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1945 - Deutschland 1933 – 1990

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<strong>1945</strong><br />

Ein Wort zum Einmarsch der Alliierten in <strong>Deutschland</strong><br />

Die Absichten der großen Politiker sind natürlich nur eine Seite der<br />

Medaille, und wie einzelne Menschen das Geschehen konkret erleben,<br />

ist dann die andere Seite. So gibt es vielfältige Erinnerungen an den<br />

Einmarsch der alliierten Truppen in <strong>Deutschland</strong>, weil das Leben nicht<br />

nur aus Schwarz und Weiß besteht. Leider findet sich die Vielfalt der<br />

Erinnerungen nach dem Krieg weder in den ostdeutschen noch in den<br />

westdeutschen Medien wieder. Im Osten wie im Westen war die Kultur<br />

der Erinnerung geprägt durch die Rücksichtnahme auf die eine Seite<br />

und die Verurteilung der jeweils anderen. In der DDR war es damals<br />

bis zum Untergang des Staates nicht gelungen, mit den dunklen Seiten<br />

des Einmarsches der sowjetischen Truppen in <strong>Deutschland</strong> umzugehen.<br />

Aber auch in der Bundesrepublik hat es bis 1979 gedauert, bevor<br />

dann eine umfassende Darstellung von britischen und amerikanischen<br />

Akten einer völkerrechtswidrigen Kriegsführung unter dem Titel Die<br />

Wehrmacht-Untersuchungsstelle von Alfred M. de Zayas erschien.<br />

In der erweiterten Auflage aus dem Jahr 2001 werden Kritiken zu den<br />

früheren Auflagen wiedergegeben. So schrieb Die Zeit: „Dieses Buch,<br />

das wissenschaftliches Neuland erschließt, ist im Beweisgang sorgfältig<br />

abgestützt; es formuliert und wertet behutsam.“ In dem American<br />

Journal of International Law stand: „Eine Pionierstudie . . . ein interessantes<br />

und gut geschriebenes Werk.“<br />

Auf der Rückseite wurde aus dem Hamburger Spiegel zitiert: „Um nicht<br />

noch im Nachhinein nationalsozialistischer Propaganda aufzusitzen,<br />

prüfte de Zayas »die innere Folgerichtigkeit der Akten« und verglich<br />

die darin geschilderterten Vorgänge mit einschlägigen Materialien in<br />

Bonner, Londoner, amerikanischen und schweizerischen Archiven. Er<br />

machte Hunderte von Zeugen ausfindig, darunter rund 150 ehemalige<br />

Heeres-, Marine- und Luftwaffenrichter, die er nach dem Zustandekommen<br />

der Dokumente befragte . . . “<br />

14


<strong>1945</strong><br />

Alfred M. de Zayas stellte am Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts<br />

ganz zweifellos geschehene östliche Kriegsverbrechen neben<br />

zweifellos geschehene Kriegsverbrechen, die von westlichen Alliierten<br />

verübt worden waren, was jedoch auf keinen Fall bedeutet hatte, dass<br />

solche Erkenntnisse über die Medien auch das öffentliche Bewusstsein<br />

erreicht hätten. Die Russen blieben selbstverständlich dunkelschwarz.<br />

Über die vier Jahrzehnte der längsten Friedensphase in Europa im XX.<br />

Jahrhundert, die als der „Kalte Krieg“ in die Geschichte einging, wurde<br />

jedes Mittel herangezogen, um auftretende verständnisvolle Gefühle<br />

für die Polen und Russen abzuwürgen. Die politische Korrektheit in<br />

den westdeutschen Medien begann erst später. Erst jetzt höre ich auf<br />

den entsprechenden Kanälen hin und wieder, dass es im Vorlauf ganz<br />

zweifellos geschehene deutsche Kriegsverbrechen gab, die im Osten<br />

unverhältnismäßig scheußlicher waren als im Westen, was dann der<br />

entsprechenden Reaktion im Osten auch ihren Pfeffer gab.<br />

Weil die Russen in dieser Angelegenheit aber auch weiterhin relativ<br />

schlecht wegkommen, will ich mich an der Stelle darauf beschränken,<br />

die subjektive Wahrnehmung von Egon Krenz, der dann in der DDR<br />

politisch Karriere machte, in meinen Abriss der Ereignisse aufzunehmen,<br />

weil so die weitere Entwicklung im Osten besser verständlich<br />

wird: „Auch ich erbte zu meiner Zeit ein Stück Geschichte. Kein gutes.<br />

Es war die Zeit des bald heraufziehenden faschistischen Raubkrieges.<br />

Als ich verstehen lernte, war der Krieg aus. Die Leute schlugen sich auf<br />

die eine oder andere Seite der Nachkriegsparteien. Man konnte <strong>1945</strong><br />

die Russen hassen, wenn man nicht gründlich genug das Hakenkreuz<br />

aus dem Schädel bekam. Ich hatte Glück. Ein Russe rettete mir das<br />

Leben, gab mir Fallschirmseide für Hemden und Kastenbrot für den<br />

größten Hunger. Auf denkwürdige Weise ersetzte er mir den im Krieg<br />

vermissten Vater, wohl deshalb, weil auch er tausend Kilometer entfernt<br />

einen Sohn hatte. Keine Indoktrination, sondern Kindheitserinnerungen<br />

trieben mich den Russen in die Arme und weckten irgendwann<br />

die Neugier auf die Sowjetunion. Sie standen am Anfang eines<br />

tiefen freundschaftlichen Gefühls, das sich bei mir auch mit wachsenden<br />

Funktionen nie verbürokratisiert hat.“<br />

15


<strong>1945</strong><br />

Eine Weltverschwörung gegen die Vereinigung?<br />

Lange bevor die Waffen am Ende des Zweiten Weltkrieges schwiegen,<br />

hatten sich Menschen im In- und Ausland Gedanken gemacht, wie es<br />

mit <strong>Deutschland</strong> nun weitergehen sollte. Schon in den letzten Wochen<br />

des Weltkrieges suchten die Alliierten nach nicht braun vorgeprägten<br />

Deutschen, die in der Lage sein würden, die Organisation des täglichen<br />

Lebens ihres Volkes in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei griff man<br />

auch auf die Personen zurück, die sich bereits in den demokratischen<br />

Strukturen der Jahre vor <strong>1933</strong> einen guten Namen gemacht hatten.<br />

Nach einem von ihnen wurde in den schon befreiten Gebieten gezielt<br />

gesucht. Es war Konrad Adenauer. Schon seit Mitte März <strong>1945</strong> führten<br />

amerikanische Offiziere dann erste Sondierungsgespräche mit ihm. In<br />

einem dieser Gespräche äußerte er schon dezidiert den Wunsch, einen<br />

Bundesstaat „aus Österreich, den Resten Preußens, Westdeutschland<br />

(Westfalen und Rheinland) und Süddeutschland“ zu bilden. Zu diesem<br />

Zeitpunkt, zwei Monate vor der bedingungslosen Kapitulation unseres<br />

Landes, war noch nicht klar, wie sich die Alliierten in der Frage der<br />

territorialen Ausdehnung <strong>Deutschland</strong>s äußern würden. Absehbar war<br />

jedoch, dass das 1866 von Bismarck abgestoßene und 1938 von Hitler<br />

erneut eingemeindete Österreich nicht für den Verbleib im deutschen<br />

Staatsverbund vorgesehen war. Als Dr. Konrad Adenauer (geb. 1876)<br />

nach dem Krieg versuchte, dem in der Zwischenzeit in die SPD-Spitze<br />

aufgestiegenen Politiker Willy Brandt (geb. 1913) dessen deutschlandpolitische<br />

Ideen auszureden, sagte er dem viel jüngeren Brandt, der<br />

die Jahre der Nazi-Herrschaft vergleichsweise komfortabel im Exil in<br />

Skandinavien verbracht hatte und nicht in den Fingern der deutschen<br />

Gestapo, dass er doch: „eher ein Westdeutscher, denn ein Deutscher<br />

schlechthin sein wollte“. Und über die Zeit vor <strong>1933</strong> ließ er ihn wissen:<br />

„Im Zug nach Berlin habe er, der Präsident des Preußischen Staatsrats,<br />

immer das Gefühl gehabt, hinter der Elbe höre Europa auf und ab Magdeburg<br />

die Vorhänge zugezogen“, <strong>–</strong> „damit ich die asiatische Steppe<br />

nicht sehen mußte.“ Ich hoffe, Sie haben die Geburtsjahre verglichen <strong>–</strong><br />

den Beginn des Ersten Weltkrieges hat Adenauer mit 38 erlebt, damals<br />

konnte der kleine Willy gerade mal laufen. Das erklärt sehr viel.<br />

16


<strong>1945</strong><br />

Groß rausgekommen war Adenauer allerdings nicht aus seinem Dorf.<br />

Günter Gaus, der später den ersten Vertreter der BRD in der DDR gab,<br />

bot dann ein schon etwas differenzierteres Bild: „Mitteldeutschland<br />

nenne ich häufig die DDR und weiß genau, dass dies ein ungenauer<br />

Sammelbegriff ist; denn Mecklenburg, natürlich, ist norddeutsch, an<br />

manchen Stellen mit ersten, leisen Anklängen des Ostens; und an den<br />

Elbhängen flußaufwärts von Dresden spielt nach meinem Empfinden<br />

Süddeutsches in das Mitteldeutsche hinein. Mein Sammelbegriff vernachlässigt<br />

das.“ Gaus wollte diesen Begriff Mitteldeutschland übrigens<br />

nicht als revanchistisch verstanden wissen. Wie man es dann eben hört.<br />

In den westdeutschen Massenmedien wird seit dem Kriegsende die<br />

Verschwörungstheorie warmgehalten, dass die Alliierten <strong>Deutschland</strong><br />

wegen des Zweiten Weltkrieges hätten teilen wollen. Einer, der dem<br />

Publikum „die fixe Idee von der ausländischen Verschwörung gegen<br />

<strong>Deutschland</strong> mit ihren Handlangern im Inland“ nahebrachte, war der<br />

gut bekannte Münchener Politiker der Jahre <strong>1945</strong> bis 1988, Franz Josef<br />

Strauß. So finden sich bis heute längere oder kürzere Einlassungen in<br />

den Medien der Bundesrepublik, wie diese von Sebastian Haffner aus<br />

dem Jahr 1953, der über die Jahre unter anderem für den Stern, Die Welt<br />

und Konkret arbeitete: „Jene Staatsmänner im Osten und im Westen,<br />

die ihre Politik auf die dauerhafte Teilung <strong>Deutschland</strong>s gründen und<br />

davon ausgehen, dass die Deutschen die Spaltung bereitwillig hinnehmen,<br />

können im Augenblick zahlreiche Beweise für die Richtigkeit<br />

ihrer Auffassung anführen.“ Für die Teilung dieses Landes war es aber<br />

überhaupt nicht erforderlich, dass die Alliierten einen solchen Plan für<br />

<strong>Deutschland</strong> haben mussten, wenn derselbe Publizist einschätzte, dass<br />

der ehemalige Oberbürgermeister von Köln, Dr. Konrad Adenauer,<br />

„warum das Wort scheuen? <strong>–</strong> einen neuen Rheinbund; ein westliches<br />

<strong>Deutschland</strong> ohne die ungeschickte Übergröße des Bismarckreichs,<br />

einen Staat von »europäischem Normalformat«, von derselben Größenordnung<br />

wie Frankreich, England und Italien, und mit ähnlicher<br />

innerer Verfassung wie diese“ anstrebte. Kanzler Kiesinger variierte<br />

später, ein vereinigtes <strong>Deutschland</strong> sei zu groß für den Frieden und zu<br />

klein für die Herrschaft.<br />

17


<strong>1945</strong><br />

Haffner setzte so fort: „einen Staat überdies, der nicht mehr wie das<br />

Deutsche Reich ständig nach zwei Richtungen blicken musste, sondern<br />

sich ein für allemal im Westen heimisch machte, der unter Verzicht<br />

auf Preußen und Sachsen die engstmögliche Einheit mit Frankreich<br />

suchte und sich als Gliedstaat nicht eines deutschen, sondern eines<br />

werdenden westeuropäischen (»karolingischen«) Reichs fühlte. Man<br />

kann diese Konzeption natürlich ablehnen, und man kann bedauern,<br />

dass sie in den entscheidenden Jahren um 1950 über die deutsche Einheitskonzeption<br />

den Sieg davontrug. Was man nicht kann, ist so tun,<br />

als wäre das nicht geschehen.“ Hier vielleicht auch gleich die Frage,<br />

wie es zu verstehen ist, dass sich Dr. Helmut Kohl als politischer Enkel<br />

Dr. Adenauers verstand? Und dann die Zusatzfrage, wie man das ohne<br />

Freude an einem sozialistischen Aufbau in Preußen und Sachsen sowie<br />

in Pommern, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen, in Mecklenburg und in<br />

der Stadt Berlin erreichen wollte; in ganz Berlin natürlich, damit nicht<br />

dauernd die vollen Ladentheken im Westen der Stadt die Freude am<br />

Sozialismus im Osten der Stadt trüben konnten.<br />

Doch warum haben andere Journalisten, die von einer Verschwörung<br />

des umfangreichen Auslandes gegen das arme und liebe <strong>Deutschland</strong><br />

nichts wussten, dann nicht gegengesteuert und den Bürgerinnen und<br />

Bürgern die Wahrheit präsentiert? Um hier eine sachkundige Antwort<br />

zu erhalten, habe ich bei Günter Gaus nachgeschlagen, der ein halbes<br />

Jahrzehnt lang der Chefredakteur der Informationsquelle Der Spiegel<br />

war. Wer sollte es denn besser wissen als dieser Mann? „Was wir im<br />

Grunde glauben, habe ich vor Jahren so formuliert: Wir alle werden<br />

viel belogen, jeden Tag. Und tagtäglich werden wir auch aufgefordert,<br />

des Kaisers neue Kleider zu bestaunen, jenes Gespinst aus Nichts, das<br />

im Märchen vor dem Nicht-verblendet-Sein eines Kindes zerfällt, so<br />

dass endlich die nackte Wahrheit wiederzuerkennen ist. Wir werden<br />

belogen und sollen Dinge zur Kenntnis nehmen, die es so, wie sie uns<br />

präsentiert werden, nicht gibt. Es geschieht mit uns alle Tage: Absichtsvoll<br />

und unabsichtlich, bewusst wie unbewusst wird uns der<br />

Blick verstellt durch zweckbestimmte Gebots- und Verbotstafeln, auf<br />

denen geschrieben steht, wie wir dies und das sehen sollen, was wir<br />

18


<strong>1945</strong><br />

nicht denken dürfen, sondern stattdessen zu glauben haben. Ende des<br />

Zitats. Die Mehrheit hierzulande nickt heftig mit dem Kopf, wenn derlei,<br />

das von des Kaisers neuen Kleidern, durchaus zutreffend, über die<br />

DDR gesagt wird. Aber im vorliegenden Fall war die Bundesrepublik<br />

gemeint. Man kann es ein gesamtdeutsches Credo nennen, das diesseits<br />

der Elbe von einer Minderheit angestimmt wird.“ Ei, ei. Darüber<br />

wollen wir jetzt nicht nachdenken. Wir wollen nicht nachdenken!<br />

Was die Ablehnung des Ostens <strong>Deutschland</strong>s anging, war Dr. Adenauer<br />

auch kein Sonderling in der Familie. Der CIP Press Service in New York<br />

gab am 29. Mai <strong>1945</strong> bekannt, dass der spätere Bonner Kanzler „ein<br />

enger Verwandter von Dr. Benedikt Schmittmann [war], einem prominenten<br />

Professor aus der Leitung der Kölner Universität, den die Nazis<br />

im Oktober 1939 ermordeten“. Und warum wurde Prof. Schmittmann<br />

am Ende der dreißiger Jahre hingerichtet? Er war damals der Präsident<br />

des Reichs- und Heimatbundes deutscher Katholiken und der Reichs-<br />

Arbeitsgemeinschaft deutscher Föderalisten gewesen, also von zwei<br />

„Organisationen, die die Zerschlagung Preußens und die Autonomie<br />

für das Rheinland und andere Teile <strong>Deutschland</strong>s in einem neuorganisierten<br />

Bundesstaat anstrebten“.<br />

Und das schon in den dreißiger Jahren. Darüber war der Fuehrer ganz<br />

gewiss nicht amüsiert. Das bedeutet, dass es auch im Gesichtskreis<br />

Konrad Adenauers Überlegungen gab, wie man einen erneuten Krieg<br />

vermeiden konnte, indem man einfach dem Kernland der Preußen die<br />

Rüstungsindustrie des Ruhrgebiets entzog. Aber was heißt da einfach,<br />

wenn der Fuehrer gerade dabei war, die Welt zu erobern?<br />

Dann ist nur noch interessant, wie Adenauer dem großen Ziel näherzukommen<br />

gedachte und ob er das auch ohne MitstreiterInnen, also<br />

ohne eine konzertierte Aktion erreichen konnte. Sein Politikerkollege<br />

Strauß hielt diesbezüglich fest: „Adenauers Politik war pragmatisch<br />

und bewegte sich, was kein Gegensatz sein muß, im Rahmen einer<br />

großen Strategie. Pragmatismus war bei ihm nicht Opportunismus<br />

oder Grundsatzlosigkeit. Er wollte der deutschen Politik einen Weg in<br />

19


<strong>1945</strong><br />

die Zukunft bahnen, der neue Fehlentwicklungen und Tragödien der<br />

deutschen Geschichte vermeiden sollte. Er war der Meinung, Preußen<br />

sei in seinem Machtdenken zu sehr auf militärische Kategorien ausgerichtet<br />

gewesen. Adenauer war ein leidenschaftlicher Feind des Militarismus.<br />

Er sah ein neues, ein anderes <strong>Deutschland</strong>, verankert in der<br />

Wertegemeinschaft des Westens, in enger Verbindung mit Frankreich<br />

und abgedeckt durch das Bündnis mit den Vereinigten Staaten von<br />

Amerika. [...] Adenauers strategischer Pragmatismus war gemischt mit<br />

einem sehr kalten Realismus, der manchen als Zynismus erschien.“<br />

Strauß fügte hinzu: „Als außerordentlich kluger und erfahrener Mann<br />

war für ihn das große Unglück der deutschen und europäischen<br />

Geschichte die disproportionierte Gestaltung des Deutschen Reiches<br />

mit dem dominierenden Übergewicht Preußens. Diese Umstände der<br />

Reichsgründung von 1871 hat er für eine der Ursachen einer tragischen<br />

geschichtlichen Entwicklung gehalten.“ Was störte, waren also<br />

nicht die Nazis in Köln oder ein Österreicher als Oberguru in Berlin,<br />

sondern das Land Preußen. Wenn Preußen aber störte, dann musste es<br />

weg. Da es sich hierbei allerdings um eine relativ große Immobilie<br />

handelte, konnte man es nicht schlicht und einfach verdampfen.<br />

Auch wenn deutsche Medien dem geschichtsinteressierten Publikum<br />

bis heute suggerieren, die Alliierten hätten die dauerhafte Besetzung<br />

und die Aufteilung <strong>Deutschland</strong>s im Visier gehabt, deuten viele ihrer<br />

Aktivitäten bis <strong>1990</strong> auf das Gegenteil hin. Beim Vergleich, wie ich die<br />

Bundesrepublik seit den siebziger Jahren von außen sah, und wie ich<br />

sie seit <strong>1990</strong> erlebe, mit all den Scheingefechten, in denen es darum<br />

ging, wer denn nun die Vereinigung am intensivsten gewünscht und<br />

wer sie abgelehnt habe, verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass sich<br />

die entscheidenden Akteure abgesehen von wenigen Ausnahmen seit<br />

dem Kriegsende unabhängig von ihrem Parteibuch einig waren, dass<br />

Bismarcks Deutsches Reich wieder in kleinere Staaten zurückgeführt<br />

werden sollte. Wenn man diese Geschichte unter diesem Blickwinkel<br />

betrachtet, sind solch fragwürdige Details nicht mehr überraschend<br />

wie jenes, dass sich Hildegard Hamm-Brücher aus der FDP-Spitze im<br />

20


<strong>1945</strong><br />

Streit um die herzlichen Kontakte zwischen der Bonner SPD und der<br />

Ost-Berliner Staatspartei SED schützend vor den führenden SPD-Mann<br />

Johannes Rau stellte. Auch bei Hans-Dietrich Genscher aus der FDP-<br />

Führung findet sich solch eine Formulierung von „dem von mir hoch<br />

geschätzten Johannes Rau“.<br />

Das verleiht auch den „deutsch-deutsche[n] Doppelbödigkeiten“, vor<br />

denen das Ausland so unberechtigt Angst hatte, einen anderen Sinn.<br />

So hatte beispielsweise Alfred Dregger, der „Spitzenmann der rechten<br />

Stahlhelm-Fraktion in der CDU“, den Staatsratsvorsitzenden der DDR,<br />

Erich Honecker, bei seinem Staatsbesuch in jener Bundesrepublik im<br />

Herbst 1987 „als »deutschen Kommunisten« begrüßt, mit dem ihn als<br />

»deutscher Demokrat« viel verbinde.“ Was Honecker so mit der CDU<br />

verband, waren speziell die Verbindlichkeiten, die er im Westen hatte.<br />

Genau so wollte es der Herr. Einer trage des anderen Lasten, und also<br />

erfüllet das Gesetz des Christus. Das können Sie nachlesen. Galater 6, 2.<br />

Dem Ergebnis nach zu urteilen, muss die Grundidee tatsächlich darin<br />

bestanden haben, das überhöhte nationale Sendungsbewusstsein der<br />

Deutschen im Westen und im Süden gegen die Zugehörigkeit zu einer<br />

westlichen Wertegemeinschaft und im Osten <strong>Deutschland</strong>s zumindest<br />

gegen antifaschistische Werte zu ersetzen. Es hatte doch hoffentlich<br />

niemand ernstlich angenommen, es würde etwa zu einer östlichen<br />

Wertegemeinschaft kommen. Stichwort Stalin.<br />

Es war in diesem Rahmen eine mediale Glanzleistung, ausgerechnet<br />

Willy Brandt als den Vollstrecker der Anerkennung „unserer DDR“ zu<br />

verkaufen. Am Ende seines Lebens hielt der abgeschossene Kanzler in<br />

den Erinnerungen fest: „Über den mir zugeschriebenen, dann mit mir<br />

identifizierten Begriff »Ostpolitik« war ich nicht glücklich. Aber wie<br />

will man etwas einfangen, was sich selbstständig gemacht hat und<br />

rasch in fremde Sprachen aufgenommen worden ist?“ Aus jedem Wort<br />

von Willy Brandt geht hervor, dass ihm nicht Ostpolitik vorschwebte,<br />

sondern <strong>Deutschland</strong>politik. Leider benannte er seine Zweifel an der<br />

Marschrichtung seiner demokratischen Mitstreiter nur in kryptischen<br />

21


<strong>1945</strong><br />

Halbsätzen wie: „soweit das Interesse nicht ohnehin auf ganz anderes<br />

als die deutsche Einheit gerichtet war“. Brandts Nachfolger Helmut<br />

Schmidt schrieb dann in den achtziger Jahren: „Im Grunde aber spielte<br />

die Hallstein-Doktrin [Bonns Anspruch, der einzige legitime Vertreter<br />

des deutschen Volkes zu sein] in meiner Amtszeit [1974-1982] keine<br />

hemmende Rolle mehr bei der Verfolgung unserer Interessen in östlichen<br />

Richtungen. Dies verdankten wir vor allem Willy Brandt, seinem<br />

Außenminister Walter Scheel sowie Egon Bahr.“ Das war die einzige<br />

„positive“ Erwähnung Willy Brandts in Menschen und Mächte.<br />

Es ist ein Ziel meiner Ausführungen, diese Propaganda zu widerlegen.<br />

Auffallend oft wird wiederholt, dass die britische Premierministerin<br />

Margaret Thatcher und der französische Präsident François Mitterrand<br />

die Wiedervereinigung noch viele Monate nach dem Mauerfall<br />

abgelehnt hätten. Gar nicht zu reden von den zotteligen Russen. Der<br />

zeitweilige Chefredakteur des Spiegel, Günter Gaus, brachte es präzise<br />

auf den Punkt: „Zum Lebensgefühl des deutschen Bürgertums, in der<br />

Bundesrepublik restauriert, scheint unausrottbar seit langem der<br />

Wahn von einer stets zielstrebigen, weitgespannten, verschwörerischen<br />

Bedrohung zu gehören. [...] Aber nicht erst seit gestern, seit<br />

<strong>1945</strong>, nein, schon seit über fünfzig Jahren sind die Deutschen nun von<br />

der kommunistischen Welteroberung bedroht; einer Verschwörung, in<br />

der sich inzwischen im bürgerlichen Bewusstsein Altes und Neues<br />

mischen: eiskalte, im Grunde eben doch unmenschliche Funktionäre,<br />

asiatische Horden und moderner Terrorismus.“ Es ist das Manko von<br />

Gaus’ Darstellung, dass er nicht anmerkt, dass sein Magazin über viele<br />

Jahre selbst an der großen Verschwörungstheorie mitgebastelt hat.<br />

Wo hätten die Leute in der Bundesrepublik den Quark sonst her?<br />

Was das Jahr <strong>1990</strong> anbelangt, wird geflissentlich unterschlagen, dass es<br />

sich hier um jenen Zeitraum handelte, in dem Dr. Helmut Kohl nun<br />

durchaus nicht zu bewegen war, die deutsche Ostgrenze des Jahres<br />

<strong>1945</strong> endgültig anzuerkennen. Es spricht für sich, wenn Der Spiegel die<br />

Bedeutung der Alliierten für die Nachkriegszeit in <strong>Deutschland</strong> kurz<br />

und bündig derart zusammenfassen konnte: „Der Einfluss von London,<br />

22


<strong>1945</strong><br />

Washington und Paris erweist sich als begrenzt, denn die Vertreter der<br />

westlichen Demokratien setzen zumeist auf Überzeugung. Es gelingt<br />

ihnen daher weder, das Berufsbeamtentum einzuschränken noch das<br />

Juristenmonopol aufzubrechen.“ Auf diesen zwei Säulen konnte man<br />

aufbauen. Indem man Altnazis unter jenes Beamtenrecht stellte, hatte<br />

man sie politisch ausgeschaltet, abgefüttert, in Schach gehalten und<br />

nutzbar gemacht; und die Bedeutung der Karlsruher Grundsatzurteile<br />

für die Bonner Außenpolitik kann gar nicht überschätzt werden.<br />

Washington, Moskau, London und Paris konnten sich erst Jahrzehnte<br />

später und nach dem Kalten Krieg gegen die deutsche Nachkriegselite<br />

durchsetzen: „Wer das Engagement der vier Mächte für die Anerkennung<br />

der deutsch-polnischen Grenze in Paris miterlebte, der konnte<br />

erkennen, welche Hindernisse, beginnend mit der Erklärung vor den<br />

Vereinten Nationen 1989, Schritt für Schritt aus dem Weg geräumt<br />

worden waren. Gleichzeitig wurde deutlich, wie sehr jedes deutsche<br />

Zögern uns geschadet hatte. Das war umso bedauerlicher, als von Anfang<br />

an klar war: Ohne eine Anerkennung der polnischen Westgrenze<br />

würde es weder im Osten noch im Westen Zustimmung zur deutschen<br />

Vereinigung geben.“<br />

Da hatte der Bonner Außenminister der siebziger und achtziger Jahre,<br />

Hans-Dietrich Genscher, absolut Recht. Jedes Zögern in Bonn hatte uns<br />

geschadet, besonders, wenn jemand in den Tiefen Osteuropas aus politischen<br />

Gründen schikaniert worden war. Nach diesen Worten über<br />

das Engagement der vier Alliierten, das noch <strong>1990</strong> nötig war, um die<br />

Staatsführung in Bonn zum Einlenken zu bewegen, wird klar, dass der<br />

Bonner Kanzler noch zu diesem Zeitpunkt verzweifelt versucht hat,<br />

die Vereinigung <strong>Deutschland</strong>s abzuwenden. Oder können Sie sich an<br />

Massendemonstrationen für die Wiedergewinnung der früheren deutschen<br />

Ostprovinzen erinnern? Dr. Helmut Kohl argumentierte ja seitdem,<br />

er habe aus Rücksicht auf Die Heimatvertriebenen bis zum Herbst<br />

<strong>1990</strong> mit der juristischen Anerkennung der Grenzen des Jahres <strong>1945</strong><br />

gezögert. Richtig ist jedoch vielmehr, dass in der Öffentlichkeit der<br />

Eindruck erzeugt worden war, dass da seit Brandts Ostverträgen nichts<br />

23


<strong>1945</strong><br />

mehr zu holen war. Es war sicher kein Zufall, dass Reden mit diesem<br />

Inhalt später immer als Sonntagsreden bezeichnet wurden.<br />

Ich erinnere mich umgekehrt, dass der SPD-Politiker Oskar Lafontaine<br />

aus der SPD-Spitze nach den Aufzeichnungen von Brigitte Seebacher<br />

<strong>1990</strong> in einem Gespräch mit Ex-Kanzler Brandt geäußert haben soll, er<br />

„wisse nicht, wo Leipzig und Rostock liegen, und wolle es auch nicht<br />

wissen, er kenne Mailand und Paris, und diese Städte seien ihm nun<br />

einmal nahe“. Meine westdeutschen Gesprächspartner wussten damals<br />

auch nicht, ob Erfurt oder Dresden weiter von der „innerdeutschen“<br />

Grenze entfernt war. Und da behauptet Helmut Kohl, dass sich eine zu<br />

Buche schlagende Anzahl Leute dafür interessiert hätte, wo Städte mit<br />

den ehemaligen Namen Breslau oder Tilsit wirklich lagen.<br />

Was die Alliierten <strong>1945</strong> tatsächlich wollten, wird meines Erachtens<br />

deutlich am Beispiel der Stadt Berlin. Sie wollten das Land von seiner<br />

Hauptstadt aus verwalten, bis ein Friedensvertrag unterzeichnet war,<br />

in dem die neuen Außengrenzen und die Höhe der Reparationen für<br />

die entstandenen Kriegsschäden festgeschrieben sein sollten. Diese<br />

Stadt Berlin, mitten im sowjetisch besetzten Teil <strong>Deutschland</strong>s, die bei<br />

einer Teilung des Landes ein Unruheherd bleiben musste, macht klar,<br />

dass niemand und am allerwenigsten Stalin an dieser Konstellation ein<br />

Interesse gehabt haben kann. Er hielt sich <strong>1945</strong> an die Absprache, die<br />

von seinen Truppen besetzte deutsche Hauptstadt für die Truppen der<br />

westlichen Alliierten zu öffnen; und diese haben wiederum gemäß der<br />

Übereinkunft der „Großen Vier“ ihre Truppen, die bis zur Thüringer<br />

Saale und im Norden bis zur Elbe standen, zum 1. Juli nach Westen<br />

zurückgezogen. Hier werden Sie verfolgen können, mit welchen Tricks<br />

und Kniffen die Regierung in Bonn bis 1962 (!) versuchte, West-Berlin<br />

mit der DDR zu vereinigen, was an Politikern wie Ernst Reuter, Jakob<br />

Kaiser oder Willy Brandt und last but not least auch an den westlichen<br />

Alliierten scheiterte.<br />

Wenn mit dieser Darstellung deutlich wird, dass die Teilung <strong>Deutschland</strong>s<br />

und in der Folge auch Europas auf eine deutsche Idee zurückgeht,<br />

24


<strong>1945</strong><br />

dann hat sie ihren Zweck erfüllt. Damit wir uns auch wirklich richtig<br />

verstehen: Ich gehe hier nicht der These nach, ob vielleicht die Möglichkeit<br />

bestanden hat, die Vereinigung dieses Landes zwanzig Jahre<br />

früher zu erreichen. Ich lasse hier keinen Zweifel daran, dass es ohne<br />

die Zirkelei rund um die Außengrenzen <strong>Deutschland</strong>s keine Teilung<br />

Europas von Wismar an der Ostsee bis Triest an der Adria gegeben<br />

hätte. Diese Lösung wäre dann auch die Erklärung für die wiederholte<br />

Kehrtwende der natürlich vollkommen unabhängigen westdeutschen<br />

Medien, wie sie von dem britischen Historiker Timothy Garton Ash<br />

beschrieben wurde: „Zuerst, in den fünfziger Jahren, wurde die DDR<br />

dämonisiert. Dann, in den siebziger und achtziger Jahren, wurde sie<br />

zunehmend idealisiert. Schließlich, in den frühen neunziger Jahren,<br />

wurde sie wieder dämonisiert.“ Hoffentlich mit einem gottverdammt<br />

schlechten Gewissen. Timothy Ash setzte fort: „Ganz gewiss hatte sich<br />

die Art und Weise, wie die DDR ihre eigenen Bürger behandelte, weit<br />

weniger verändert als die Art und Weise, mit der die Bundesrepublik<br />

die DDR behandelte.“ Über den Autor heißt es vorn in diesem Buch:<br />

„Timothy Garton Ash, geboren 1955, ist Fellow am berühmten St. Antony’s<br />

College der Universität Oxford, <strong>1990</strong> erschien »Ein Jahrhundert<br />

wird abgewählt«, das 1991 zum »politischen Buch des Jahres« gewählt<br />

wurde.“<br />

Bevor auch ich in den Genuss der Lesefreiheit gelangte, hielt ich die<br />

ostdeutsche Darstellung, nach der die Spaltung dieses Landes vom<br />

Westen ausging, für eine Schutzbehauptung. Heute kann ich endlich<br />

lesen, wie Propaganda von der anderen Seite aussah. Das Ministerium<br />

für gesamtdeutsche Fragen gab ein Nachschlagewerk unter dem Titel<br />

Die SBZ von A bis Z <strong>–</strong> Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische<br />

Besatzungszone <strong>Deutschland</strong>s heraus, in dessen achter Auflage aus dem<br />

Jahre 1963 unter dem Stichwort „Spaltung und Wiedervereinigung<br />

<strong>Deutschland</strong>s“ ausgeführt wird: „Auf der Konferenz in Teheran (Ende<br />

1943) vereinbarten Roosevelt, Churchill und Stalin die Spaltung<br />

<strong>Deutschland</strong>s. In Jalta (Febr. <strong>1945</strong>) war ihnen diese Forderung gemeinsam.<br />

Im März verzichtete Stalin gleich Churchill darauf, die Sp[altung]<br />

zu verlangen. Stalin ließ <strong>–</strong> dem Buchstaben nach <strong>–</strong> die Sp. fallen, denn<br />

25


<strong>1945</strong><br />

er befürchtete, seinen Anspruch auf Reparationen und Mitregierung<br />

des Ruhrgebietes, aber auch die langfristig geplante Bolschewisierung<br />

ganz <strong>Deutschland</strong>s zu gefährden. [Ich frage mich, welche Quellen 1963<br />

zugänglich waren, um diese Behauptung mit einem Moskauer Text zu<br />

unterlegen. Woher also wusste man dann von so einem Plan?]<br />

Das Potsdamer Abkommen (Besatzungspolitik) forderte nur »Dezentralisation<br />

. . . örtliche Selbstverwaltung« (§ III, A, 9), jedoch keine Sp.<br />

Immer wieder behauptet das Regime der SBZ, <strong>Deutschland</strong> sei nach<br />

<strong>1945</strong> von den Westmächten und politischen Kreisen Westdeutschlands<br />

gespalten worden.<br />

Bei seiner Wahl zum Präsidenten der Republik betonte Wilhelm Pieck<br />

am 11. 10. 1949 vor der Volkskammer [Parlament der DDR]: »Von den<br />

westlichen Besatzungsmächten . . . wurde <strong>Deutschland</strong> gespalten«,<br />

doch »niemals wird die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s . . . von der DDR anerkannt<br />

werden«. (Dok. zur Außenpol. d. DDR, Bd. I, Ost-Berlin 1955, S. 15<br />

f.) Das ZK der SED [das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei<br />

<strong>Deutschland</strong>s] behauptete zum »10. Jahrestag der Gründung der<br />

DDR« (7. 10. 1959), es hätten »die mit dem ausländischen Imperialismus<br />

verbündeten reaktionären imperialistischen Kreise in Westdeutschland<br />

die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s« bewerkstelligt.“<br />

Über die Rolle Wilhelm Piecks konnte ich mir noch kein hinreichendes<br />

Urteil bilden, das ich hier anbieten könnte. Bei anderen Ost-Berliner<br />

Akteuren kann jedoch sicherlich davon ausgegangen werden, dass sie<br />

nicht todunglücklich darüber waren, als alles auf die Spaltung dieses<br />

Landes hinauslief, bot sich ihnen doch somit die Möglichkeit, nun ihre<br />

Vorstellungen von einem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in<br />

die Tat umzusetzen. Zumindest in den frühen Jahren dürfte eine der in<br />

diese Richtung hin treibenden Figuren Walter Ulbricht gewesen sein.<br />

Während in dem Propaganda-Schinken Jossif Wissarjonowitsch Stalin<br />

vorgeworfen wurde, er habe die Spaltung des Landes den Buchstaben<br />

nach zwar fallengelassen, sie aber eigentlich doch betrieben, was von<br />

anderen Autoren, wie von Winkler, gegenteilig dargestellt wird, haben<br />

sich diese anderen Autoren darum verdient gemacht, meinen Brüdern<br />

26


<strong>1945</strong><br />

und Schwestern in der Bundesrepublik weiszumachen, es seien eben<br />

die Westmächte gewesen, die unser Land gespalten hätten. Nach den<br />

mir bisher zugänglichen Texten über die Jahre bis <strong>1990</strong> haben die vier<br />

Alliierten nun ihrerseits angenommen, Ost-Berlin habe einen eigenen<br />

Staat gewünscht, Bonn jedoch habe das Land nach der Ausschaltung<br />

der kommunistischen Sowjetunion vereinigen wollen. Es muss nicht<br />

gesondert betont werden, dass das in Moskau keine Freude auslöste.<br />

Ganz offensichtlich kam nicht die Erkenntnis zum Durchbruch, dass<br />

auch die Bonner Politik auf eine Spaltung hinauslief. Gustav Stolper<br />

arbeitete heraus, woran das lag: „Die Regierungen der Sieger hatten<br />

noch nicht verstanden, dass die geschichtliche Vorstellung, für die<br />

jede Nation eine eindeutige Persönlichkeit darstellte, inzwischen veraltet<br />

war. Der horizontale Schnitt, der im Gefolge von internationalen<br />

Ideologien wie Faschismus und Bolschewismus die europäischen Nationen<br />

spaltete, war ihnen noch verborgen. Lange ehe Hitlers Macht<br />

zerbrach, gab es eine deutsche Nation als Einheit nicht mehr, und dieser<br />

nationale Zerfall traf in größerem oder geringerem Maße alle Länder,<br />

in denen jene Ideologen fanatische Anhänger fanden.“ Danach gab<br />

es Faschisten und die Antifas. Verstanden haben die drei Alliierten in<br />

den demokratischen Staaten die Gesprächspartner aus der ehemaligen<br />

Diktatur wohl deshalb nur sehr mangelhaft, weil sie sicher nicht in der<br />

Lage waren, sich in das Denken von Deutschen hineinzuversetzen, die<br />

unter den Nazis in <strong>Deutschland</strong> gelebt haben und in diesen Jahren ihre<br />

lebensrettende Doppelzüngigkeit erlernt hatten. Sonst war jemand in<br />

jenen Jahren nämlich schnell weg vom Fenster. Wie der Mittzwanziger<br />

Erich Honecker.<br />

Bei Marion Gräfin Dönhoff und Franz Josef Strauß klingt an, wie sich<br />

das angefühlt hat und zu welchen rhetorischen Kunststücken Leute in<br />

der Lage sein mussten, um ihre wahre Meinung nicht zu offenbaren.<br />

Als die Diktatur ihr Leben ausgehaucht hatte, beherrschten sie dann<br />

allerdings diese Technik und dieses doppelbödige Denken, das mir als<br />

DDR-Bürger wohlvertraut ist. In einer freien Gesellschaft kann man<br />

dann alles sagen, man muss aber nicht jedem alles sagen. Andererseits<br />

27


<strong>1945</strong><br />

ist es aber auch bedenklich, wenn die schmerzhaften Tritte, die zum<br />

Beispiel Helmut Kohl, Helmut Schmidt, und zuvor Politiker wie Kurt<br />

Schumacher oder Konrad Adenauer den Alliierten verpasst haben,<br />

nicht psychologisch analysiert wurden. Um <strong>Deutschland</strong> wieder zu<br />

vereinigen, benötigte man das Wohlwollen des Auslands. Was hätten<br />

die Deutschen denn mit ihrem ganz unflätigen Verhalten erreichen<br />

können, außer der dauerhaften Teilung <strong>Deutschland</strong>s, die die Teilung<br />

