <strong>sie</strong> zwischen Japan und Deutschland <strong>ein</strong>gezwängtwäre. Di<strong>es</strong>er Plan konnte nur dann gelingen, <strong>wenn</strong> man <strong>es</strong> schaffte,Deutschland und die Sowjetunion mit<strong>ein</strong>ander in Kontakt <strong>zu</strong> bringen,indem Österreich, die Tschechoslowakei und der polnische KorridorDeutschland geopfert wurden. Das wurde vom Frühjahr <strong>1937</strong> bis Ende1939 (oder sogar Anfang 1940) das Ziel sowohl der Antibolschewiken alsauch der Drei-Blöcke-Leute.“ 65 Arthur Neville Chamberlain, der erst am28. Mai <strong>1937</strong> Premiermin<strong>ist</strong>er geworden war, hatte bereits in Londondeutschen Diplomaten versprochen: „Gebt uns befriedigende Zusagen,dass ihr gegenüber Österreich und der Tschechoslowakei k<strong>ein</strong>e Gewaltgebrauchen werdet, und wir werden euch versichern, jede Veränderung,63 Ebd., S. 264 Falin, S. 4465 Quigley, S. 3827


<strong>1937</strong>die ihr haben möchtet, nicht mit Gewalt <strong>zu</strong> verhindern, <strong>wenn</strong> ihr <strong>sie</strong> mitfriedlichen Mitteln erhaltet.“ 66Die Londoner Politik <strong>ist</strong> etwas für Genießer und nichts für Leute mit denschwachen Nerven. Wenn Sie logisch denken, <strong>ist</strong> das für Sie auch nichts.Die Eliten in Großbritannien haben Angst vor <strong>ein</strong>em Krieg, den Sowjetsoder Deutsche auslösen könnten. Sie sollen d<strong>es</strong>halb <strong>ein</strong>gezwängt und<strong>zu</strong>m Frieden gezwungen werden. Dafür wird ihnen Europa <strong>zu</strong>m Fraßvorgeworfen – und all<strong>es</strong> nur, damit <strong>sie</strong> <strong>ein</strong>ander näher kommen, wasschließlich <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em Krieg führen soll. Anders sprach Hitler auch nicht.Würde so <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>facher Brite, <strong>ein</strong> Franzose oder gar <strong>ein</strong> Tscheche oderPole erfahren, was sich die Londoner ausgedacht haben, er würde sichjetzt da<strong>zu</strong> entschließen, <strong>sie</strong> unsanft aus dem Amt <strong>zu</strong> treiben und die entsprechendenFranzosen ebenfalls. Anfang d<strong>es</strong> Monats hatte <strong>es</strong> nämlichKonsultationen zwischen London und Paris gegeben, bei denen sich dieChefetagen der zwei Großmächte <strong>ein</strong>ig wurden, „die Tschechoslowakeiab<strong>zu</strong>treten, <strong>wenn</strong> die Annexion d<strong>es</strong> Sudetenland<strong>es</strong> ohne groß<strong>es</strong> Aufsehenvor sich ginge“ 67 , wobei di<strong>es</strong>er Gentleman natürlich nur m<strong>ein</strong>t, dass<strong>es</strong> ohne Aufsehen in Großbritannien und Frankreich vor sich gehen soll.Sterbt leise, aber sterbt. Die Londoner Außenpolitik <strong>ist</strong> schon heftig. Sieholen sich den Segen von Paris für ihre ego<strong>ist</strong>ische Außenpolitik und si<strong>es</strong>ehen die Französische Republik schon als <strong>ein</strong>e w<strong>es</strong>tliche Provinz ihr<strong>es</strong>mittleren Block<strong>es</strong>, <strong>wenn</strong> man den Globus von London aus betrachtet.Zur Sache geht <strong>es</strong> am 19. November <strong>1937</strong>. Auch Hermann Göring, derebenfalls Kontakte nach England unterhält, wird hin<strong>zu</strong>gezogen. Weil wirsehr verg<strong>es</strong>slich sind, können wir jetzt ohne Scheu verg<strong>es</strong>sen, was unserKanzler am Freitag vor zwei Wochen <strong>zu</strong> führenden deutschen Militärs inBerlin g<strong>es</strong>agt hatte. Schwupp, verg<strong>es</strong>sen. Jetzt erleben wir <strong>ein</strong>en frischenKanzler, den Staatsmann von Format. Der edle Gast Lord Halifax stattetihm <strong>ein</strong>en B<strong>es</strong>uch ab. Später berichtet Hans Speidel*: „In der Öffentlichkeitdagegen, vor dem Reichstag wie gegenüber Halifax betonte Hitlerb<strong>es</strong>chwichtigend, dass die Politik der Überraschungen <strong>zu</strong>gunsten <strong>ein</strong>erEntspannungs- und Friedenspolitik aufgegeben würde. Damals warendie mittlere und untere Führung sowie die Truppe in tiefer Überzeugungdefensiv <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>tellt. Der Bau d<strong>es</strong> W<strong>es</strong>twalls schien nur der Verteidigung66 Falin, S. 50367 Falin, S. 5428


<strong>1937</strong><strong>zu</strong> dienen, und auch die Einsatzübungen der Truppe im vorg<strong>es</strong>ehenenMobilmachungsabschnitt zwischen der Weißenburger Senke und demRh<strong>ein</strong> ließen k<strong>ein</strong>e offensiven Absichten erkennen.“ 68Lord Halifax betont <strong>ein</strong>gangs, dass er die Gelegenheit begrüßt, durch diepersönliche Aussprache mit dem Führer jetzt <strong>ein</strong> b<strong>es</strong>ser<strong>es</strong> Verständniszwischen England und Deutschland herbeiführen <strong>zu</strong> können. Di<strong>es</strong> wärenicht nur für unsere beiden Länder, sondern für die ganze europäischeZivilisation von größter Wichtigkeit. Vor der Abreise aus England habeer mit dem Premiermin<strong>ist</strong>er Chamberlain und dem Außenmin<strong>ist</strong>er Edenüber den B<strong>es</strong>uch auf dem Obersalzberg g<strong>es</strong>prochen, und <strong>sie</strong> seien sich inder Zielset<strong>zu</strong>ng absolut <strong>ein</strong>ig gew<strong>es</strong>en. 69 London erkennt die großen Verdienste,die sich der Führer beim Wiederaufbau Deutschlands erworbenhabe, voll und ganz an, und <strong>wenn</strong> die englische öffentliche M<strong>ein</strong>ung <strong>zu</strong>gewissen deutschen Problemen gelegentlich <strong>ein</strong>e kritische Stellung <strong>ein</strong>nehme,so liege di<strong>es</strong> <strong>zu</strong>m Teil daran, dass man in England nicht so ganzvollständig über die Beweggründe und die Umstände gewisser deutscherMaßnahmen unterrichtet sei. Die englische Kirche, sagt Halifax, verfolgtdie Entwicklung der Kirchenfrage in Deutschland beispielsweise „vollerB<strong>es</strong>orgnis und Unruhe“ 70 . Ebenso stünden Kreise der Arbeiterpartei gewissenDingen in Deutschland kritisch gegenüber. (Er nicht.) Das heißtspäter in den Medien, man hat auch die Menschenrechte ang<strong>es</strong>prochen.Halifax kommt dann auf die anderen Partner in Europa <strong>zu</strong> sprechen. Erfindet, sobald England und Deutschland auf dem Weg der Annäherungsind, sollen Frankreich und Italien <strong>ein</strong>bezogen werden, damit <strong>sie</strong> nichtden Eindruck bekommen, di<strong>es</strong>e Entwicklung richte sich vielleicht gegen<strong>sie</strong>. Weder die Achse Berlin-Rom noch das gute Verhältnis zwischenLondon und Paris dürften darunter leiden. 71Kanzler Hitler wünscht, dass Deutschland „nicht mehr das moralischeoder materielle Stigma d<strong>es</strong> Versailler Vertrag<strong>es</strong>“ 72 an sich tragen dürfe.Als logische Konsequenz dürfe man Deutschland dann nicht mehr „die68 Speidel, S. 7569 Dokumente und Materialien aus der Vorg<strong>es</strong>chichte d<strong>es</strong> II. Weltkrieg<strong>es</strong> I, S. 1270 Ebd., S. 1771 Dokumente I, S. 1872 Ebd., S. 19f.29