Europas nach sich zog? Ich begreife darüber hinaus auch nicht, warum<br />

es den Alliierten nicht zu denken gab, dass Konrad Adenauer schon<br />

immer signalisiert hatte, dass er an einer Wiedervereinigung in dem<br />

momentanen Moment immer gerade nicht interessiert war. Genauso<br />

unverständlich ist mir auch, dass es nicht aufhorchen ließ, als Bonn<br />

später im Alleingang anfing, das Wahlvolk zu überzeugen, man müsste<br />

auf einmal die DDR anerkennen. Die Alliierten hatten ausschließlich<br />

gefordert, dass hier die Außengrenzen von <strong>1945</strong> anerkannt werden.<br />

Die Regierungen in Westeuropa und in Amerika haben sich offensichtlich<br />

über vier Jahrzehnte um ein Ende der Teilung Europas bemüht,<br />

wobei sie Bonner Politiker immer wieder hinter geschlossenen Türen<br />

drängten, endlich in der Bevölkerung für die Anerkennung der Oder-<br />

Neiße-Grenze (und eben gerade nicht für die Anerkennung der DDR)<br />

zu werben. Die Formulierung der Premierministerin Großbritanniens,<br />

Margaret Thatcher, im Herbst 1989 (!), dass man Helmut Kohl nicht<br />

gewähren lassen dürfe, sonst schlucke er auch noch Österreich, macht<br />

deutlich, dass seit <strong>1945</strong> auch diese Grenze juristisch offen gelassen<br />

worden war. Die Moskauer Führung hatte sich im ureigenen Interesse<br />

fünfundvierzig Jahre lang um eine dauerhafte Lösung der deutschen<br />

Frage unter der Bedingung der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen<br />

bemüht. Der Außenminister der Republik Frankreich, Roland Dumas,<br />

stellte noch bei einem Besuch in West-Berlin am 1. März <strong>1990</strong> (!) klar,<br />

dass einfache Erklärungen, „so feierlich sie auch seien“, niemandem<br />

genügen würden. „Wichtige Fragen wie die Anerkennung von Grenzen<br />

erforderten vertragliche Regelungen mit einer Ratifizierung.“ Wenn<br />

all das richtig überliefert ist, dann muss die Lösung des Rätsels, wie es<br />

zu einer so langen Teilung kam, wohl eher bei den Deutschen selbst zu<br />

finden sein. Und bei denen ereigneten sich Wunder über Wunder.<br />

28


<strong>1945</strong><br />

Ohne Entnazifizierung zur Demokratie<br />

Den deutschen Nationalismus, der schließlich im Nationalsozialismus<br />

gipfelte, lehnte Konrad Adenauer ab, und damit stand er in <strong>Deutschland</strong><br />

nicht allein. Bereits im Laufe der dreißiger Jahre hatte es in allen<br />

Bevölkerungskreisen, anfangs jedoch vor allem unter Kommunisten<br />

und Sozialdemokraten, Kritik an der Politik der braunen Machthaber<br />

gegeben, die viele Staatsbürger des Reiches mit Inhaftierung, Folter<br />

und Tod bezahlten.<br />

„Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die<br />

Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den<br />

Konzentrationslagern“, konstatierte Dr. Adenauer im Februar 1946 in<br />

einem Brief an einen katholischen Geistlichen in Bonn. Dort schrieb er<br />

auch: „und dafür gibt es keine Entschuldigung“.<br />

Mit dem Ausbruch des Krieges im Sommer 1939 und verstärkt durch<br />

die Wahrnehmung unglaublicher Menschenrechtsverletzungen, die im<br />

Namen <strong>Deutschland</strong>s begangen wurden, bildeten und vergrößerten<br />

sich mehr oder weniger einflussreiche Kreise, die dem Regime kritisch<br />

gegenüberstanden. In einigen dieser Gruppen wurde geplant, den<br />

Krieg und die rassistisch motivierten Morde an Juden, Sinti und Roma<br />

und Angehörigen anderer Völker durch ein Attentat auf Adolf Hitler<br />

zu beenden. Ein späteres Wort Richard von Weizsäckers aus der CDU<br />

macht allerdings deutlich, dass es schon damals nicht hinreichend<br />

schien, einfach den Diktator umzubringen. 1964 sagte er: „Viele von<br />

ihnen meinten, selbst ein geglücktes Attentat würde angesichts des<br />

unbußfertigen Volkes nichts nützen.“<br />

Dass es der Nachkriegselite aber nicht um die Entnazifizierung der<br />

Verbrecher gegangen sein kann, macht zum Beispiel folgende Passage<br />

aus einem Spiegel-Interview mit Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt<br />

deutlich. Die Frage lautete: „Sie standen dem Nationalsozialismus während<br />

des Dritten Reiches kritisch gegenüber. Wie beurteilen Sie die<br />

Entnazifizierung?“ Darauf entgegnete Schmidt hanseatisch knapp: „Sie<br />

29


<strong>1945</strong><br />

hat mich nicht sonderlich interessiert.“ Im Falle Adenauers ist es dann<br />

wohl auf die ausgelassene Kölsche Fröhlichkeit zurückzuführen, dass<br />

der Witwer einer von Gestapo-Männern gequälten Frau forderte, jetzt<br />

müsse mit der Nazi-Riecherei aber endlich mal Schluss sein.<br />

Konrad Adenauer war von seinen Mitmenschen nach den zwölf Jahren<br />

mit braunen Leuten an der Spitze restlos bedient. In einem Gespräch<br />

vertraute er Carlo Schmid aus der SPD an: „Was uns beide unterscheidet,<br />

ist nicht nur das Alter, es ist noch etwas anderes: Sie glauben an<br />

den Menschen, ich glaube nicht an den Menschen und habe nie an den<br />

Menschen geglaubt.“ Adenauer sorgte dafür, dass Carlo Schmid dieses<br />

Gespräch nicht vergaß: „Noch nach Jahren zog er mich bei Empfängen<br />

gelegentlich in eine Ecke, zeigte in die Runde und sprach lächelnd:<br />

»Glauben Sie immer noch an den Menschen?«“<br />

Oder wie wäre es damit? Adenauers Finanzminister, der die unendlich<br />

langen Tausend Jahre Drittes Reich im schönen Bayern im KZ Dachau<br />

eingesperrt war, wurde von der amerikanischen Militärregierung am<br />

28. September <strong>1945</strong> abgesetzt „wegen zu großer Nachsicht und Laschheit<br />

bei der Säuberung des Beamtenapparats von stark belasteten<br />

Nazis. Wenige Wochen nach seiner Amtsenthebung gehörte dieser Dr.<br />

Fritz Schäffer zur Gründungsprominenz der Christlich-Sozialen Union<br />

in Bayern.“ Im September des Jahres 1949 gehörte er dann aber auch<br />

zur Gründungsprominenz der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>, und 1955<br />

fuhr er zu geheimen Verhandlungen über Wege zur Anerkennung der<br />

„D.D.R.“ nach „Pankow“. Aktenzeichen XY <strong>–</strong> Ungelöst. Jetzt höre ich<br />

aber schon seit zwei Jahrzehnten, dass die Entnazifizierung in der DDR<br />

nicht richtig gemacht worden sei. (In der DDR hat man dieses Problem<br />

über Bildung gelöst. Ich nenne Ihnen hier Gründe, warum das im Osten<br />

in den neunziger Jahren so schmerzhaft und vielfach tödlich schiefging.<br />

Der Antifaschismus drüben war ganz bestimmt verbesserungswürdig.<br />

Er war aber lange nicht so einseitig und nervtötend wie die<br />

gepresste politische Korrektheit heutzutage. Ist furchtbar daneben.)<br />

Wie also gedachte man in West-<strong>Deutschland</strong> diesem so unbußfertigen<br />

Volk zu Leibe zu rücken?<br />

30


<strong>1945</strong><br />

Zumindest bei einzelnen Politikern hatten auch die Alliierten davon<br />

Kenntnis, dass sie aus dem Widerstand kamen. So vermerkte der CIP<br />

Press Service unter dem Datum des 29. Mai <strong>1945</strong>, dass bestätigt worden<br />

sei, dass Dr. Konrad Adenauer Kontakt mit dem Anfang Februar <strong>1945</strong><br />

hingerichteten Carl Friedrich Goerdeler hatte. Es kann davon ausgegangen<br />

werden, dass sie ihn aus diesem Grund für geeignet hielten, um<br />

ihm und seinen Mitstreitern die demokratische Neuordnung des<br />

besiegten Landes anzuvertrauen. Die Entwicklung <strong>Deutschland</strong>s und<br />

Europas bis zum Ende der achtziger Jahre zeigt, dass die vier Alliierten<br />

jedoch bis zum Schluss nicht verstanden haben, welche Vision die<br />

Leute des 20. Juli ihrerseits von der Fortschreibung unserer Geschichte<br />

hatten. Auf die Idee, das Land zu teilen, um das heillos übersteigerte<br />

nationalistische Denken in diesem Land herunterzufahren, das Land in<br />

zwei internationale Bündnisse einzugliedern und Europa so vor den<br />

Deutschen zu schützen, muss man aber auch erst einmal kommen. Es<br />

war in diesem Rahmen überhaupt nicht wünschenswert, dass die Unbußfertigen<br />

im Volke von ihrer Forderung nach der Wiedererrichtung<br />

des Reiches von der Maas bis an die Memel abließen. Die glaubhaft vorgetragene<br />

Forderung nach dem Deutschen Reich des Jahres 1937 war der<br />

Garant dafür, dass die „offene“ deutsche Frage im Status quo erstarrte.<br />

Glaubhaft vorgetragen wurde diese Forderung damals von Personen<br />

wie Kurt Schumacher oder Konrad Adenauer, von Herbert Wehner<br />

oder von Kurt Georg Kiesinger, um hier nur einige bekannte Namen zu<br />

nennen, deren biographischer Hintergrund die Vermutung aufdrängt,<br />

dass sie „im Rahmen einer großen Strategie“, wie es Strauß formuliert<br />

hatte, zweckdienlich gelogen haben.<br />

31


<strong>1945</strong><br />

Erfahrungen mit Verlogenheit und Hinterlist<br />

Einer Reihe von Menschen war schon sehr früh klar, dass die Gebiete<br />

östlich der Oder verloren gehen werden, wenn der Weltkriegsgefreite<br />

Hitler tatsächlich seinen Krieg gegen die Sowjetunion beginnt. So viel<br />

politische Weitsicht äußerte zum Beispiel ausgerechnet der Vater des<br />

Abiturienten Franz Josef Strauß, als er Ende Januar <strong>1933</strong> aus seiner<br />

Morgenzeitung von der gelungenen Machtergreifung Hitlers erfuhr.<br />

1939 wurde sein Sohn schließlich nach dem Studium zum Lehrer für<br />

Geschichte und alte Sprachen zur Wehrmacht eingezogen.<br />

Die Verschwörer des 20. Juli <strong>–</strong> und unter ihnen Strauß jr. <strong>–</strong> konnten<br />

durch den Verlauf des Krieges bereits im Jahr 1944 davon ausgehen,<br />

dass die sowjetischen Truppen diese Gebiete fest im Griff hatten. Erwartungsgemäß<br />

wurden sich die alliierten Staaten ja auch einig, dass<br />

die Ostprovinzen von <strong>Deutschland</strong> abgetrennt werden sollten. Wenn<br />

nun nach dem Ende des Krieges der Spagat gelang, die Vereinigung<br />

<strong>Deutschland</strong>s zu fordern und sich auf Dauer zu weigern, die Nachkriegsgrenzen<br />

juristisch anzuerkennen, so war abgesichert, dass die<br />

Alliierten der Vereinigung niemals zustimmen würden. Dabei musste<br />

zwangsläufig der Eindruck entstehen, das Ausland sei daran schuld.<br />

Wer meint, soviel Verlogenheit sei nicht vorstellbar, nehme sich Die<br />

Erinnerungen des langjährigen Vorsitzenden der Christlich-Sozialen<br />

Union, Franz Josef Strauß (geb. 1915), zur Hand, um nachzulesen, wie<br />

er die Deutschen in seiner Jugend erlebt hat: „Am 9. März erfolgte der<br />

Aufmarsch von SA und SS, die Machtübernahme in München. Die<br />

bayerische Fahne wurde eingeholt, die Hakenkreuzfahne wurde gehisst.<br />

[...] Ich habe den Zug dann durch die ganze Stadt begleitet, [...]<br />

und überall, so weit ich es beobachten konnte, herrschte Jubel. Ich<br />

selbst schwankte zwischen Furcht und Hass.“<br />

Er erinnerte sich auch: „Um nicht in die peinliche Lage zu kommen,<br />

uns ideologische Vorträge anhören zu müssen, haben meine Freunde<br />

und ich beschlossen, den Posten des »weltanschaulichen Referenten«<br />

32


<strong>1945</strong><br />

mit einem aus unserer Mitte zu besetzen. Ich bin es dann geworden,<br />

und dies hat man mir später immer wieder vorgehalten. Dabei hatten<br />

meine gelegentlichen Vorträge mit allen möglichen historischen Themen<br />

zu tun, nur nichts mit den Nazis und ihrer Ideologie. Wäre ein<br />

anderer an meinem Platz gewesen, hätten wir uns die ganze nationalsozialistische<br />

und antisemitische Pseudophilosophie anhören müssen.<br />

Diese »verkehrte Welt« des Totalitarismus wird von Leuten, die diese<br />

Zeit nie kennengelernt haben, oftmals nicht begriffen. [...] Ich habe<br />

diesen Sprachschatz beherrscht wie ein tibetischer Mönch sein »Om<br />

mani padme hum«. Mein Gegenüber hat genau gewusst, was ich denke,<br />

aber gegen die Phrase war er machtlos. Das System war auf Lüge und<br />

Verlogenheit, auf Täuschung und Hinterlist aufgebaut.“<br />

Nach seiner Bekanntschaft mit der Verlogenheit seiner Mitmenschen<br />

in den dreißiger und vierziger Jahren, mit Täuschung und Hinterlist,<br />

ist nicht anzunehmen, dass der Franz wegen seiner dubiosen weltpolitischen<br />

Aktivitäten nach seiner Beteiligung am Staatsstreich von 1944<br />

ein schlechtes Gewissen gehabt haben könnte. Dass auch er 1944 dabei<br />

war, wussten Sie doch sicher noch nicht? Veröffentlichen ließ er das<br />

Buch Die Erinnerungen erst nach seinem Tod. Strauß wurde in den sechziger<br />

und siebziger Jahren berüchtigt durch seine herben Angriffe auf<br />

den Oberträumer, Bundeskanzler Willy Brandt, dem nun ausgerechnet<br />

er vorwarf, die Teilung <strong>Deutschland</strong>s zu verewigen.<br />

Der Volkstribun Willy Brandt hielt später in seinen Erinnerungen fest:<br />

„Rückschauend mutet es gespenstisch an, dass die Bundesregierung<br />

sowie vor und neben ihr die Parteien <strong>–</strong> mindestens <strong>–</strong> auf den Grenzen<br />

von 1937 bestanden, obwohl sie wissen mussten, dass sie dafür nirgends<br />

in der Welt Unterstützung fänden. Die Vereinigten Staaten und<br />

Großbritannien hatten in Potsdam de facto der neuen polnischen<br />

Westgrenze zugestimmt, Frankreichs nachträgliche Zustimmung war<br />

umso freundlicher.“<br />

Wer annimmt, dass schon die lauthals erhobene Forderung nach der<br />

Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen vor dem<br />

33


<strong>1945</strong><br />

Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Krönung der Unverschämtheit<br />

gewesen sein könnte, hat nicht bei Henry Kissinger nachgelesen, der<br />

wegen seiner jüdischen Abstammung 1934 das Reich sicherheitshalber<br />

in Richtung Amerika verlassen hat und später zu einem der führenden<br />

Außenpolitiker der Vereinigten Staaten avancierte. Erstaunt hielt er<br />

später fest: „Hier gab es im Widerstand seltsame, bisweilen abstruse<br />

Auffassungen über ihre Verhandlungsposition gegenüber den Alliierten<br />

und unrealistische, fast naive Vorstellungen <strong>–</strong> etwa die Forderung<br />

nach Wiederherstellung des Reiches in den Grenzen von 1914.“<br />

Wer während dieses Krieges gesehen hatte, was Menschen im Namen<br />

der einen oder der anderen totalen Ideologie anderen Menschen anzutun<br />

bereit waren, war jedoch nicht mehr naiv. Tatsächlich fand die<br />

Gestapo bei einem der Verschwörer einen Forderungskatalog für die<br />

geplanten Verhandlungen Claus Graf Schenk von Stauffenbergs mit<br />

den Briten vom 25. Mai 1944, auf dem im achten Punkt ausgeführt<br />

wurde: „Reichsgrenze von 1914 im Osten, Erhaltung Österreichs und<br />

der Sudeten beim Reich, Autonomie Elsass-Lothringens, Gewinnung<br />

Tirols bei Bozen und Meran.“<br />

Zu diesem Zeitpunkt war aber schon längst kein Blumentopf mehr zu<br />

gewinnen; das ließ jedoch noch genug Verhandlungsspielraum, um<br />

dann zumindest die Grenzen von 1937 fordern zu können. Ich sehe in<br />

diesem Verhandlungsansatz tatsächlich des Pudels Kern, da sich die<br />

Forderung nach utopischen Grenzlinien von den ersten Sondierungsgesprächen<br />

der Amerikaner mit Konrad Adenauer bis zu den Verhandlungen<br />

mit Helmut Kohl im Sommer <strong>1990</strong> durchzog. Dabei wurde<br />

immer zweigleisig vorgegangen. Juristisch hielt man an den Gebietsforderungen<br />

fest, sagte aber immer augenzwinkernd dazu, dass diese<br />

Forderungen nur wegen der aus den Ostgebieten vertriebenen Leute<br />

aufrechterhalten würden. Selbstredend nahmen die verantwortlichen<br />

Politiker im Ausland wegen der unveränderten Rechtslage stets die<br />

maßgebliche juristische Position ernster als das Augenzwinkern. In<br />

späteren Jahren äußerte Bundeskanzler Konrad Adenauer sogar, die<br />

drei westlichen Alliierten könnten ja vielleicht daran interessiert sein,<br />

34


<strong>1945</strong><br />

<strong>Deutschland</strong> „etwa in den Grenzen des Reiches Karls des Großen wiederherzustellen“.<br />

Welches Horrorbild muss man im Ausland während<br />

des Weltkrieges von den Deutschen bekommen haben, dass man nach<br />

dem Vortrag derart unrealistischer, fast naiver Vorstellungen nicht<br />

einfach nur schallend gelacht hat.<br />

Viele der Flüchtlinge aus Schlesien, Pommern oder aus Ostpreußen<br />

ahnten auf ihren Fuhrwerken im Schnee <strong>1945</strong> vermutlich eher als die<br />

breite Öffentlichkeit, dass es eine Rückkehr in ihre Heimat nach dem<br />

Ostfeldzug nicht mehr geben würde. Dieser Eindruck wurde sicherlich<br />

nur verstärkt durch ihre ungnädige Aufnahme in den westlicheren<br />

Landesteilen, wo die Leute eigene und oft existenzielle Sorgen hatten<br />

und wohl eher keinen Enthusiasmus entwickelten für eine „Kriegsentscheidung<br />

östlich von <strong>Deutschland</strong>“, wie sie der SPD-Chef Schumacher<br />

am 17. September 1950 auf einer gemeinsamen Tagung der sozialdemokratischen<br />

Führungsgremien in Stuttgart forderte. Er begründete<br />

das so: „Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Volk zur Erhaltung<br />

fremder Nationalismen als nationale Substanz geopfert wird.“ Wenn es<br />

sich hierbei nicht um ein taktisches Manöver gehandelt haben soll,<br />

dann müsste man sich nachträglich Sorgen um Dr. Kurt Schumachers<br />

Verstand machen, hatte er doch die besonders nationalen Jahre in vier<br />

deutschen Konzentrationslagern verbracht und war immer wieder gefoltert<br />

worden. Doch es waren derartige Parolen, die bei manchen der<br />

Vertriebenen die Hoffnung weckten, es würde doch noch eine Lösung<br />

zu ihren Gunsten geben. Davon abgesehen denke ich, dass die Gefühle<br />

und Gedanken während der Folter, und bei Verwandten und Freunden<br />

das Mitgefühl, den Schlüssel für die Verlogenheit und Hinterlist liefert.<br />

So betrachtet werfen Texte wie der folgende von Sebastian Haffner die<br />

Frage auf, warum man in Ost und West nicht die tatsächliche Funktion<br />

der Grenzforderungen der Bundesregierungen in Bonn und ihre Bestätigung<br />

durch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verstand:<br />

„Nicht alles ist heute in <strong>Deutschland</strong> so, wie es bei oberflächlicher Betrachtung<br />

der Dinge zu sein scheint. Die westliche Öffentlichkeit hat<br />

sich daran gewöhnt, die Politik der westlichen Integration mit der Bereitschaft<br />

der »guten« Deutschen zur friedlichen Kooperation und die<br />

35


<strong>1945</strong><br />

Forderung nach nationaler Einheit [in den alten Grenzen] mit dem<br />

unverbesserlichen Nationalismus der »schlechten« Deutschen gleichzusetzen.<br />

Das ist eine gefährliche Vereinfachung. Genauso wie nicht<br />

nur prowestliche und antipreußische Liberale zu den Befürwortern<br />

der westlichen Integration gehören, sondern auch Kriegshetzer, die<br />

nur den günstigsten Zeitpunkt abwarten wollen, zählen nicht nur<br />

Nationalisten Bismarckscher Prägung zu den Befürwortern der deutschen<br />

Einheit, sondern auch aufrichtige Pazifisten, wie zum Beispiel<br />

die von Pastor Niemoeller und dem früheren Minister Heinemann<br />

geleitete Gruppe von Protestanten, die ein stabilisiertes <strong>Deutschland</strong><br />

anstreben, das ungeteilt und nicht den mit Rüstung und Allianz verbundenen<br />

Versuchungen ausgesetzt ist.“<br />

Einer der großen rhetorischen Kriegshetzer war jener Franz J. Strauß;<br />

aber lesen Sie einmal die rührenden Worte, die dieser Mann für den<br />

Frieden in Europa fand, und behalten Sie die prägenden Jahre seiner<br />

Jugend im Auge, die „auf Lüge und Verlogenheit, auf Täuschung und<br />

Hinterlist aufgebaut“ waren. Schon Altmeister Johann W. von Goethe<br />

arbeitete heraus, dass so etwas wie Geschichte immer dann beginnt,<br />

wenn ein Kind anfängt, seine Welt wahrzunehmen. Deshalb ist die<br />

Wahrnehmung von Geschichte stets subjektiv geprägt. Eine Menschheitsgeschichte<br />

ist ein sehr theoretisches Konstrukt. Dem viereinhalb<br />

Jahrzehnte währenden Frieden in Europa darf ich entnehmen, dass es<br />

den Kriegshetzern nicht um einen Krieg ging; und ich gehe davon aus,<br />

dass dieser aufrichtige Pazifismus der anderen repräsentativen Demokraten<br />

demselben Rollenspiel entsprang, unabhängig davon, dass Pazifismus<br />

schon besser klingt als Kriegshetze.<br />

Um zu verstehen, warum die Wiedervereinigung nun nicht 1970 über<br />

die Bühne ging, muss man wissen, dass Willy Brandts demokratische<br />

Mitspieler damals die Anerkennung endgültiger Grenzen verhindern<br />

konnten. Der Jura-Banause hatte nicht erfasst, dass seine wunderbaren<br />

Ost-Verträge Gewaltverzichtsabkommen waren, die sich auf die Lage<br />

des Kalten Krieges beriefen. Durch diese Verträge war die Sowjetunion<br />

gezwungen, wider die ökonomische Vernunft beim Hochrüsten nicht<br />

36


<strong>1945</strong><br />

zurückzufallen, weil sich sonst die Lage entspannt hätte. Genschman<br />

war so stolz wie ein junger Pfau, als es gelang, in die Schlussakte der<br />

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die 1975 in<br />

Helsinki unterzeichnet wurde, den peaceful change hinein zu kriegen.<br />

Weil Moskau eine Sicherheitszone für Europa unterschrieben haben<br />

wollte, musste Leonid Iljitsch Breshnjew dort also die Möglichkeit der<br />

friedlichen Veränderung der Grenzen schlucken. Es war die bayerische<br />

Landesregierung, die 1973 das völlig unabhängige Bundesverfassungsgericht<br />

anrief, um die Welt nun vom schönen Karlsruhe aus wissen zu<br />

lassen, dass die Geschäftsgrundlage nach wie vor jene Grenze von 1937<br />

war. Dieser Beschluss wurde dann 1975 punktgenau vor der Konferenz<br />

in Helsinki, die Kanzler Brandt mit seinen glänzenden Kontakten nach<br />

Skandinavien Bonn eingebrockt hatte, verkündet. Ich glaube, es war<br />

Adenauer, der gesagt hat: Wir leben alle unter dem gleichen Himmel,<br />

aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont. Die Alliierten wollten<br />

nach dem Krieg Demokraten haben, die dieses <strong>Deutschland</strong> regieren,<br />

und keine Juristen als Volksvertreter. Genscher hat sein erstes Staatsexamen<br />

noch in Halle gemacht und das zweite dann schon in Bremen.<br />

Strauß war Geschichtslehrer. Der hatte eine Klasse, die hat in keinen<br />

Raum gepasst. Wenn in diesem Land Leute wie Sebastian Haffner mit<br />

einem ganz ruhigen Gewissen geistreiche Rätsel zur Verwirrung ihrer<br />

Leserschar schreiben, müssen mich meine Verständigungsprobleme<br />

mit diversen West-Deutschen nicht mehr in Erstaunen versetzen.<br />

Die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze hat Dr. Helmut Kohl<br />

dann noch bis zum 14. November <strong>1990</strong> hinausgezögert. Das bedeutet,<br />

dass die Alliierten die Vereinigung am Ende erlaubten im Vertrauen<br />

darauf, dass der gesamtdeutsche Bundestag diese Grenze dann auch<br />

wirklich anerkennt. Von wegen Weltverschwörung. Aber kommen wir<br />

zurück auf den Ursprung im Jahr <strong>1945</strong>. Es gab vier Hauptalliierte: die<br />

Sowjets, die Briten, die Amerikaner und die Franzosen. Es wurde hier<br />

bereits angerissen, dass sie sich auf eine gemeinsame Befriedung des<br />

europäischen Kontinents geeinigt hatten. Die folgenden Jahrzehnte<br />

waren dann aber ausdrücklich nicht von der Harmonie der Alliierten<br />

geprägt, sondern von einem „Kalten Krieg“ zwischen ihnen.<br />

37


<strong>1945</strong><br />

Von der Schädlichkeit der Harmonie<br />

Verfolgen Sie jetzt gemeinsam mit mir eine äußerst aufschlussreiche<br />

Herleitung von Walter Scheel, Jahrgang 1919, der seinen politischen<br />

Weg nach dem Krieg in der FDP machte. Bei ihm werden wir erfahren,<br />

auf welch interessantem geistigen Unterbau die Führung in Bonn den<br />

europäischen Kontinent in eine dauerhafte Friedhofsruhe versetzte,<br />

indem man einfach die schädliche Harmonie ausschaltete: „Ich glaube,<br />

unser Verhältnis zum Staat ist aufs tiefste von der Idee des »Reichs«<br />

geprägt, ein Wort, das in allen gesamtdeutschen Staatsnamen bis <strong>1945</strong><br />

erscheint: im mittelalterlichen Reich bis 1806, im Deutschen Reich Bismarcks,<br />

im »Deutschen Reich« der Weimarer Republik, im »Deutschen<br />

Reich« <strong>–</strong> später »Großdeutschen Reich« Hitlers. Der Name »<strong>Deutschland</strong>«<br />

taucht als Bezeichnung eines deutschen Staates zum ersten Male<br />

im Namen der »Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>« auf.<br />

Das »Reich« aber war ursprünglich eine Weltordnungsidee, die das augusteische<br />

Imperium Romanum mit der augustinischen »Civitas Dei«<br />

verbinden wollte, ein gewaltiger Gedanke, gewiss, aber er war wohl zu<br />

groß für diese Welt. Und doch hat unser Volk jahrhundertelang seine<br />

besten Kräfte für diese Idee hingegeben und sich dabei zu höchsten<br />

militärischen, politischen, menschlichen, kulturellen Leistungen erhoben,<br />

die bis heute, ob im Bewusstsein oder im Unterbewusstsein, die<br />

Phantasie des Volkes beschäftigen.<br />

Ich habe vorgestern die Nürnberger Ausstellung über Kaiser Karl IV.<br />

besucht. Man kann dort viel über die Lebenskraft der föderalistischen<br />

Tradition erfahren, die uns aus dem alten Reich überkommen ist, und<br />

über die Anpassungsfähigkeit einer geschriebenen Reichsverfassung,<br />

die fast ein halbes Jahrtausend Bestand hatte. Das Reich wurde als ein<br />

»Überstaat« begriffen, »der in einer« <strong>–</strong> wie Prof. Ferdinand Seibt es<br />

mir beschrieben hat <strong>–</strong> »höheren Sphäre religiösen, also wahrhaft sanktionierten<br />

Gemeinschaftsverständnisses wirkte«.<br />

Aber daher rührt auch jene idealistische Staatsvorstellung, die uns<br />

Deutschen die Orientierung in der politischen Wirklichkeit oft so<br />

schwer gemacht hat.<br />

38


<strong>1945</strong><br />

Dass unsere Herrscher »Kaiser« waren und nicht Könige wie anderswo<br />

<strong>–</strong> und vor den Königen herausgehoben durch einen besonderen Auftrag<br />

<strong>–</strong>, schon allein das hat einen tiefen Einfluss auf unser politisches<br />

Bewusstsein gehabt. Der erste, der die nüchternen Fakten der irdischen<br />

Politik <strong>–</strong> ohne moralische Wertung <strong>–</strong> beschrieb, Machiavelli, ist<br />

nirgendwo so bekämpft worden wie in <strong>Deutschland</strong>. Selbst Friedrich<br />

der Große, der, nüchtern die Interessen seines Preußen berechnend,<br />

sich in drei Kriegen gegen den Kaiser empörte, fühlte sich bemüßigt,<br />

einen »Antimachiavelli« zu schreiben. [Anti-Machiavel]<br />

Die Harmonie der Welt, das war es, was unser Volk wollte, worin es<br />

den Sinn aller Politik sah. Was dieser Harmonie förderlich war, war gut<br />

<strong>–</strong> was sie störte, war schlecht. Daher rührt der stark konservative<br />

Grundzug unserer Geschichte. Alle Vergangenheit erscheint vom Goldglanz<br />

einer entschwundenen Harmonie überglänzt.<br />

Mittelalterliche ständische Strukturen hielten sich bei uns länger als<br />

anderswo. Sie waren Ausdruck einer »gottgewollten« Ordnung. Wer<br />

diese Strukturen ändern wollte, verging sich gegen die Ordnung und<br />

wurde mit Abneigung betrachtet. Hier liegt der tiefere Grund dafür,<br />

dass wir nie eine Revolution zuwege brachten, sondern dass sie alle<br />

alsbald erstickt werden konnten. Mit einer Ausnahme: der Reformation.“<br />

Genau diese Erfahrung dürfte der politischen Nachkriegselite in<br />

<strong>Deutschland</strong> auch die Sicherheit vermittelt haben, dass es zu einer<br />

„spontane[n] Erhebung des Volkes im klassischen Revolutionsstil von<br />

1789 oder 1848“ in Ost-<strong>Deutschland</strong> nie kommen könnte. Nach dem<br />

überraschenden Aufstand von 1953 schrieb Sebastian Haffner: „Das ist<br />

genau das, was <strong>–</strong> so sagten wir uns <strong>–</strong> unter den Bedingungen einer<br />

modernen, totalitären Staatsgewalt nicht geschehen könne.“<br />

Aber verfolgen wir doch noch weiter die Logik der besseren Deutschen<br />

in dieser klugen Darlegung von Walter Scheel: „Aus unserem Streben<br />

nach Harmonie erklärt sich die Abneigung, die unser Volk im Laufe der<br />

Zeit gegen Konflikte, gegen Kritik, gegen den Streit der Meinungen<br />

entwickelte. Unser Streben nach Harmonie hinderte uns daran, mit<br />

freiem Meinungsstreit zu leben. Wir bezogen ihn nicht in unser Leben<br />

ein <strong>–</strong> wir sperrten ihn aus unserem Leben aus.<br />

39


<strong>1945</strong><br />

Einem Philosophen, der wie Hegel den bestehenden Staat als das Endziel<br />

aller Geschichte hinstellte, wurde leidenschaftlich geglaubt. [...]<br />

Und in Tagen der Gefahr hieß es: »Ich kenne keine Parteien mehr <strong>–</strong><br />

ich kenne nur noch Deutsche.« Und später: »Ein Volk, ein Reich, ein<br />

Führer.« In dieser Reihenfolge. Die drei Begriffe wurden in eins<br />

gesetzt. Und es war der spätromantische, der wilhelminische und<br />

nationalsozialistische Reichsbegriff, der diese Gleichsetzung ermöglichte.<br />

Natürlich hoffte das Volk, dass der »Führer« tatsächlich von der<br />

»Vorsehung« ausersehen war, dass er gut war, dass er eine humane<br />

Ordnung herstellen würde. Hitler wurde nicht gewählt, weil er ein<br />

Verbrecher war und weil die Deutschen eine verbrecherische Diktatur<br />

wollten. Er wurde gewählt, weil ihnen die Auseinandersetzungen im<br />

Parlament fremd waren. Immer wieder hat Hitler in seinen Wahlreden<br />

die Parteien und die Parlamente lächerlich gemacht und verkündet, er<br />

werde dafür sorgen, dass der innere Streit aufhöre, dass jeder Volksgenosse<br />

von dem gleichen »vaterländischen« Geist durchdrungen werde.<br />

Und er fand Beifall. [...] Politik war für uns mehr eine Sache des Glaubens<br />

als der Vernunft. Und so waren wir anfällig für Ideologien und<br />

Personen, die uns das Heil versprachen. Dass die Kommunisten in<br />

<strong>Deutschland</strong> so besonders dogmatisch sind, kommt ja auch nicht von<br />

ungefähr.“ Wenn tatsächlich Harmonie das Grundübel der deutschen<br />

Geschichte war, dann standen die Deutschen nun vor der Aufgabe, die<br />

Harmonie <strong>–</strong> zum Wohle „<strong>Deutschland</strong>s“ <strong>–</strong> aus der Welt zu schaffen. Es<br />

war keine übermäßige Anstrengung nötig, um die vier Alliierten in<br />

zwei Blöcke zu zerlegen. Drei von ihnen waren westliche Demokratien,<br />

und ein alliierter Staat war die kommunistisch regierte Sowjetunion.<br />

Wenn es den Deutschen gelang, das Misstrauen in Amerika und in<br />

West-Europa gegen Stalins Reich mit vermeintlichen Fakten zu untermauern,<br />

ließ sich mit etwas Geschick <strong>Deutschland</strong> in zwei konträre<br />

Richtungen politisch und militärisch einbinden. Damit wir uns nicht<br />

falsch verstehen <strong>–</strong> meine Überlegungen machen den Kommunismus<br />

nicht besser und nicht schlechter, als er war. Ich will nur klären, dass<br />

es ihn ohne deutsches Zutun nicht über mehrere Jahrzehnte in ganz<br />

Osteuropa gegeben hätte. Wie kam es also letztlich zu den bekannten<br />

Feindseligkeiten zwischen den Westmächten und der Sowjetunion?<br />

40


<strong>1945</strong><br />

Nachhaltig wirksam <strong>–</strong> Reinhard Gehlen und der Kalte Krieg<br />

Die Teilung <strong>Deutschland</strong>s nach <strong>1945</strong> wird landläufig dem Kalten Krieg<br />

zwischen den USA und der Sowjetunion zugeschrieben, der in seinen<br />

Auswirkungen beschrieben wird, dessen Ursprung aber unklar bleibt.<br />

Dieser Begriff fällt in den unterschiedlichen Darstellungen erstmals im<br />

Zusammenhang mit Ereignissen, die sich zwischen <strong>1945</strong> und 1948 zutrugen,<br />

und dient in der Folge als Erklärungsmuster für die allmählich<br />

beginnende Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Demokratien<br />

im Westen. Es ist aber nicht auszumachen, welche abträgliche<br />

Aktivität der einen oder der anderen Seite ihn vielleicht ausgelöst hat.<br />

Die Veränderung der Politik Washingtons bezüglich der Sowjetunion<br />

wird frühestens auf den Tod des Präsidenten Franklin D. Roosevelt und<br />

die Amtsübernahme durch Harry Truman im Frühjahr <strong>1945</strong> datiert.<br />

Die deutsche Journalistin Marion Gräfin Dönhoff allerdings überrascht<br />

mit einem früheren Zeitpunkt. In einem Zeitungsartikel vom 26. Juli<br />

1963 bescheinigte sie ihrem Landsmann Reinhard Gehlen ein „präzises<br />

Gehirn, einem Elektronenrechner gleich“, der „bereits 1944 den Kalten<br />

Krieg kommen sah“. Der 42-jährige Generalmajor Reinhard Gehlen war<br />

damals der Chef der Abteilung Fremde Heere Ost des Generalstabs der<br />

Wehrmacht und später der erste Chef des Bundesnachrichtendienstes.<br />

Gehlens Annahme einer späteren Gegnerschaft zwischen dem Westen<br />

und der Sowjetunion schon im Jahr 1944 sollte verwundern, denn der<br />

Publizist Sebastian Haffner stellte im Londoner Observer am 1. Februar<br />

1959 fest: „Von <strong>1945</strong> bis 1948 bemühten sich die westlichen Alliierten<br />

und Russland, die deutsche Frage gemeinsam zu lösen.“ Warum wusste<br />

der deutsche General früher als die Amerikaner, dass es die Allianz der<br />

vier Alliierten in wenigen Jahren nicht mehr geben würde?<br />

Nähern wir uns der Lösung des Jahrhunderträtsels mit einem eher als<br />

Bettlektüre für Hobbyhistoriker geeigneten Werk. In Geheimdienste in<br />

der Weltgeschichte <strong>–</strong> Von der Antike bis heute erzählt der Autor Wolfgang<br />

Krieger in vernebelnden Formulierungen, was sich damals ereignete:<br />

41


<strong>1945</strong><br />

„Noch schlechter entwickelte sich der Ostkrieg selbst. Deshalb bereitete<br />

sich der zum Generalmajor aufgestiegene Gehlen <strong>–</strong> wie übrigens<br />

viele in den deutschen Eliten <strong>–</strong> auf den absehbaren Untergang der<br />

Herrschaft Hitlers vor. Er tat es allerdings sorgfältiger als die meisten.<br />

Einige handverlesene Mitarbeiter ließ er 50 wasserdichte Kisten mit<br />

Geheimdienstmaterial füllen und nach Süddeutschland transportieren.<br />

Dass Gehlen dabei, wie so viele vom Kriegsrausch verwirrte Deutsche,<br />

von einer Fortsetzung des Ostkrieges mit angloamerikanischer Unterstützung<br />

träumte, ist nicht auszuschließen. Beweisstücke, wenn es sie<br />

je gab, hätte Gehlen wohl später vernichtet. (Noch als BND-Präsident<br />

setzte er alle Hebel in Bewegung, um historische Untersuchungen über<br />

seine Tätigkeit an der Ostfront zu vereiteln.)“<br />

Auf den ersten Blick erstaunt, warum er Untersuchungen über seine<br />

Tätigkeit an der Ostfront so energisch vereitelte, gehörte er doch zu<br />

denen, die versuchten, den Hitleradolf aus der deutschen Geschichte<br />

zu nehmen. „Gehlen kannte nicht nur das Vorhaben der Verschwörer,<br />

er bewahrte in einer Schreibtischschublade in seinem Hauptquartier<br />

den Aktionsplan für die Operation Walküre, die Ermordung Hitlers,<br />

auf. Zum Zeitpunkt des gescheiterten Attentats selbst lag Gehlen im<br />

Lazarett“, erläuterte Erich Schmidt-Eenboom leider erst im Jahre 2004.<br />

Während Reinhard Gehlen auf der einen Seite Untersuchungen über<br />

seine Aktivitäten gegen Adolf Hitler vereitelte, beklagte er sich auf der<br />

anderen Seite noch in seinen Memoiren, die 1971 unter dem Titel Der<br />

Dienst auf den Markt kamen, dass kaum jemand wusste, welchen Anteil<br />

er selbst am Attentat hatte: „Wie andere meiner Freunde wurde auch<br />

Oberst von Roenne ein Opfer der nach dem 20. Juli 1944 ausgelösten<br />

Verfolgungen. Es ist nicht allein das tragische Schicksal vieler, mit<br />

denen ich mich verbunden fühlte, das mich veranlasst, mein Wissen<br />

um die Zusammenhänge und Hintergründe des 20. Juli darzustellen<br />

und die mir gegebenen Möglichkeiten aufzuzeigen. Ich nehme auch<br />

deshalb Stellung, weil mir gelegentlich aus Unkenntnis der Verhältnisse<br />

vorgehalten wurde, ich hätte mich stärker exponieren und aktiv<br />

an der Beseitigung Hitlers beteiligen sollen.“ Woher sollte man jedoch<br />

42


<strong>1945</strong><br />

Kenntnis von seiner Rolle haben, wenn er selbst darüber nicht sprach<br />

und eine Aufklärung der Zusammenhänge verhinderte? Noch in den<br />

Memoiren deutete er seine Rolle nur an. Doch allein schon weil er von<br />

diesem Plan Kenntnis hatte und ihn nicht sofort pflichtschuldigst bei<br />

der Gestapo anzeigte, war er natürlich einer von den Verschwörern.<br />

Die Schlüsselrolle, die Reinhard Gehlen bei diesem Staatsstreich von<br />

1944 innehatte, wurde also in den Jahren nach <strong>1945</strong> nicht erwähnt. Das<br />

wäre aber genau der Baustein gewesen, der im In- wie im Ausland zu<br />

einem anderen Bild von den Absichten der 1949er Führung in Bonn geführt<br />

hätte. Ganz beiläufig brabbelte der BND-Experte Erich Schmidt-<br />

Eenboom so vor sich hin: „Wie Gehlen es fertig brachte, von einer der<br />

publizistischen Wegbereiterinnen einer neuen, aufgeklärten Ostpolitik<br />

als Weggefährte angesehen zu werden, bleibt sein Geheimnis. Eine<br />

plausible Antwort auf die Frage, warum Gräfin Dönhoff ihn in jeder<br />

Beziehung zu loben wusste, könnte im Verhältnis beider zum militärischen<br />

Widerstand im Dritten Reich liegen, der für beide bestimmend<br />

für ihr weiteres Leben war.“ Das war durchaus eine plausible Antwort.<br />

Gräfin Dönhoff hatte während der Herrschaft eines Adolf Hitler unter<br />

Lebensgefahr Kurierdienste zwischen hochrangigen Persönlichkeiten<br />

im Widerstand und Kontaktpersonen im Ausland geleistet und später<br />

eine hervorragende Rolle in der therapeutischen Öffentlichkeitsarbeit<br />

der westdeutschen Nachkriegselite innegehabt.<br />

Tatsächlich sind Gehlens Memoiren geeignet, um das Rätselraten rund<br />

um die Vorgänge nach <strong>1945</strong> zu beenden. Lassen wir uns von ihm in die<br />

geheimsten Geheimnisse der Neuzeit einführen: „Jahrelang waren wir<br />

gezwungen, mit den Augen des Gegners zu sehen und uns in seine<br />

Denkweise und Absichten einzuleben. Schon frühzeitig konnten wir<br />

seine wachsende Siegeszuversicht feststellen und mussten sie als berechtigt<br />

anerkennen. Damit ahnten wir aber auch unausweichlich das<br />

Herannahen der Katastrophe voraus. Es ist verständlich, dass sich dabei<br />

auch Überlegungen aufdrängten, was getan werden müsse, wenn<br />

der Zusammenbruch einmal eingetreten sei.“ Welche Überlegungen<br />

waren das? Er schrieb, man wollte sich „nicht mit dem Gedanken abfinden,<br />

dass nunmehr endgültig das Ende <strong>Deutschland</strong>s gekommen sei.<br />

43


<strong>1945</strong><br />

Dieses Sich-nicht-abfinden-Wollen drängte mir darüber hinaus Überlegungen<br />

darüber auf, welche Verpflichtungen sich für mich aus meiner<br />

damaligen Stellung heraus für die Zukunft nach dem Kriege ergeben.“<br />

Daraus wurde ein gewagter Salto mortale. Generalmajor Gehlen<br />

träumte nicht vom Fortsetzen des Ostkrieges mit angloamerikanischer<br />

Unterstützung. Seine Stellung erlaubte ihm, den Amerikanern weiszumachen,<br />

er habe Kenntnis von sowjetischen Plänen zur Durchsetzung<br />

des Kommunismus in der Welt und den militärischen Möglichkeiten<br />

Moskaus. Wenn den Amerikanern das eingeredet werden konnte, war<br />

<strong>Deutschland</strong>-West aus der Schusslinie und man konnte dann zusehen,<br />

wie sich die früher verbündeten Staaten Schlachten irgendwo anders<br />

in der Welt lieferten.<br />

Anfang der siebziger Jahre war dieser Kalte Krieg dann schon so gut in<br />

Schwung gekommen, die Bedrohung durch die Atomwaffenarsenale in<br />

den USA und in der Sowjetunion schon so enorm, dass er wohl meinte,<br />

jetzt könne er sich damit brüsten, dass ursprünglich er die Amerikaner<br />

auf diese angebliche Gefahr gestupst hatte, die von den Russen ausgegangen<br />

sein soll. Damals war es ja längst nicht absehbar, dass einmal<br />

für die Amerikaner eine Möglichkeit bestehen würde, mit den Sowjets<br />

über ihre realen militär-technischen Möglichkeiten nach diesem Krieg<br />

ins Gespräch zu kommen; und immer, wenn die Russen ihre Unschuld<br />

beteuerten, wurde ihnen das ja, wie Sie sich erinnern, nicht geglaubt.<br />

„Selbstverständlich entstehen solche Überlegungen nicht auf einmal.<br />

Unsere Überlegungen reiften in einem langen, durch Zwischenräume,<br />

in denen uns die Nöte des Alltages voll beschäftigten, unterbrochenen,<br />

schmerzhaften Denkprozess. An ihm war neben mir vornehmlich mein<br />

Vertreter und zweimaliger Nachfolger, der jetzige Generalleutnant a.<br />

D. und Präsident des Bundesnachrichtendienstes Wessel, beteiligt.<br />

Unsere Überlegungen wurden dadurch begünstigt und nach außen<br />

abgeschirmt, dass der innere Zusammenhalt meiner Abteilung allen<br />

Krisen standhielt und dass wir uns vorbehaltlos aufeinander verlassen<br />

konnten. Selbst der »Nationalsozialistische Führungsoffizier« machte<br />

hierbei keine Ausnahme. Dies war nicht überall so.<br />

44


<strong>1945</strong><br />

Extreme Haltungen, sowohl in der Form eines ausgeprägten Nationalsozialismus<br />

wie auch eines hemmungslosen Fatalismus in der inneren<br />

Einstellung mancher jüngerer Offiziere außerhalb meiner Abteilung,<br />

zeigten doch zuweilen, dass die Dauer des Krieges und die Indoktrination<br />

sich auswirkten.“<br />

„Um das notwendige Schlüsselpersonal für die spätere Arbeit sicherzustellen,<br />

wurden drei Gruppen gebildet, die sich an drei vorbereiteten<br />

Punkten in den Alpen so lange <strong>–</strong> etwa 3 Wochen <strong>–</strong> aufhalten sollten, bis<br />

das große Durcheinander, das bei Kriegsende zu erwarten war, in einigermaßen<br />

überschaubare Verhältnisse übergegangen war. Dann sollten<br />

sich diese Gruppen bei der nächsten amerikanischen Ortskommandantur<br />

melden und sich in Gefangenschaft begeben. Da zu erwarten<br />

war, dass die Amerikaner versuchen würden, dieses Ic-Personal mit<br />

längerer Erfahrung in eigener Regie selbst einzusetzen, wurden die<br />

Gruppen angewiesen, sich zu keiner Mitarbeit bereitzuerklären, bevor<br />

sie einen schriftlichen Befehl von mir persönlich erhalten hätten.“<br />

Anschließend wurde es Ernst: „Während der beiden Pfingstfeiertage<br />

genossen wir die Gastfreundschaft der Eltern Erwins, mit denen wir<br />

uns viel zu erzählen hatten. Am Dienstag früh machten wir uns mit<br />

unseren Rucksäcken auf den Weg zum Bürgermeisteramt, in dem der<br />

Ortskommandant sein Domizil aufgeschlagen hatte. Ich kann mich<br />

noch gut an meine damaligen Gefühle erinnern. Auf der einen Seite<br />

empfand ich eine Art Galgenhumor, dass ich <strong>–</strong> immerhin Generalmajor<br />

in einer wesentlichen Stellung während des Krieges <strong>–</strong> mich nunmehr<br />

einem jungen amerikanischen Oberleutnant ausliefern musste. Andererseits<br />

gab es kein Zurück.<br />

Der Ortskommandant war verständlicherweise sehr aufgeregt, als sich<br />

bei ihm ein General und vier Generalstabsoffiziere meldeten. Welchen<br />

»Fang« er gemacht hatte, konnten wir ihm nicht auseinandersetzen,<br />

da er kein Deutsch und wir damals kein Englisch sprachen. Er rief<br />

sofort bei seiner vorgesetzten Dienststelle an und erhielt die Weisung,<br />

uns einzeln nacheinander zu der Division nach Wörgl zu bringen.<br />

45


<strong>1945</strong><br />

Ich wurde als erster in einen Jeep der MP [Military Police] verfrachtet<br />

und bei dem G-2, dem Feindlagenbearbeiter der Division, in Wörgl<br />

abgeliefert. Dieser G-2 erfasste sofort welche Bedeutung unsere Selbstgestellung<br />

hatte und zeigte sich an einer Befragung sehr interessiert.<br />

Ich wurde von ihm in Gegenwart einer Sekretärin vernommen, die<br />

über diese Aussagen Protokoll führte. Die wichtigsten Fragen erstreckten<br />

sich zunächst allerdings weniger auf meinen früheren Fachbereich<br />

als vielmehr auf die Verhältnisse in <strong>Deutschland</strong> in der Zeit des Nationalsozialismus.“<br />

Das konnte nicht wirklich überraschen, verdeutlicht<br />

aber, worum es den Amerikanern nach dem Sieg ursprünglich ging.<br />

„Bis jetzt war ich, einschließlich des uns betreuenden Vernehmungsoffiziers,<br />

nur amerikanischen Offizieren begegnet, die die Lage ausschließlich<br />

unter dem Eindruck der offiziellen [amerikanischen] Propaganda<br />

sahen. Fast alle, mit denen ich bisher gesprochen hatte,<br />

waren der Auffassung, dass die Sowjetunion sich vom Kommunismus<br />

hinweg zu einem liberalen Staat entwickele. Von Stalin wurde immer<br />

als von »Uncle Joe« gesprochen. Über die tatsächlichen expansiven<br />

Ziele der Sowjets bestanden bei meinen bisherigen Gesprächspartnern<br />

keinerlei Vorstellungen.“ Unter diesen Umständen wäre es sicher nach<br />

dem Krieg möglich gewesen, eine Liberalisierung der Sowjetunion auszuhandeln,<br />

sich aber zumindest in der deutschen Frage zu einigen und<br />

auch eine zeitnahe Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen zu<br />

erreichen. Daraus wurde jedoch nichts. Gehlen wurde erst einmal nach<br />

America überführt, wo man ihn weiter intensiv befragte.<br />

„Schon am Tage nach meinem Eintreffen wurde ich am Vormittag in<br />

den Garten heruntergeführt, wo mich ein Captain mit Namen Hallstedt<br />

begrüßte und sich mit mir in die Sonne auf eine Bank setzte. Captain<br />

Hallstedt war ein adrett aussehender, sympathisch wirkender Offizier.<br />

Er mochte etwa 35 Jahre alt sein und entsprach in seiner Haltung und<br />

seinem Auftreten unseren deutschen Vorstellungen über den Offizier<br />

schlechthin.<br />

Er war, wie ich später erfuhr, von deutscher Abstammung, Amerikaner<br />

in der zweiten Generation. In [Captain] Hallstedt traf ich den ersten<br />

46


<strong>1945</strong><br />

amerikanischen Offizier, der russlandkundig war, der die kommende<br />

politische Entwicklung illusionslos einschätzte und sich darüber eigene<br />

Gedanken machte. Diese Begegnung sollte die entscheidende sein<br />

für die weitere Entwicklung meiner Pläne.“ Da hatte er also sein erstes<br />

Opfer gefunden. Wer die Welt sieht, wie ich es wünsche, hat Ahnung<br />

von dieser Welt und ist ohne Illusionen. Pluspunkt: wie ein deutscher<br />

Offizier. Freud lässt grüßen: Diese Begegnung sollte die entscheidende<br />

sein für die weitere Entwicklung meiner Pläne. Hören wir ihn weiter.<br />

„Wir führten ein langes Gespräch über die politische und militärische<br />

Lage, er erkundigte sich eingehend nach meiner früheren Tätigkeit.<br />

Nachdem er gegangen war, hatte ich nunmehr eine Nacht Zeit, um mir<br />

darüber klar zu werden, ob ich die Karten auf den Tisch legen sollte.<br />

Ich tat dies nicht sofort in vollem Umfange, sondern wir tasteten uns<br />

in mehreren Gesprächen zunächst weiter aneinander heran. Hierbei<br />

ergab sich nebenbei die Möglichkeit, allmählich meine Gedanken über<br />

die Zukunft sowie über meine Absichten und Zielvorstellungen einfließen<br />

zu lassen. Die Reaktion des Captains war positiv. Ich nehme an,<br />

dass Hallstedt seinen Vorgesetzten, dem G-2 des Oberkommandos,<br />

General Sibert, sowie dem Chef des Stabes, General Bedell Smith, über<br />

unseren Dialog laufend vortrug und dabei angewiesen wurde, die Unterhaltungen<br />

im positiven Sinne fortzusetzen, denn Hallstedt wurde<br />

von Gespräch zu Gespräch aufgeschlossener. Wir kamen schließlich<br />

überein, eine kleine Gruppe meiner früheren Mitarbeiter, unter ihnen<br />

Wessel, in Stärke von acht Offizieren zusammenzuziehen. Sie sollten<br />

den Amerikanern zeigen, über welche besonderen Möglichkeiten und<br />

Kenntnisse wir verfügten. Ich gab Hallstedt eine Reihe von Briefen und<br />

die Namen der hierfür ausgewählten Offiziere, so dass er sie aus den<br />

Kriegsgefangenenlisten ermitteln konnte, um sie nach Wiesbaden zu<br />

holen. Es dauerte viele Tage, bis die Gruppe zusammen war. Hallstedt<br />

erzählte mir nach seiner Rückkehr mit einem amüsierten Lächeln,<br />

dass er alle Herren zunächst angesprochen hätte, ohne meinen Brief<br />

vorzuweisen; sie wären allesamt völlig unzugänglich gewesen, bis er<br />

den Brief, der wie eine Art »Sesam öffne dich« gewirkt habe, hervorzog.<br />

47


<strong>1945</strong><br />

Er gab freimütig zu, wie sehr ihn diese Haltung beeindruckt habe.“ Es<br />

ist schön, dass sich der Amerikaner so fürstlich amüsiert hat. Auf diese<br />

Art hatte Gehlen jedoch abgesichert, dass sein Plan aufging. Er nahm<br />

sich die Zeit, in Ruhe zu sondieren, ob er mit den Amerikanern Fußball<br />

spielen konnte, und als er alles vorbereitet hatte, ließ er die anderen<br />

Spielfiguren auf den Tisch holen. Mir fiel auf, dass er die Deutschen in<br />

seinem Büchli auf Seite 58 als ungeeignete Verschwörer bezeichnete.<br />

Kann sein, er hat sich was dabei gedacht. „Seinen neuen Verbündeten<br />

bot Gehlen, wie er es nannte <strong>–</strong> »gute Deutsche«, die ideologisch auf<br />

einer Linie mit dem siegreichen Westen seien.“ Wenn diese Argumentation<br />

die Amerikaner überzeugt hat, muss ich leider annehmen, dass<br />

sie nicht wussten, wie ein richtiger Nazi getickt hat und was „ein guter<br />

Deutscher“ zu jener Zeit vom Westen im Allgemeinen und von America<br />

im Besonderen hielt. Aber es ist wunderbar, dass sich die Amerikaner<br />

über ihren Erfolg gefreut haben.<br />

„Ein erster Schritt war getan. Ein kleiner Kreis meiner engsten Mitarbeiter<br />

war um mich versammelt. Damit waren wir in die Lage versetzt,<br />

uns über die verschiedensten Fragen auszusprechen und uns gegenseitig<br />

abzustimmen. Die nächste Zeit verging mit Gesprächen über die<br />

verschiedensten Themen aus Vergangenheit und Zukunft.<br />

Meine Unterhaltungen mit Hallstedt kreisten immer wieder um das<br />

gleiche Thema: Das Zerbrechen des alliierten Bündnisses kann nur<br />

eine Frage der Zeit sein.<br />

Damit wird der bisher nur unterschwellig spürbare Ost-West-Gegensatz<br />

aufbrechen und zu Gefahren für die Sicherheit Europas wie auch<br />

der Vereinigten Staaten führen. Wie können wir angesichts dieser Zukunftserwartungen<br />

möglichst bald zur Zusammenarbeit gelangen? <strong>–</strong><br />

Wir beide waren überzeugt, dass es hierzu kommen müsse, waren uns<br />

aber auch der Schwierigkeiten bewusst, die sich zwangsläufig ergeben<br />

mussten.<br />

Zunächst einmal stand noch keineswegs fest, dass mein Vorschlag, das<br />

deutsche nachrichtendienstliche Potenzial für die USA nutzbar zu<br />

machen, außerhalb des amerikanischen G-2-Dienstes positiv aufgenommen<br />

werden würde.<br />

48


<strong>1945</strong><br />

Der G-2-Dienst freilich wusste, wie gering die eigenen Kenntnisse über<br />

»Uncle Joe« und sein Imperium im Augenblick waren. Dem G-2-Dienst<br />

musste daher, wie die bisherigen Gespräche gezeigt hatten, das Angebot<br />

auf Zusammenarbeit nicht nur einleuchten, sondern sogar verlockend<br />

erscheinen. Seine Annahme würde ihm viele organisatorische<br />

Arbeit ersparen. Sie gewährleistete außerdem den Zugang zu Erkenntnissen,<br />

deren Beschaffung aus eigener Kraft erst nach Jahren möglich<br />

gewesen wäre. Aber im allgemeinen Bewusstsein war die Sowjetunion<br />

der Verbündete und Siegespartner, an dessen Freundschaft und demokratische<br />

Entwicklung viele noch glaubten.<br />

Waren nicht die Amerikaner auch deshalb in den Krieg gezogen, um<br />

den »preußisch-deutschen Militarismus« auszurotten? Konnte man<br />

der eigenen Öffentlichkeit, ja selbst der Masse der eigenen Offiziere<br />

zumuten, angesichts der Naziverbrechen, die das Fraternisierungsverbot<br />

ausgelöst hatten, nun mit ehemaligen deutschen Offizieren und<br />

früheren Angehörigen des deutschen Nachrichtendienstes zusammenzuarbeiten?“<br />

Die Neulinge auf dem Parkett der großen Politik haben es den Leuten<br />

in Amerika letztlich zugemutet. In <strong>Deutschland</strong> sammelte man in der<br />

Zwischenzeit diejenigen ein, die Generalmajor Gehlen als Mitarbeiter<br />

empfohlen hatte. Sicher ging Gehlen von einer gewissen Naivität der<br />

Amerikaner aus; aber das konnte er nicht voraussehen: „Obschon der<br />

G 2 von USFET, also Sibert, irgendeine bereits bestehende Abteilung<br />

des militärischen Nachrichtendienstes hätte beauftragen können, den<br />

zusammengefassten deutschen Stab zu strukturieren und zu führen,<br />

entschied er sich stattdessen, Oberstleutnant John Deane als Projektoffizier<br />

zu bestimmen. Er kam aus der G 2-Abteilung von USFET, war<br />

Fallschirmjäger, besaß keine Erfahrung auf dem Gebiet des Nachrichtendienstes<br />

und sprach kein Deutsch.“ Und als ob die Deutschen nicht<br />

bis vor kurzem mit scharfer Munition auf die Amerikaner geschossen<br />

hätten, „bedurfte [der Stab um Gerhard Wessel] keiner Überwachung<br />

durch einen Stab in Oberursel“. Man sollte meinen, diese Einschätzung<br />

stamme von einem der deutschen Akteure, doch sie stammt von James<br />

H. Critchfield.<br />

49


<strong>1945</strong><br />

Mister Critchfield war nicht irgendwer. Critchfield, der „während des<br />

Zweiten Weltkrieges als amerikanischer Heeresoffizier“ gedient hatte<br />

und ebenfalls von Nachrichtendiensten bisher nur wusste, dass es sie<br />

gibt, wurde beauftragt, Gehlens Truppe zu beaufsichtigen, damit sie in<br />

Zukunft keinen Schaden mehr anrichten können.<br />

Liest man die Erinnerungen von James H. Critchfield, muss man vermuten,<br />

über den Tisch gezogen zu werden sei Aufgabe der Amerikaner<br />

gewesen. „Unerklärlicherweise schien Sibert entschlossen, den Kommandeur<br />

der 970. Abteilung des Counter Intelligence Corps (CIC) nicht<br />

über das Projekt in Kenntnis zu setzen. Selbst als er im Frühjahr 1946<br />

Deanes Operation in der Amerikanischen Zone um den zusätzlichen<br />

Auftrag zu Spionageabwehr und Innerer Sicherheit erweiterte, überging<br />

er das Dezernat für Spionageabwehr seiner eigenen G 2-Abteilung<br />

und das der 970. Abteilung. Dies und der zusätzliche Ausschluss des<br />

Office of Strategic Services von jeglicher Beteiligung erwiesen sich als<br />

schwerwiegende Fehler.“<br />

Der Umschwung bei den Amerikanern dauerte länger als von Gehlen<br />

gedacht. „Wenn die Sprache auf meine Vorschläge kam, so war noch<br />

um die Jahreswende <strong>1945</strong>/46 die Reaktion ausweichend, da man offensichtlich<br />

zu diesem Zeitpunkt noch die damit verbundenen politischen<br />

Risiken scheute. Uns wurde gesagt, man müsse abwarten, bis sich die<br />

öffentliche Meinung gegenüber <strong>Deutschland</strong> beruhigt und gegenüber<br />

den Russen abgekühlt habe. Die Öffentlichkeit müsse erst einmal die<br />

Sowjets und das sowjetische Problem so sehen wie es in Wirklichkeit<br />

gesehen werden müsste, andernfalls würden in einem demokratisch<br />

geführten Staat wie den Vereinigten Staaten sowohl außenpolitische<br />

wie innenpolitische Schwierigkeiten eintreten.“<br />

„Im Juli 1946 verließ Gehlen mit seiner Gruppe Fort Hunt und kehrte<br />

nach <strong>Deutschland</strong> zurück. Er und seine Familie wurden in der gänzlich<br />

ungewohnten Umgebung des »Blue House« und Oberursels untergebracht.<br />

Gehlen arbeitete eng mit Wessel zusammen und übernahm die<br />

Führung der Gruppe.“<br />

50


<strong>1945</strong><br />

Bevor Generalmajor Edwin Siberts Dienstzeit im August 1946 zu Ende<br />

ging, wollte Gehlen ihm noch die Zustimmung zu den eigenen Plänen<br />

und somit ein „Ja“ von amerikanischer Seite entlocken, auf das er sich<br />

später berufen konnte. Völlig zutreffend war Sibert aufgefallen, dass<br />

Gehlen „die Überlegungen der Amerikaner für den Aufbau eines neuen<br />

deutschen Nachrichtendienstes noch immer nicht ganz verstanden“<br />

hatte. Dieser Edwin Sibert lebte ernstlich in der „Vorstellung, Gehlens<br />

Organisation vollständig in einen neuen amerikanischen Nachrichtendienst<br />

zu integrieren, wodurch deren Mitarbeiter mitsamt ihren Familien<br />

amerikanische Staatsbürger werden würden“. Aber warum soll ein<br />

Mensch nicht auch träumen dürfen? So berief Mister Sibert für den 30.<br />

August eine gemeinsame Sitzung ein, auf der er die Träume erläuterte.<br />

Gehlen fasste sie wie folgt zusammen: 1. „Die Organisation würde eine<br />

rein amerikanische werden.“ 2. „Die Amerikaner wären berechtigt, die<br />

Organisation zu inspizieren.“ Als dritten Punkt hielt Gehlen fest: „Die<br />

Organisation würde Teil eines zukünftigen amerikanischen Nachrichtendienstes<br />

werden, allerdings als ein freies Wirtschaftsunternehmen,<br />

welches anstelle einer mit amerikanischen Beamten und Angestellten<br />

besetzten amerikanischen Organisation geheimdienstliche Aufgaben<br />

wahrnimmt. Auf diese Bedingungen, die uns angeboten worden sind<br />

und die ganz eindeutig sind, müssen wir uns einstellen. Wir haben sie<br />

zu akzeptieren.“ So schön kann träumen sein. Gehlen hatte auch einen<br />

Plan, der Siberts Plan diametral widersprach; Gehlen verfuhr nach der<br />

Abreise Siberts nach seinem eigenen Plan.<br />

James Critchfield, der wohl eine zu demokratische Vorstellung davon<br />

hatte, was es heißt, die Aufsicht über eine Gruppe hochrangiger und<br />

erfahrener Militärs zu haben, notierte später: „Ich glaube, dass sowohl<br />

Gehlen als auch General Sibert von der Vermutung ausgingen, jeder<br />

habe dem anderen seine eigenen Vorstellungen dargelegt und der<br />

andere habe diesen zugestimmt. Wenn es die Umstände daheim in den<br />

Vereinigten Staaten erforderten, konnte Sibert behaupten, dass er die<br />

Idee, die deutsche Operation in den amerikanischen Geheimdienst zu<br />

51


<strong>1945</strong><br />

integrieren, erörtert hatte und die Deutschen nun die notwendigen<br />

Vorbereitungen einleiteten.<br />

Sibert konnte andeuten, dass er im Prinzip die Zustimmung der Deutschen<br />

erhalten hatte. Andererseits konnte Gehlen behaupten, dass sich<br />

seine Beziehungen zu General Sibert über einen langen Zeitraum entwickelt<br />

hatten, dass Sibert die vorgelegten nachrichtendienstlichen<br />

Ergebnisse sehr schätzte und dass er Siberts stillschweigende Billigung<br />

für seine langfristigen Vorstellungen und Pläne besaß. Das an diesem<br />

Tag abgeschlossene »Gentlemen’s Agreement«, wie Gehlen es oft beschrieben<br />

hat, wurde Teil der Nachkriegsgeschichte. Sibert und Gehlen<br />

gingen mit vorgefassten, aber sehr unterschiedlichen Vorstellungen<br />

über das auseinander, was sich zugetragen hatte. Sie hatten aneinander<br />

vorbeigeredet, und jeder glaubte, der andere hätte verstanden,<br />

was er ihm mitteilen wollte.<br />

Natürlich hatte der Rest von uns im Hauptquartier der 3. Armee im<br />

nur neunzig Kilometer entfernten Heidelberg keine Kenntnis davon.“<br />

Um nicht zu wissen, was in diesem Raum ausgehandelt worden war,<br />

hätte es jedoch völlig ausgereicht, nur neunzig Fuß von der Außenwand<br />

des Gebäudes entfernt auf ein Fahrzeug gewartet zu haben. Hier<br />

wäre es schon sinnvoll gewesen, gemeinsam ein Papier auszuarbeiten<br />

und von beiden Partnern unterschreiben zu lassen, ging es doch nicht<br />

um weniger als um die Zukunft der Vereinigten Staaten von Amerika.<br />

Verehrtes Publikum! Sie dürfen jetzt bitte nicht lachen, auf welcher<br />

Grundlage sich die Zusammenarbeit zwischen den Westdeutschen und<br />

den Freunden in Amerika letztlich abspielte. Stellen Sie sich also vor,<br />

Sie schließen mit jemandem einen Vertrag ab. Es geht darum, dass Sie<br />

sich gegen einen Dritten verteidigen und dafür die Hilfe Ihres Partners<br />

nutzen wollen. Ihr Partner gedenkt jedoch, nicht unter Ihnen oder<br />

auch nur für Sie zu arbeiten, sondern mit Ihnen zusammen. Er arbeitet<br />

auch nur unter der eigenen Regie. Sobald er souverän ist, dürfen Sie<br />

ihm nicht mehr die Aufgaben stellen. Doch Sie sollen den ganzen Spaß<br />

finanzieren. Ihr Partner gibt Ihnen dafür die Informationen, die er für<br />

richtig hält, die Sie aber in absehbarer Zeit nicht überprüfen können.<br />

52


<strong>1945</strong><br />

Ist Ihr Partner einmal souverän, kann er darüber entscheiden, ob die<br />

Arbeit fortgesetzt wird oder nicht. Sie dürfen den Partner aber nur bis<br />

zu diesem Zeitpunkt betreuen. Sollte Ihr Partner einmal vor einer Lage<br />

stehen, in der Ihr und sein Interesse voneinander abweichen, so steht<br />

es Ihrem Partner frei, der Linie seines eigenen Interesses zu folgen. Sie<br />

hatten sich aber zuvor verpflichtet, Ihrem Partner die entstehenden<br />

Unkosten zu begleichen. Wenn Sie da mitspielen würden, sind Sie ein<br />

Amerikaner. Sie können diesen Text auch auf den Seiten 149 und 150<br />

in Der Dienst selbst nachlesen.<br />

„1.) Es wird eine deutsche nachrichtendienstliche Organisation unter<br />

Benutzung des vorhandenen Potenzials geschaffen, die nach Osten<br />

aufklärt, bzw. die alte Arbeit im gleichen Sinne fortsetzt.<br />

Die Grundlage ist das gemeinsame Interesse an der Verteidigung<br />

gegen den Kommunismus.<br />

2.) Diese deutsche Organisation arbeitet nicht »für« oder »unter« den<br />

Amerikanern, sondern »mit den Amerikanern zusammen«.<br />

3.) Die Organisation arbeitet unter ausschließlich deutscher Führung,<br />

die ihre Aufgaben von amerikanischer Seite gestellt bekommt, solange<br />

in <strong>Deutschland</strong> noch keine neue deutsche Regierung besteht.<br />

4.) Die Organisation wird von amerikanischer Seite finanziert, wobei<br />

vereinbart wird, dass die Mittel dafür nicht aus den Besatzungskosten<br />

genommen werden. Dafür liefert die Organisation alle Aufklärungsergebnisse<br />

an die Amerikaner.<br />

5.) Sobald wieder eine souveräne deutsche Regierung besteht, obliegt<br />

dieser Regierung die Entscheidung darüber, ob die Arbeit fortgesetzt<br />

wird oder nicht.<br />

Bis dahin liegt die Betreuung dieser Organisation (später »trusteeship«<br />

genannt) bei den Amerikanern.<br />

53


<strong>1945</strong><br />

6.) Sollte die Organisation einmal vor einer Lage stehen, in der das<br />

amerikanische und das deutsche Interesse voneinander abweichen, so<br />

steht es der Organisation frei, der Linie des deutschen Interesses zu<br />

folgen.“<br />

Soll Gehlen seinen Erfolg selbst kommentieren: „Besonders der letzte<br />

Punkt mag verwundern, da hier doch zur Diskussion stehen könnte, ob<br />

der Vertreter der Amerikaner dem Deutschen nicht zuviel zugestanden<br />

habe. Gerade dieser Punkt zeugt jedoch von der Weitsichtigkeit<br />

des Generals Sibert. Er übersah klar, dass die Interessen zwischen den<br />

Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik auf lange Zeit identisch<br />

sein würden.“ Ein Arzt wird einem Patienten mit Weitsichtigkeit eine<br />

Brille empfehlen. An Stellen wie dieser frage ich mich, ob jemand bei<br />

der CIA Gehlens Memoiren gelesen hat, und wenn, ob der Zynismus in<br />

seiner Sprache auffiel. Schon die Stelle Besonders der letzte Punkt macht<br />

klar, dass er wusste, dass er dem Amerikaner 1946 ein unverschämtes<br />

Stück Papier vorgetragen hatte <strong>–</strong> wobei noch nicht einmal bekannt ist,<br />

ob er seine Darlegungen überhaupt zu Ende bringen konnte, da Sibert<br />

sich vorzeitig zurückzog, um seine sieben Sachen für die Heimreise zu<br />

packen. Vielleicht hätte er diese historisch bedeutsame Sitzung ja auch<br />

schon für den 29. August einberufen sollen.<br />

Schön ist Critchfields Auswertung: „Es ist schon bemerkenswert, dass<br />

Gehlen dachte, solche Bedingungen würden von den amerikanischen<br />

Geheimdienstbehörden hingenommen. Letzten Endes gelang es ihm<br />

aber, den größten Teil davon zu verwirklichen.“ Dieser Umstand geht<br />

klar auf das Schuldkonto von Critchfield selbst. Dem gut aussehenden<br />

Amerikaner ist schon aufgefallen, dass „nicht wenige Verantwortliche<br />

in der CIA“ der Auffassung waren, „dass die Entscheidung, die Aufsicht<br />

über die Operation zu übernehmen, die Agentur und die Interessen der<br />

Vereinigten Staaten gefährden“ konnte. Ohne auch nur mit einem weiteren<br />

Wort darauf einzugehen, freute er sich nach der Pensionierung:<br />

„Letztlich aber war dieser Schritt ein absoluter Wendepunkt in meiner<br />

Karriere.“ Das freut einen wirklich sehr; doch dieser fatale Schritt war<br />

zugleich das Grab für die Verwirklichung des großen amerikanischen<br />

54


<strong>1945</strong><br />

Traumes von demokratisch strukturierten Gesellschaften vom Atlantik<br />

bis zur sowjetischen Grenze oder gleich bis zum Pazifik.<br />

Es ist ja auch nicht so, dass Critchfield vielleicht keine Zweifel gehabt<br />

hätte. Obwohl er „neu bei der CIA“ und „kein Veteran der OSS“, also<br />

der Vorläuferorganisation der CIA aus den Jahren des Krieges gegen<br />

<strong>Deutschland</strong> war, war er mit einer ersten Bewertung der Tätigkeit der<br />

deutschen Spezialisten betraut worden, ein Auftrag, den er auf jeden<br />

Fall „ausgesprochen faszinierend“ fand. Bei der ersten Begegnung mit<br />

Gehlen teilte er ihm mit, dass er „die Identität jedes einzelnen Angehörigen<br />

seiner Organisation sowie deren Aufbau kennen lernen und eine<br />

umfassende Beschreibung seiner Operationen vorgelegt haben wollte.<br />

Er [Gehlen] sagte mir, er wollte die Integrität und die Selbstständigkeit<br />

der deutschen Organisation beibehalten. Ich antwortete, dass ich überhaupt<br />

kein Problem darin sah, die Organisation eigenständig arbeiten<br />

zu lassen, solange wir Amerikaner angemessen unterrichtet wurden.<br />

Darüber hinaus wies ich darauf hin, dass seine Zielvorstellungen, so<br />

wie er sie beschrieben hatte, nicht unbedingt im Gegensatz zu denen<br />

der CIA stehen mussten. Aber genau das könnte geschehen, wenn wir<br />

nicht auf dem Laufenden gehalten würden. Bei dieser Aussage entdeckte<br />

ich die erste Anspannung in Gehlens Reaktion. Nach einer auffälligen<br />

Unterbrechung, in der er an seiner Zigarre zog und seine Tasse<br />

austrank, lehnte er sich zurück und erläuterte mir seine grundlegenden<br />

Überlegungen, warum er die Selbstständigkeit und die deutschen<br />

Grundzüge seiner Organisation erhalten wollte.“ Doch darum ging es<br />

gar nicht. Er sollte die Identität aller Angehörigen seiner Organisation<br />

und eine umfassende Beschreibung seiner Operationen vorlegen. Mir<br />

will nicht in den Kopf, wie Critchfield nach Szenen wie dieser auf die<br />

Formulierung kam: „Ich glaube nicht, dass Gehlen die Frage, ob er eine<br />

vertrauensvolle und aufrichtige Beziehung zur CIA aufnehmen sollte<br />

oder nicht, jemals richtig zu Ende gedacht hatte.“<br />

Vielleicht noch ein Wort zum Ergebnis von Critchfields Analyse, die<br />

wirklichkeitsfremd in vier Wochen darüber befinden sollte, ob man<br />

Gehlens Truppe machen lassen sollte oder nicht. Herr Critchfield „war<br />

55


<strong>1945</strong><br />

überzeugt, dass den langfristigen Interessen der Vereinigten Staaten<br />

am besten damit gedient war, auf Gehlens Vorstellung einzugehen,<br />

seiner Organisation die typisch deutsche Prägung und Struktur zu belassen.<br />

In Anbetracht des Wandels in Europa war das sinnvoll. Allerdings<br />

gelangte ich auch zu der Schlussfolgerung, dass die CIA zum<br />

gegenwärtigen Zeitpunkt Gehlens Plänen, seine Organisation in einen<br />

neuen amtlichen Geheimdienst der künftigen deutschen Regierung<br />

umzuwandeln, ihre Zustimmung verweigern sollte.“ Das wäre gewiss<br />

sinnvoll gewesen, doch der amerikanische Aufseher gab seinen Widerstand<br />

gegen die Überführung von Gehlens Truppe in einen amtlichen<br />

Geheimdienst West-<strong>Deutschland</strong>s bald auf.<br />

Genau so traurig ist auch dies. Nach dramatischen Wendungen auf der<br />

Bühne der großen Politik gab es überraschenderweise schon im Jahre<br />

1949 die deutsche Regierung, von der Gehlens Gentlemen’s Agreement<br />

noch nebulös orakelt hatte. Nachdem Gehlen den Amerikanern seinen<br />

Trupp erst als Spähtrupp zum Schutz der USA angedient hatte, musste<br />

er ihnen anschließend beibringen, dass seine Spione unter deutschem<br />

Kommando wirken sollten. Hören Sie Gehlen selbst: „Zunächst verbot<br />

mir zwar, am 21. 12. 1949, Mr. M., wohl auf Weisung von Washington,<br />

weitere Verhandlungen mit deutschen Regierungsstellen zu führen,<br />

die Zukunft der Organisation sei ausschließlich US-Angelegenheit. Es<br />

wurde befürchtet, dass wir die Interessen der späteren Verbündeten<br />

stören könnten. Dieses Verbot stand nicht im Einklang mit unseren<br />

Abmachungen. Es wurde von mir stillschweigend nicht akzeptiert.“<br />

Ich mache nämlich, was ich will. Was wollt Ihr mir denn?<br />

Als Jahrzehnte ins Land gegangen waren, versuchte sich der Journalist<br />

der New York Times und zweifache Pulitzer-Preisträger Tim Weiner an<br />

einer Gesamtdarstellung der nicht besonders glorreichen Geschichte<br />

des Auslandsgeheimdienstes der Vereinigten Staaten. Sie erschien erst<br />

nach der Jahrhundertwende unter dem Titel CIA <strong>–</strong> Die ganze Geschichte.<br />