<strong>1937</strong>Aktivitäts-Legitimation <strong>ein</strong>er Großmacht“ 73 verweigern. Er bezeichnet <strong>es</strong>als „Aufgabe <strong>ein</strong>er überlegenen Staatskunst, sich mit di<strong>es</strong>er Wirklichkeitab<strong>zu</strong>finden, <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> vielleicht auch gewisse unangenehme Seiten mitsich brächte“ 74 . London und Paris sollten sich jetzt damit abfinden, dassDeutschland „in den letzten 50 Jahren <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er Realität geworden“ 75 sei.Anstelle d<strong>es</strong> Spiels der freien Kräfte müsse „höhere Vernunft“ 76 walten,„wobei man sich allerdings darüber klar s<strong>ein</strong> müsse, dass di<strong>es</strong>e höhereVernunft ungefähr <strong>zu</strong> ähnlichen Ergebnissen führen müsse, wie <strong>sie</strong> sichbei den Auswirkungen der freien Kräfte ergeben hätten.“ 77 Selbst <strong>wenn</strong>man di<strong>es</strong>e Worte wohlwollend auslegt, kann das nur heißen, militärischschwächere Länder sollten sich den Deutschen freiwillig und an <strong>ein</strong>emVerhandlungstisch ergeben. Der Reichskanzler sagt, er frage sich „in denletzten Jahren oft, ob die heutige Menschheit intelligent genug wäre, dasSpiel der freien Kräfte durch die Methode der höheren Vernunft <strong>zu</strong> ersetzen.“78 Das war s<strong>ein</strong>e Vorstellung von der Verhinderung <strong>ein</strong><strong>es</strong> neuenWeltkrieg<strong>es</strong>. Man müsse sich bei den Opfern, die die Vernunft-Method<strong>es</strong>icherlich hier und dort fordere, vergegenwärtigen, welche großen Opferent<strong>stehen</strong> würden, <strong>wenn</strong> man <strong>zu</strong> der alten Methode d<strong>es</strong> freien Spiels derKräfte <strong>zu</strong>rückkehrte. Man würde „dann f<strong>es</strong>tstellen, dass man im ersterenFalle billiger weg käme“ 79 , so der Führer und Reichskanzler wörtlich.Halifax betont, dass man Deutschland in England „als <strong>ein</strong> groß<strong>es</strong> undsouverän<strong>es</strong> Land“ 80 achtet und dass auch nur auf di<strong>es</strong>er Grundlage mitihm verhandelt werden soll. Die Engländer seien <strong>ein</strong> Volk der Realitätenund seien „vielleicht mehr als andere davon überzeugt, dass die Fehlerd<strong>es</strong> Versailler Diktats richtig g<strong>es</strong>tellt werden“ müssen, oder wie <strong>es</strong> in denenglischen Aufzeichnungen heißt, „that m<strong>ist</strong>ak<strong>es</strong> had been made in theTreaty of Versaill<strong>es</strong> which had to be put right“ 81 . Lord Halifax we<strong>ist</strong> aufEnglands Rolle bei der vorzeitigen Rh<strong>ein</strong>landräumung, bei der Lösung73 Ebd., S. 2074 Ebd., S. 2075 Ebd., S. 2076 Ebd., S. 2177 Ebd., S. 2178 Ebd., S. 2179 Ebd., S. 2280 Dokumente I, S. 2381 Ebd., S. 2330


<strong>1937</strong>der Reparationsfrage sowie bei der Wiederb<strong>es</strong>et<strong>zu</strong>ng d<strong>es</strong> Rh<strong>ein</strong>land<strong>es</strong>durch die Deutsche Wehrmacht hin. 82Der Reichskanzler erwidert, er habe leider die Empfindung, dass zwarder Wille vorhanden sei, sich in der vernünftigen Richtung <strong>zu</strong> betätigen,dass jedoch b<strong>es</strong>onders in den demokratischen Ländern vernünftigen Lösungengroße Schwierigkeiten bereitet würden, weil politische Parteiendort die Möglichkeit hätten, ausschlaggebend auf die Handlungen derRegierung Einfluss <strong>zu</strong> nehmen. Er selbst habe in den Jahren 1933 und1934 <strong>ein</strong>e Anzahl praktischer Vorschläge <strong>zu</strong>r Rüstungsbegren<strong>zu</strong>ng gemacht,deren Annahme Europa und der Welt viel Geld erspart hätten.Di<strong>es</strong>e