Das Vorwort zur deutschen Ausgabe macht klar, wie begierig die bis<br />

dahin so siegreichen Amerikaner die „Informationen“ aufsaugten, die<br />

Gehlen ihnen anbot: „Im Sommer <strong>1945</strong> erblühte in den Trümmern von<br />

56


<strong>1945</strong><br />

Berlin eine seltsame Romanze <strong>–</strong> amerikanische und deutsche Geheimdienstler<br />

umwarben einander. Männern wie Captain John R. Boker jr.,<br />

in dessen Familienstammbaum deutsche Vorfahren zu finden waren,<br />

leuchtete das Argument dafür unmittelbar ein. »Damals war der ideale<br />

Augenblick, um Informationen über die Sowjetunion zu gewinnen <strong>–</strong><br />

wenn wir je welche bekommen wollten«, sagte er. Als erster Amerikaner<br />

rekrutierte Captain Boker General Reinhard Gehlen, den Leiter der<br />

Abteilung Fremde Heere Ost in Hitlers Generalstab, der an der Ostfront<br />

gegen die Rote Armee eingesetzt war. Die neue Beziehung beruhte auf<br />

einem Gedanken, der so alt ist wie der Krieg selbst: Der Feind meines<br />

Feindes ist mein Freund.“ Ach so. Die amerikanische Logik bleibt mir<br />

rätselhaft. Warum sollte der Feind meines Feindes mein Freund sein?<br />

Was auf der anderen Seite die Trümmer von Berlin angeht <strong>–</strong> in Gehlens<br />

Memoiren geht es um eine ganze Reihe von Orten im Süden und Südwesten<br />

<strong>Deutschland</strong>s; von Berlin ist darin ganz bestimmt keine Rede.<br />

Wie kam dieser anonyme Autor überhaupt auf die umkämpfte Reichshauptstadt?<br />

Die ersten Amerikaner tauchten dort erst im Juli auf.<br />

Doch bleiben wir in diesem Vorwort: „Gehlen war ganz versessen darauf,<br />

für die Amerikaner zu arbeiten. »Von Anfang an«, sagte er später,<br />

»haben mich folgende Überzeugungen geleitet: Die entscheidende<br />

Kraftprobe zwischen Ost und West ist unvermeidlich. Jeder Deutsche<br />

ist verpflichtet, sein Teil dazu beizutragen, so dass <strong>Deutschland</strong> die<br />

Aufgabe hat, die ihm zufallenden Missionen für die gemeinsame Verteidigung<br />

der christlichen Zivilisation des Westens zu erfüllen.«“<br />

Das klang in den Ohren der Amerikaner offenbar logisch, weil es ihrem<br />

Bild von den Nazis entsprach. Hätte Gehlen das jedoch ernst gemeint,<br />

dann hätte er nicht gemeinsam mit seinen Männern den Endsieg des<br />

Österreichers über die Bolschewisten verhindert. Darüber hatte er die<br />

Freunde in America offensichtlich nicht informiert; doch dazu mehr im<br />

Kapitel Der lange Krieg gegen den Krieg.<br />

Es erschien mir anfangs ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Mann die<br />

Amerikaner allein auf das neue Gleis setzen konnte; und siehe da, das<br />

57


<strong>1945</strong><br />

war nicht nötig. General Reinhard Gehlen hatte einen ganzen Anhang<br />

im Gefolge: „Viele Freunde und Untergebene des Leiters der Abteilung<br />

Fremde Heere Ost (FHO) des Oberkommandos der Wehrmacht, General<br />

Reinhard Gehlen, waren in die Verschwörung [gegen Adolf] verwickelt<br />

gewesen. An ihrer Spitze stand wohl Alexis Freiherr von Roenne, 1940<br />

zur FHO versetzt, ab 1942 Major und Leiter der Gruppe III der FHO und<br />

seit 1944 Oberst und Leiter der Abteilung Fremde Heere West. [...]<br />

Gestapo-Chef Heinrich Müller leitete im persönlichen Auftrag Hitlers<br />

eine Sonderkommission mit 400 Spezialisten zur Untersuchung des<br />

Attentats. Die Spur Roenne führte ihn auch zur FHO.“<br />

Nein, nicht nur der spätere BND-Chef Gehlen spielte mit dieser Welt<br />

Blinde Kuh. Der von den hiesigen Medien erzeugte Eindruck, die frühe<br />

Bundesrepublik sei nichts als ein Refugium für antikommunistische<br />

Alt-Nazis gewesen, wurde nicht nur von einer Justiz geprägt, die aus<br />

ehrlichem Herzen auf dem rechten Auge blind war, sondern er rührte<br />

auch daher, dass eine ganze Reihe bedeutender Persönlichkeiten, wie<br />

die erste Ministerriege Adenauers oder auch Ministerpräsidenten verschiedener<br />

Bundesländer, nicht als Leute aus dem Widerstand geoutet<br />

wurden. Wen hätten denn die einheimischen und die aus dem Osten in<br />

Adenauers Reich geflüchteten Nazis auch wählen sollen, wenn klar<br />

gewesen wäre, dass beide deutsche Staaten von den „Antifas“ regiert<br />

wurden? Und auf der anderen Seite wurden dann später lang und breit<br />

diejenigen Leute ausgewertet, die politisch vorbelastet waren, um es<br />

ganz vorsichtig auszudrücken. Es lässt allerdings auch tiefe Einblicke<br />

in die völlige Unabhängigkeit der westdeutschen Medien zu, wenn die<br />

Verstrickung von Personen in das Staatswesen der Nazis nicht publik<br />

wurde, so diese ihr Wirken später in den Dienst der antifaschistischen<br />

Aufklärung stellten wie zum Beispiel der Nachkriegs-Fabulator Günter<br />

Grass: , , , ; , , . Der hatte bei der SS Vorgesetzte, Kameraden, Freunde,<br />

Feinde <strong>–</strong> und da hat keiner mal einen Leserbrief an die unabhängigen<br />

Medien geschrieben?<br />

Die mehr oder minder korrekten Informationen, die solche Fachleute<br />

wie General Gehlen den friends in America gaben, hatten jedenfalls den<br />

58


<strong>1945</strong><br />

gewollten Effekt <strong>–</strong> den Amerikanern wurde in Gestalt der Sowjetunion<br />

ein neues rotes Tuch vorgehalten, auf das sie sich jetzt konzentrieren<br />

sollten. Man muss demokratisierwütige Amerikaner nur beschäftigen.<br />

Die Amerikaner haben daraus haarscharf abgeleitet, jetzt bestünde die<br />

Notwendigkeit eines Feldzuges gegen den Kommunismus, und unterstützten<br />

dann selbst die rauhbeinigsten Diktaturen überall, so sie nur<br />

antikommunistisch genug waren. Nicht schön. Supermacht.<br />

Der Autor von Weiners Vorwort war amüsiert: „Allen Dulles, einer der<br />

Gründungsväter der Central Intelligence Agency, fand die Anwerbung<br />

von General Gehlen prachtvoll: »Im Spionagegeschäft gibt es selten<br />

Heilige. Er ist auf unserer Seite, und nur das zählt.« Das Interesse der<br />

Amerikaner am Erwerb auch noch der geringfügigsten Informationen,<br />

die Gehlen über die Sowjets besaß, wog schwerer als die Frage, was er<br />

und seine Leute während des Krieges getan hatten.“<br />

Genau wie Markus Wolf gingen sie davon aus, dass sie alles über Herrn<br />

Gehlen wussten, und haben großzügig verziehen, „was er und seine<br />

Leute während des Krieges getan hatten“. Sie wussten aber gar nicht,<br />

was er und seine Leute während des Krieges getan hatten und was sie<br />

ihnen verzeihen sollten; es gab nämlich auch damals schon mehrere<br />

Deutsche, und die haben in dieser Diktatur auch nicht alle das gleiche<br />

getan. Vorurteile sind schädlich.<br />

In einer Zusammenstellung von Interviews mit amerikanischen Zeitzeugen,<br />

erschienen 1991 unter dem Titel Die Rattenlinie <strong>–</strong> Fluchtwege der<br />

Nazis, kann man nachlesen, wie die Amerikaner geleimt worden waren.<br />

Victor Marchetti, der in der Rattenlinie als früherer Chefaufklärer der<br />

CIA über die Sowjetunion bezeichnet wird, erinnerte sich in einem der<br />

Interviews an „Informationen über die chemische und biologische Bewaffnung<br />

der Russen“ und beklagte, dass sie „von einer gefährlichen<br />

Ungenauigkeit“ gewesen seien. Er bemerkte, einige Jahrzehnte zu spät,<br />

die Mitarbeiter von Generalmajor Reinhard Gehlen „stützten sich auf<br />

unzusammenhängende Indizien, die sie durch eigene Interpretationen<br />

miteinander in Verbindung brachten. Auf diese Weise kamen sie zu<br />

59


<strong>1945</strong><br />

dem Schluss, dass die Sowjets weit höhere Kapazitäten auf diesem Gebiet<br />

hätten, als es tatsächlich der Fall war.“ Es wurde den Deutschen ja<br />

auch unerhört leicht gemacht, die Amerikaner über das Ohr zu hauen.<br />

Die Truppe um Hermann Baun arbeitete nach den Erinnerungen des<br />

Oberaufsehers Critchfield „nahezu unbeaufsichtigt“. Dann wird das ja<br />

auch keinen erstaunen: „Der Stab der Operationsabteilung wirkte auf<br />

uns nicht ganz klar strukturiert und hatte offensichtlich weit weniger<br />

Übersicht über seine Arbeit als der Stab der Auswertung.“ Hauptsache<br />

die Amerikaner behielten im deutschen Durcheinander den Überblick.<br />

Critchfield versuchte sich an einer Erklärung für all die fragwürdigen<br />

Ergebnisse: „Er [Reinhard Gehlen] stellte allerdings fest, dass Hermann<br />

Baun eine beträchtliche Unabhängigkeit erlangt hatte, indem er darauf<br />

bestand, dass er und Gehlen zwar getrennte, aber gleichrangige<br />

Organisationen im Rahmen eines größeren nachrichtendienstlichen<br />

Vorhabens leiteten.“ In dem vielleicht die linke Hand nicht so recht<br />

wusste, was die andere Hand machte, oder wie dachte er sich das?<br />

Die guten Seelen wurden ja noch nicht einmal stutzig, als sie Anfang<br />

der fünfziger Jahre bemerkten, dass ihr neuer Freund Reinhard Gehlen<br />

den Stäben der sogenannten Org. „keine besondere Aufmerksamkeit“<br />

widmete und „ein größeres Interesse an dem [entwickelt hat], was in<br />

Bonn geschah, als an den Einzelheiten der Operationen“.<br />

Marchetti war felsenfest davon überzeugt, dass „diese Informationen<br />

sehr schlecht waren“, äußerte jedoch nicht die Vermutung, dass er den<br />

Deutschen auf den Leim gegangen war. Nachdem die Informationen in<br />

die entscheidenden Köpfe eingedrungen waren, war die Führung in<br />

Washington also der Meinung, der Diktator in Moskau verfüge über<br />

Massenvernichtungswaffen. Haben sie wenige Monate später auch aus<br />

diesem Grund zwei Atombomben auf Japan abgeworfen? Wollten sie so<br />

verhindern, dass Stalin vielleicht auf die Idee kommt, biologische oder<br />

eventuell auch chemische Massenvernichtungswaffen gegen Städte in<br />

Westeuropa einzusetzen? Sie wissen ja: beim Russen weiß man nie. Es<br />

gibt da übrigens eine Parallele zum zweiten Irak-Krieg. Auch da waren<br />

es BND-Infos, die den USA Massenvernichtungswaffen vorgaukelten,<br />

60


<strong>1945</strong><br />

nachzulesen 2004 bei Erich Schmidt-Eenboom und 2006 im Spiegel. 2007<br />

stand es dann auch in Legacy of Ashes in Amerika.<br />

Sie dürfen aber nicht annehmen, dass bei dem Amerikaner auch nur<br />

ein böses Wort über die Deutschen steht. Ganz im Gegenteil. Nach dem<br />

Krieg waren die Kriegsgefangenenlager von den Sowjets unterwandert<br />

worden und die falschen Infos, die den Irakkrieg auslösten, kamen von<br />

treuen Partnerdiensten: „Die Geschichte, die größte Aufmerksamkeit<br />

erregte, war die über die mobilen Laboratorien für biologische Waffen.<br />

Der Informant war ein Iraker, der sich in die Obhut des deutschen<br />

Nachrichtendienstes begeben hatte. Sein Deckname war »Curveball«.“<br />

Als die friends ihn einmal sehen wollten, war das leider nicht möglich.<br />

Schönen Dank für solche Partner. Man muss Freund und Feind schon<br />

unterscheiden können. Unter dem Jahr 1951 werde ich von einem Kim<br />

berichten, von dem die Org. Tag und Nacht Berichte bekam. Die waren<br />

für die Amerikaner gedacht, aber dieser Kim wollte sie Gehlen geben,<br />

damit der sie an die Amerikaner weitergab. Das haben die Amerikaner<br />

Gehlen im wahrsten Sinne des Wortes abgekauft. Als sie bemerkten,<br />

dass diese Informationen nicht zutrafen, sollte eine Untersuchung des<br />

Falles stattfinden, da stellte der zuständige Kollege beim BND fest, dass<br />

Kim an einer unbehandelten Lungenerkrankung verstorben war. Es ist<br />

davon auszugehen, dass die Amerikaner ein Beileidsschreiben an den<br />

Partnerdienst hinter dem Atlantik geschickt haben. Diesen Kim gab es<br />

ganz bestimmt nicht, aber seine (oder auch nicht seine) Informationen<br />

schürten die Angst der Amerikaner vor den Sowjets.<br />

Die besondere Bedeutung der militärtechnischen Informationen von<br />

General Gehlen dürfte in ihrer Exklusivität gelegen haben. Marchetti<br />

bestätigt, dass die Amerikaner in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre<br />

noch „nichts Nennenswertes hinter dem Eisernen Vorhang“ hatten.<br />

Das wird inhaltlich sowohl von dem CIA-Beamten James H. Critchfield<br />

als auch von dem Journalisten Tim Weiner bestätigt.<br />

Und danach haben sich die Russen abgeschottet und niemanden mehr<br />

sehen lassen, was sie wirklich vorrätig hatten. Das war so verständlich,<br />

61


<strong>1945</strong><br />

wie es bedauerlich war. Es wäre interessant zu erfahren, ob Washington<br />

<strong>1945</strong> zumindest in Moskau nachgefragt hat, ob man sich vor Ort<br />

ein Bild von den Stätten machen dürfe, die ihnen Gehlens Spitzenleute<br />

beschrieben hatten, und ob das in Moskau vielleicht abgelehnt wurde.<br />

Auf jeden Fall bekam Gehlen nach den Worten von Murat Williams, der<br />

als US-Botschafter in Ungarn in den fünfziger Jahren vorgestellt wird,<br />

Gelegenheit, das amerikanische Bild von den militärischen Möglichkeiten<br />

der Sowjetunion zu beeinflussen. In diesem Interview heißt es:<br />

„Unsere Gefühle gegenüber dem Kalten Krieg wurden intensiviert. Das<br />

hätte man vermeiden müssen. Dieser Kalte Krieg wäre nicht notwendig<br />

gewesen.“<br />

Dieser Kalte Krieg war überflüssig wie ein Kropf, und er widersprach<br />

den Interessen der USA sowohl wirtschaftlich als auch in dem Wunsch<br />

nach demokratisch strukturierten Gesellschaften weltweit und nicht<br />

nur in Bayern. Harry Rositzke, der als Geburtshelfer der militärischen<br />

Aufklärung gegen die Sowjetunion bezeichnet wird, sagte leider erst<br />

nach dem Ende des furchtbar kalten Krieges: „Heute, nach vierzig Jahren,<br />

wo das sowjetische Reich zum Teil auseinanderbricht, hat diese<br />

unsere Politik des »Containments« zur Folge, dass die zwei stärksten<br />

Wirtschaftsmächte in der Welt, die japanische und die westdeutsche,<br />

in direkter Konkurrenz zur amerikanischen Wirtschaft stehen. Heute,<br />

wo allmählich jeder akzeptiert, dass ökonomischer Wohlstand der<br />

wichtigste Maßstab des politischen Erfolgs ist!“<br />

Ein Schnellmerker. Da war die Rechnung Reinhard Gehlens aber schon<br />

sehr lange aufgegangen gewesen. „In der Einstellung unserer amerikanischen<br />

Freunde zum weiteren Schicksal der »Organisation Gehlen«<br />

hatte sich ab Ende 1950 ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Sie<br />

hatten <strong>–</strong> vor allem Mr. M., aber auch die beiden Chefs der CIA, zuerst<br />

General Walter Bedell Smith, dann Allan Dulles (ab Januar 1953) <strong>–</strong><br />

erkannt, dass sich meine Konzeption von <strong>1945</strong> realisieren würde, zu<br />

der sich als erster General Sibert im »Gentlemen’s Agreement« bekannt<br />

hatte.<br />

62


<strong>1945</strong><br />

Sie zogen daraus den Schluss, die Überführung der Organisation in die<br />

Hände der Bundesregierung mit allen Kräften zu unterstützen. Amerikanische<br />

Beauftragte führten deshalb im Laufe der Jahre mehrere Gespräche<br />

mit dem Bundeskanzleramt über technische Fragen der Überführung<br />

und bewogen auf den verschiedensten Wegen auch die anderen<br />

Alliierten dazu, die gleiche zustimmende Haltung einzunehmen.<br />

Sie taten dies in der selbstverständlichen Erwartung, dass die enge Zusammenarbeit<br />

des Dienstes mit ihnen und den anderen Alliierten auch<br />

in Zukunft bestehen bleiben würde. Die CIA war darüber hinaus davon<br />

überzeugt, dass sich diese positive Haltung später in der zukünftigen<br />

politischen Partnerschaft der Bundesrepublik mit den Westalliierten<br />

bezahlt machen würde. Diese Rechnung ging selbstverständlich auf;<br />

die vertrauensvolle kameradschaftliche Partnerschaft trug für alle<br />

Teile reiche Frucht.“ Für den Westen <strong>Deutschland</strong>s auf jeden Fall. Der<br />

Rest der Welt hat seine Steuergelder in die Aufrüstung gesteckt.<br />

Von Günter Gaus hatten Sie etwas über den Ursprung der sowjetischen<br />

Gefahr erfahren. Als langjähriger Redakteur des Spiegel wusste er allerdings<br />

auch, dass Medien wie Der Spiegel zur Unausrottbarkeit des von<br />

ihm kritisierten Blödsinns „von der kommunistischen Welteroberung“<br />

über Jahrzehnte beitrugen. Gaus benannte auch den offensichtlichen<br />

Widerspruch, der sich vermutlich unbemerkt in den Köpfen einnistete:<br />

„einerseits kommt morgen der Russe, aber andererseits werden wir<br />

demnächst siegreich durchs Brandenburger Tor marschieren und den<br />

Annaberg in Schlesien zurückerobern“. Ganz selbstverständlich hatten<br />

die Polen und die Russen vor den Deutschen Angst. Und alle anderen<br />

Nachbarn auch. Aber die intellektuelle Elite, die den Widerspruch säte,<br />

dürfte sich des Widerspruchs doch wohl bewusst gewesen sein.<br />

Zur Unausrottbarkeit dieser Verschwörungstheorie trugen logischerweise<br />

auch unabhängige Wissenschaftler der bunten Republik bei. Wer<br />

unabhängige westdeutsche Geschichtsschreibung vom Feinsten haben<br />

will, muss unbedingt Prof. Dr. Heinrich A. Winkler zur Hand nehmen.<br />

In Der lange Weg nach Westen heißt es bei dem Meister über den Beginn<br />

dieses Kalten Krieges: „Amerika übernahm mit dem Marshallplan jene<br />

63


<strong>1945</strong><br />

Führungsrolle in Europa, vor der es nach dem Ersten Weltkrieg noch<br />

zurückgeschreckt war. Die Folgen der damaligen Zugeständnisse an<br />

den politischen Isolationismus waren den verantwortlichen Akteuren<br />

der USA sehr wohl bewusst. Eine Spätfolge dieser Zurückhaltung war,<br />

dass Hitler bei seiner Expansionspolitik lange Zeit auf keinen wirksamen<br />

Widerstand gestoßen war.“<br />

Welchen Satz schloss Prof. Dr. Winkler an diesen nachvollziehbaren<br />

Gedanken über Hitlers Expansionspolitik an? Ohne neu Luft zu holen,<br />

setzte er an dieser Stelle fort: „Einer weiteren Ausdehnung der sowjetischen<br />

Hemisphäre wollte Amerika nicht tatenlos zusehen. Die Politik<br />

der »Eindämmung« war der Versuch, aus der Geschichte zu lernen <strong>–</strong><br />

ein gelungener Versuch, wie man rückblickend feststellen muss.“<br />

Hier benutzt Winkler die antizipierte Überzeugung seines Publikums,<br />

dass Hitlers Expansionismus völlig zu Recht ein Riegel vorgeschoben<br />

wurde, und überträgt dieses Gefühl kurzerhand auf die Sowjetunion.<br />

Damit sein Trick funktioniert, lässt er einfach das Argument weg, dass<br />

die sowjetischen Truppen in den osteuropäischen Ländern (scheinbar)<br />

die einzigen Garanten für die östlichen deutschen Nachkriegsgrenzen<br />

waren. Noch stärkeren Tobak findet man in dieser Frage bei Helmut<br />

Schmidt in den achtziger Jahren. Ihm schien es noch nach dem Amtsantritt<br />

Gorbatschows „unklug, unsere eigene Politik auf ein tatsächliches<br />

Ende des russisch-sowjetischen Expansionismus zu gründen“.<br />

Schräge Argumentationen von dieser Klangqualität bestärkten mich,<br />

mir selbst ein Bild von den Vorgängen in unserem Land zu machen.<br />

Wenn dieser Professor Doktor Winkler rückblickend feststellen muss, dass<br />

der amerikanische Versuch gelang, klingt das übrigens auch nicht so,<br />

als hätte jemand darauf gehofft.<br />

Er gelang aber erst <strong>1990</strong>. Rückblickend muss man auch feststellen, wie<br />

rabiat Bonn offensichtlich fünfundvierzig Jahre lang die Amerikaner<br />

an der Nase herumgeführt hat. Aber schon im Vorwort zur deutschen<br />

Ausgabe des über achthundertseitigen Bandes CIA <strong>–</strong> Die ganze Geschichte<br />

64


<strong>1945</strong><br />

vermerkte ja der anonyme Autor, Staaten hätten keine Freunde, nur<br />

Interessen. Das war trefflich angemerkt. In Tim Weiners Buch fand ich<br />

die traurige Bestätigung dafür, dass es den Deutschen leicht gemacht<br />

wurde, die Amerikaner über den Tisch zu ziehen. Nach Weiners Buch<br />

darf ich mir sicher sein, dass es in Amerika vor dem Zweiten Weltkrieg<br />

ernstlich so wenig Interesse an Europa gab, dass die USA noch keinen<br />

Geheimdienst für das Ausland hatten. Das dürften die Herren Canaris<br />

und Gehlen gewusst haben, und darauf werden sie ihre Hoffnungen<br />

gesetzt haben. Es ist kein Witz, in Tim Weiners Buch steht, dass sie ihr<br />

Erfahrungsdefizit in diesem Bereich wettzumachen trachteten, indem<br />

sie sich Entwicklungshilfe im befreundeten England und eben allen<br />

Ernstes in der Hoffnung auf Hilfe gegen eine befürchtete Gefährdung<br />

durch die Sowjetunion bei dem Kriegsgegner <strong>Deutschland</strong> suchten. Als<br />

Ost-Deutscher kann ich darüber leider nicht lachen. Ohne den Dummen<br />

Krieg der Amerikaner gegen die Sowjets hätten wir heute nicht diesen<br />

Zirkus mit den West-Deutschen, die sich jetzt als meine Retter aus der<br />

Not aufspielen. Der Chef von Reinhard Gehlens Spionageabwehr, Heinz<br />

Felfe, hat dann bis zum Beginn der sechziger Jahre „die wesentlichen<br />

Einzelheiten aller wichtigen CIA-Aktionen gegen Moskau verraten.<br />

Dazu gehörten annähernd siebzig größere Geheimoperationen, die<br />

Identität von mehr als hundert CIA-Agenten und ungefähr fünfzehntausend<br />

Geheiminformationen. [...] Die CIA war in <strong>Deutschland</strong> und in<br />

ganz Osteuropa so gut wie aus dem Geschäft, und es brauchte ein Jahrzehnt,<br />

um diesen Schaden wettzumachen.“ So weit der anonyme Autor<br />

des Vorwortes. Damit wir uns hier nicht falsch verstehen <strong>–</strong> der Autor<br />

hält an der Version fest, dass der Westen einschließlich des BND von<br />

Felfes bösem Tun bitter enttäuscht war und „am 6. November 1961<br />

wurde Heinz Felfe, der Chef der Spionageabwehr beim BND, von seiner<br />

eigenen Sicherheitspolizei verhaftet“.<br />

Was blieb dem BND auch anderes übrig, als den Mann zu opfern, als er<br />

unhaltbar geworden war? Von Markus Wolf ist zu erfahren, dass Felfe<br />

schließlich im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um eine<br />

Bundespräsidentenwahl ausgerechnet auf herzlichen Wunsch Unseres<br />

Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, 1969 „im Austausch gegen<br />

65


<strong>1945</strong><br />

einundzwanzig in der DDR inhaftierte Personen“ wieder die Sonne zu<br />

sehen bekam. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe ist auch zu finden,<br />

dass das Wettrüsten zwischen den beiden „Supermächten“ nicht nur<br />

kurz nach dem Weltkrieg sondern noch in den späten fünfziger Jahren<br />

durch falsche Informationen vom BND angeheizt wurde. Da es sich<br />

<strong>1945</strong> um eine absichtliche Irreführung der Amerikaner handelte, habe<br />

ich keinen Grund, die späteren Fehlinformationen so zu deuten wie<br />

der Autor des deutschen Vorworts zu Tim Weiners Buch über die CIA:<br />

„Der BND schluckte sowjetische Fehlinformationen <strong>–</strong> darunter in den<br />

späten fünfziger Jahren die Behauptung, Moskau besitze Tausende von<br />

Kernwaffen, die es nachweislich nicht hatte.“ Hier bewährte sich die<br />

von Gehlen in Der Dienst gegen manche Missverständnisse verteidigte<br />

Zusammenarbeit mit den unabhängigen Medien. Es führte zu „einer<br />

öffentlichen Anhörung im amerikanischen Senat“, dass Der Spiegel „ein<br />

halbes Jahr früher als der NATO-Oberbefehlshaber gewusst hatte, dass<br />

die Sowjets über eine Atom-Artillerie verfügten“. Schrecken war auch<br />

zu verbreiten, indem der Spiegel 1953 ein halbes Jahr „Uran-Schieber“<br />

jagte, „die ihr kostbares Metall im Osten verhökern wollten“, als hätte<br />

man dafür in Amerika keinen besseren Preis bekommen. Gut, dass die<br />

Schieber nicht gleich ein paar eigene Atombomben nur für den Hausgebrauch<br />

bauen wollten. Aber wir waren bei einem anderen Gauner.<br />

Bei Weiner fehlt mir in den drei Textpassagen, in denen es um Heinz<br />

Felfe geht, die Überlegung, dass Gehlens Abwehrchef im Auftrag seines<br />

Bosses die CIA geleimt haben könnte. Es klingt nicht gut, wenn man in<br />

den beruflichen Erinnerungen des ehemaligen BND-Kollegen Oskar<br />

Reile schon <strong>1990</strong>, und somit anderthalb Jahrzehnte vor Weiners Buch,<br />

zu lesen bekommt: „Bereits vor diesem Fall <strong>–</strong> im Winter 1952/53 <strong>–</strong><br />

hatte ich General Gehlen zwei Verdachtsmeldungen gegen den in<br />

einer Außenstelle der »Org« [der Organisation Gehlen] tätigen Heinz<br />

Felfe, einen ehemaligen SS-Obersturmführer, vorgelegt, in denen ich<br />

darauf hinwies, dass die Meldungen auf Feststellungen beruhten, die<br />

vom Verfassungsschutz in Düsseldorf getroffen waren.<br />

Mit diesen Meldungen befasste sich anschließend auftragsgemäß die<br />

Sicherheitsabteilung der »Org«. Zu meinem und anderer Mitarbeiter<br />

66


<strong>1945</strong><br />

Erstaunen wurde Felfe trotz der vorliegenden Verdachtsmeldungen in<br />

die Zentrale der »Org« geholt und ausgerechnet der Abteilung Gegenspionage<br />

zugeteilt. Felfe gewann sehr bald das Vertrauen Gehlens,<br />

während mein Stern beim hohen Chef zu sinken begann. [...]<br />

In den Jahren bis zu meinem Ausscheiden aus dem Bundesnachrichtendienst<br />

im Dezember 1961 erlebte ich noch so manches Mal, dass<br />

General Gehlen bei Entscheidungen eine unglückliche Hand hatte.<br />

Unter anderem schlug er mir und Mitarbeitern von mir bedeutende<br />

geheimdienstliche Unternehmen, die wir angebahnt hatten, aus der<br />

Hand und übertrug sie anderen.“ Es klingt ebenfalls nicht gut, wenn<br />

Marion Gräfin Dönhoff mit ihrem einzigartigen Charme dem geliebten<br />

Publikum im Juli des Jahres 1963 erläuterte: „Erst wenn man weiß, wie<br />

lange es dauert, einen verdächtigen Spion in den eigenen Reihen zu<br />

überführen, bekommt man eine Ahnung von den Schwierigkeiten.“<br />

Huch! Ja, ist es denn die Möglichkeit?<br />

In seinen Memoiren klagte der geheimnisvolle Mr. Gehlen: „Es müsste<br />

den Rahmen meines Rückblicks sprengen, wenn ich an dieser Stelle<br />

auf die zahlreichen falschen Behauptungen, Übertreibungen und Vereinfachungen<br />

eingehen würde. Ich will mich deshalb auf einige wenige<br />

Feststellungen beschränken, die nach meiner Ansicht dennoch geeignet<br />

sind, diesen schwerwiegenden Verratsfall in einem anderen Lichte<br />

erscheinen zu lassen.“ Um es vorwegzunehmen: das gelang ihm nicht.<br />

Dafür ist seine Sprache zu unsachlich. Überhaupt habe ich mich nach<br />

meinem Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus gewundert, wie<br />

ähnlich Propaganda in allen Teilen der Heimat eines Joseph Goebbels<br />

klang. Sie können das in Der Dienst auf den Seiten 286 bis 289 ja selbst<br />

nachlesen. Am Ende der Darstellung kündigt Gehlen sogar besondere<br />

seherische Qualitäten an: „Es ist damit zu rechnen, dass in Kürze unter<br />

Felfes Namen Memoiren erscheinen werden, für die das sowjetische<br />

KGB Material freigegeben hat.“ Das war ein wenig verfrüht. Im Dienst<br />

des Gegners erschien erst 1986. „In Kenntnis aller Zusammenhänge und<br />

Hintergründe habe ich indes Anlass zu der Ansicht, dass Felfe nicht so<br />

erfolgreich gearbeitet hat, wie seine Auftraggeber erwartet haben und<br />

wie es nach seinem geplanten Buch den Anschein haben wird.“ Wie<br />

67


<strong>1945</strong><br />

man das eben so betrachtet. Aber vielleicht waren „annähernd siebzig<br />

größere Geheimoperationen, die Identität von mehr als hundert CIA-<br />

Agenten und ungefähr fünfzehntausend Geheiminformationen“ seiner<br />

Auffassung nach auch noch keine Katastrophe.<br />

Im Unterschied zu Reinhard Gehlen befand das Gericht: „Seine Schuld<br />

wiegt schon angesichts des außerordentlich großen Umfangs seiner<br />

langjährigen Verratstätigkeit und der hohen Bedeutung des von ihm<br />

gelieferten Materials überschwer. Auch seine persönliche Gefährlichkeit<br />

war groß, vor allem wegen seiner dienstlichen Stellung, seiner<br />

hohen Intelligenz und seiner Gewissenlosigkeit.“<br />

Clever gingen Gericht und Medien mit der „Aufarbeitung“ dieses Falles<br />

um. Dort wurde das Augenmerk des Publikums pädagogisch wertvoll<br />

auf das eigentliche Thema der Zeit nach einem Kanzler Hitler gelenkt.<br />

„Im Juli 1963 fanden dann die Massenmedien rasch ihre Sensation: Im<br />

Prozess gegen Felfe und seine Komplicen, der leider in öffentlicher<br />

Verhandlung anlief, galt das Hauptinteresse nicht mehr dem Verräter<br />

und seinem Tun, sondern der angeblich »verfehlten Personalpolitik«<br />

des Dienstes. Felfes Vergangenheit, er war während des Krieges als<br />

Kriminalbeamter in den SD übernommen worden, was er verschwiegen<br />

hatte, stand im Mittelpunkt zahlreicher Presseartikel, in denen<br />

der Dienst mit einem ebenso subjektiven wie oberflächlichen Analogieschluss<br />

als »Sammelstelle für alte Nazis« bezeichnet wurde.“ Damit<br />

leisteten die Medien ihren Beitrag zur Verschleierung der Umstände<br />

und zugleich zur antifaschistischen Umerziehung der Westdeutschen.<br />

Der leider in öffentlicher Verhandlung anlief. Reinhard Gehlen war ein<br />

Meister seines Fachs. Soll Tim Weiner berichten, wie der Fall Felfe in<br />

den USA gesehen wurde, wo sowohl Gehlen als auch Felfe unter der<br />

Rubrik alte Nazis liefen : „Da es der US-Armee nicht gelang, die Organisation<br />

Gehlen unter ihre Kontrolle zu bringen, obgleich sie deren<br />

Operationen freigiebig finanzierte, versuchte sie wiederholt, sie in die<br />

CIA abzudrängen. Viele von Richard Helms’ Mitarbeitern waren strikt<br />

dagegen. Einer gab zu Protokoll, es schüttele ihn beim Gedanken, mit<br />

68


<strong>1945</strong><br />

einem Netz von »SS-Leuten mit bekannter Nazi-Vergangenheit« zusammenzuarbeiten.<br />

Ein anderer meinte warnend: »Der amerikanische<br />

Nachrichtendienst ist ein reicher Blinder, der die Abwehr als Blindenhund<br />

benutzt. Das einzige Problem: die Leine ist viel zu lang.« Helms<br />

selbst äußerte die nur allzu berechtigte Befürchtung: »Ohne Zweifel<br />

wissen die Russen, dass wir diese Operation durchführen.«<br />

»Wir wollten da nicht ran«, sagte Peter Sichel, damals in der CIA-Zentrale<br />

verantwortlich für die deutschen Operationen. »Das hatte gar<br />

nichts mit Moral oder Ethik zu tun, sondern in erster Linie etwas mit<br />

Sicherheit.«<br />

Doch im Juli 1949 übernahm die CIA, unter dem hartnäckigen Druck<br />

der Armee, die Organisation Gehlen. Gehlen residierte in einem außerhalb<br />

Münchens gelegenen ehemaligen Nazi-Hauptquartier und nahm<br />

Dutzende prominenter Kriegsverbrecher mit offenen Armen in seinen<br />

Kreis auf. Ganz wie Helms und Sichel befürchtet hatte, war die Organisation<br />

Gehlen auf höchster Ebene von den Nachrichtendiensten Ostdeutschlands<br />

und der Sowjetunion unterwandert.<br />

Der schlimmste Maulwurf kam erst ans Tageslicht, als sich die Organisation<br />

Gehlen schon längst in den westdeutschen Bundesnachrichtendienst<br />

verwandelt hatte. Gehlens langjähriger Chef der Spionageabwehr<br />

hatte die ganze Zeit für Moskau gearbeitet.“ Das war Herr Felfe.<br />

Wen es interessiert, wie Heinz Felfes Verhältnis zu den Kameraden der<br />

braunen Fraktion beschaffen war, kann auch gleich Reinhard Gehlens<br />

Autobiographie lesen. Felfe mochte die blinden Fanatiker auch keinen<br />

Deut mehr als sein Herr und Meister. Das dürfte Felfe in dem Jahrzehnt<br />

mit Gehlen aufgefallen sein. Nichtsdestotrotz rückt er ihn in seinem<br />

Werk in die braune Schmuddelecke und bestätigt so das braune Image<br />

des Strategen in Pullach. Daneben räumt Heinz Felfe schon ein, dass im<br />

BND nicht nur üble Gesellen beschäftigt waren: „Unter den alten, langjährigen<br />

Mitarbeitern des RSHA [Reichssicherheitshauptamt], die sich<br />

einen Platz in der Organisation suchten, waren subjektiv ehrliche,<br />

anständige Menschen, sogenannte Idealisten, die nicht die Naziideologie<br />

vertreten, sondern mit gutem Gewissen ihre dienstlichen Pflichten<br />

erfüllt und sich in jeder Hinsicht korrekt verhalten hatten.“<br />

69


<strong>1945</strong><br />

Felfe brachte die Widersprüche auf den Punkt: „Wie war es eigentlich<br />

gekommen, dass unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation,<br />

nach dem Untergang des Dritten Reichs und der Auflösung der Wehrmacht,<br />

Rudimente dieses Kriegsapparates weiterexistieren und mit<br />

amerikanischer Hilfe ihre Arbeit fortsetzen konnten, als wäre nichts<br />

geschehen? Wie war es möglich, dass die Amerikaner dem endlich niedergerungenen<br />

Feind erlaubten, gegen den bisherigen Verbündeten<br />

dieselbe Arbeit fortzusetzen, die in der 12. Abteilung des Generalstabs<br />

des Heeres, der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO), bis zum Kriegsende<br />

betrieben worden war? Und was waren das für Leute, die ihr Leben<br />

als Generalstabsoffiziere fortsetzen durften, die keine Umerziehung<br />

durchzumachen brauchten, wie es wenigstens die Briten mit den<br />

Kriegsgefangenen in Wilton Park gemacht hatten, die nach ihrer Auffassung<br />

geeignet sein konnten, am Aufbau eines neuen deutschen<br />

Staatswesens mitzuarbeiten?“ Er hatte Fragen über Fragen, bei denen<br />

Felfe seine Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte. Fragen, auf die<br />

der Amerikaner Tim Weiner auch zwei Jahrzehnte nach dem Ende des<br />

Kalten Krieges noch immer keine Antworten fand. Er suchte aber auch<br />

in Korea, in China, in der Sowjetunion und zu Hause in Amerika nach<br />

guten Antworten. Bei den Deutschen geht er jedoch in CIA <strong>–</strong> Die ganze<br />

Geschichte nicht ins Detail. In <strong>Deutschland</strong> war alles klar. Wo die Infos<br />

hergekommen waren, war jedoch der neuralgische Punkt nach diesem<br />

Krieg. Dort hätten seine Analysen beginnen und enden müssen.<br />

Selbst der Umstand, dass lange vor Felfes bösem Tun Tausende Blitz-,<br />

Schock- und Eilmeldungen in den Monaten direkt nach dem Weltkrieg<br />

namentlich aus Berlin, Wien und aus den Kriegsgefangenenlagern in<br />

<strong>Deutschland</strong> kamen, weckte bei Weiner nicht den Verdacht, es könnte<br />

sich eventuell um eine Verschwörung unter diesen Agenten gehandelt<br />

haben. Stattdessen vermutet er hinter dieser Flut an falschen Infos die<br />

Gier nach Produkten wie Zigaretten. Sehr verständnisvoll. Nach den<br />

Worten von Weiner traf die Informationsschwemme auf Amerikaner,<br />

die nicht in der Lage waren, Dichtung von Wahrheit zu unterscheiden.<br />

Schade auch.<br />

70


<strong>1945</strong><br />

Putzig ist natürlich auch die Passage, in der Felfe vermerkt, er habe<br />

Anfang der fünfziger Jahre Herbert Wehner zum ersten Mal getroffen,<br />

der „Vorsitzender irgendeines Bundestagsausschusses“ gewesen sei. Es<br />

muss erstaunen, dass ihm entfallen war, dass Wehner damals der Vorsitzende<br />

des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche und Berliner<br />

Fragen war, denn er selbst war zu dieser Zeit im Bundesministerium<br />

für gesamtdeutsche Fragen beschäftigt <strong>–</strong> ein guter Grund, um Herbert<br />

Wehner hin und wieder zum ersten Mal zu begegnen. Was sich durch<br />

logisches Kombinieren zum Verdacht verdichtete, ist beim Lesen der<br />

Autobiographie Heinz Felfes zur Gewissheit geworden. Natürlich hat<br />

Felfe für Gehlen böse Planungen der Amerikaner den Sowjets verraten.<br />

Wissenswert ist ebenfalls, dass ihn im Vorfeld seiner Aktivitäten in der<br />

Organisation Gehlen der britische Geheimdienst MI 6 fallen gelassen<br />

hatte, weil man bei ihm schon im Jahr 1946 eine Doppelagententätigkeit<br />

vermutet hatte, wie Wikipedia zu berichten weiß. Er selbst konnte<br />

sich daran jedoch nur noch schwach erinnern: „Vorher hatte ich mich<br />

übrigens bei der Polizei beworben, nachdem ich durch mein Studium<br />

in Bonn die Voraussetzungen dafür geschaffen hatte. Die Engländer<br />

verhinderten jedoch meine Einstellung. Ihre Gründe dafür sind mir bis<br />

heute unbekannt.“ Genauso unbekannt wie der MI 6. Vielleicht noch<br />

ein Wort zu Wikipedia. Dort wurde Heinz Felfes Buchtitel Im Dienst des<br />

Gegners <strong>–</strong> Autobiographie kreativ umgewandelt in Im Dienst des Gegners <strong>–</strong><br />

10 Jahre Moskaus Mann im BND. Falsche Zitate sind kein Ost-Phänomen.<br />

Bleibt nur noch anzumerken, dass Heinz Felfe von einer sowjetfreundlichen<br />

Uncle-Joe-Stimmung in America nichts wusste, die andere Zeitzeugen<br />

wie Siegfried Zoglmann allerdings nach <strong>1990</strong> bestätigten. Dafür<br />

untermauerte Heinz Felfe mit Insider-Wissen eine Weltverschwörung<br />

gegen <strong>Deutschland</strong>. Ihm war in den Jahren des Weltkrieges zu Ohren<br />

gekommen, dass Briten und Amerikaner <strong>Deutschland</strong> teilen und gegen<br />

den russischen Bären in Marsch setzen wollten. Andererseits stellte er<br />

auf Seite 149 fest, dieser Kalte Krieg habe erst „Mitte 1947“ eingesetzt.<br />

Das war dann aber nicht vor sondern nach dem Zusammentreffen der<br />

Amerikaner mit Gehlen. Übrigens berichtete auch der amerikanische<br />

Aufseher Critchfield von den Auswirkungen dieser Stimmung. James<br />

71


<strong>1945</strong><br />

Forrestal, damals Marineminister der Vereinigten Staaten, war auf die<br />

Idee gekommen, in einem Crash-Kurs denjenigen grundlegende Kenntnisse<br />

über Europa zu vermitteln, die man dort einzusetzen gedachte.<br />

„Mehrere Professoren hielten Vorlesungen über russische Geschichte.<br />

Sechs Monate nach unserem Sieg in Europa galt Russland ja im Großen<br />

und Ganzen noch immer als großer Verbündeter unseres Landes, und<br />

zumindest ein Professor für Volkswirtschaft hob den Vorzug und die<br />

Erfolgsgeschichte der industriellen Entwicklung Russlands unter Jossif<br />

Stalin in den Himmel.“<br />

Je mehr Darstellungen ich zur Nachkriegsgeschichte lese, um so besser<br />

fügen sich die Puzzleteile zusammen und ergeben ein Bild. Anders als<br />

bei einem Puzzlespiel gibt es im richtigen Leben aber deutlich mehr<br />

Einzelteile als für das Bild nötig sind, so dass es darauf ankommt, die<br />

brauchbaren von den unbrauchbaren Teilen zu trennen, um langsam<br />

ein realistisches und lebenstaugliches Bild vor seinem geistigen Auge<br />

zu entwickeln. Es war ganz gewiss eine gute Idee Im Dienst des Gegners<br />

von Heinz Felfe erst zu lesen, nachdem ich das Feld rundum abgegrast<br />

hatte. Dieses Meisterwerk der deutschen Literatur steht in der großen<br />

Tradition von Wissenschaftlern wie Wilhelm und Jacob Grimm, wenn<br />

es sich bei den Bildern auch auf schwarz-weiße Fotos beschränkt. Der<br />

Künstler zeigt sich befähigt mit der Muttersprache umzugehen wie ein<br />

Chamäleon mit seinen Farben. Angepasst an den Inhalt changiert er in<br />

einem beeindruckenden Spektrum zwischen der nüchternen Sprache<br />

des Agenten im Krieg, der keinen Zweifel lässt an seinen fachlichen<br />

Qualitäten und seiner Eignung, und einer Sprache, die bis hin zu den<br />

Feinheiten der Wortwahl jeden Journalisten des Neuen <strong>Deutschland</strong> aus<br />

Ost-Berlin in den Schatten stellt. In dieser Art schreibt kein Eiferer für<br />

eine Ideologie. So schreibt ein Profi, der weiß, wie Leute funktionieren.<br />

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge stelle ich fest, dass<br />

der Ost-Berliner 001 Markus Wolf nach der richtigen Methode vorging;<br />

er setzte die Puzzleteile zusammen; und er hatte Recht, als er meinte,<br />

dass die gegnerische Seite auch nur mit Wasser kochte. Bleibt nur zu<br />

ergänzen, dass ein Gericht, das ein Hobbykoch wie Wolf mit Wasser<br />

72


<strong>1945</strong><br />

bereitet, häufig nicht annähernd die Qualität hat wie ein Gericht, das<br />

ein Fünf-Sterne-Koch wie Gehlen mit dem gleichen Wasser kreiert.<br />

Jossif Wissarjonowitsch Stalin dürfte es nach dem Interventionskrieg<br />

vieler Staaten gegen das kommunistische Land Anfang der zwanziger<br />

Jahre und dem deutschen Überfall im Sommer 1941 vorrangig um die<br />

Sicherheit seines Vielvölkerstaates sowie um Reparationsleistungen<br />

für die Kriegsschäden als Wiederaufbauhilfe gegangen sein. Darüber<br />

hinaus wünschte er einen Friedensvertrag mit dem besiegten Land bei<br />

Anerkennung der polnisch-deutschen Grenze an der Oder und der<br />

Görlitzer Neiße. Weitere Ziele, wie eine Ausdehnung der sowjetischen<br />

Innenpolitik auf <strong>Deutschland</strong> oder einen Teil davon, durften den übergeordneten<br />

Zielen zumindest nicht im Wege stehen. Wenn ich westdeutsche<br />

Propaganda lese, die von einer geplanten Bolschewisierung<br />

ganz <strong>Deutschland</strong>s spricht, frage ich mich unwillkürlich, wie das hätte<br />

funktionieren sollen. Der Westen stand ja unter dem Schutz von drei<br />

Mächten; hätte Stalin sie denn alle wegbomben sollen? Dann hätte er<br />

auf den Ärger nicht lange warten müssen. Pläne dieser Art hatten die<br />

Amerikaner jedoch nach Gehlens vermeintlichen Kassandra-Sprüchen<br />

jahrzehntelang befürchtet.<br />

Das Bedürfnis nach Sicherheit für die Sowjetunion dürfte sich weiter<br />

verstärkt haben, nachdem der amerikanische Präsident im August am<br />

Beispiel zweier japanischer Städte demonstriert hatte, dass er in der<br />

Lage und bereit war, Atomwaffen einzusetzen. Dafür sprechen auch<br />

Stalins Verzicht auf den Einfluss in Finnland und in Österreich, nachdem<br />

ihm diese Länder Sicherheitsgarantien gegeben hatten. Auch für<br />

<strong>Deutschland</strong> stand dieses Angebot bis Mitte der fünfziger Jahre.<br />

Da es nach <strong>1945</strong> aber weder zu einem Friedensvertrag noch zu Sicherheitsgarantien<br />

oder zu einer Festlegung völkerrechtlich verbindlicher<br />

Grenzziehungen kam, blieb Jossif Stalin gar nichts anderes übrig, als<br />

seine Truppen dort stehen zu lassen, wo sie waren, und abzuwarten,<br />

wann sich in Bonn irgendetwas bewegt. Vielleicht darf man ja auch bei<br />

einem Diktator strategisches Denken annehmen. Richtig ist allerdings,<br />

73


<strong>1945</strong><br />

dass sich im Windschatten der großen Politik deutsche Kommunisten<br />

ihren Lebenstraum vom Sozialismus auf heimatlichem Boden erfüllte.<br />

Über die Bemühungen Walter Ulbrichts, nichtkommunistische Kräfte,<br />

gegen die die Sowjets damals durchaus nichts hatten, aus den lokalen<br />

Verwaltungen hinauszudrängen, kann man eine gute Darstellung in<br />

einem Buch des Historikers Norbert Podewin unter dem Titel Walter<br />

Ulbricht <strong>–</strong> Eine neue Biographie finden. Die Russen waren nach diesem<br />

Krieg schon froh, als sie in <strong>Deutschland</strong> nicht nur auf Nazis stießen.<br />

Dass der Moskauer Staatschef <strong>1945</strong> doch die Sowjetisierung eines Teils<br />

von <strong>Deutschland</strong> oder eine proletarische Revolution am Rhein und in<br />

den schönen Alpen angeregt hätte, wurde meines Wissens noch von<br />

niemandem mit Quellen belegt. Davon völlig unbeeindruckt wird es<br />

immer wieder behauptet. Es gab ja wirklich einmal eine Formulierung<br />

von einer Weltrevolution. Aber das Thema war meines Erachtens vom<br />

Tisch, als Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin sich 1917 mit seiner<br />

Vorstellung durchgesetzt hatte, es in einem einzelnen und mit seinem<br />

Russland obendrein in einem ökonomisch recht schwach entwickelten<br />

Land zu versuchen. Mit Unterstützung durch den Deutschen Kaiser.<br />

Die Idee einer Weltrevolution bezog sich darüber hinaus auf Aufstände<br />

des Proletariats gegen die Bourgeoisie in den einzelnen Ländern. Von<br />

Kriegen, die eine Revolution in ein Land tragen sollten, war meines<br />

Wissens nirgendwo die Rede. Ich lasse mich aber gern berichtigen. Die<br />

zahlreichen Äußerungen über den Optimismus, dass sich Proletarier in<br />

den Ländern des Westens von der Ausbeutung bald befreien würden,<br />

dürfen ihrerseits als innenpolitische Demagogie verstanden werden.<br />

Das fruchtete freilich auch in den Weiten der Sowjetunion eher als in<br />

Ungarn, in der ČSSR oder der DDR, wo sich schnell herumsprach, dass<br />

es mit der Ausbeutung der Proletarier im Westen nicht überschlimm<br />

gewesen sein kann und dass dort sogar ehemalige Proletarier mit dem<br />

Arbeitslosengeld besser lebten als ein Werktätiger im eigenen Land.<br />

Abgesehen davon kann ich mir vorstellen, dass die Moskauer Führung<br />

ohne die Auseinandersetzung zwischen den späteren sozialistischen<br />

Ländern und den Demokratien des Westens nicht so brachial mit den<br />

74


<strong>1945</strong><br />

Kritikern ihres Systems umgegangen wäre, was ihr in der Folge viele<br />

weitere Kritiker erspart hätte. Dass es übrigens einen Zusammenhang<br />

zwischen den Kriegsvorbereitungen in Berlin und den Gewaltexzessen<br />

in der Sowjetunion in den späten dreißiger Jahren gab, wird jetzt noch<br />

nicht verraten. Vorfreude ist und bleibt die schönste Freude.<br />

Die rigorose Demontage von Industriegütern und die Abpressung der<br />

Reparationen für ganz <strong>Deutschland</strong> aus der einen Zone, auf die Stalin<br />

nach dem Beginn des Kalten Krieges noch Zugriff hatte, deuten übrigens<br />

auch nicht darauf hin, dass dem Chef in Moskau der Aufbau eines<br />

Vasallenstaates in <strong>Deutschland</strong> vorgeschwebt hätte. Nach den Worten<br />

von Helmut Kohl hat die DDR Reparationen in Höhe von umgerechnet<br />

727 Milliarden D-Mark gezahlt. John Dornberg veröffentlichte 1968 in<br />

Wien ein Buch, in dem es hieß: „Erst nach der Genfer Konferenz von<br />

1955, als die diversen Wiedervereinigungspläne ad acta gelegt worden<br />

waren, erhielt Ulbricht grünes Licht zum wirtschaftlichen Aufbau.“ So<br />

war das. Und wäre Stalin nicht durch die Bonner Verweigerung einer<br />

Grenzanerkennung und die offizielle Unterstützung Bonns durch die<br />

NATO-Partner zum vermeintlich einzigen militärischen Garanten des<br />

polnischen Staates geworden, hätte er seine Truppen auch dort nicht<br />

belassen können. Die Polen haben die sowjetischen Truppen genauso<br />

widerwillig ertragen wie die Westdeutschen die US-Amerikaner oder<br />

die Briten und die Franzosen. Fragen Sie mal die älteren Semester.<br />

Carlo Schmid, der nach dem Krieg und bis Anfang der siebziger Jahre<br />

in der Führung der SPD war, brachte von einem Besuch in Polen eine<br />

Bestätigung dafür mit: „Ein geistlicher Würdenträger sagte mir: Jeder<br />

Versuch Polens, sich von dem sowjetischen Bündnis zu lösen, würde<br />

darauf hinauslaufen, dass es sich zwischen zwei Stühle setze, und das<br />

werde man unter allen Umständen zu vermeiden suchen, auch wenn<br />

man die Freundschaft der Sowjetunion teuer zu bezahlen habe. Das für<br />

das polnische Volk Wesentliche werde die Kirche zu wahren wissen.“<br />

Wenn es in den unabhängigen Medien der BRD auch so selten deutlich<br />

gesagt wird, erfüllt es mich doch mit Genugtuung, dass zumindest hin<br />

75


<strong>1945</strong><br />

und wieder einmal so etwas zu finden ist: „Ein großer Teil der Bundesbürger<br />

glaubt ganz ehrlich, dass die Russen und die deutschen Kommunisten<br />

<strong>Deutschland</strong> gespalten hätten, und nicht sie selbst und die<br />

Westmächte.“ Sie glauben das freilich deshalb ganz ehrlich, weil Ihnen<br />

so selten eine andere Wahrheit zu Ohren kommt. Andererseits betrübt<br />

es mich durchaus, wenn Sebastian Haffner in seinem zweiten Teilsatz<br />

nicht nur den Eindruck von einer mächtigen Weltverschwörung gegen<br />

<strong>Deutschland</strong> hätschelt, sondern sein dumm gehaltenes Wahlvolk auch<br />

noch für diese jahrzehntelange Spaltung unseres Landes in Haftung<br />

nimmt. Ein jeder denkt nur, was er denken kann. Und für die richtigen<br />

Ableitungen benötigt man korrekte Informationen. Sonst wird man<br />

und frau politikverdrossen. Politikverdrossen macht allerdings auch,<br />

dass derselbe Schlauberger (freilich 17 Jahre zuvor) seine Leserschar<br />

über Staatsmänner im Osten und im Westen „informiert“ hatte, die ihre<br />

Politik angeblich auf die dauerhafte Teilung <strong>Deutschland</strong>s gründeten.<br />

Und an den Text aus diesem bundesdeutschen Propagandaschinken<br />

Die SBZ von A bis Z <strong>–</strong> Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische<br />

Besatzungszone <strong>Deutschland</strong>s erinnern Sie sich doch bestimmt: „Immer<br />

wieder behauptet das Regime der SBZ, <strong>Deutschland</strong> sei nach <strong>1945</strong> von<br />

den Westmächten und politischen Kreisen Westdeutschlands gespalten<br />

worden. Bei seiner Wahl zum Präsidenten der Republik betonte<br />

Wilhelm Pieck am 11. 10. 1949 vor der Volkskammer: »Von den westlichen<br />

Besatzungsmächten . . . wurde <strong>Deutschland</strong> gespalten«, doch<br />

»niemals wird die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s . . . von der DDR anerkannt<br />

werden«.“ Hauptsache immer drei Punkte. Und wer stand da noch?<br />

Viel zu spät, um diese Amerikaner noch von ihrer Verfolgungsangst<br />

abzubringen, kam schlussendlich die Entwarnung: „Doch die Spekulationen<br />

der Nachrichtendienstler über die Sowjets waren Bilder, wie sie<br />

ein Zerrspiegel zurückwirft. Stalin hatte weder einen umfassenden<br />

Plan zur Beherrschung der Welt noch die Mittel, einen solchen durchzusetzen.<br />

Der Mann, der nach seinem Tod schließlich die Macht in der<br />

Sowjetunion übernahm, nämlich Nikita Chruschtschow, erinnerte sich<br />

später, beim Gedanken an eine weltweite Auseinandersetzung mit<br />

Amerika habe Stalin »gezittert« und »gebibbert«.“<br />

76


<strong>1945</strong><br />

Erinnern Sie sich, wie Herr Prof. Heinrich August Winkler versuchte,<br />

uns den Ursprung des Kalten Krieges zu erläutern? Die Einschätzung,<br />

die Dr. Helmut Kohls Chefunterhändler bei den „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen<br />

des Jahres <strong>1990</strong>, Dieter Kastrup, 1991 über die politischen<br />

Ziele Moskaus nach <strong>1945</strong> abgab, klingt dann schon nachvollziehbarer:<br />

„Der Zweite Weltkrieg war von der Sowjetunion zur Befreiung ihres<br />

Territoriums und der anschließenden Niederwerfung des Nationalsozialismus<br />

geführt worden. Die dabei erbrachten ungeheuren Opfer<br />

sind bekannt. Die Behandlung des besiegten <strong>Deutschland</strong> war in verschiedenen<br />

Absprachen der vier Siegermächte niedergelegt worden,<br />

insbesondere im sogenannten Potsdamer Abkommen.<br />

Die Sowjetunion hat stets den Standpunkt bezogen, die Politik, die sie<br />

in ihrer Besatzungszone betrieben habe, sei eine der Entnazifizierung,<br />

Entmilitarisierung und Demokratisierung gewesen. Diese Politik ist<br />

von der sowjetischen Gesellschaft als Frucht der erbrachten Opfer begriffen<br />

worden. [Es ging um die Enteignung von Großgrundbesitz auf<br />

Grund des Potsdamer Abkommens bzw. um die Rückgabe der Flächen.]<br />

Sie nachträglich zur Disposition des besiegten <strong>Deutschland</strong> zu stellen,<br />

hätte bei der sowjetischen Bevölkerung das Gefühl wecken können, die<br />

sowjetische Nachkriegspolitik in <strong>Deutschland</strong> sei nutzlos geblieben,<br />

die Opfer der sowjetischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg seien<br />

vergebens gewesen.“ Sagte der CDU-Mann.<br />

Für die Meinungsbildung über die sowjetische Nachkriegspolitik ist es<br />

durchaus von Bedeutung, dass die Sowjetunion erst 1949 über erste<br />

atomare Sprengkörper verfügte; die Jahre zuvor aber entschieden über<br />

das Schicksal Europas in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts und<br />

über viele Biographien, darunter auch den Verbleib hunderttausender<br />

deutscher Soldaten in der Kriegsgefangenschaft und die Karriere des<br />

Dachdeckerlehrlings Erich Honecker, die ihn an die Spitze eines neuen<br />

deutschen Staates führte. Dem Bürgermeister von Ost-Berlin, Friedrich<br />

Ebert, ließ er 1971 durchaus nicht den Vortritt, wie mir der Historiker<br />

Norbert Podewin berichtete. Friedrich Eberts Papa war ja wenigstens<br />

Reichspräsident. Damit konnte in Bonn keiner dienen.<br />

77


<strong>1945</strong><br />

Interessant ist natürlich, wie sich letztlich auch die Sowjetunion durch<br />

den Bau von Atomwaffen nach 1949 allmählich zu einer Supermacht<br />

mauserte. Vom Kriegsende bis 1949 waren die Sowjets ja noch in der<br />

misslichen Lage, auf eventuell herunterfallende amerikanische Atombomben<br />

mit dem Panzer T 34 beziehungsweise mit ihrem erstklassigen<br />

Maschinengewehr Kalaschnikow reagieren zu müssen. Richtig gut wäre<br />

es dann aber schon gewesen, hätten sie auch eigene Atombomben zur<br />

Abschreckung vorrätig gehabt. Auch an diesem Frontabschnitt waren<br />

die Deutschen hilfreich. Hören Sie, was der Wissenschaftler Manfred<br />

von Ardenne zur Aufhellung der Hintergründe beitrug: „Im Sommer<br />

1944 besuchte uns Dr. Hermann von Siemens zum letzten Mal. [...] Bei<br />

dieser Gelegenheit nahmen wir kein Blatt vor den Mund. Der Krieg war<br />

verloren. Wir besprachen Möglichkeiten, wie wir unsere Mitarbeiter in<br />

dem zu erwartenden Chaos bei Kriegsende am besten schützen konnten.“<br />

Obwohl ihm zuvor „eine Bescheinigung ausgestellt worden [war],<br />

die es mir ermöglicht hätte, zusammen mit meiner Familie sowie den<br />

meisten Anlagen und Dokumenten Berlin zu verlassen und einen Ort<br />

westlich der Elbe aufzusuchen“, entschied er sich, ohne ein Motiv zu<br />

nennen, „zum Bleiben <strong>–</strong> und damit für die sowjetische Seite. [...] Das so<br />

fest zusammengewachsene wissenschaftlich-technische Kollektiv mit<br />

seiner vielfältigen Tradition zerflatterte nicht im Sturmwirbel der Ereignisse.“<br />

So wurde nichts aus dem mit dem Besitz der großen Bombe<br />

verbundenen amerikanischen Traum „die Mächte des Bösen, ja alle<br />

Mächte zu verabschieden und sich in einem Weltstaat zusammenzufinden“.<br />

Noch nebulöser erläuterte Wernher von Braun, wie er zum<br />

Freund und Helfer der Amis wurde. Der Biograph Johannes Weyer dazu:<br />

„Wieso von Braun sich für die USA entschied, hat er nie befriedigend<br />

erklären können.“ Was Braun als Verhaftung deklarierte, deute ich als<br />

Begleitschutz der SS nach Bayern. Dort wartete er, genau wie Reinhard<br />

Gehlen, in den Alpen das Ende des Krieges ab, und dann passierte das<br />

Unerhörte: „Kammler [der SS-Chef von Peenemünde] war spurlos verschwunden,<br />

und die Kontrolle durch die SS lockerte sich in den letzten<br />

Kriegstagen. So konnte der Entschluss fallen, die Kontaktaufnahme mit<br />

den Amerikanern zu wagen.“ So schön können deutsche Märchen sein.<br />

78


<strong>1945</strong><br />

Wenn aber von der Sowjetunion gar keine Bedrohung für den Rest der<br />

Welt ausging, dann muss das doch aber ein paar Agenten aufgefallen<br />

sein, die gegen das Reich des Bösen eingesetzt waren. Nach ihnen habe<br />

ich genauso gefahndet, wie nach Wolfs Agenten in der Bundesrepublik,<br />

von denen ja irgendeiner bemerkt haben muss, dass es auf gar keinen<br />

Fall das Ziel der Bonner Staatsführung gewesen sein kann, sich Unsere<br />

DDR „einzuverleiben“, wie es ja in der Ost-Berliner Propaganda immer<br />

hieß. Während ich leider keinen Hinweis auf solche Gedankengänge<br />

bei einem DDR-Agenten in der BRD fand, entdeckte ich bei Tim Weiner<br />

einen Ami, der seinem eigenen Verstand mehr traute als der üblichen<br />

antisowjetischen Propaganda zu Hause. Im Jahr des Amtsantritts von<br />

Gorbatschow 1985 wurde Aldrich Hazen Ames der Leiter der Spionageabwehr<br />

der Amerikaner gegen die Sowjetunion und Osteuropa. „Er<br />

hielt die Behauptung für absurd, dass die Bedrohung durch die Sowjetunion<br />

immens sei und immer größer werde. Er war überzeugt davon,<br />

es besser zu wissen. Er erinnerte sich, dass er dachte: »Ich kenne die<br />

Sowjetunion in- und auswendig, und ich weiß, was für die Außenpolitik<br />

und für die nationale Sicherheit [der Vereinigten Staaten] das Beste<br />

ist. Und entsprechend werde ich handeln.«“ Von dieser Erinnerung erfuhr<br />

Weiner bei einem Besuch im Bezirksgefängnis von Alexandria in<br />

den Weiten der USA, da der arme Kerl das eigenständige Denken zum<br />

Wohle seines Landes jetzt mit einer lebenslangen Haftstrafe bezahlt.<br />

Beginnend mit Kanzler Adenauer pflegte derweil die Staatsführung in<br />

Bonn unter den Kanzlern Erhard, Kiesinger, Schmidt und Kohl weiter<br />

sorgfältig die zarte Blume dieses Kalten Krieges. Nach Gesprächen mit<br />

Bonner Politikern im Jahr 1953 sah der Journalist Sebastian Haffner in<br />

Bonn zwei außenpolitische Strömungen am Werk. Die einen wollten<br />

mithelfen, „den Kalten Krieg zu beenden, um die Teilung zu überwinden,<br />

die <strong>Deutschland</strong> nicht durch eigene Schuld erlitten hat, und die<br />

Konsequenzen seines verlorenen Krieges zu tragen. Andere vertreten<br />

die Ansicht, dass es im deutschen Interesse liege, auf die Wiedervereinigung<br />

zu verzichten und statt dessen den Kalten Krieg anzuheizen,<br />

um schließlich die Konsequenzen des eigenen, verlorenen Krieges zu<br />

annullieren. Der große politische Kampf in <strong>Deutschland</strong> wird in den<br />

79


<strong>1945</strong><br />

nächsten vier Jahren zwischen diesen beiden Lagern stattfinden.“ Bei<br />

den nächsten vier Jahren blieb es jedoch nicht, und der Kalte Krieg<br />

und das schöne Leben in West-<strong>Deutschland</strong> zogen sich bis <strong>1990</strong> hin.<br />

Bei Willy Brandt, der sich rührend, wenn auch vergeblich, um ein Ende<br />

des Kalten Krieges bemühte, findet sich die folgende Einschätzung des<br />

ersten Kanzlers: „Adenauers Nachkriegs-Konsequenz zielte darauf, die<br />

Verhältnisse zu stabilisieren. Er fürchtete in diesen Jahren nichts<br />

mehr, als dass sich die Siegermächte einander wieder nähern könnten.<br />

Das sah ich anders. Er verneinte die Chance zur deutschen Einheit und<br />

nutzte die Vorteile Westeuropas für den westdeutschen Staat. Dem<br />

ließ sich <strong>–</strong> in dem Maße, in dem die Voraussetzung ohne Alternative<br />

blieb <strong>–</strong> immer weniger widersprechen. [...] Der »Alte« hat über weite<br />

Strecken anders geredet als gedacht. [...] Ob sich mit einem anderen <strong>–</strong><br />

gesamtdeutschen <strong>–</strong> Ansatz mehr hätte erreichen lassen, bleibt eine<br />

offene Frage.“<br />

Bei Strauß liest sich dieses Motiv so: „So reagierte er außerordentlich<br />

empfindlich, manchmal überempfindlich, geradezu gereizt, wo immer<br />

sich eine Verständigung oder Annäherung zwischen den USA und der<br />

Sowjetunion abzeichnete. Dann herrschte bei ihm Alarmstimmung.<br />

Er hatte eine Art »Cauchemar von Potsdam«, eine tiefeingewurzelte<br />

Angst, dass sich die Sieger und ehemaligen Alliierten über <strong>Deutschland</strong><br />

hinweg einigen könnten.“<br />

Dass Dr. Adenauer Angst haben musste, dass die Amerikaner Moskau<br />

dabei ein Stück der freien Welt überlassen hätten, kann mit Sicherheit<br />

ausgeschlossen werden. Also hatte Adenauer Angst, dass Russen und<br />

Amerikaner bei einem Festessen im Kreml im Interesse ihrer Staatskassen<br />

die Vereinigung <strong>Deutschland</strong>s und Europas verfügten, weil sie<br />

doch sahen, dass sich die Deutschen längst mit der neuen Gebietslage<br />

abgefunden hatten. Dann war es also ernst gemeint, als es in einem<br />

Informationstext über das Berliner Lokal »Staev«, benannt nach der<br />

ehemaligen Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, lächelnd hieß,<br />

man habe in den Politiker-Klausen zu Bonn „die Welträtsel gelöst“.<br />

80


<strong>1945</strong><br />

Diese Formulierung war in gesellige Worte eingepackt: „Dieses Milieu<br />

traf sich später in der »Schumann-Klause« in Bonn <strong>–</strong> man lebte dort,<br />

machte die Nacht zum Tag. Der Staatsschutz vom K 14 saß immer<br />

dabei. Demonstrationen wurden vorbereitet, die Welträtsel gelöst und<br />

endlos gezecht.“ Zum Zechen wird man den Staatsschutz ja vielleicht<br />

nicht benötigt haben. Unter dem Jahr 1949 werden Sie mehr zu diesem<br />

„Milieu“ erfahren.<br />

Einer einvernehmlichen Lösung der deutschen Frage unter den vier<br />

Alliierten stand eine Anerkennung der Westverschiebung Polens auf<br />

Kosten ostdeutscher Gebiete auf gar keinen Fall im Wege, auch wenn<br />

die drei westlichen Mächte den Deutschen selbst die Anerkennung der<br />

neuen Ostgrenze überlassen wollten. So sollten Reaktionen wie die auf<br />

den Vertrag von Versailles (1919) vermieden werden. Damit hatten die<br />

Russen den Schwarzen Peter allein in der Hand. Auf der Potsdamer<br />

Konferenz im Sommer <strong>1945</strong> hatten sich die Alliierten nur geeinigt,<br />

eine schlussendliche Grenzregelung erst in einer Friedenskonferenz<br />

vorzunehmen. Und an diesem juristischen Haken setzten die Bonner<br />

Spitzenpolitiker an.<br />

Die Verhinderung einer Friedenskonferenz hatte zumindest für die<br />

Einwohner der westlichen Besatzungszonen einen recht wohltuenden<br />

„Nebeneffekt“. Der spätere Ministerpräsident von Bayern, Franz Josef<br />

Strauß, schrieb darüber in seinen unbedingt lesenswerten Memoiren:<br />

„Wenn wir einen Friedensvertrag schließen, dann verlangt man von<br />

uns Reparationen. Da wir aber nicht bereit und nicht in der Lage sind,<br />

Reparationen zu zahlen, wollen wir auch keinen Friedensvertrag. Die<br />

höhere und die niedere Mathematik der Politik trafen hier zusammen<br />

<strong>–</strong> das Offenhalten der deutschen Frage und das Vermeiden gigantischer<br />

Reparationszahlungen.“ Das ist einer jener von mir so liebevoll<br />

gesammelten Texte, die ohne jeden Kommentar klären, dass die DDR<br />

kein Kind der bösen Russen war, sondern vielmehr ein Kind der guten<br />

Deutschen. Der besseren Deutschen. Wenn man die „deutsche Frage“<br />

offenhalten wollte, durfte sie gar nicht beantwortet werden. George<br />

Bush erwies Dr. Kohl somit einen Bärendienst, als er die Vereinigung<br />

81


<strong>1945</strong><br />

<strong>Deutschland</strong>s an ihm vorbei und über seinen Kopf hinweg erzwang.<br />

Wie ich hörte, gibt es in Frankreich inzwischen ein Buch, dass genau<br />

das publik machen möchte. Helmut Kohl wollte alles andere als eine<br />

Vereinigung unseres Landes. Sonst wäre er nämlich auch nicht länger<br />

als ein Willy Brandt der Kanzler in Bonn am Rhein geblieben.<br />

Diese Überlegung zu den Reparationen für die Kriegsschäden wurde<br />

durch den Aufstand des Jahres 1989 ganz plötzlich brandaktuell. In den<br />

Erinnerungen des Bonner Außenamtschefs Genscher findet sich dieses<br />

Motiv dann so: „Eine Friedenskonferenz konnte ebensowenig in Frage<br />

kommen wie ein Friedensvertrag. [...] Die Verhandlungen hätten sich<br />

an der Frage der Reparationen festgefahren.“ Im Jahr <strong>1990</strong> ist es dem<br />

Diplomatenduo Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl tatsächlich<br />

endgültig gelungen, eine reguläre Friedenskonferenz zu verhindern.<br />

Aber große Sprüche über das Leid des Krieges klopfen. Sie erinnern<br />

sich <strong>–</strong> 727 Milliarden DM haben die Leute in Ostdeutschland in den<br />

Entschädigungstopf eingezahlt. Die haben übrigens für Investitionen<br />

in die Wirtschaft dann auch nicht zur Verfügung gestanden. Das war<br />

doppelt verheerend, weil sie gerade in den Aufbaujahren nach dem<br />

Krieg gefehlt haben. Die Menschen im Osten hätten auch mit der Planwirtschaft<br />

besser leben können; man erinnere sich, dass man in den<br />

späten sechziger Jahren in West-<strong>Deutschland</strong> vom zweiten deutschen<br />

Wirtschaftswunder <strong>–</strong> in der DDR <strong>–</strong> sprach, die damals freilich noch als<br />

SBZ bezeichnet wurde. Erst danach wirkte sich allmählich die neue<br />

„Wirtschaftspolitik“ des diktatorischen Dachdeckerlehrlings aus.<br />

Aus der heutigen Perspektive lässt es sich einfach erklären, wie es den<br />

Bonnern gelungen ist, die großen Staaten gegeneinander in Stellung<br />

zu bringen und ihnen ihre angstgeladene Außenpolitik vorzugeben.<br />

Während Murat Williams überzeugt war, dass „die Gehlen-Leute sich<br />

immer schon dem Krieg gegen die Sowjetunion verschrieben hatten“,<br />

verriet der aus Funk und Fernsehen bekannte Geheimdienstexperte<br />

Erich Schmidt-Eenboom, wenn auch erst 2004: „Gehlen hat zwar im<br />

vertrauten Kreis häufig eine gewisse Nähe zum Widerstand des 20. Juli<br />

1944 betont, besonders, wenn es ihm als Appell an gemeinsame Grund-<br />

82


<strong>1945</strong><br />

anschauungen nützlich erschien, die Rolle Wessels jedoch nie öffentlich<br />

gemacht.“ Gerhard Wessel war damals Gehlens Stellvertreter und<br />

wurde später dann auch sein Nachfolger an der Spitze des BND, was<br />

vom Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes, Markus Wolf, als Beleg für<br />

eine vermeintliche faschistische Kontinuität der BRD gedeutet wurde.<br />

Schmidt-Eenboom setzte fort: „Auch im frühen Nachkriegsdeutschland<br />

führte Gehlen dieses Doppelspiel zwischen stiller Sympathie für<br />

die Gegner Hitlers in der Wehrmacht und taktischer Distanz zu ihrem<br />

gescheiterten Anschlag auf Hitler weiter.“<br />

In Zweite Front von Valentin Falin fand ich weitere Erklärungen, warum<br />

diese Rechnung aufging: Als Hitlers Wehrmacht West-Europa überfiel,<br />

glänzte der sowjetische Außenminister Molotov mit „Schmeicheleien<br />

dem »Dritten Reich« gegenüber“, es hagelte „Zuneigungsbekundungen<br />

für die Naziführer“ und „die beschämenden Gesten, mit denen die Eroberung<br />

Dänemarks und Norwegens oder die Erfolge der Wehrmacht<br />

im Frankreichfeldzug von sowjetischer Seite begleitet wurden“. Dem<br />

Nichtangriffsvertrag mit <strong>Deutschland</strong> folgte noch ein Neutralitätspakt<br />

mit Japan. Valentin Falin selbst recherchierte, dass ein gemeinsamer<br />

Griff Hitlers und Stalins nach der Weltherrschaft angenommen wurde.<br />

Gewiss trug auch „Molotovs Berlin-Visite“ zu dem Misstrauen bei. Was<br />

spätere deutsche Vorstellungen vom Krieg gegen Moskau gemeinsam<br />

mit den Westmächten glaubhaft werden ließ, war sicherlich auch, dass<br />

es solche Bestrebungen in <strong>Deutschland</strong> bis hin zu Hitler selbst wirklich<br />

gab; wer sollte vom Ausland aus überblicken, dass da Cleverlinge eine<br />

Vorstellung aus der anderen abgezweigt und umfunktioniert hatten?<br />

Die SPD-Größe Carlo Schmid erläuterte, warum die „Supermächte“ aus<br />

diesem abgezirkelten Teufelskreis nicht herauskamen. Damit man sich<br />

das gut vorstellen konnte, zog er eine historische Parallele zu der Zeit<br />

nach dem Ersten Weltkrieg: „Unter den heutigen Verhältnissen hätte<br />

ein Locarnovertrag alten Stils nicht mehr funktioniert. Man würde <strong>–</strong><br />

wollte man realistisch bleiben <strong>–</strong> zwei Vertragsgruppen dieses Schemas<br />

schaffen müssen: ein »großes« und ein »kleines Locarno«. Das »große<br />

Locarno« hätte Sowjetrussland und die Vereinigten Staaten umfassen<br />

83


<strong>1945</strong><br />

müssen, wobei hier allerdings auf eine Garantie durch dritte Mächte<br />

zu verzichten war. Voraussetzung für die Möglichkeit eines »großen<br />

Locarno« dieser Art war die vorherige allgemeine Verständigung der<br />

Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über die Liquidierung des<br />