Vorschläge seien „der Reihe nach abgelehnt“ 83 worden. Er verwi<strong>es</strong>auf die Angebote <strong>ein</strong>er 200.000 oder 300.000 Mann-Armee und derBegren<strong>zu</strong>ng der Luftrüstungen. Nur das Flottenabkommen sei von allens<strong>ein</strong>en Bemühungen übrig geblieben. Adolf Hitler verwe<strong>ist</strong> auf das guteVerhältnis, das er „trotz der schwierigen Vergangenheit mit Polen herg<strong>es</strong>tellt“84 hat. In di<strong>es</strong>em Zusammenhang spricht er auch den „Raub d<strong>es</strong>Memelgebiets durch Litauen im Jahr 1923 und die spätere Behandlungdeutscher Prot<strong>es</strong>te in di<strong>es</strong>er Frage“ 85 an. Wo er Recht hat, hat er Recht.Er erklärt sich die Ablehnung aller s<strong>ein</strong>er Vorschläge damit, dass er imAusland „als das schwarze Schaf ang<strong>es</strong>ehen“ 86 werde, und die Tatsache,dass <strong>ein</strong> Vorschlag von ihm stamme, habe genügt, um ihn ab<strong>zu</strong>lehnen.Da hat Halifax so nett mit ihm g<strong>es</strong>prochen und unser Führer reagiert soundankbar. Der Lord verliert die Contenance und sagt, <strong>wenn</strong> der Führerwirklich der Ansicht sei, <strong>es</strong> könnte k<strong>ein</strong> Fortschritt auf dem Wege derVerständigung gemacht werden, solange England noch <strong>ein</strong>e Demokratie<strong>ist</strong>, dann sei <strong>ein</strong>e weitere Unterhaltung eigentlich überflüssig. S<strong>ein</strong> Landwerde s<strong>ein</strong>e gegenwärtige Regierungsform so bald nicht ändern. Es <strong>ist</strong>vielleicht <strong>ein</strong>e gute Idee, in die englische Mitschrift r<strong>ein</strong><strong>zu</strong>l<strong>es</strong>en, um <strong>ein</strong>Gefühl für den jetzt ang<strong>es</strong>chlagenen Ton <strong>zu</strong> bekommen: „Lord Halifaxreplied that, if the chancellor was really of that opinion, it was clear thathe had wasted his time in coming to Bercht<strong>es</strong>gaden and the Chancellor82 Ebd., S. 2383 Ebd., S. 2584 Ebd., S. 2685 Ebd., S. 2686 Ebd. S. 26f.31


<strong>1937</strong>had wasted his time in receiving him. For if the Chancellor’s premis<strong>es</strong>were correct, it followed that no advance could be made on the road tounderstanding, and that, so long as England was a democracy, furtherconversation could serve no useful purpose.“ 87Das Flottenabkommen <strong>zu</strong>m Beispiel sei gegen den Willen der Mehrheitder regierenden Partei unterschrieben worden. Der Brite <strong>ist</strong> jetzt richtigin Fahrt. D<strong>es</strong> Kanzlers Vorschläge seien abgelehnt worden, weil <strong>ein</strong>igeLänder mit ansehen mussten, „wie Deutschland sich über vertraglicheVerpflichtungen hinwegsetzte aus Gründen, die vielleicht Deutschlandselbst überzeugend ersch<strong>ein</strong>en, andere Länder aber wenig überzeugt“ 88haben. Die Abrüstung müsse der Sicherheit folgen und nicht umgekehrt.Darauf m<strong>ein</strong>t der Kanzler, er sei von dem Lord falsch worden. Er m<strong>ein</strong>tedoch Frankreich und nicht England, und für Frankreich seien die geradegemachten Bemerkungen „wohl hundertprozentig <strong>zu</strong>treffend“ 89 . Strenggenommen fehlt jetzt nur noch, dass <strong>ein</strong>er handgreiflich wird. Da dürfenSie nicht lachen, der Junge vom Lande <strong>ist</strong> jähzornig, und in Berlin sinds<strong>ein</strong>e Tobsuchtsanfälle gefürchtet.Nach der Mittagspause kommt Lord Halifax noch <strong>ein</strong>mal auf <strong>ein</strong>e Fortführungder deutsch-englischen Fühlungnahme <strong>zu</strong> sprechen und schlägterneut direkte Verhandlungen zwischen Regierungsvertretern