Kalten Krieges in der ganzen Welt, also die Saturierung der Ansprüche<br />

der Sowjetunion, ohne in die Lebensinteressen der Vereinigten Staaten<br />

einzugreifen, was der Quadratur des Zirkels gleichkam. Ein »kleines<br />

Locarno« würde sich auf Europa zu beschränken haben; es müsste<br />

die Räumung der noch besetzten Länder von Besatzungstruppen vorsehen<br />

und reale Garantien für die innere und äußere Unabhängigkeit<br />

der vertragschließenden Staaten schaffen, was die Wiederherstellung<br />

der Einheit <strong>Deutschland</strong>s <strong>–</strong> wenigstens innerhalb der in der Potsdamer<br />

Erklärung vorgesehenen Demarkationslinien <strong>–</strong> voraussetzte.<br />

Die Einhaltung der gegenseitigen Verpflichtungen hätte durch die<br />

Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich<br />

garantiert werden müssen.<br />

Bei den Locarnoverträgen von 1925 gab es einen vertraglich festgelegten<br />

Besitzstand und einen allgemein anerkannten rechtlichen Status<br />

der Partner. Nun aber fehlte es an einem rechtlich anerkannten Besitzstand<br />

<strong>Deutschland</strong>s, der garantiert werden konnte. [Das konstatierte<br />

der gute Mann 1979 und somit nach Brandts schönen Ost-Verträgen.]<br />

Dies aber bedeutete, dass man vor Abschluss solcher »Locarnoverträge«<br />

oder gleichzeitig mit ihnen zu einem Friedensvertrag mit<br />

<strong>Deutschland</strong> kommen musste, der seine Grenzen festlegte; das jedoch<br />

setzte die vorherige Wiederherstellung der Einheit <strong>Deutschland</strong>s voraus.<br />

Ein Friedensvertrag mit Wirkung für alle konnte nur mit einer<br />

gesamtdeutschen Regierung abgeschlossen werden, und eine solche<br />

Regierung war nur durch vorherige Wahlen in allen vier Besatzungszonen<br />

<strong>Deutschland</strong>s zu schaffen; diese konnten jedoch erst erfolgen,<br />

wenn die vier Besatzungsmächte ihre Meinungsverschiedenheiten<br />

bezüglich <strong>Deutschland</strong>s bereinigt hatten. Damit war klar, dass die Idee,<br />

den Kalten Krieg durch »Locarnoverträge« zu beenden, die vorherige<br />

Lösung der Probleme voraussetzte, die das Weiterbestehen der Teilung<br />

<strong>Deutschland</strong>s aufwarf. »Locarnoverträge« allein waren nicht in der<br />

Lage, den Kalten Krieg zu erledigen. Sie hätten aber vielleicht ein ge-<br />

84


<strong>1945</strong><br />

eignetes Mittel sein können, die Bereitschaft der Beteiligten für seine<br />

Erledigung zu fördern und erträgliche Zwischenlösungen zu finden,<br />

bis die Zeit jene Problematik gegenstandslos gemacht haben würde.<br />

Diese Analyse zeigt, dass es zu einem brauchbaren System kollektiver<br />

Sicherheit vor einem die Grenzen <strong>Deutschland</strong>s festlegenden Friedensvertrag<br />

nicht kommen konnte. Man mochte die Sache drehen und<br />

wenden, wie man wollte, das Grundproblem blieb: entweder Beendigung<br />

des Kalten Krieges durch Herstellung der Einheit <strong>Deutschland</strong>s<br />

im Rahmen einer Verständigung der Weltmächte über ihre Einflusszonen<br />

in den strittigen Teilen der Welt <strong>–</strong> oder das Sich-Abfinden mit<br />

der Teilung <strong>Deutschland</strong>s, was weltpolitisch darauf hinauslaufen musste,<br />

dass die Russen ihre Deutschen behielten und die Westmächte die<br />

ihrigen.“ Ein fein abgezirkelter Teufelskreis, der dem Publikum als die<br />

Weltverschwörung gegen <strong>Deutschland</strong> verkauft wurde.<br />

Der Politologe Ferdinand Kroh vermerkte bezogen auf die achtziger<br />

Jahre: „Hier lag aber keine Verschwörung [zwischen Sowjetunion und<br />

USA] vor, sondern ein langwieriger und komplizierter Politikprozess,<br />

dessen Ziel von beiden Seiten unter völlig unterschiedlichen Interessenlagen<br />

öffentlich formuliert war: die Beendigung des Kalten Kriegs.<br />

Während die Amerikaner das Sowjetimperium damit zu Fall bringen<br />

wollten, war es das Ziel der Sowjets, ihr Reich mit derselben Strategie<br />

zu retten.“ Und Gräfin Dönhoff äußerte über General Gehlen, der den<br />

Ärger nach diesem Krieg überhaupt erst ausgelöst hatte, ihre schlecht<br />

gespielte Überraschung darüber, „dass ein Mann, dessen Metier es mit<br />

sich brachte, dass er seit Jahrzehnten den Osten als den potenziellen<br />

Gegner betrachten mußte, sich so freigehalten hat von antikommunistischen<br />

Komplexen“. Und da war er in bester Gesellschaft.<br />

85


<strong>1945</strong><br />

Frei von antikommunistischen Komplexen:<br />

Meistersinger Konrad Adenauer & Gesellen<br />

Mit dem wortreich zelebrierten Antikommunismus des späteren CDU-<br />

Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer war es ja hinter verschlossenen<br />

Türen auch nicht weit her. So hielt der amerikanische Offizier, der das<br />

zweite Sondierungsgespräch mit ihm Ende März <strong>1945</strong> protokollierte,<br />

damals fest: „Im weiteren Verlauf der Unterhaltung bemerkte er bei<br />

einer Schilderung seiner Erfahrungen während der Haft in der zweiten<br />

Jahreshälfte 1944, er habe Russen kennengelernt, die ihn in seiner<br />

Hochachtung vor den großen Errungenschaften Russlands bestärkt<br />

hätten. Er wies besonders auf die großartigen Fortschritte auf dem Bildungssektor<br />

hin. Er bemerkte, das Bemühen der Russen, der Bildung<br />

größere Verbreitung zu verschaffen, sei einer der entscheidenden<br />

Unterschiede zwischen ihnen und den Nazis, die Bildung und Wissen<br />

unterdrückten.“ Eine ganz ähnliche Argumentation verwendete 1986<br />

Ex-Bundespräsident Walter Scheel in einer Rede zum Jahrestag des<br />

1953er Volksaufstandes in der DDR: „Doch Karl Marx war ein kluger<br />

Deutscher, dessen Gedankengebäude <strong>–</strong> im Gegensatz etwa zum Nationalsozialismus<br />

<strong>–</strong> in der Tradition des deutschen Humanismus steht.<br />

Schon allein das spricht dafür, dass er nicht nur Falsches gedacht hat.<br />

Sein Weltentwurf ist, wie alles Menschenwerk, eine Mischung von<br />

Falschem und Richtigem, von Wahrem und Unwahrem.“ Vielleicht<br />

erinnern Sie sich <strong>–</strong> 1986 wussten die führenden Volksvertreter in Bonn<br />

schon vier Jahre lang, dass die DDR ohne westdeutsches Geld nicht<br />

mehr zahlungsfähig war. Davon abgesehen fehlt bei diesem FDPisten<br />

der Drang nach Freiheit.<br />

Der fehlte bei Konrad Adenauer auch schon am Anfang. 1949 wurde die<br />

NATO gegründet, 1955 der Warschauer Vertrag, und James Critchfield,<br />

der für die CIA ein Auge auf die politische Entwicklung <strong>Deutschland</strong>s<br />

werfen sollte, war darüber einigermaßen erstaunt: „Adenauer hoffte,<br />

dass die Konsolidierung der NATO und die Gründung des Warschauer<br />

Paktes die Amerikaner dazu bewegen könnte, ihre noch vom Kalten<br />

Krieg geprägten politischen Überlegungen des »Rollback« und der<br />

86


<strong>1945</strong><br />

»Liberation«, des Zurückdrängens und der Befreiung, die er nie mitgetragen<br />

hatte, noch einmal zu überdenken.“<br />

Oder wie wäre es mit diesem Auftritt des dann schon neunzigjährigen<br />

Konrad Adenauer in einer Wiedergabe Willy Brandts: „Zwei Monate<br />

später <strong>–</strong> März 1966 <strong>–</strong> machte er auf dem Parteitag der CDU, seinem<br />

letzten, nicht wenig Furore, als er erklärte, die Sowjetunion sei in die<br />

Reihe der Völker eingetreten, die den Frieden wollten; man müsse verstehen,<br />

dass sich das russische Volk vor den Deutschen fürchte, denn<br />

es habe fünfzehn (sowjetische Zahl: zwanzig) Millionen Tote gehabt.<br />

Die harten Wunden, die die Russen <strong>Deutschland</strong> geschlagen hätten,<br />

seien »Vergeltung für harte Wunden, die den Russen unter Hitler<br />

geschlagen worden sind.« Mir sagte er um dieselbe Zeit: »Wir haben<br />

die Russen falsch behandelt.« Vor allem »die Herren vom AA« [vom<br />

Auswärtigen Amt] hätten das nicht richtig gemacht, sie seien mit dem<br />

sowjetischen Botschafter ganz falsch umgegangen. Hieß dies, wie nicht<br />

wenige seiner Parteigänger unterstellten, dass der alte Herr der Senilität<br />

anheimgefallen wäre? Ich meine nein und halte jene Deutung für<br />

zu simpel. Von einem seiner wenigen Vertrauten <strong>–</strong> Heinrich Krone <strong>–</strong><br />

ist überliefert, was er schon Ende 1961, im Jahr der Mauer-Krise,<br />

gesagt hatte: Für den Rest seines Lebens sei es das Wichtigste, »unser<br />

Verhältnis zu Russland in eine erträgliche Ordnung zu bringen.«“<br />

Noch ein „Antikommunist“ mit einer Neigung für das Skurrile war von<br />

<strong>1945</strong> bis 1988 Franz Josef Strauß. Auf die Frage, was die politischen<br />

Leitsterne im Leben von Strauß gewesen seien, meinte Franz Handlos,<br />

der vor dem großen Geldsegen für Erich Honecker ein Anhänger der<br />

CSU war: „Die Ablehnung des kommunistischen Systems in der DDR,<br />

der Aufbau der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong> in militärischer und politischer<br />

Hinsicht, eine enge Verbundenheit zu den USA und ein engeres<br />

Zusammenrücken der europäischen Staaten. Strauß hat den einen<br />

Punkt total verraten <strong>–</strong> Widerstand gegen das kommunistische System,<br />

als er 1983 den Milliardenkredit an den Kommunisten Honecker eingefädelt<br />

hat.“ Und als Honecker gefragt wurde: „Wie kam ausgerechnet<br />

Strauß dazu, den Kredit zu unterstützen, wo er doch jahrzehntelang<br />

87


<strong>1945</strong><br />

ein Hauptgegner des Sozialismus und der DDR war?“ erläuterte der<br />

Kommunist: „Lesen Sie mal das Buch von Strauß »Erinnerungen«. Dort<br />

werden Sie die Antwort finden. Strauß war ein Realpolitiker. Ich habe<br />

ihn sehr geachtet. Er hat immer das eingehalten, was er gesagt hat.“<br />

Doch man wollte noch mehr wissen: „Haben Sie sich nicht gewundert,<br />

dass er plötzlich so ein »Freund« der DDR war?“ Und obwohl Strauß in<br />

den Lexika der DDR so hässliche Kritiken einsteckte, antwortete der<br />

Kommunist Honecker: „Ich habe Strauß nie als einen Feind der DDR<br />

gesehen. Und er hat das auch nie behauptet. Die internationalen Beziehungen<br />

richten sich nicht danach, ob die Person ein »Freund« oder<br />

sonstwas ist, das sind Beziehungen zwischen den Staaten.“<br />

Nun müssen Sie aber nicht denken, Strauß hätte seine Sympathie für<br />

den Sozialismus auf deutschem Boden erst so spät entdeckt. Markus<br />

Wolf, der Chef der Auslandsspionage der DDR, wusste zu berichten,<br />

dass die Verbindung zu Strauß auf die Zeit kurz nach der Gründung<br />

der DDR zurückging: „Neben Dr. Wiedemanns Büro ließ sich im Bonn<br />

der 50er Jahre der Salon einer Dame recht vielversprechend an. [...]<br />

Lydia, so lautete unser Deckname für Susanne Sievers, richtete in Bonn<br />

eine gastliche Wohnung ein, in der sie eine Art Salon führte, wo Abgeordnete<br />

und Politiker sich zwanglos einfanden, darunter Franz Josef<br />

Strauß und Willy Brandt, mit dem Susanne Sievers vor ihrer verhängnisvollen<br />

Reise zur Leipziger Messe eine leidenschaftliche Affäre gehabt<br />

hatte. Durch sie erfuhren wir, dass Strauß nicht zu jeder Stunde<br />

der fanatische Sozialistenfresser war, den er vor der Öffentlichkeit abgab,<br />

sondern ein nüchtern denkender Pragmatiker.“<br />

Wolf ergatterte ja neben anderen eigentlich nützlichen Informationen<br />

auch jene, „dass man im Lager von Kohl, Strauß und Flick sehr viel<br />

pragmatischer dachte, als es den Anschein haben mochte, und das<br />

nicht nur, wenn es um Geld ging“. Wie der Zufall so spielt, finden sich<br />

genau diese drei Namen auch in einem Reisebericht von Helmut Kohl<br />

wieder, der unter anderem Anfang der siebziger Jahre privat durch die<br />

schönste DDR auf dieser Welt tourte: „Auf der Reise erlebten wir viel<br />

88


<strong>1945</strong><br />

Unerquickliches. So wurde die Wartburg, eine der ersten Stationen,<br />

nach unserem Eintreffen in Minutenschnelle vom Staatssicherheitsdienst<br />

geräumt. Ganze Reisegruppen wurden hinausgetrieben. In einer<br />

Baracke des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar<br />

fand ich mich als »Kriegstreiber« vereint mit Franz Josef Strauß und<br />

Friedrich-Karl Flick auf einem riesigen Plakat. Ich stand inmitten einer<br />

Schulklasse, der von einer Lehrerin die »Kriegstreiber von heute« erklärt<br />

wurden. Als die Kinder bemerkten, dass einer der Abgebildeten<br />

leibhaftig mitten unter ihnen stand, wurden sie eiligst aus der Baracke<br />

gescheucht.“<br />

Angenehm war auch Erich Honeckers Erinnerung an einen weiteren<br />

wichtigen Repräsentanten des faulenden, parasitären und sterbenden<br />

Kapitalismus in der BRD. Nach seinem Sturz war er über die plötzliche<br />

Kriminalisierung von Alexander Schalck-Golodkowski höchst empört,<br />

hatte doch Otto Graf Lambsdorff aus der F.D.P.-Spitze über den großen<br />

Experten geäußert: „Schalck hat sich so benommen wie ein Geschäftsmann.“<br />

Diesen guten Leumund kommentierte Herr Honecker witzigerweise<br />

mit der Ansage: „Leider hatte die DDR wenig solcher Geschäftsleute.“<br />

Nachdem die Geschäftsleute, die es in der DDR noch sehr lange<br />

gab, unter seiner Regentschaft enteignet worden waren.<br />

Und abgesehen von den West-Berliner Vertretern der Zunft waren die<br />

Freundlichkeiten, die zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten<br />

damals ausgetauscht wurden, auch nicht beschränkt auf das Bonbon,<br />

das der Genosse Erich Honecker Bundeskanzler Helmut Schmidt am<br />

Ende von Schmidts Staatsbesuch in der DDR Ende 1981 bei der Abfahrt<br />

seines Sonderzuges zusteckte. „Sozialdemokraten, die den Kontakt zu<br />

Oppositionellen suchten, standen in der Kritik ihrer Parteiführung,<br />

weil sie die Beziehungen zur SED belasteten.“ Oskar Lafontaine hatte<br />

selbstverständlich Recht, als er nach der Ost-Berliner Kritik an einem<br />

renitenten Mitglied des Bundestages bedauerte: „In einer Partei wie<br />

der SPD sei es nahezu unmöglich, alles unter Kontrolle zu bringen,<br />

schon gar nicht die Abgeordneten des Bundestages. Lafontaine fügte<br />

zur Beruhigung seiner Partner hinzu: Auch die Kontakte führender<br />

89


<strong>1945</strong><br />

SPD-Politiker zur evangelischen Kirche bedeuteten nicht, dass die SED<br />

nicht weiterhin den Vorzug genieße <strong>–</strong> jede andere Vorstellung sei<br />

»völlig absurd«.“<br />

Das illustrierte Erich Honecker mit seiner Erinnerung an den Freund<br />

und Genossen Helmut Schmidt aus der SPD, der seinerzeit Brandt und<br />

dessen gesamteuropäisches Engagement dann mit großem Elan vom<br />

Tisch fegte: „Zwischen mir und Helmut Schmidt bestand ein direktes<br />

Verhältnis. Ich hatte als Regierungschef die Verantwortung für die<br />

Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD. Ich<br />

möchte sagen, dass Helmut Schmidt der erste war, der im Bundestag<br />

von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik sprach. Auch<br />

hier hat sich ein Entwicklungsprozess vollzogen. Helmut Schmidt war<br />

eben ein großer Staatsmann. Er hat die Realitäten respektiert und hat<br />

versucht, aus den Dingen, wie sie nun einmal lagen, [wie Bonn sie sich<br />

zurechtgelegt hatte] das Beste zu machen. Das heißt, seine Bemühungen<br />

haben sich mit der der Regierung von Helmut Schmidt getroffen, und<br />

bei meinem Aufenthalt in der BRD hatte ich auch eine Begegnung mit<br />

ihm. Ich möchte sagen, dass alle Begegnungen zwischen mir und<br />

Helmut Schmidt <strong>–</strong> sei es in Helsinki, sei es in Belgrad, sei es in Hubertusstock,<br />

sei es bei anderen Gelegenheiten <strong>–</strong> immer sehr korrekt verliefen.<br />

Die Fragen wurden im gegenseitigen Einverständnis gelöst.“<br />

Darüber hat sich Herr Honecker auf jeden Fall gefreut. Sein Gesprächspartner<br />

war jedoch nach Egon Bahrs Brief zum Grundlagenvertrag von<br />

1972 juristisch gar nicht befugt, von Bürgern der DDR zu sprechen. Es<br />

muss Sie übrigens nicht über Gebühr in Erstaunen versetzen, dass sich<br />

Helmut Schmidts Bemühungen mit denen seiner Regierung trafen, war<br />

es doch immerhin seine Regierung. Wenn ich nun schon einmal beim<br />

Meckern bin <strong>–</strong> Honecker war nie Regierungschef irgendeines Landes;<br />

aber es spricht selbstredend Bände über Seine Diktatur, wenn er so die<br />

große Bedeutung seines Genossen Horst Sindermann und von dessen<br />

Nachfolger Willy Stoph zusammenfassen konnte. Der Journalist fragte<br />

Honecker auch, ob er „eine persönliche Affinität“ zu Helmut Schmidt<br />

gehabt habe, worauf der frühere Staatschef sagte: „Ja, das wurde etwas<br />

90


<strong>1945</strong><br />

entstellt. Das hatte einen anderen Rang. Wir haben uns so gut verstanden,<br />

dass in Verbindung mit den Witzen, die da ausgetauscht wurden<br />

bei seinem Besuch bei uns, ich tatsächlich einen Bonbon in der Tasche<br />

hatte und zum Abschluss gesagt habe: »Na, Helmut, hier hast du den.«<br />

Und er hat ihn mit Freuden genommen. Wir haben uns auch Schneebälle<br />

zugeworfen an der Treppe des Rathauses von Güstrow.“<br />

Nun haben wir genug Schmus zum Wohle des Sozialismus gehört und<br />

wollen uns jetzt wieder dem realen Leben existierender Menschen<br />

zuwenden. Ist eigentlich witzig: Schmus ist ein hebräisch-jiddisches<br />

Wort. Ja, ja. Immer die Juden. Im historisch-linguistischen Diskurs an<br />

den Stammtischen westdeutscher Eckkneipen wird gelegentlich die<br />

Frage thematisiert, inwiefern sich die These aufrechterhalten lässt, wir<br />

seien ein Volk. Hier handelt es sich um eine bedeutungsvolle Frage, die<br />

an dieser Stelle auch erörtert werden soll. Mein Votum fällt, wie nicht<br />

anders zu erwarten, positiv aus; und ich will Ihnen mein gewichtigstes<br />

Argument hier nennen. Das Motiv, es sei doch nicht alles ganz falsch<br />

gewesen, gab es im allerschönsten Teil dieses Landes auch, wenngleich<br />

Jahrzehnte vor dem schrecklichen Sülz im Osten und um einige Ellen<br />

gruseliger: „Die Gegenwart versöhnte durch die Gemeinsamkeit mit<br />

den Amerikanern in der Feindschaft zum Kommunismus; eine Übereinstimmung,<br />

die für die Westdeutschen einen starken Gefühlstrieb<br />

aus dem Motivbündel der Hitlerei wieder freisetzte: Alles war doch<br />

nicht falsch gewesen. Die gesellschaftspolitischen Fragen im Land fanden<br />

ihre glückliche Antwort: durch den Vergleich mit drüben, mit den<br />

Entwicklungen jenseits der Elbe.“ Da hatte Günter Gaus vollkommen<br />

Recht <strong>–</strong> dort wurden die armen Nazis sogar aus ihren angestammten<br />

Berufen hinausexpediert! Lehrer, Richter, KZ-Ärzte. Die spätere rosa<br />

Propaganda, wie sie in den siebziger und in den achtziger Jahren über<br />

den West-DeutschInnen hernieder ging, blieb natürlich nicht ohne<br />

Folgen. So rieben sich hier die Ost-DeutschInnen nach ihrer Absage an<br />

einen Sozialismus von und mit Genossen Erich Honecker erstaunt ihre<br />

Augen: „<strong>1990</strong>, sobald der Osten den Westen gewählt hatte, stattete ihn<br />

der Westen großzügig mit Schulbüchern aus, damit junge Ostdeutsche<br />

die Wahrheit über deutsche Politik und Geschichte lernen konnten. Als<br />

91


<strong>1945</strong><br />

sie diese Schulbücher öffneten, konnten die jungen Ostdeutschen <strong>–</strong><br />

von denen so mancher gerade noch auf der Straße gegen die Diktatur<br />

demonstriert hatte <strong>–</strong> lesen: »Beide Staaten [DDR und BRD] verstehen<br />

sich als Demokratien.«“ Doch der Brite Timothy Garton Ash fand noch<br />

weitere anschauliche Beispiele für die rosarote Propaganda in jenen<br />

Jahren: „»Lest Nr. 10.24«, wurden sie in einem anderen Schulbuch aufgefordert,<br />

»und versucht zu erklären, warum viele DDR-Bürger selbstbewusst<br />

und auch stolz auf ihren Staat sind.«“ Ja, da schau her! Diese<br />

Propaganda der letzten zwanzig Jahre einer separaten Republik BRD<br />

machte nach dem Umsturz in der DDR alles sehr kompliziert. Da sie<br />

auf einmal durch ein wildes Geschrei über das Unrechtsregime in der<br />

„D.D.R.“ ersetzt wurde, verstanden die West-Deutschen nun gar nichts<br />

mehr; bei Unterlassung hätten die Opfer des Regimes rebelliert; und<br />

hätte man das Gedöns fortgesetzt, hätten das noch nicht einmal die<br />

früheren Mitglieder der SED verstanden. Auf diesen entstaubten Antikommunismus<br />

der ersten zwanzig Jahre der Teilung dürfte es auch<br />

zurückzuführen sein, dass trotz der Bildungsmisere in der BRD noch<br />

nicht einmal das vom ideologischen Quark bereinigte Bildungswesen<br />

der DDR übernommen wurde. Nur mit halbherzigen Worten, die unter<br />

der Hand auch noch widerrufen wurden, war Unserem Kommunismus<br />

natürlich nicht beizukommen.<br />

92


Der lange Krieg gegen den Krieg<br />

<strong>1945</strong><br />

Um die Verlogenheit des westdeutschen Pseudo-Antikommunismus zu<br />

verstehen, wird es günstig sein, unbekanntere Seiten der Diktatur der<br />

dreißiger und vierziger Jahre noch einmal etwas näher anzuschauen.<br />

Heinrich Walle führte in Aufstand des Gewissens aus, dass schon seit der<br />

Röhm-Affäre des Jahres 1934 und noch verstärkt durch die unwürdige<br />

Ablösung von Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch im Jahr 1938<br />

in den oberen Rängen der Wehrmacht das Bedürfnis nach Widerstand<br />

gegen Hitler wuchs. „Blomberg wie auch Fritsch hatten geglaubt, der<br />

Wehrmacht durch Anpassung einen herausragenden Platz im Dritten<br />

Reich sichern zu können.<br />

Bei der übereilt durchgeführten Aufrüstung waren diesen Offizieren<br />

jedoch Bedenken vor Sanktionen des Auslands gekommen, vor allem<br />

als Hitler am 5. November 1937 vor den Oberbefehlshabern und dem<br />

Außenminister die Lösung seiner Lebensraumforderungen durch eine<br />

kriegerische Auseinandersetzung in naher Zukunft bekanntgab und<br />

die militärische Niederwerfung der Tschechoslowakei und Österreichs<br />

1939 ins Auge fasste. Dagegen hatten Blomberg und Fritsch Einwände<br />

erhoben. Bei Generaloberst Fritsch hatte sich nach der Röhmaffäre,<br />

durch die Eindrücke der zunehmenden Kirchenverfolgung und durch<br />

dauernde Reibereien mit der SS eine Distanzierung vom Nationalsozialismus<br />

vollzogen.<br />

So kam es Hitler gelegen, den zögernden Kriegsminister und den unbequem<br />

gewordenen Oberbefehlshaber des Heeres entlassen zu können.<br />

Gleichzeitig wurden weitere Generale entlassen. [...]<br />

Dennoch blieb Hitlers Misstrauen gegen das Offizierskorps zu Recht<br />

wach. In der Tat begannen als Folge der Fritsch-Affäre die Ansätze zur<br />

Bildung einer bürgerlich-konservativen Opposition gegen Hitler. [...]<br />

Ihr technisches Zentrum bildete sich im Amt Ausland/Abwehr (Spionage<br />

und Spionageabwehr) im OKW unter Admiral Wilhelm Canaris<br />

und seinem engsten Mitarbeiter Oberstleutnant Hans Oster. Diesen<br />

Männern waren schon bald auf Grund ihrer eingehenden Informationen<br />

die Augen über die verbrecherischen Methoden und Ziele der<br />

neuen Machthaber aufgegangen. Canaris und vor allem Oster traten<br />

93


<strong>1945</strong><br />

mit dem Chef des Generalstabes des Heeres, General der Artillerie Ludwig<br />

Beck, in Verbindung. Hatte General Beck <strong>1933</strong> noch den Siegeszug<br />

der nationalsozialistischen Bewegung begrüßt, so kamen ihm schon<br />

bald aus vorwiegend fachlich-technischen Gründen ernste Bedenken<br />

über die Folgen der neuen Politik. Spätestens nach dem endgültigen<br />

Entschluss Hitlers am 30. Mai 1938, die Tschechoslowakei anzugreifen,<br />

sah er eine drohende kriegerische Verwicklung mit Frankreich und<br />

England, die den Bestand von Volk und Vaterland ernsthaft gefährden<br />

musste. Hier waren für ihn die Grenzen des militärischen Gehorsams<br />

erreicht.“<br />

Es blieb nicht ohne Folgen, dass sich der Widerstand gegen den Krieg<br />

gerade in dem Amt Ausland/Abwehr (Spionage und Spionageabwehr)<br />

bildete. So gelang es letztlich, den Sieg in diesem Krieg davonzutragen.<br />

Den fanatischen Militärs war dann irgendwann aufgefallen, dass ihre<br />

Aufklärungsorgane nichts beziehungsweise nichts Brauchbares auf die<br />

Reihe bekamen. Obwohl der Zweite Weltkrieg an sich ja schon eine irre<br />

Veranstaltung war, darf davon ausgegangen werden, dass er aus zwei<br />

Kriegen bestand: einem Krieg um den Endsieg und dem Krieg um ein<br />

schnelles Ende des Krieges. Beide Kriege forderten zahllose Opfer.<br />

Wilhelm Canaris war der Chef der Abwehrabteilung im Reichskriegsministerium,<br />

und Reinhard Gehlen war der Chef der Militärspione im<br />

Osten. „Als der Ostfeldzug ins Stocken geriet, schob man die Schuld<br />

dem zuständigen militärischen Nachrichtendienst, genannt Abteilung<br />

»Fremde Heere Ost«, in die Schuhe.“ Inzwischen ist mir klar, dass man<br />

es der Abteilung auch nicht umsonst zuschrieb, dass dieser rassistisch<br />

motivierte und genauso geführte Krieg vor den Baum ging. Weil es im<br />

Westen dann offensichtlich wurde, hat man Wilhelm Canaris, den Chef<br />

der Spione, 1944 hingerichtet. Wenn Sie Bilder von ihm sehen <strong>–</strong> ein<br />

Vatertyp mit warmen, schönen Augen. Ein Mensch und kein Fanatiker.<br />

Diese Nazi-Trottel haben noch nach mehreren Jahren nicht gerafft,<br />

dass die Spionagechefs ihre Informationen so hinbogen, dass der Krieg<br />

möglichst schnell zu Ende ging, hoffend, dass einem Attentat auf den<br />

Führer der Fanatiker inzwischen Erfolg beschieden sein möge.<br />

94


<strong>1945</strong><br />

Eine Illustration lieferte Reinhard Gehlen gleich persönlich. Ihm war<br />

nicht unbekannt, dass „die Sowjets in der deutschen obersten Führung<br />

über eine gut orientierte Nachrichtenquelle verfügen mussten“, da sie<br />

„in kürzester Zeit über Vorgänge und Erwägungen, die auf deutscher<br />

Seite an der Spitze angestellt wurden, bis ins Einzelne unterrichtet“<br />

waren. Da stellte sich natürlich die Frage: Wer war es? Probieren Sie<br />

einmal die Wendungen langes Schweigen, ein Geheimnis, den Schlüssel, verhängnisvolle<br />

Rolle, aufs Sorgfältigste, die rätselhaftesten Fälle und engster<br />

Vertrauter in zwei Sätzen unterzubringen. Gehlen schaffte das: „Ich will<br />

an dieser Stelle mein langes Schweigen um ein Geheimnis brechen, das<br />

<strong>–</strong> von sowjetischer Seite aufs Sorgfältigste gehütet <strong>–</strong> den Schlüssel zu<br />

einem der rätselhaftesten Fälle unseres Jahrhunderts in sich birgt. Es<br />

ist die verhängnisvolle Rolle, die Hitlers engster Vertrauter, Martin<br />

Bormann, in den letzten Kriegsjahren und danach gespielt hat.“ Der<br />

gute Mann schrieb auch nicht: vermutlich gespielt hat. Er hat und fertig.<br />

Dazu lieferte er keinen Beweis, nichts. Spekulationen und warme Luft.<br />

Sein Text gipfelt in den Sätzen: „Zwei zuverlässige Informanten gaben<br />

mir in den 50er Jahren die Gewissheit, dass Martin Bormann perfekt<br />

abgeschirmt in der Sowjetunion lebte. Der ehemalige Reichsleiter war<br />

bei der Besetzung Berlins durch die Rote Armee zu den Sowjets übergetreten<br />

und ist inzwischen in Russland gestorben.“ Sehen Sie? Dann<br />

hat Hitlers Vertrauter alles verraten! Das macht mich sehr betroffen.<br />

Vollkommen unabhängig davon würdigte er 77 Seiten später seinen<br />

Kollegen, „den Oberstleutnant Baun, den Leiter der Dienststelle Walli I,<br />

in Bad Elster“. Hermann Baun hatte „auch zuletzt noch Verbindungen<br />

bis unmittelbar nach Moskau unterhalten können“. Während es hier<br />

wahrhaftig keiner blühenden Phantasie bedarf, in Baun die undichte<br />

Stelle zu vermuten, äußerte Meister Gehlen bei ihm noch nicht einmal<br />

einen Anfangsverdacht. Dafür lenkte er das Augenmerk seiner Leserin<br />

ohne jegliches Indiz auf den Alt-Nazi Martin Bormann, der bekanntermaßen<br />

den Bunker des Fuehrers verließ, bevor sich selbiger Fuehrer<br />

dort seines Lebens beraubte. Genau der muss es gewesen sein, der den<br />

Sowjets alles verraten hat.<br />

95


<strong>1945</strong><br />

In den Memoiren Reinhard Gehlens finden sich unter anderem einige<br />

Seiten über Admiral Wilhelm Canaris. In der gebotenen Kürze will ich<br />

nur ein paar Sätze exemplarisch zitieren, um einen Eindruck vom Verhältnis<br />

dieser beiden Männer zu vermitteln: „Die Persönlichkeit des<br />

Admirals ist fünfundzwanzig Jahre nach seinem tragischen Tode <strong>–</strong> er<br />

wurde am 9. April <strong>1945</strong> nach einem höchst fragwürdigen Verfahren<br />

vor einem SS-Gericht in Flossenbürg hingerichtet <strong>–</strong> noch immer mit<br />

einem scheinbaren Schleier des Zwielichtes umgeben. Er teilt dieses<br />

Los mit vielen anderen hervorragenden Persönlichkeiten des Nachrichtendienstes<br />

im In- und Ausland, wie z. B. mit Oberst Nicolai. In<br />

manchen Veröffentlichungen äußern sich Verfasser, die den Admiral<br />

sicherlich nicht gründlich gekannt haben dürften, kritisch über seine<br />

Persönlichkeit und sein Wirken. Sie werfen ihm Zaudern, mangelndes<br />

Stehvermögen und letztlich immer wieder Undurchsichtigkeit vor.“<br />

Dabei lag es im Auge des jeweiligen Betrachters, wie man den Admiral<br />

sah. Undurchsichtigkeit werden ihm die Kämpfer für den Endsieg vorgeworfen<br />

haben; die anderen unter seinen Kriegskameraden sahen ihn<br />

sicherlich eher so: „Dagegen spricht vor allem die Verehrung, welche<br />

die Angehörigen der »Abwehr« dem Admiral entgegenbrachten und<br />

auch heute noch entgegenbringen.“ Hätten ihn jedoch alle Kameraden<br />

verehrt, hätte Gehlens Abteilung nicht „nach außen abgeschirmt“ sein<br />

müssen, und es wäre nicht so wichtig gewesen, dass sich diese Männer<br />

„vorbehaltlos aufeinander verlassen konnten“. Bei Gehlen findet sich<br />

folgerichtig auch diese Feststellung: „Dem Nationalsozialismus stand<br />

Canaris ablehnend gegenüber. Ebenso wie Generaloberst Beck litt er<br />

ständig darunter, dass seine innere Einstellung dem unter Bezug auf<br />

Gott geleisteten Diensteid widersprach.“<br />

Marion Dönhoff, die sich äußerst emanzipiert in der Männerdomäne<br />

bewegte, notierte später: „Sehr beschäftigte die Kreisauer auch das<br />

Problem der Loyalität in der Diktatur, das Recht auf Widerstand, die<br />

Bedeutung des Eides, die Bestrafung der Kriegsverbrecher.“ Bei der<br />

Gräfin fand ich auch Worte von Ludwig Beck, dem Chef des Generalstabs<br />

der Wehrmacht, an die ihm unterstellten Offiziere: „Ihr soldati-<br />

96


<strong>1945</strong><br />

scher Gehorsam hat dort eine Grenze, wo Ihr Wissen, Ihr Gewissen und<br />

Ihre Verantwortung Ihnen die Ausführung eines Befehls verbieten.“<br />

Vielleicht interessiert es Sie, dass diese Anweisung auf einer Grundfeste<br />

des preußischen Befehls basierte. Er war nur bindend, wenn er<br />

höherem Gesetz nicht widersprach. Erst 1934 wurde letztendlich jeder<br />

Soldat auf den Führer vereidigt, was es seinem Gewissen viel schwerer<br />

machte, den Führer selbst über die Klinge springen zu lassen. General<br />

Ludwig Beck gab auch die Order aus: „Es ist ein Mangel an Größe und<br />

an Erkenntnis der Aufgabe, wenn ein Soldat in höchster Stellung in<br />

solchen Zeiten seine Pflichten und Aufgaben nur in dem begrenzten<br />

Rahmen seiner militärischen Aufgaben sieht, ohne sich der höchsten<br />

Verantwortung vor dem gesamten Volk bewusst zu werden.“<br />

Heinrich Walle berichtete, wie das Leben auch ohne Beck weiterging:<br />

„Becks Nachfolger, General der Artillerie Franz Halder, übernahm am<br />

28. August [1938] das Amt des Chefs des Generalstabs des Heeres. Er<br />

wollte ebenfalls das Risiko eines großen Krieges vermeiden und griff<br />

daher frühere Staatsstreichpläne seines Vorgängers auf, für den Fall,<br />

dass Hitler den Angriff gegen die Tschechoslowakei befehlen sollte. [...]<br />

Emissäre Halders und Osters informierten Mitglieder der britischen<br />

Regierung und versuchten, sie zu einem Kurs der Härte gegen Hitlers<br />

Forderungen zu bewegen. Oberstleutnant Oster hatte den konservativen<br />

Ewald von Kleist-Schmenzin zum damaligen britischen Oppositionsführer<br />

Winston Churchill entsandt, General Halder hatte durch den<br />

Hauptmann Karl Boehm-Tettelbach mit dem britischen Kriegsministerium<br />

Verbindung aufnehmen lassen. Im Auftrage des Staatssekretärs<br />

des Auswärtigen Amtes, Ernst Freiherr von Weizsäcker, informierte<br />

der Botschaftsrat der deutschen Botschaft in London, Theo Kordt, den<br />

britischen Außenminister Halifax über die Pläne der Opposition. Großbritannien<br />

sollte dadurch zu einer unnachgiebigen Haltung veranlasst<br />

werden, damit Hitler das Kriegsrisiko unmissverständlich klargemacht<br />

würde. Die Engländer blieben jedoch mißtrauisch. Großbritannien<br />

suchte zu einer vertraglichen Lösung der Sudetenfrage zu kommen.<br />

Für die Durchführung einer möglichen Aktion im Rahmen der Staats-<br />

97


<strong>1945</strong><br />

streichpläne wurde der Kommandierende General des III. Armeekorps<br />

und Befehlshaber im Wehrkreis III (Berlin), General der Infanterie von<br />

Witzleben, gewonnen. [...] General Halder sollte den auslösenden Befehl<br />

geben, General von Witzleben die Durchführung leiten. [...] Außer<br />

der Verhaftung von Regierungsmitgliedern und Parteifunktionären<br />

war die Verhaftung Hitlers in der Reichskanzlei geplant. Hitler sollte<br />

nach den Vorstellungen von General Beck und einigen Verschwörern<br />

vor Gericht gestellt und abgeurteilt werden. Damit hoffte man die Entstehung<br />

einer neuen »Dolchstoßlegende« zu verhindern.<br />

Oster und der an der Verschwörung beteiligte Reichsgerichtsrat Dr.<br />

Hans von Dohnanyi wollten ihn durch ein Ärztekonsilium unter dem<br />

Vorsitz von Dohnanyis Schwiegervater, dem Psychiater Prof. Karl Bonhoeffer,<br />

für geisteskrank erklären lassen. [...] Zur Durchführung des<br />

Staatsstreiches kam es jedoch nicht.<br />

Als die Verschwörer bereit zum Losschlagen waren, kam es zur »Münchener<br />

Konferenz« am 29./30. September 1938. Hier erklärte sich der<br />

britische Premierminister Chamberlain, der französische Ministerpräsident<br />

Daladier und der italienische Staatsführer (»Duce«) Mussolini<br />

mit der Angliederung des Sudetenlandes an das Reich einverstanden.<br />

Ein Staatsstreich gegen den wiederum erfolgreichen »Führer« war damit<br />

unmöglich geworden.“<br />

„Dass ein Umsturz unvermeidlich war, dass man sich dafür voll einsetzen<br />

müsse, wurde Peter Yorck schon sehr früh klar. Aber für ihn wie<br />

auch für Moltke, die beide sehr bewusst als Christen lebten, war die<br />

Vorstellung, Hitlers Ermordung planmäßig zu organisieren, ein schweres<br />

Problem, die anderen nicht so zu schaffen machte. Moltke weigerte<br />

sich, die Verbrecher mit »Gangstermethoden« zu beseitigen: »So kann<br />

man keine neue Epoche einleiten!«<br />

York teilte seine Meinung nicht ganz so eindeutig, je weiter die Zeit<br />

fortschritt. In der letzten Zeit hatte er sich dann auch selbst zur Aktion<br />

durchgerungen. Alle miteinander aber hielten es für ihre Pflicht, darüber<br />

nachzudenken, was getan werden müsse, wenn es einmal so weit<br />

sein würde.“ Sie lesen hier Erinnerungen von Marion Dönhoff. „Viel<br />

98


<strong>1945</strong><br />

wurde über die letzten Dinge der Politik gegrübelt, über die Rolle des<br />

Staates und die Grenzen der Freiheit. [...]<br />

Während Peter Yorck und Helmuth Moltke brauchbare, integre Menschen<br />

sammelten, die den neuen Staat bauen und verwalten sollten,<br />

und während sie sich bemühten, gemeinsam mit diesen moralische<br />

und politische Maßstäbe für das nachhitlersche <strong>Deutschland</strong> zu entwickeln,<br />

wurden die oppositionellen Offiziere von Zweifeln hin- und<br />

hergerissen: In der Phase spektakulärer Siege war es zu früh, Hitler<br />

umzubringen, zu groß schien die Gefahr der Dolchstoßlegende; und als<br />

die Rückschläge einsetzten, war es vielleicht schon zu spät, um etwas<br />

anderes als bedingungslose Kapitulation zu erreichen. Dennoch wurde<br />

immer wieder Vorbereitung für ein Attentat getroffen, die immer wieder<br />

auf fast magische Weise scheiterte, weil Hitler seine festgesetzten<br />

Pläne oder vorgesehenen Routen änderte.“<br />

Aber wir waren bei den Fremden Heeren Ost: „Ein neues Management<br />

sollte gefunden werden, und so betraute man im April 1942 Gehlen mit<br />

der Leitung, obwohl dieser sich nie mit Geheimdienstarbeit befasst<br />

hatte, keine Fremdsprachen beherrschte und von Russland keine<br />

Ahnung hatte. In dieser Versetzung wurde die Geringschätzung deutlich,<br />

welche die Tradition preußisch-deutscher Generalstabsoffiziere<br />

dem Metier der Geheimdienstleute entgegenbrachte.“ Das kann dieser<br />

Wolfgang Krieger gerne der Oma erzählen. Welcher Österreicher hätte<br />

aber auch vermuten sollen, dass man aus dieser Abteilung zum Chef<br />

machen konnte, wen man wollte, und hatte doch immer denkende<br />

Deutsche vor sich, die die Tätigkeit ihrer Vorgänger fortsetzten? Wie<br />

zum Beispiel Alexis Freiherr von Roenne nach Wilhelm Canaris. Und<br />

wie behalf sich Gehlen mit den Sprachen? „Ich holte mir als ersten<br />

Mitarbeiter (Ia) den Oberstleutnant i. G. Freiherr von Roenne und als<br />

Gruppenleiter I den Major i. G. Herre, beides hochqualifizierte Generalstabsoffiziere,<br />

die auch russisch sprachen, in die Abteilung“, so Gehlen,<br />

und es blieb nicht bei den beiden Spezialisten. „Die Gruppe III setzte<br />

sich aus Russlandspezialisten zusammen, zumeist Deutschen, die in<br />

Russland geboren waren, Land und Leute kannten und die russische<br />

Sprache wie ihre Muttersprache beherrschten.“<br />

99


<strong>1945</strong><br />

„Gehlen gelang es, die Arbeiten in »Fremde Heere Ost« stärker zu systematisieren,<br />

doch die Analysen blieben mäßig bis schlecht.“ Dass sie<br />

sich manchmal sogar mäßig ausnahmen, lag am Selbsterhaltungstrieb<br />

Gehlens. Er wäre auch hingerichtet worden, hätte man aus den ausnahmslos<br />

schlechten Berichten und Analysen eher geschlussfolgert,<br />

dass sich der „Spion“ darum sorgte, dass dieser Krieg nicht mit einem<br />

Endsieg für diesen Psychopaten aus Braunau am Inn enden darf, der als<br />

Kind immer geärgert worden war, er hätte jüdische Vorfahren. Schon<br />

damals in der größten DDR auf der Welt hatte ich eine Leidenschaft für<br />

treffsicheren politischen Humor. So verwundert es nicht, dass mir ein<br />

Spruch des Diplomaten von Etzdorf gefällt. Bei passender Gelegenheit<br />

brachte er „in Anlehnung an den Titel einer Schrift von Schopenhauer:<br />

Die Welt als Wille und Vorstellung die wirklichkeitsfremde Denkweise<br />

Hitlers auf den bitteren Nenner: Die Welt als Wille ohne Vorstellung“.<br />

Wenn ich hier behaupte, man hätte aus der Abwehr zum Chef machen<br />

können, wen man wollte, so wird das unter anderem damit illustriert,<br />

dass auch der nächstbeste Kandidat auf deutscher Seite gekämpft hat<br />

und nicht auf der österreichischen, zumindest nicht für Hitlermausi.<br />

„Als Gehlens Stellvertreter Gerhard Wessel unterrichtet wurde, dass<br />

der Umsturzversuch missglückt war, öffnete er mit einem Nachschlüssel<br />

den Schreibtisch seines erkrankten Chefs und vernichtete die<br />

belastenden Unterlagen. Als die Gestapo dann am nächsten Tag in<br />

Gehlens Büro eindrang, konnte sie keinen Hinweis auf die konspirative<br />

Verbindung des FHO-Chefs zum Widerstandskreis mehr finden. So<br />

blieb dem General ein ähnliches Schicksal erspart wie dem Abwehrchef,<br />

Admiral Wilhelm Canaris, der wenige Monate später im Konzentrationslager<br />

Flossenbürg unter dem Fallbeil starb.“<br />

Ein anderer Akteur neben Gehlen, der den Amerikanern später Angst<br />

vor den Sowjets einjagte, war Hans Herwarth von Bittenfeld. Er war<br />

Ende der dreißiger Jahre ein Diplomat an der deutschen Botschaft an<br />

der Moskwa. „Er erzählte US-Vertrauensleuten alle Einzelheiten der<br />

deutsch-sowjetischen Annäherung von 1939. Nach dem Krieg wurde er<br />

Protokollchef des Auswärtigen Amtes (bis 1955), Botschafter in London<br />

100


<strong>1945</strong><br />

(1955-1961), Chef des Bundespräsidialamtes (1961-1965), Präsident des<br />

Goethe-Institutes (1971-1977) und nach der Pensionierung Aufsichtsratsvorsitzender<br />

der Deutschen Unilever.“<br />

Wie begeistert dieser deutsche Diplomat von Hitlers Außenpolitik war,<br />

erfahren wir von Strauß: Hans Herwarth von Bittenfeld „war ein hoch<br />

angesehener Diplomat, der in den dreißiger Jahren an der Deutschen<br />

Botschaft in Moskau tätig gewesen war und am Tag nach dem Hitler-<br />

Stalin-Pakt aus Protest in das Heer eintrat, ein mutiger Schritt, aus<br />

dem er nie Aufhebens machte.“ Erläuternd hieß es an anderer Stelle:<br />

„denn die Wehrmacht, namentlich das Heer, war keineswegs die<br />

Speerspitze des Nationalsozialismus, sie war im Gegenteil in gewisser<br />

Weise sogar ein Refugium, das vor vielerlei Zumutungen des Regimes<br />

eine gewisse Zuflucht bot. Auch Hitler hat das nicht anders gesehen,<br />

schließlich kam aus dem Heer der einzige ernst zu nehmende Schlag<br />

gegen ihn.“<br />

Sehr viel deutlicher noch als Strauß wurde der Autor Peter Hoffmann<br />

in seinem Aufsatz für Aufstand des Gewissens <strong>–</strong> Militärischer Widerstand<br />

gegen Hitler und das NS-Regime: „Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />

gab es im nationalsozialistischen <strong>Deutschland</strong> offen organisierten<br />

Widerstand nur vonseiten der Kirchen und der Reichswehr; danach<br />

stellten sich einzelne, meist an einflussreicher Stelle, aber nicht unter<br />

Berufung auf ihre Amtspflicht, sondern in persönlicher Gewissensentscheidung<br />

gegen das Regime. Bei Ausbruch des Krieges kamen zu den<br />

Berufssoldaten und Wehrdienstpflichtigen Regimegegner aus zivilen<br />

Berufen in die Wehrmacht, z. B. in das OKW/Amt Ausland/Abwehr der<br />

Jurist und Reichsgerichtsrat Dr. Hans v. Dohnanyi als Sonderführer<br />

(Major), ferner Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, die Juristen Dr. Hans<br />

Bernd Gisevius und Dr. Josef Müller [über ihn werden Sie mehr hören,<br />

und nach weiteren Namen schließt dieser Satz mit] Peter Graf York,<br />

Ulrich Graf Schwerin, Hans Herwarth v. Bittenfeld dienten im Heer.“<br />

Sollten Sie die Wehrmacht für einen gewöhnungsbedürftigen Fluchtpunkt<br />

für oppositionelle Zivilisten halten, dann geht es Ihnen wie mir.<br />

101


<strong>1945</strong><br />

Darauf muss man ja wirklich erst einmal kommen. Aber dort sind die<br />

Waffenträger in einer großen Anzahl zu finden, die gegen scheußliche<br />

Zustände mehr tun können, als Flugblätter gegen den Krieg verteilen.<br />

Die von den Leuten noch nicht einmal gelesen werden. Sehr energisch<br />

verteidigt Hans Bernd Gisevius in den zwei Bänden Bis zum bittern Ende,<br />

die 1947 erschienen, die Frauen und Männer, die in ihren Ämtern verblieben,<br />

um gegen Diktatur und Krieg zu kämpfen. Er klärt, dass „von<br />

außen“ wenig zu erreichen war. Unter anderem heißt es bei ihm, der<br />

sicher über jeden Zweifel erhaben ist: „Nein, die Linke hatte einfach<br />

keine Chance, dabeizusein! Denn politisch und soziologisch standen<br />

die Angehörigen der Mitte und Rechten den Generälen und hohen<br />

Staatsbeamten näher. Und darauf kam es an, nachdem die Möglichkeit<br />

eines Aufstandsversuches von unten verpasst war.“<br />

Und woher weiß so ein oppositioneller Zivilist, wo er sich hinwenden<br />

muss mit seinem Anliegen? Da kann man ja nicht den Flur lang gehen,<br />

nach dem Lottoprinzip mal an eine Tür klopfen und sagen: Guten Tag,<br />

ich bin der oppositionelle Zivilist. Ich will jetzt mal etwas gegen die<br />

scheußlichen Zustände unternehmen. Das ging damals böse ins Auge.<br />

Aber ein solches Vorgehen war 1939 schon nicht mehr nötig: „Oberstleutnant<br />

Oster war auch der maßgebliche Verbindungsmann zu zivilen<br />

Oppositionellen, vor allem aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes.<br />

Dort hatten einige verantwortungsbewusste Diplomaten ebenfalls die<br />

Gefahren von Hitlers außenpolitischem Hasardspiel erkannt.“<br />

Wenn ich den Autoren des Buches Verrat in der Normandie <strong>–</strong> Eisenhowers<br />

deutsche Helfer, den empörten Friedrich Georg, richtig verstehe, hatten<br />

neben Reinhard Gehlen allerdings noch weitere deutsche Militärs die<br />

Gefahren der verbrecherischen Kriegsführung erkannt und dem Krieg<br />

den Krieg erklärt. Die National-Zeitung war so freundlich, sein feines<br />

Buch publik zu machen.<br />

Friedrich Georg hat in mühevoller Detailarbeit den Weltkrieg nachträglich<br />

gewonnen, ein Unterfangen, das ich früher immer für einen<br />

ziemlich sinnlosen Zeitvertreib für ältere Herren und für kleine Jungs<br />

102


<strong>1945</strong><br />

hielt. Im einleitenden Text wird gesagt, dass der empörte Autor der<br />

Frage nachgeht, „ob organisierter Verrat und Sabotage durch hohe<br />

und höchste deutsche Offiziere den Erfolg der alliierten Landung in<br />

der Normandie erst möglich gemacht haben. Autor Friedrich Georg<br />

geht zahlreichen Anzeichen nach, dass es im Juni 1944 am Atlantikwall<br />

eine organisierte Verschwörung gegeben haben könnte. Neue Erkenntnisse,<br />

die sich aus der Freigabe geheimer russischer Archive, aus<br />

Berichten von Militärwissenschaftlern, Memoiren der Beteiligten, sowie<br />

kritischen Untersuchungen von Fachleuten ergeben, erfordern<br />

nach Ansicht des Verfassers eine völlig neue Sicht auf die Invasion.<br />

Georg hat eine atemberaubende Indizienkette zusammengetragen, die<br />

es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass allein Zufall für das Versagen<br />

der deutschen Seite verantwortlich gewesen ist.“<br />

In einem Interview wurde der Autor gefragt: „Obwohl die Verteidiger<br />

am Strand von der deutschen Führung ihrem Schicksal überlassen<br />

wurden, hätten diese über Stunden beinahe allein schon die Landung<br />

in Bedrängnis gebracht. Die deutsche Hauptmacht aber wartete bis<br />

Ende Juli 1944 untätig Gewehr bei Fuß auf eine angebliche zweite alliierte<br />

Invasion in Pas-de-Calais, die nie kam. Hätte die Invasion in der<br />

Normandie beim rechtzeitigen Einsatz aller deutschen Einheiten abgewehrt<br />

werden können?“<br />

Darauf antwortete der empörte Autor Friedrich Georg: „Ja, eindeutig.<br />

Hier sind sich alle Fachleute auf beiden Seiten der ehemaligen Kriegsgegner<br />

einig. Es standen genügend deutsche Truppen bereit, um noch<br />

in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 in den Invasionsraum herangeführt<br />

zu werden, da hätte man noch nicht einmal die 15. Armee in<br />

Pas-de-Calais als Sicherheitsreserve benötigt. Nach der unterbliebenen<br />

rechtzeitigen Alarmierung der Küstenverteidigung war das Ausbleiben<br />

des vom deutschen Kriegsplan geforderten gepanzerten Gegenstoßes<br />

der zweite bisher unerklärliche Kardinalfehler der deutschen Verteidigung.<br />

Stattdessen überließ man die Verteidiger am Strand ihrem<br />

Schicksal, nachdem man ihnen noch wenige Tage vor der Landung die<br />

Hälfte der Munition weggenommen und nach hinten abgefahren hatte.<br />

103


<strong>1945</strong><br />

Dennoch brachten die wenigen stationären Divisionen der Strandverteidigung<br />

die Invasionstruppen zeitweise in große Schwierigkeiten,<br />

und so gab es vom 10.<strong>–</strong>15. Juni 1944 in London eine inoffizielle Erörterung<br />

der englischen und US-amerikanischen Stabschefs. Dabei beschloss<br />

man sowohl den Ausbau des Landungskopfes als auch den<br />

Rückzug der alliierten Truppen, falls die Wehrmacht ihren Widerstand<br />

verstärken und innerhalb von sieben bis acht Tagen einen größeren<br />

Gegenschlag führen würde. Dies fand nicht statt, stattdessen hielten<br />

die inadäquaten Handlungen des OKW und der Befehlshaber der Heeresgruppen<br />

an. Der dritte große Fehler der Deutschen war, die in unmittelbarer<br />

Nähe vorhandenen Reserven Wochen oder Monate hindurch<br />

nicht einzusetzen. Ein in der Kriegsgeschichte nahezu einmaliger<br />

Vorgang. Trotz allem befanden sich die Alliierten noch Mitte Juli<br />

1944 in einer Krise, was die Deutschen nicht einmal bemerkten.“ Das<br />

lag dann sicherlich daran, dass Deutsche in aller Regel doof sind und<br />

nichts bemerken. Jeder darf jedoch selbst entscheiden, ob er meint, es<br />

habe sich bei den Fehlern der führenden deutschen Offiziere wirklich<br />

um Fehler gehandelt <strong>–</strong> und worin zu jener Zeit die Alternative bestand.<br />

Der Redakteur der National-Zeitung fragte danach: „Worauf führen Sie<br />

zurück, dass die deutschen Verteidigungskräfte zurückgehalten wurden<br />

und sich auf der Kommandoebene der Deutschen Fehler an Fehler<br />

reihte?“ Darauf antwortete der verzweifelte Friedrich Georg: „In Anbetracht<br />

der lückenlosen Indizienkette mehr als höchst merkwürdiger<br />

Ereignisse im Umfeld der Landung, die für die deutschen Betroffenen<br />

an der Front oft tragisch endeten, bleibt jedem objektiven Betrachter<br />

nur der eindeutige Schluss übrig, dass wir es hier mit einer organisierten<br />

Aktion hoher und höchster deutscher Offiziere zu tun haben. Gemeinsames<br />

Ziel war die eigene Niederlage!“ Bei der Analyse der Front<br />

im Westen deckt sich das bei den „inadäquaten Handlungen des OKW“<br />

sogar in der Wortwahl mit Valentin Falins Darstellung in Zweite Front.<br />

Auf die Frage: „Wussten die Westalliierten, dass Verrat und Sabotage<br />

auf der deutschen Seite ihnen in die Hände spielen würde?“ sagte Herr<br />

Georg: „Seit 1943 waren hier aktive Verhandlungen im Gange, um den<br />

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<strong>1945</strong><br />

Alliierten ihre riskante Landung mit deutscher Hilfe zu ermöglichen.<br />

Die Verhandlungen liefen vor allem über die Türkei, Spanien und die<br />

Schweiz. Maßgebend war wohl das Treffen zwischen Canaris, Donovan<br />

und Menzies in Santander im Sommer 1943, das alles Weitere in die<br />

Wege leitete. Bis Mai 1944 lagen Roosevelt mehrere deutsche Angebote<br />

vor, die Invasion zu erleichtern. Aus dem Leverkühn-Brief wissen wir,<br />

dass dazu verspätete Abwehrmaßnahmen gehörten, wie sie dann ja<br />

auch erfolgten. Eisenhower durfte also darauf hoffen, dass sein Landungsrisiko<br />

verringert werden würde.“<br />

Stellvertretend für die amerikanische Wahrnehmung dieser Vorgänge<br />

soll James H. Critchfield zu Wort kommen, der während dieses Krieges<br />

Offizier der US-Army war: „Der Verlauf des Krieges änderte sich rasch.<br />

Die an der Westfront operierenden deutschen Streitkräfte versuchten<br />

nicht länger, den vorstoßenden alliierten Truppen entschlossenen Widerstand<br />

entgegenzusetzen.“ Das erklärte er sich so: „Nach den Vorstellungen<br />

der meisten deutschen Befehlshaber war die Beendigung<br />

des Krieges durch einen Sieg der Westmächte derjenigen durch einen<br />

Sieg der Sowjets vorzuziehen.“<br />

Rückte Präsident Franklin D. Roosevelt auch deshalb vom Morgenthau-<br />

Plan des Finanzministeriums ab, der eine Deindustrialisierung unseres<br />

Landes vorsah, und folgte schließlich dem Rat des Kriegsministeriums,<br />

der empfahl, mit den Deutschen „milde umzugehen“? Als eine Gegenleistung<br />

für die Unterstützung des Sieges über Nazi-<strong>Deutschland</strong>? Das<br />

könnte man denken, wenn man Zweite Front von Valentin Falin liest.<br />

Der Gewinner Georg wurde auch gefragt, „welche hohen und höchsten<br />

deutschen Offiziere“ dabei eine entscheidende Rolle gespielt hätten,<br />

worauf Georg sagte: „Wir können hier nur von Indizien ausgehen, die<br />

aber teilweise recht massiv und überzeugend sind. Danach sind die<br />

Handlungen von Canaris, Speidel, Dollmann, von Roenne, Wagner,<br />

Finkh und später von Kluge sehr auffällig <strong>–</strong> um es milde auszudrücken.<br />

Eine Vielzahl von weiteren Entscheidungsträgern im Westen und bei<br />

OKW und OKL haben dabei eifrig mitgewirkt. Ich denke hier nur mal<br />

105


<strong>1945</strong><br />

an die Vorgänge bei der Luftwaffe.“ Herr Georg scheint häufig in den<br />

einschlägigen Archiven zu sein und selten in den Büchern von Leuten<br />

zu schmökern, die sich mit dem Widerstand gegen die Naziherrschaft<br />

beschäftigen. Dort findet man Namen der von ihm benannten Männer<br />

nämlich wieder. Es wird nun sicher niemanden verwundern, dass die<br />

Deutschen, die vom Widerstand führender Offiziere gegen den Endsieg<br />

des neuen Napoleon wussten, nach dem Krieg nicht hausieren gingen<br />

mit dem Wissen. Der empörte Autor des Buches Verrat in der Normandie<br />

<strong>–</strong> Eisenhowers deutsche Helfer fand nun durchaus keine Erklärung dafür,<br />

warum sich Deutsche in Entscheidungspositionen für den Krieg gegen<br />

diesen Krieg entschieden hatten. Als ob man sich jetzt die Motive jener<br />

Männer nicht an sehr wenigen Fingern abzählen könnte, gab Georg auf<br />

die diesbezügliche Frage eine freundlich zurückhaltende Antwort: „Es<br />

ist nach über 60 Jahren kaum möglich über die Motive von Leuten zu<br />

sprechen, die teilweise noch nicht einmal bekannt sind. Ich möchte<br />

mich deshalb hier nicht an solchen Spekulationen beteiligen.“<br />

Nö, an solchen Spekulationen über die Motivationen jener Menschen<br />

mochte sich dieser Herr nicht gern beteiligen; aber über seine Spekulationen<br />

zu „Verrat und Sabotage auf der deutschen Seite“ schrieb der<br />

gute Mann ein ganzes Buch. Dafür hat seine Zeit gereicht. Je länger ich<br />

mich mit der Materie beschäftige, desto mehr weiß ich die mäßigende<br />

Wirkung eines guten Pfarrers zu schätzen. Der konnte den kleinen<br />

Jungs beispielsweise schon sehr früh das Bibelwort beibringen, Du<br />

sollst nicht töten <strong>–</strong> mal abgesehen von Zeiten des Krieges. Aber dann<br />

sollst du nicht viehisch töten. Es gab nämlich auch damals schon verabredete<br />

Normen für die Kriegsführung, und wer auch bloß Gerüchte<br />

darüber gehört hatte, wie mit Partisanen in der Sowjetunion oder mit<br />

Partisanen der französischen Resistance umgegangen wurde, wird gebetet<br />

haben, dass es keine Kollektivstrafe für all jene Männer gibt, die<br />

in deutschen Uniformen gesteckt hatten, ganz zu schweigen von ihren<br />

Frauen in der Heimat. Hier dürfte sicherlich auch ein Zusammenhang<br />

zu den Aufständen der Wehrmacht gegen die SS in Wien und in Paris<br />

im Zusammenhang mit dem Attentat von 1944 bestehen.<br />

106


<strong>1945</strong><br />

Lassen wir uns von Reinhard Gehlen verraten, wie auch er in den Club<br />

geholt wurde: „Im Jahre 1943 wies mich General Heusinger kurz in die<br />

Widerstandsvorbereitungen ein. Nach allen Feststellungen und Überlegungen,<br />

die immer wieder auf Hitler als den Verantwortlichen für<br />

die bevorstehende Katastrophe führten, kamen mir Heusingers Hinweise<br />

nicht überraschend; gehörte doch der General, ebenso wie ich,<br />

zum Kreise derer, denen alle Nachrichten zugänglich und damit auch<br />

die Folgen für unser schwer ringendes Vaterland erkennbar waren. In<br />

der Folgezeit habe ich mich bemüht, in manchen Unterhaltungen mit<br />

meinem Regimentskameraden Stieff, damals Chef der Organisationsabteilung,<br />

auf die zwingend notwendige Beschränkung des Mitwisserkreises<br />

und vor allem auf allergrößte Vorsicht bei der Vorbereitung<br />

von Gewaltaktionen zur Beseitigung Hitlers hinzuweisen.“ Das erklärt<br />

natürlich, warum Adolf Heusinger unter Konrad Adenauer zum Leiter<br />

des Führungsstabes der Bundeswehr wurde.<br />

Was den letztendlich geleisteten Widerstand angeht, darf er gewiss<br />

auch nur als die Spitze eines Eisberges angesehen werden. Nicht jeder,<br />

der einmal irgendetwas nicht ganz in Ordnung fand, was da in seinem<br />

Blickfeld vorging, ist gleich losgezogen und hat Flugblätter unter das<br />

Volk geworfen. Ganz bestimmt nicht. Für alle, die es vergessen haben <strong>–</strong><br />

<strong>1933</strong> bildete sich in <strong>Deutschland</strong> über mehrere Monate allmählich eine<br />

Diktatur heraus, eine Regierungsform, die bis zu der Zeit hierzulande<br />

ohne historisches Vorbild war. Für den Umgang mit diesem Phänomen<br />

gab es somit auch keine fertige Handlungsanleitung. Seit dem späten<br />

Mittelalter waren die Leute in unserem Raum an eine funktionierende<br />

Rechtsprechung gewöhnt, und es ist umso höher zu würdigen, wenn<br />

einer unter den neuen Umständen auf eigene Faust oder ganz und gar<br />

zusammen mit anderen etwas gegen die neue Erfahrung einer Willkürherrschaft<br />

unternahm. Ich habe am Ende der achtziger Jahre auch in<br />

Bautzen gewohnt und wusste, dass es dort einen Stasi-Knast gab und<br />

habe mich nicht davor gestellt und protestiert. Unter Umständen wie<br />

diesen muss man sicher besonders sorgfältig überlegen, welches Risiko<br />

den Einsatz wert ist, wenn man effektiv etwas bewirken will. Das soll<br />

andererseits nicht gutheißen, wenn jemand gar nichts gemacht hat.<br />

107


<strong>1945</strong><br />

Einen Eindruck von seinen persönlichen Gefühlen in den dreißiger<br />

Jahren lieferte mein Namensgeber, Onkel Reinhard, der 1924 geboren<br />

wurde, in Spiegelbilder meiner Entwicklung: „Wenn in der jüngeren Vergangenheit<br />

ein namhafter Politiker [gemeint war Helmut Kohl, CDU]<br />

den Begriff der »Gnade der späten Geburt« prägte und damit meinte,<br />

Gott sei Dank in eine Zeit hineingeboren zu sein, die eine »Schuldzuweisung<br />

für die Gräuel der Nazizeit« nicht mehr zulasse, so kann bei<br />

meiner Generation wohl eher von einem »schicksalhaft gnadenlosen<br />

Geburtstermin« gesprochen werden. Mit dem politischen Umbruch<br />

<strong>1933</strong> wurden Weichen gestellt, die unsere Nation direkt ins Verderben<br />

lenkten. Als das Volk den neuen Herrschern zujubelte, waren wir noch<br />

Kinder, und so prägte mich diese Zeit nachhaltig. Frühzeitig geriet ich<br />

in einen Zwiespalt. Mein sozialdemokratisches Elternhaus lehnte das<br />

an die Macht gekommene Regime ab. Schule und Hitlerjugend verlangten<br />

von mir, der neuen Ideologie bedingungslos zu folgen; und das,<br />

obwohl uns diese Institutionen <strong>–</strong> aus heutiger Sicht betrachtet <strong>–</strong><br />

gnadenlos und systematisch auf einen Krieg vorbereiteten, der ohne<br />

den Endsieg nicht vorstellbar war. Ich kann sagen, dass die damals<br />

erlernte Maxime, etwas zu akzeptieren, was ich selbst bzw. mein<br />

Elternhaus ablehnte, sowohl meine Kindheit als auch die Zeit darüber<br />

hinaus stark beeinflusst hat.“<br />

Warum wurde diese für <strong>Deutschland</strong> historisch neue Zwangssituation<br />

für die Nachgeborenen nicht realistisch vermittelt? Warum wurde so<br />

verfahren, wie es der Journalist und der spätere Diplomat Günter Gaus<br />

beschrieben hat: „Der in der Bundesrepublik mehrheitlich anerkannte<br />

Widerstand gegen die damalige Mehrheit des deutschen Volkes, die<br />

nationalsozialistischen Bürokraten, Handlanger und Mitläufer in allen<br />

Schichten der Gesellschaft, war bald nach der Staatsgründung im Jahre<br />

1949 auf die Opposition in Stabsquartieren, auf Rittergütern und in<br />

großbürgerlichen Herrenzimmern eingegrenzt worden. So wurde der<br />

befremdliche Vorgang von Verweigerung, von Unangepasstheit für die<br />

<strong>–</strong> tonangebende, breit gewordene, in manchen Formen neuartige, in<br />

den Machtstrukturen und Abhängigkeiten jedoch weithin restaurierte<br />

<strong>–</strong> Mittelstandsgesellschaft in Kreise versetzt, zu denen man aufblicken<br />

108


<strong>1945</strong><br />

konnte, ohne sich im Verhalten und Benehmen mit ihnen vergleichen<br />

zu müssen. Ein Widerstand <strong>–</strong> nicht tatsächlich, aber in der öffentlichen<br />

Vorstellung <strong>–</strong> wie auf dem satinierten Papier der »Eleganten Welt«.<br />

Des Widerstands aus der Wohnküche, in Arbeitervierteln der Großstädte,<br />

der sich in aller Ohnmacht früher regte als der auf den Landsitzen<br />

und in Generalkommandos, wurde nach dem Kriege fast immer<br />

nur in betroffenen Zirkeln gedacht, wenig oder gar nicht von Staats<br />

wegen. Das Verschwinden des sozialdemokratischen Stadtverordneten<br />

aus der kleinbürgerlichen Nachbarschaft im Lager <strong>–</strong> das hätte selbst<br />

noch in der Erinnerung verlegen machen können.“ Und hätte, wäre es<br />

behutsam angewandt worden, heilsam gewirkt; stattdessen wurde die<br />

Erinnerung an diese Form des Widerstands verdrängt und abgewürgt.<br />

Wenn da aber viele in den deutschen Eliten, viele, die dafür in die KZs<br />

gegangen wurden, und viele, die nicht den Arsch in der Hose hatten,<br />

etwas zu unternehmen, gegen diesen größenwahnsinnigen Krieg und<br />

diesen furchterregenden Rassismus waren, so kann man mit Sicherheit<br />

nicht mehr von einem Dolchstoß reden. Dann hatte der Österreicher<br />

am Tage seiner Machtergreifung eher eine entsicherte Handgranate<br />

geschluckt. Eine Diktatur hat eben ihre eigenen Spielregeln, und es ist<br />

nicht einfach, dann brauchbare Leute zusammenzukriegen, mit denen<br />

man am Ende Pferde stehlen kann. So hat man sich das vorgestellt. Die<br />

Leute haben ruhiggehalten, also wollten sie tote Juden und den irren<br />

Krieg gegen den Rest der Welt. 98,7 Prozent.<br />

Wenn jemand mal Zeit hat, kann er mir vielleicht erklären, warum wir<br />

hier einfach kein ausgewogenes Geschichtsbild zustande bekommen.<br />

Kann man nicht sagen, dass sich in den dreißiger und vierziger Jahren<br />

bei den Deutschen ein Zivilisationskampf abspielte? Die einen waren in<br />

ihrem Übereifer zu jeder Schandtat bereit und hatten leider die Staatsführung<br />

auf ihrer Seite, und die anderen hatten leider Gottes in diesen<br />

Jahren die Staatsführung und die Justiz nicht auf ihrer Seite. Wem ist<br />

denn nur damit gedient, wenn die Ablehnung jenes völlig überhöhten<br />

Nationalismus in einer vergangenen Zeit danach zu einer pauschalen<br />

Verurteilung des Nationalstolzes führte? Sonst hätte man nach dem<br />

109


<strong>1945</strong><br />

Krieg konsequenterweise auch unsere Autobahnen wegreißen müssen.<br />

Ausgerechnet von Herrn Gehlen stammt folgende Erkenntnis: „Dieses<br />

wahrhaft stolze Gefühl meiner französischen Partner, ja aller Franzosen<br />

über die Parteien hinweg, hat mich häufig beeindruckt. Es drückte<br />

sich aus in den Worten eines französischen Freundes, der mir einmal<br />

sagte: »Nur der kann ein zuverlässiger Europäer werden, der zunächst<br />

einmal ein guter Franzose, ein guter Engländer, ein guter Italiener<br />

oder ein guter Deutscher ist und auf das Gute in der geschichtlichen<br />

Tradition seines Landes stolz ist.«“ So kann man das auch betrachten.<br />

Stefan Luft trat mit einem Buch für ein anderes Konzept bei der Integration<br />

von Zuwanderern nach <strong>Deutschland</strong> auf den Plan. Dort zitierte<br />

er unter anderem aus einem Artikel eines Reinhard Müller, der am<br />

3. November 2005 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand: „Woher<br />

soll der Stolz von Einwanderern auf das neue Heimatland kommen,<br />

wenn selbst die einheimische Elite ein distanziertes Verhältnis dazu<br />

pflegt? <strong>Deutschland</strong> ist ein Land, in dem Minister Probleme mit Amtseid<br />

und Hymne haben; in dem man selbst in Veranstaltungen des<br />

Goethe-Instituts mitunter kaum ein deutsches Wort hört; wo auf mancher<br />

Konferenz der Max-Planck-Gesellschaft ausschließlich deutsche<br />

Teilnehmer auf englisch radebrechen; ein Land, dessen führende<br />

Konzerne sich global nennen und gebärden, obwohl doch alle Welt<br />

sie als deutsch (oder gar bayerisch) wahrnimmt; ein Land, das das Interesse<br />

der Welt an seiner Sprache und an seinem Rechtssystem mit<br />

der Kürzung der Mittel für den Kultur und Wissenschaftsaustausch beantwortet.<br />

Warum sollte sich ein Türke zu diesem Land bekennen, das dessen<br />

eigene Bürger verachten?“ Schön ist auch sein Hinweis, dass in diesem<br />

Land jede Kultur willkommen ist, die nicht mit dem Attribut deutsch<br />

in Verbindung steht. Ich wünsche mir, dass den Kindern mit Stolz von<br />

den Männern und den Frauen erzählt wird, die in vielen Bereichen der<br />

Gesellschaft das ihnen Mögliche für das Ende der Herrschaft der Nazis<br />

und für ein Ende des Krieges getan haben. Mit Nationalstolz. Weil es<br />

nicht hilft, ihn wegzudiskutieren. Das gelingt ohnehin nur in einem<br />

Spektrum, das nicht zum Nazismus neigt, und überlässt sinnigerweise<br />

110


<strong>1945</strong><br />

den Stolz auf dieses Land und seine Geschichte denen, die dem Namen<br />

dieses Landes Bärendienste erwiesen haben und noch heute erweisen.<br />

Als erstes Zeichen der schon lange überfälligen Perestroika in diesem<br />

Land will ich nie mehr verlogene Reden am 3. Oktober, dem Todestag<br />

von Franz Josef Strauß und späteren Tag der deutschen Einheit, hören<br />

müssen. Dieses Datum hatte sein bester Intimfeind, Helmut Kohl, super<br />

ausgewählt. Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den<br />

15. November als deutschen Staatsfeiertag, den Geburtstag von Claus<br />

Philipp Maria Graf Schenk von Stauffenberg. Wegen der Wahrheit und<br />

Klarheit der deutschen Politik.<br />

Damit komme ich zurück zu Aufstand des Gewissens <strong>–</strong> Militärischer Widerstand<br />

gegen Hitler und das NS-Regime. Die Beteiligung eines Franz Josef<br />

Strauß an der Verschörung wurde in dem Produkt aus dem Jahre 1985<br />

noch nicht erwähnt. Zu jener Zeit gab er seinem Publikum noch den<br />

Beelzebub. Hätte man um dieses feine Detail eher gewusst, wäre er von<br />

einigen sicher eher für den Dolchstoß gehalten worden. In dem Buch<br />

wurde zumindest angemerkt: „Schon die Ermittlung der Fakten war<br />

und ist <strong>–</strong> wie sich das angesichts des Untersuchungsgegenstandes fast<br />

von selbst versteht <strong>–</strong> äußerst schwierig. Trotzdem hat die historische<br />

Forschung in mehr als drei Jahrzehnten ohne Zweifel Bedeutendes geleistet,<br />

so dass die Militärgeschichte in vielen wichtigen Bereichen auf<br />

einigermaßen gesichertem Boden steht. Selbst diese Ergebnisse sind<br />

jedoch in der Bundeswehr und in der Öffentlichkeit keineswegs so verbreitet,<br />

dass die Teilnehmer der Diskussionen über dieses Thema <strong>–</strong> und<br />

der 40. Jahrestag des 20. Juli 1944 wird in besonderer Weise zu intensiver<br />

Diskussion anregen <strong>–</strong> von einer gemeinsamen Wissensgrundlage<br />

ausgehen können.“ Eine solche gemeinsame Wissensgrundlage hätten<br />

wohl auch die Alliierten gut gebrauchen können. Die Forschung hinkt<br />

ja sowieso immer hinterher; doch die Beteiligten haben gewusst, wer<br />

an all den verschiedenen missglückten Staatsstreichen beteiligt war;<br />

schwiegen sich darüber aber aus und forderten Schlesien zurück.<br />

111


<strong>1945</strong><br />

Die Auswahl des Personals für die Staatsführung im Westen<br />

Einer der Widerstandsgruppen gehörte jener Claus Graf Schenk von<br />

Stauffenberg an, der nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler<br />

vom 20. Juli 1944 am frühen Morgen des nächsten Tages hingerichtet<br />

worden war. Auch wenn dieses Attentat weder den Tod der anderen<br />

Hälfte der deutschen Kriegsopfer, die in der Zeit zwischen Juli 1944<br />

und Mai <strong>1945</strong> umkamen, noch das Sterben in den Lagern der Nazis verhindern<br />

konnte, handelte es sich doch um einen gut organisierten<br />

Staatsstreich, der eine neue Führung des Staates und des Militärs zur<br />

Folge haben sollte. Im Jahr 1944 standen für alle wichtigen Positionen<br />

im Reich schon Nachfolger bereit. Viele der Verschwörer wurden in<br />

den Wochen und Monaten nach dem Attentat furchtbar gefoltert, und<br />

einige von ihnen wurden damals grauenvoll hingerichtet. Das soll nun<br />

nicht verspätetes Mitleid bewirken, sondern eine Vorstellung von den<br />

Gefühlen vermitteln, mit denen die Überlebenden dieser Kreise in den<br />

Jahrzehnten nach dem Krieg ihre durchaus raffinierten Schachzüge in<br />

der Innen- und Außenpolitik umgesetzt haben. Es war die von mir sehr<br />

verehrte Schriftstellerin Christa Wolf, die in ihrer Kassandra die denkwürdige<br />