vor, die„nicht nur sachlich begrüßenswert“ seien, <strong>sie</strong> „würden auch <strong>ein</strong>en gutenEindruck auf die öffentliche M<strong>ein</strong>ung machen“ 90 . Dann könne man dieKolonialfrage <strong>zu</strong>m Beispiel ins G<strong>es</strong>präch bringen. Der Kanzler spricht inder Folge die Rolle der Medien in England an, die er als verhängnisvollbezeichnet und führt aus, dass neun Zehntel aller Spannung „<strong>ein</strong>zig undall<strong>ein</strong> von ihr hervorgerufen“ 91 würden. Dabei kann er darauf verweisen,dass die britische Pr<strong>es</strong>se aus den deutschen Schiffen, die Francos Armeevon Marokko nach Südspanien brachten, die B<strong>es</strong>et<strong>zu</strong>ng Marokkos durchdas Deutsche Reich gemacht haben. Eine direkte Vorausset<strong>zu</strong>ng für dieBeruhigung der Verhältnisse wäre also die Zusammenarbeit der Völker,87 Dokumente I, S. 2988 Ebd., S. 3089 Ebd., S. 3290 Ebd., S. 4391 Ebd., S. 4532


<strong>1937</strong>„um dem journal<strong>ist</strong>ischen Freibeutertum <strong>ein</strong> Ende <strong>zu</strong> bereiten“ 92 . Dahätte er Dr. Goebbels wohl jede weitere Betätigung untersagen müssen.Außenmin<strong>ist</strong>er Freiherr von Neurath, der immer noch nicht gehen darf,überlässt den Bericht über die Konferenz dem regimekritischen Reichsfinanzmin<strong>ist</strong>erHjalmar Schacht. In den oberen Etagen in Berlin werdendie Gegner von Hitlers Außenpolitik noch hellhöriger. Und in London <strong>ist</strong><strong>es</strong> mit ohne <strong>zu</strong>friedenstellendem Ergebnis auch schwierig, die Ideen derführenden Männer in der Öffentlichkeit <strong>zu</strong> propagieren. Im Bewussts<strong>ein</strong>,dass gewisse Positionen von der Öffentlichkeit sicherlich nicht mitgetragenwerden würden, werden <strong>ein</strong>zelne Ideen immer mal wieder inThe Tim<strong>es</strong>, in Reden im Unterhaus und durch kalkulierte Indiskretionenhinausgetragen. Parallel da<strong>zu</strong> wird verbreitet, Deutschland sei bis an dieZähne bewaffnet und England könne dem nichts entgegensetzen. 93 „Inder Dezemberausgabe von <strong>1937</strong> d<strong>es</strong> Round Table, wo auch die me<strong>ist</strong>ender <strong>sie</strong>ben Punkte, die Halifax kurz davor mit Hitler b<strong>es</strong>prochen hatte,erwähnt wurden, wurde <strong>ein</strong> Krieg <strong>zu</strong>r Verhinderung der deutschen Ambitionenin Europa aus dem Grund <strong>zu</strong>rückgewi<strong>es</strong>en, dass s<strong>ein</strong> »Ausgangunsicher« sei und dass »in s<strong>ein</strong>em Gefolge unwünschbare innenpolitischeKatastrophen auftreten« würden.“ 94 In dem Artikel wird der Eindruckerzeugt, Großbritannien sei unserem Reich unterlegen, indem dieMöglichkeiten der Sowjetunion und der Tschechoslowakei weggelassenwerden, die französische Armee mit zwei Dritteln der deutschen und diebritische mit weniger als drei Divisionen angeben werden 95 .Der Führer und Reichskanzler trifft am 21. November genau den Punkt,<strong>wenn</strong> er in Augsburg formuliert: „Wir haben auch Kritik, nur kriti<strong>sie</strong>renbei uns die Vorg<strong>es</strong>etzten die Untergebenen und nicht die Untergebenendie Vorg<strong>es</strong>etzten.“ 96 , angefangen bei unbotmäßiger Kritik, als endlich am21. Dezember der Operationsplan Grün in <strong>ein</strong>er neuen Fassung vorliegt.Da mag sich der Untergebene wundern, wie er will, Adolf Hitler kann <strong>es</strong>sich nach dem Talk mit Halifax le<strong>ist</strong>en, s<strong>ein</strong>e „Bereitschaft <strong>zu</strong>r Gewalt-92 Dokumente I, S. 4593 Quigley, S. 5194 Quigley, S. 5295 Quigley, S. 5296 Ecke, S. 3833


<strong>1937</strong>anwendung“ gegen die Tschechoslowakei <strong>zu</strong> erlären, „auch dann, <strong>wenn</strong>sich die <strong>ein</strong>e oder andere Großmacht gegen uns wendet“ 97 .Genießen Sie am letzten Abend d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> den Komiker Werner Finck:„M<strong>ein</strong>e lieben Freunde! Eine Jahr<strong>es</strong>abschiedsrede soll man nur halten,<strong>wenn</strong> man gut aufgelegt <strong>ist</strong>. Da Sie mich eben gut aufgelegt haben, <strong>ist</strong>die Grundbedingung erfüllt. Allerdings schicke ich voraus, dass ich k<strong>ein</strong>F<strong>es</strong>tredner bin. Ich kann mich wohl f<strong>es</strong>treden, aber das <strong>ist</strong> ja wohl nichtdasselbe. Wo waren wir <strong>stehen</strong>geblieben? Ach so, ja. Also, das alte Jahrgeht. Es geht ja all<strong>es</strong>, <strong>wenn</strong> man nur will. War <strong>es</strong> uns <strong>ein</strong> mühselig<strong>es</strong>Jahr? Wie g<strong>es</strong>agt – <strong>es</strong> geht. Es geht ums Ganze. Das Ganze halt. Es halltvon den Bergen und schallt durch die Täler und <strong>ein</strong>er ruft <strong>es</strong> dem andern<strong>zu</strong>: Prost Neujahr! Gleich wird <strong>ein</strong> neu<strong>es</strong> Jahr anbrechen. Merkwürdig,dass wir immer nur angebrochene Jahre bekommen. Dabei wardi<strong>es</strong><strong>es</strong> Jahr gar nicht so übel – wie <strong>ein</strong>em werden kann, <strong>wenn</strong> man bedenkt,was die Welt daraus gemacht hat. Hier<strong>zu</strong>lande zeigte das alteJahr wieder <strong>ein</strong> turnerisch<strong>es</strong> Gepräge, und von allen Übungen erzielteder Aufschwung den größten Beifall. Im Ausland zeigte sich <strong>ein</strong>e starkeTendenz <strong>zu</strong> kriegerischen Verwicklungen. Über den Nicht<strong>ein</strong>mischungsausschusswollen wir k<strong>ein</strong> Wort mehr verlieren. Was <strong>ist</strong> er schon? EbenAusschuss. Und, selbst in Frankreich, die Blum reiche Sprache unser<strong>es</strong>w<strong>es</strong>tlichen Nachbarn kann nicht über das hinwegtäuschen. Und viele,die bisher in England das Ideal <strong>ein</strong><strong>es</strong> marktf<strong>ein</strong>dlichen Land<strong>es</strong> sahen,werden durch die neuerlichen Ri<strong>es</strong>enrüstungen auch aus di<strong>es</strong>em GartenEden vertrieben. Es knallt und schreit bereits, doch noch <strong>ist</strong> <strong>es</strong> nichtzwölf. Lasst Euch durch die Schreier nicht aus der Ruhe bringen. Waswird das nächste Jahr uns bringen? Mind<strong>es</strong>tens zwölf Monate. Wohldem, der <strong>ein</strong> gut<strong>es</strong> Gewissen hat. Es fehlen noch etliche Sekunden. 21,22, 23 war die Inflation. Nehmt die Gläser in die Hand. Es <strong>ist</strong> gleich soweit,wie wir <strong>es</strong> gebracht haben. Zur Sache m<strong>ein</strong>e Lieben. Wir habenwieder <strong>ein</strong> Jahr <strong>zu</strong>rückgelegt. Für manche wird <strong>es</strong> das Einzige s<strong>ein</strong>, was<strong>sie</strong> sich <strong>zu</strong>rückgelegt haben. Denen <strong>ist</strong> nicht <strong>zu</strong> helfen. Möge Euch m<strong>ein</strong>eRede <strong>zu</strong>m Proste gereichen. Hört, <strong>es</strong> schlägt! Soll <strong>es</strong> schlagen. Soll <strong>es</strong> alleandern Jahre schlagen an Glück, Eintracht, Weisheit und Frieden. ProstNeujahr 1938!“ 9897 Falin, S. 43f.98 Von der Schellack-Platte „Fünf Minuten vor Zwölf“34

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