Erkenntnis festhielt: „Viel später fiel mir auf, dass, wie ein<br />

Mensch sich gegenüber Schmerz verhält, mehr über seine Zukunft<br />

verrät als die meisten andern Zeichen, die ich kenne.“<br />

Von Helmut Schmidt stammt die Schilderung von einem der Prozesse<br />

gegen die Anti-Hitler-Verschwörer von 1944 vor dem Volksgerichtshof<br />

in Leipzig: „Es war der Prozess gegen Leuschner, Goerdeler, von Hassel<br />

und Wirmer. Besonders habe ich Hassel und Wirmer erlebt, die einen<br />

vorzüglichen Eindruck auf mich gemacht hatten; sie standen mannhaft<br />

und bewahrten ihre Würde. Die ganze Verhandlung war aber nur<br />

eine Selbstdarstellung Roland Freislers [von 1942 bis <strong>1945</strong> Präsident<br />

des faschistischen »Volksgerichtshofes«], der dabei Goebbels’sche Intelligenz<br />

und demagogische Zungenfertigkeit mit dem Jargon des Pöbels<br />

vereinigte; sie war so bedrückend, dass ich nicht vermochte, auch<br />

den zweiten Tag wieder hinzugehen.“<br />

112


<strong>1945</strong><br />

Im Kern waren es wohl wirklich die Überlebenden des misslungenen<br />

Staatsstreiches vom Juli 1944, die dieses Land nach dem Krieg in neue<br />

Bahnen lenkten. Andreas Hermes wurde der erste Vorsitzende der<br />

Christlich-Demokratischen Union (CDU). „Hermes engagierte sich im<br />

Widerstand gegen das NS-Regime und hatte Kontakte zum Kreis um<br />

Carl Friedrich Goerdeler und zum Kreisauer Kreis. Nach dem Attentat<br />

vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und auf Grund seiner Nennung<br />

auf einer Ministerliste von Goerdeler als möglicher Landwirtschaftsminister<br />

am 11. Januar <strong>1945</strong> zum Tode verurteilt. Als Hauptmotiv für<br />

seine Beteiligung am Widerstand nannte er seine christliche Weltanschauung.<br />

Seine Frau erreichte, dass die Vollstreckung des Urteils<br />

mehrmals aufgeschoben wurde. Die Eroberung Berlins durch sowjetische<br />

Truppen bewahrte Hermes vor der Hinrichtung.“<br />

Es fällt allerdings auf, dass ein Teil der Beteiligten für die Idee einer<br />

Teilung des Landes nicht zu erwärmen war. Das bedeutet, dass sich<br />

noch während des Dritten Reiches in den kleinen Gesprächsgruppen,<br />

die sich damals trafen, herauskristalliert hatte, wer nun eine gesamtdeutsche<br />

Lösung vorzog und wer die Teilung dieses Landes als Lösung<br />

aller Probleme ansah. Aus den Umständen ergibt sich, dass den Befürwortern<br />

einer gesamtdeutschen Lösung nicht mitgeteilt wurde, dass<br />

das Konzept für die Teilung längst fertig war und die Vorbereitungen<br />

bereits im Gange. In jenen Monaten war ja General Gehlen mit seinen<br />

Mitarbeitern schon dabei, jene Feindlageberichte über die Rote Armee<br />

zu erstellen, die man den Amerikanern zu übergeben gedachte. Nach<br />

dem Krieg tobte zwischen diesen Gruppen die Auseinandersetzung.<br />

Andreas Hermes war offensichtlich einer von denen, die sich eine antifaschistische<br />

Neuordnung im Rahmen des ganzen Landes vorstellen<br />

konnten. Das dürfte der Grund gewesen sein, warum er nicht lange<br />

von Bedeutung war. Es fällt darüber hinaus auf, dass jene, die ins Exil<br />

gingen und auf eine europäische Friedensordnung geeicht worden<br />

waren, danach trachteten, den Kalten Krieg zu beenden und das Land<br />

zu vereinigen. Sicher erinnern Sie sich auf der anderen Seite auch<br />

noch an die Hinrichtung von Dr. Benedikt Schmittmann im Jahr 1939,<br />

der im Reichs- und Heimatbund deutscher Katholiken oder auch in der<br />

113


<strong>1945</strong><br />

Reichs-Arbeitsgemeinschaft deutscher Föderalisten versucht hatte, in<br />

den dreißiger Jahren bereits eine Abtrennung der westlichen von den<br />

östlichen Landesteilen zu erreichen.<br />

Eugen Gerstenmaier und Theodor Steltzer aus jenem Kreisauer Kreis<br />

wurden zu außenpolitischen Beratern Adenauers, ein Hans Lukaschek<br />

zum Minister für Vertriebene (das musste dann schon der Richtige<br />

machen), und auch ein Ludwig Erhard, der Vordenker des Wirtschaftswunders,<br />

hatte seine Empfehlung für einen Beraterjob bei Adenauer<br />

vom ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, dem Kopf des zivilen<br />

Widerstandes, Carl Friedrich Goerdeler, persönlich. Adenauer hatte in<br />

Vorbereitung des Staatsstreiches mit Carl Goerdeler Kontakt, und nach<br />

dem Attentat wurde Adenauers Frau gefoltert, weil die Gestapo das<br />

Versteck ihres Mannes herausbekommen wollte. Das wollen Sie sich<br />

ganz bestimmt nicht vorstellen. Und anschließend war der neunundsechzigjährige<br />

Mann nach 1934 erneut und diesmal ein halbes Jahr in<br />

Haft. Frau Adenauer hat damals versucht, sich das Leben zu nehmen.<br />

Sie starb kurz nach dem Krieg. Wollen Sie sich die Gefühle vorstellen,<br />

die der alte Mann den Deutschen gegenüber hatte? Von der Maas bis<br />

an die Memel alle auf den Mond schießen. Der hat die uferlose Sturheit<br />

der Altnazis lächelnd zum Werkzeug seiner Version von Demokratie<br />

gemacht. Franz J. Strauß sehe ich förmlich grinsen, als er brummte:<br />

„Man muss sich der nationalen Kräfte bedienen, auch wenn sie noch so<br />

reaktionär sind <strong>–</strong> mit Hilfstruppen darf man nicht zimperlich sein!“<br />

Konrad Adenauer wurde 1949 Kanzler der BRD, und Kurt Schumacher,<br />

der es bei einem anderen Wahlausgang geworden wäre, wurde wegen<br />

des Attentates 1944 auch wieder verhaftet. Der Wirtschaftsfachmann<br />

Ludwig Erhard von C. Goerdelers Gnaden wurde im Jahr 1963 Kanzler.<br />

Und welches Vorleben hatten andere Kanzler in Bonn am Rhein?<br />

Kurt Georg Kiesinger (NSDAP, später CDU) hatte an seinem Arbeitsplatz<br />

im Reichsaußenministerium „während seiner Tätigkeit in der<br />

rundfunkpolitischen Abteilung antijüdische Aktionen gehemmt und<br />

verhindert“. Es steht nicht in Frage, dass er <strong>1933</strong> in die NSDAP eintrat.<br />

114


<strong>1945</strong><br />

Wer allerdings verurteilen will, dass er aus der Partei nicht austrat, als<br />

klar wurde, wohin der Zug fuhr, sollte wissen, dass es auch in der<br />

nächsten deutschen Diktatur das weitaus größere Politikum war, aus<br />

der SED auszutreten, als gar nicht erst einzutreten. Davon abgesehen<br />

wäre es auch hilfreich gewesen, wenn sich mehr SED-Mitglieder einer<br />

weiteren Mitwirkung verweigert hätten, als sie bemerkten, dass ihnen<br />

ihr Eintritt in diese Partei nicht die erhoffte Möglichkeit bot, um die<br />

Partei von innen heraus zu verändern. Dieser Zeitpunkt wäre geeignet<br />

gewesen, um zu bemerken, dass es sich schon wieder um eine Diktatur<br />

handelte, in der der Einzelne, der daran etwas ändern will, nur die<br />

Möglichkeit hat, seine eigene Person aus dem Räderwerk zu nehmen,<br />

um es auf diese Art allmählich lahmzulegen.<br />

Der Katholik Kurt G. Kiesinger entzog sich dem Staat ohne Zeitverzug<br />

und „betätigte sich nach der zweiten juristischen Staatsprüfung, die er<br />

im Sommer 1934 ablegte, als freiberuflicher Rechtsanwalt und privater<br />

Rechtslehrer (Repetitor für Staats- und allgemeines Recht an der<br />

Friedrich-Wilhelm-Universität) in Berlin. Über weitergehende Kontakte<br />

zur NSDAP oder zu einer ihrer Untergliederungen verfügte er<br />

von nun an nicht mehr. Im Gegenteil: Er vermied es tunlichst, in den<br />

Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund (NSRB) einzutreten. Das<br />

war für einen Juristen im »Dritten Reich« eine seltene Ausnahme. Sein<br />

Name wurde im Berliner Anwaltsverzeichnis nicht im umfangreichen<br />

Teil der Mitglieder des NSRB, sondern zumindest bis 1938 zusammen<br />

mit den jüdischen Anwälten im angehängten schmalen Teil aufgelistet.<br />

Für eine Karriere war das auf alle Fälle wenig förderlich.“<br />

Da konnte er sich auf alle Fälle schon einmal mit dem Phänomen der<br />

Diskriminierung der Juden auseinandersetzen. Ich weiß nicht, ob man<br />

seit 1938 ein gebürtiger Jude sein musste, um in diesen angehängten<br />

schmalen Teil hineinzukommen, oder ob Juden schon 1938 aus dem<br />

Berliner Anwaltsverzeichnis gänzlich verschwanden.<br />

Kiesinger war sicher kein Hellseher, der im Sommer 1934 wusste, dass<br />

der Spuk nur noch elf Jahre dauern würde und dass ihm der Verzicht<br />

115


<strong>1945</strong><br />

auf eine berufliche Karriere unter den damaligen Umständen später<br />

eine politische Karriere ermöglichen würde. Geplant waren erstmal<br />

eintausend Jahre Drittes Reich, in denen es nach dem Chaos der Krise<br />

sozialpolitisch für die Mitschwimmer bis 1939 jedes Jahr besser wurde.<br />

Am 1. September 1939 hieß es dann im Radio: Ab heute wird zurückgeschossen;<br />

damit begann Adolf Hitlers Krieg um alles oder nichts. Als<br />

der Mittdreißiger Kiesinger im Frühjahr des Jahres 1940 schließlich<br />

selbst einen Gestellungsbefehl zur Wehrmacht erhalten hatte, half ihm<br />

Vitamin B (Beziehungen oder neu-deutsch auch Connections). „Der im<br />

Auswärtigen Amt tätige Heinz Gerstner wies Kiesinger darauf hin, dass<br />

in der Kulturabteilung Personal gesucht würde.“ Damals konnte man<br />

ja nicht irgendwie mal ganz einfach verweigern, sonst wurde man da<br />

irgendwie ganz einfach erschossen. Da war eine warme Amtsstube im<br />

Auswärtigen Amt doch die angenehmere Alternative. Jürgen Klöckler<br />

sagte auch ein Wort zum weiteren Werdegang des für Kurt Kiesinger<br />

rettenden Strohhalmes: „Heinz Gerstner machte später in der DDR<br />

Karriere als Journalist. Er war u. a. Chefredakteur der Berliner Zeitung<br />

und Moderator der Fernsehsendung Prisma.“<br />

Es ging einige Zeit ins Land, und es wäre Kiesinger um ein Haar auf die<br />

Füße gefallen, was die Deutschen zu allen Zeiten besser beherrschten<br />

als das selbstständige Nachdenken. Sie können andere gut verpfeifen.<br />

„Das Schlüsseldokument zur Rolle Kiesingers im Auswärtigen Amt ist<br />

die Denunziation durch seine beiden Mitarbeiter Ernst Otto Dörries<br />

und Hans Dietrich Ahrens, beide Referatsleiter in der Rundfunkpolitischen<br />

Abteilung. In einer Aufzeichnung vom 7. November 1944, die<br />

dem Reichssicherheitshauptamt und dem Persönlichen Stab des<br />

Reichsführers SS zuging, griffen sie ihn schwer an.<br />

Kiesinger wurde in dem Schriftstück der »Sabotage der antijüdischen<br />

Aktion« beschuldigt. Er sei Vertreter einer »liberalistischen Gesinnung«,<br />

»die entweder bewusst oder unbewusst den Radikalismus der<br />

nationalsozialistischen Weltanschauung ablehnt und als Wunschziel<br />

(oder festes Programm?) einen Ausgleich um jeden Preis mit der<br />

anglo-amerikanischen Welt anstrebt.<br />

116


<strong>1945</strong><br />

In der Rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes . . . ist es<br />

der frühere Verbindungsmann der Abteilung zum Pro[paganda]mi[nisterium]<br />

und jetzige stellvertretende Abteilungsleiter Kiesinger,<br />

der nachweislich die antijüdische Aktion hemmt.« Durch den Zusammenbruch<br />

des Deutschen Reiches im Frühjahr <strong>1945</strong> hatte die Denunziation<br />

keine unmittelbaren Folgen mehr für Kiesinger.“<br />

Jürgen Klöckler bastelte munter weiter an der Legende <strong>–</strong> es ist doch<br />

eine Legende? <strong>–</strong>, dieses Papier sei gerade rechtzeitig vor der Bundestagswahl<br />

1966 im Archiv des Hamburger Spiegel gefunden und Herrn<br />

Kiesinger von Conrad Ahlers (CDU/SPD) überreicht worden. Was man<br />

aber auch alles im Keller irgendwelcher Verlagshäuser finden kann!<br />

Die Insider hatten dieses Papier jedoch nicht gebraucht, um zu wissen,<br />

wen sie da vor sich hatten. Ihnen war Kurt Kiesingers Denken bereits<br />

1947 bekannt. Bei Jürgen Klöckler findet man den bewussten Vorgang<br />

so: „Kiesinger hatte das Glück, dass er über ein kleines »Netzwerk« von<br />

persönlichen Bekanntschaften mit nunmehr maßgebenden Persönlichkeiten<br />

Württemberg-Hohenzollerns verfügte; Bekanntschaften, die<br />

zum Teil schon ein Vierteljahrhundert währten.<br />

Erster Ansprechpartner in politischer Hinsicht war bei Kiesingers<br />

Rückkehr ins Württembergische Paul Binder, den er schon in seiner<br />

Studentenzeit kannte. [...] Auf Vermittlung seines ehemaligen Lehrers<br />

im Rottweiler Seminar, Dr. Karl Amann, durfte Kiesinger bei seinem<br />

Februar-Besuch in Tübingen auch beim Chef des Direktorialamts der<br />

von Carlo Schmid (SPD) geführten provisorischen Regierung, Ministerialrat<br />

G. H. Müller, vorsprechen. Müller, wie Kiesinger ein Intellektueller<br />

und eine Ausnahme-Erscheinung beim politischen Neubeginn,<br />

war in der NS-Zeit auf Grund seiner politischen Einstellung schon<br />

während seines Rechtsreferendariats auf Schwierigkeiten gestoßen<br />

und hatte die ungesicherte Existenz eines freien Schriftstellers einer<br />

Laufbahn im württembergischen Justizdienst, die in seinem Falle mit<br />

laufender Beobachtung durch die NSDAP verbunden gewesen wäre,<br />

vorgezogen.“<br />

117


<strong>1945</strong><br />

Wer in der BRD die zweite Garnitur war und wer die erste Wahl, wird<br />

deutlich, wenn Jürgen Klöckler an den Unglücklichen erinnert, der<br />

Kiesinger von früher her kannte und nunmehr versuchte, ihm aus der<br />

gemeinsamen Mitgliedschaft in dieser NSDAP einen Strick zu drehen:<br />

„Das Dokument wurde auch im Rahmen von Rechercheaufträgen aufgefunden,<br />

die im Umfeld des ehemaligen SS-Obergruppenführers Werner<br />

Best an eine amerikanische Historikerin in den dortigen Archiven<br />

vergeben worden waren. Der Kreis um Best neidete dem ehemaligen<br />

NSDAP-Parteigenossen Kiesinger den steilen bundesrepublikanischen<br />

Aufstieg, während ihnen der Zugang zu öffentlichen und politischen<br />

Ämtern versperrt blieb. Ziel der Recherchen sollte sein, möglichst eine<br />

Verstrickung Kiesingers in die NS-Politik gegen die Juden zu belegen.<br />

Doch dazu taugte die aufgefundene Denunziation überhaupt nicht.“<br />

Wenn Menschen wie er aber solch strahlende Vorbilder waren, harrt<br />

die Frage der Beantwortung, warum die unabhängigen Medien sie<br />

nicht gleich als strahlende Vorbilder darstellten. Kurt Georg Kiesinger<br />

wurde 1966 Kanzler der BRD.<br />

Helmut Schmidt, der Kanzler Brandt von der Verantwortung entband,<br />

schrieb über jene Zeit, die seine Jugend hätte sein können: „1941 in<br />

Russland hatte ich gelernt, mich innerlich auf Gott zu verlassen. Dabei<br />

blieb es auch während der weiteren Kriegsjahre, vor allem wenn die<br />

Angst kam. Aber wir hatten mit einem Übermaß an Angst zu leben:<br />

Angst vor russischer Gefangenschaft, Angst vor Verschüttung im Keller,<br />

Angst vor Aufdeckung der Abstammung, denn mein Großvater<br />

väterlicherseits war Jude, Angst vor einem Kriegsgerichtsverfahren,<br />

Angst vor der Gestapo und dem Volksgerichtshof, die ich als einheitliche<br />

Organisation erlebt hatte. Auch die Angst vor dem Tod hat eine<br />

große Rolle gespielt; man hoffte nur, er ginge schnell vor sich. <strong>–</strong> Das<br />

alles war jetzt im Mai <strong>1945</strong>, Gott sei Dank, zu Ende!“ Helmut Schmidt<br />

wurde 1974 Kanzler der BRD.<br />

Dem Genossen Erich Honecker (geb. 1912) fiel leider erst nach dem<br />

Umsturz vom Herbst 1989 in seiner Gefängniszelle in Berlin-Moabit<br />

auf, dass Dr. Helmut Kohl (geb. 1930) bei den Trauerfeierlichkeiten für<br />

118


<strong>1945</strong><br />

die beiden sowjetischen Staatschefs Jurij Andropow und Konstantin<br />

Tschernenko 1984 und 1985 in Moskau mit ihm über die „Widerstandsbewegung<br />

gegen Hitler, die Geschwister Scholl und andere“ sprechen<br />

wollte. Honecker wollte jedoch mit dem Bundeskanzler über ein Ende<br />

des Kalten Krieges sprechen. Honecker wurde selbstverständlich nicht<br />

Bundeskanzler; und Brandt blieb es nicht lange. Dass, wie bei Brandt,<br />

auch bei Genossen Honecker Agenten von der anderen Seite waren,<br />

fand man erst nach <strong>1990</strong> im Spiegel. Dr. Helmut Kohl war dann seit 1983<br />

Kanzler der BRD, und er blieb linientreu bis zum bitteren Ende und<br />

noch Monate danach: „Kohl hat, im Gegensatz zu anderen deutschen<br />

und ausländischen Akteuren und Analysten, lange Zeit nicht begreifen<br />

wollen, dass die deutsche Frage seit 1986 wieder offen war und eine<br />

operative Wiedervereinigungspolitik möglich gewesen wäre.“ Das ließ<br />

2005 der Politologe Ferdinand Kroh in dem Buch Wendemanöver gleich<br />

auf Seite 2 verlauten, und das Buch geht gut weiter. Ich bin gespannt,<br />

ob nach den Auswertungen wie der von Kroh die Gefahr gebannt wird,<br />

dass Kohl wegen der Vereinigung Europas der Friedensnobelpreis verliehen<br />

wird. Der Politologe setzte an dieser Stelle in Wendemanöver fort:<br />

„Helmut Kohl ignorierte 1987 und 1988 entsprechende Angebote von<br />

Gorbatschow und setzte sogar noch auf eine Konföderation, als der<br />

Zug <strong>–</strong> mit Gorbatschows Bonn-Besuch [im Sommer des Jahres] 1989 <strong>–</strong><br />

längst in Richtung deutscher Einheit abgefahren war.“<br />

Über den spektakulär vom Spieltisch gesetzten Bundeskanzler Brandt<br />

findet sich bei der mutigen Marion Gräfin Dönhoff dieser bitterböse<br />

Nachruf: „Wahrscheinlich haben Adenauer und Schmidt mehr für die<br />

Bundesrepublik geleistet als Willy Brandt. Aber wenn die zukünftigen<br />

Bürger dieses Landes von jenen vielleicht nur noch die Namen kennen<br />

werden, wird die Geschichte immer noch den Kniefall in Warschau zu<br />

berichten wissen. Denn das ist der Stoff, aus dem seit alters die Mythen<br />

und Legenden gewoben werden.“ Das war mit Bedacht formuliert, sie<br />

haben mehr getan für die Bundesrepublik. Nicht mehr und auch nicht<br />

weniger. Und folgerichtig hat Gräfin Dönhoff Willy Brandt in ihrem<br />

Buch Menschen, die wissen, worum es geht im Unterschied zu Helmut<br />

Schmidt kein Kapitel gewidmet. Der gute Willy Brandt merkte bis zum<br />

119


<strong>1945</strong><br />

Schluss nicht, dass es um die Zerlegung des Bismarck-Reiches von 1871<br />

in kleinere deutsche Staaten ging. Die spätere Staatsführung in Ost-<br />

Berlin revidierte ihre böse Einschätzung des braunen Adenauer-Staates<br />

bemerkenswerterweise noch nicht einmal dann, als immer mehr Geld<br />

heimlich in die DDR hineingepumpt wurde und als auf verschiedenen<br />

Wegen die vormaligen Aktivitäten hoher Bonner Beamter im antifaschistischen<br />

Widerstand bekannt wurden. So schrieb der Chefagent<br />

Markus Wolf über ein Gespräch, das bereits 1955 stattgefunden hatte:<br />

„Überraschendes erfuhren wir auch über den einflussreichsten CSU-<br />

Politiker, den Bundesfinanzminister Fritz Schäffer. [...] Auch dieser<br />

kleine, eher bescheidene und unauffällige Mann hatte eine andere<br />

Vergangenheit als die große Mehrheit der Funktionsträger im Bonner<br />

Staat, die dem Nationalsozialismus aktiv oder zumindest als Mitläufer<br />

gedient hatte. Schäffer war aus politischen Gründen mehrfach von der<br />

Gestapo verhaftet und schließlich in das KZ Dachau gebracht worden,<br />

aus dem er <strong>1945</strong> befreit worden war.“ Fritz Schäffer war dann nach der<br />

Gründung der Bundesrepublik ganz frei nach William Shakespeare der<br />

vierte Mann im Staate Dänemark. Der dritte war der mutige Mann des<br />

Widerstandes, Konrad Adenauer. Der zweite war Bundestagspräsident<br />

Erich Köhler, der wegen seiner jüdischen Frau so seinen Ärger mit den<br />

Nazis hatte. Und der erste Mann in der Bonner Republik war Bundespräsident<br />

Theodor Heuss, dessen Schrift Hitlers Weg <strong>1933</strong> im Rahmen<br />

der Bücherverbrennungen auf den Scheiterhaufen in vielen deutschen<br />

Städten landete. Und nach Minister Fritz Schäffer kamen immer noch<br />

eine ganze Reihe von Antifas in den führenden Positionen. Vielleicht<br />

hat die Staatsführung den Erkenntnissen von Markus Wolf ja einfach<br />

keinen Glauben geschenkt? Es wären solche Informationen gewesen,<br />

die eine Erklärung liefern konnten, warum die entscheidenden Leute<br />

in Bonn so vehement die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s betrieben, wie es ostdeutsche<br />

Zeitgeschichtler in ihren Publikationen beschrieben hatten.<br />

Die angenommene Absicht einer Einverleibung der DDR hätte man viel<br />

einfacher haben können, bevor es 1949 tatsächlich zur Gründung eines<br />

zweiten deutschen Staates gekommen war. In den darauffolgenden<br />

Jahrzehnten waren es dann ausgerechnet die Hitler-Gegner, die wie<br />

vom Teufel besessen auf den alten Grenzen herumhackten.<br />

120


<strong>1945</strong><br />

Die Weltmacht wider Willen und die beiden Supermächte<br />

Der britische Historiker Timothy Garton Ash formulierte eine weitere<br />

spannende Beobachtung in seinem Buch Im Namen Europas <strong>–</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

und der geteilte Kontinent: „Welche Art Macht war das vereinigte<br />

<strong>Deutschland</strong>? Während Nachbarn und Partner mit unklaren Begriffen<br />

wie »Vorherrschaft«, »Hegemonie«, »Dominanz« oder einfach »Führung«<br />

hantierten, war das Sortiment deutscher Selbstdefinitionen<br />

immer immens.“ Und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: „Noch<br />

vor der Vereinigung hatte ein Historiker die Bundesrepublik bereits<br />

als »Weltmacht wider Willen« beschrieben.“ Das ist nicht schlecht als<br />

Selbstdefinition für ein augenscheinlich besetztes und geteiltes Land.<br />

Es ist aber nicht relevant, ob die BRD Weltmacht sein wollte oder ob<br />

nicht; durch die Umstände war sie eine. Nachdem Dr. Kohl sein Werk<br />

über sein Werk unter die Leserschar geworfen hatte, erinnerte nun Die<br />

Zeit an einen der großen Denker der Weltmacht Bonn: „Helmut Kohls<br />

Geschichte beginnt mit der Berufung auf den Lieblingsphilosophen,<br />

den der Kanzler wohl oder übel mit Helmut Schmidt teilt, Karl Raimund<br />

Popper: Geschichte sei nicht Schicksal, sondern machbar.“ Wohl<br />

oder übel, denn der eine stand für die CDU und der andere für die SPD.<br />

Natürlich war unsere Geschichte machbar, wenn man es verstand, die<br />

Gegebenheiten der Situation nach <strong>1945</strong> auszunutzen. Schon nach der<br />

Rückkehr Adenauers von der Londoner Neunmächtekonferenz Anfang<br />

Oktober 1954 hatte sich der Kanzler im Vorstand der CDU auf die Zeit<br />

gefreut, in der man auch in Moskau einen Botschafter haben würde,<br />

was ein Jahr später geschafft war: „Wir haben dann auch den Status<br />

wiedererrungen, den eine Großmacht haben muss. Wir können dann<br />

mit Fug und Recht sagen, dass wir wieder eine Großmacht geworden<br />

sind.“ Im Februar 1959 konnte Sebastian Haffner schon ungestraft in<br />

dem Londoner Blatt The Observer hinterlassen: „Heute ist Westdeutschland<br />

in jeder Hinsicht wieder eine Großmacht, nur in militärischer<br />

nicht, es ist Großbritannien und Frankreich gleichrangig.“<br />

121


<strong>1945</strong><br />

In schonungsloser Offenheit gab Ex-Kanzler Helmut Schmidt dann<br />

auch dem Kapitel seines Buches Menschen und Mächte, das sich mit den<br />

Vereinigten Staaten von Amerika befasste, den Titel „Die USA <strong>–</strong> Von<br />

der Schwierigkeit, eine Weltmacht zu sein.“ Auch das will eben erst<br />

einmal gelernt sein. Die Deutschen hatten da immerhin schon seit den<br />

Zeiten des seligen Otto von Bismarck Erfahrung. Als sie den Alten, der<br />

so genial mit mehreren Bällen jonglieren konnte, rausgemobbt hatten,<br />

sind dann auch die Amateure ans Ruder gekommen, und dann sind die<br />

Anfängerfehler passiert. Erster Weltkrieg. Zweiter Weltkrieg.<br />

Nach dem zweiten Krieg der Herrenmenschen gegen den Rest dieser<br />

Welt war es schlussendlich gelungen, dass „die Amerikaner gegen ihre<br />

Tradition und gegen ihren Instinkt in Europa gewissermaßen festgenagelt“<br />

wurden, wie sich Franz J. Strauß freute. Auf diese Art gelang es,<br />

„das Schicksal der Westmächte so eng an das deutsche und unser<br />

Schicksal so eng an das der Alliierten zu binden, dass sie uns nicht<br />

mehr fallenlassen konnten“. Auch SPD-Chef Kurt Schumacher machte<br />

sich zum Beispiel am 25. November 1950 in Bonn darum verdient, die<br />

Amerikaner ins Land zu holen, weshalb dann die Russen das Land<br />

selbstverständlich nicht verließen: „Es ist gar nicht einzusehen, dass<br />

die amerikanischen Divisionen nicht in Grafenwöhr oder in der Lüneburger<br />

Heide ausgebildet werden, statt in Texas und Arizona.“ Es ist ja<br />

vielleicht auch nur eine Art Versehen, wenn westdeutsche Historiker<br />

analysier(t)en, Kurt Schumacher sei im Kampf gegen Herrn Adenauer<br />

aufgetreten gegen eine Westbindung der BRD. Profi-Historiker.<br />

Voraussetzung für eine Weltmacht BRD war natürlich, dass kein Land<br />

ihr diese Stellung streitig machen konnte. Wer waren die Mitbewerber<br />

der Dichter und Denker in Bonn am Rhein? Wer trachtete außer ihnen<br />

danach, das Gesicht der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zu prägen?<br />

Auch England und Frankreich waren durch diesen Krieg angeschlagen<br />

und auf amerikanische Hilfe angewiesen, um überhaupt wieder auf die<br />

Beine zu kommen. Die Sowjetunion wurde als kommunistischer Staat<br />

argwöhnisch beobachtet. Für eine richtungweisende Rolle kamen jetzt<br />

noch die Vereinigten Staaten in Frage. In seinen Memoiren fasste der<br />

122


<strong>1945</strong><br />

Historiker und US-Außenminister Henry A. Kissinger zusammen, was<br />

Washington daran hinderte, die Welt so zu gestalten, wie man sie sich<br />

gerne wünschte: „Der Mythos von der arglistigen und daher überlegenen<br />

ausländischen Diplomatie lebte bis in das 20. Jahrhundert weiter.<br />

Will Rogers konnte immer damit rechnen, die Lacher auf seiner Seite<br />

zu haben, wenn er seinen alten Witz machte: »Amerika hat niemals<br />

einen Krieg verloren und nie eine Konferenz gewonnen.« [William P.<br />

Rogers war unter Nixon der Vorgänger von Kissinger im Washingtoner<br />

Außenministerium.]<br />

So war Amerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlecht auf die Rolle<br />

vorbereitet, die es jetzt spielen sollte. Vergessen war die Staatskunst,<br />

mit der die Gründungsväter unsere Unabhängigkeit gewonnen hatten,<br />

verächtlich beiseite geschoben die Methoden, mit denen alle Nationen<br />

ihre Interessen wahren müssen. [...]<br />

Man betrachtete die Nachrichtendienste als unter unserer Würde,<br />

wenn nicht sogar als Bedrohung unserer Freiheiten.“ In Legacy of Ashes<br />

beschrieb Weiner im Detail, wie sich die guten Amerikaner anstellten,<br />

als sie mit ihrer CIA schließlich doch einen Auslandsgeheimdienst aus<br />

dem Boden gestampft hatten. Aber zurück zu Henry Kissinger und in<br />

die 1940er Jahre: „Der Zweite Weltkrieg dauerte schon eine ganze Zeit,<br />

bis wir durch einen Überraschungsangriff gegen amerikanischen Boden<br />

aus unserer Isolation aufgeschreckt wurden.<br />

Doch dann waren wir von der Idee des totalen Sieges so besessen, dass<br />

wir die Vorstellung verächtlich beiseite schoben, die Sicherheit der<br />

Nachkriegswelt könnte von irgendeinem Gleichgewicht der Kräfte abhängen.<br />

Deshalb waren wir über die politischen Entwicklungen nach<br />

dem Kriege sehr erstaunt.“<br />

„Die Vereinigten Staaten waren, ohne es zu wollen, zum Bewahrer des<br />

neuen Gleichgewichts geworden. Es ist das unbestrittene Verdienst<br />

jener Generation von Amerikanern, dass sie diese Verantwortung mit<br />

Energie, Ideenreichtum und Sachkenntnis übernommen hat.“ Klar. Mit<br />

Energie auf jeden Fall. Es kam in Gegenden der Welt zu Kriegen, von<br />

denen Europäer zuvor noch nie ein Wort gehört hatten. Unbestreitbar<br />

ein Verdienst der Amerikaner. Was andererseits die Sachkenntnis an-<br />

123


<strong>1945</strong><br />

geht, mit der zum Beispiel ein Kissinger ans Werk ging, bleiben keine<br />

Fragen offen, wenn er seit seinem Auftreten auf der Weltbühne in<br />

Bonn als der Super-Henry verspottet wurde. „Aber die Hochstimmung<br />

und Begeisterung dieser Periode mussten im Lauf der Zeit verblassen,<br />

wenn auch nur, weil wir mit den Konsequenzen unseres Erfolges konfrontiert<br />

wurden. Der Wiederaufbau in Europa und Japan erforderte<br />

die Anpassung unserer Beziehungen zu unseren Verbündeten an die<br />

neue Lage; die neu entstandenen Nationen, deren Unabhängigkeit wir<br />

gefördert hatten, würden mit Sicherheit einen größeren Anteil am allgemeinen<br />

Wohlstand beanspruchen, und nichts, was wir hätten tun<br />

können, hätte die Sowjetunion daran gehindert, sich vom Kriege zu erholen<br />

und ihre neue Machtstellung zu sichern.“<br />

Doch diese zweifelhafte Aufgabe, die Sowjetunion an der Überwindung<br />

der Folgen des Krieges zu hindern, hatten sich die Amerikaner selbst<br />

gestellt. Über die Folgen dieser verheerend falschen Schlussfolgerung<br />

für Ost-Europa kann man bei Kissinger nachlesen: „Ich möchte sogar<br />

bezweifeln, dass Stalin ursprünglich damit gerechnet hat, alle osteuropäischen<br />

Länder in den Kreis seiner Satelliten aufnehmen zu können;<br />

aus seinen ersten nach dem Kriege unternommenen Schritten <strong>–</strong> etwa<br />

der Zulassung freier Wahlen in Polen, der Tschechoslowakei und in<br />

Ungarn, die die Kommunisten überall verloren haben <strong>–</strong> könnte man<br />

schließen, dass er bereit gewesen ist, ihnen einen ähnlichen Status wie<br />

Finnland zuzubilligen. Doch unerwartet verschoben wir ernsthafte<br />

Verhandlungen auf einen Zeitpunkt, zu dem wir unsere potenzielle<br />

Streitkraft stärker mobilisiert hatten.“ Vergessen war die Staatskunst.<br />

Wie der erste Bundeskanzler in Bonn am Rhein seinen Alliierten und<br />

Freunden deutschen Fußball beibrachte, erfahren die interessierten<br />

Leserinnen und Leser bei John Dornberg: „Außerdem behauptet Bonn,<br />

die Teilung sei eine der Ursachen des kalten Krieges gewesen, jedoch<br />

nicht dessen Ergebnis. Daraus entstand die recht zweifelhafte Theorie,<br />

dass es vor einer deutschen Wiedervereinigung keine Entspannung in<br />

Mitteleuropa geben kann. Diese Maxime zwang Bonn, sich in alle<br />

Bemühungen um Entspannung einzuschalten, bis Präsident Lyndon<br />

124


<strong>1945</strong><br />

Johnson am 7. Oktober 1966 die neue Politik des Ost-West-Brückenbaues<br />

formulierte. Bis dahin schien jedes Arrangement gegen deutsche<br />

Interessen gerichtet, jede Änderung im Status quo als schädlich für die<br />

Wiedervereinigung. Solche Diplomatie führte zu Reibungen zwischen<br />

Adenauer und Präsident John F. Kennedy.<br />

Als Präsident de Gaulle ähnliche Gedanken verriet, kühlten sich die<br />

deutsch-französischen Beziehungen ab.“ Der Nachfolger Adenauers,<br />

Ludwig Erhard, legte die Beziehungen notfalls auch ganz auf Eis und<br />

sprach bei Staatsbesuchen der Franzosen gleich gar nicht mehr, woran<br />

Franz Josef Strauß erinnerte: „Konrad Adenauer und Charles de Gaulle<br />

waren trotz aller Unterschiede in Wesen und Prägung zwei Staatsmänner,<br />

die in geschichtlichen Bahnen dachten, die sich gegenseitig<br />

verstanden und respektierten. Die beiden hatten sich etwas zu sagen<br />

und hörten einander zu. Zwischen ihnen gab es nie eine lähmende<br />

Verlegenheit, weil sie unter dem Zwang gestanden hätten, wortlose<br />

Zeit überbrücken zu müssen, wie es mitunter zwischen dem General<br />

und Erhard der Fall war.“ Ex-Kanzler Helmut Schmidt äußerte über die<br />

mangelhafte Qualität von US-Präsident John F. Kennedy: „Mit einem<br />

Wort: 1961 hatte ich meine Zweifel, ob Kennedy, dem außenpolitische<br />

Erfahrungen offenkundig fehlten, genug Urteils- und Entschlusskraft<br />

zur Bewältigung internationaler Krisen besitzen würde.“ Doch nicht<br />

nur Adenauer und Erhard verstanden sich prächtig darauf, jeden Keim<br />

einer Entspannung zwischen den „Supermächten“ abzuwürgen. Auch<br />

unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger gelang es im Wesentlichen, solche<br />

sektiererischen Tendenzen auf ein Minimum zu begrenzen. Über die<br />

erste Konferenz derjenigen Staaten, die nicht über eigene Kernwaffen<br />

verfügten, knurrte Willy Brandt: „Wenn es nach einigen Kollegen im<br />

Kabinett, so Verteidigungsminister Schröder [CDU] gegangen wäre,<br />

hätte die Bundesrepublik in Genf durch Abwesenheit geglänzt.“<br />

Über die haarsträubende außenpolitische „Naivität“ der Amerikaner<br />

zeigte sich Helmut Schmidt „bestürzt“. Recht machen konnte man es<br />

Schmidt aber auch nicht. Als sich James Carters Sicherheitsberater<br />

zum Beispiel so langsam in seine neue Rolle hineingelebt hatte, hieß es<br />

dann: „Im Zuge dieses wachsenden Einflusses kam es 1977 zu zwei<br />

125


<strong>1945</strong><br />

Besuchen Brzezinskis bei mir; er trat unverhüllt als selbstbewusster<br />

Vertreter einer Weltmacht auf.“ Woher sollte der arme Mann denn<br />

auch wissen, bei wem er da gerade zu Besuch war? Ausgerechnet im<br />

Gespräch mit dem Moskauer Chef Leonid Iljitsch Breshnjew äußerte<br />

Schmidt über US-Präsident Ronald Reagan: „Auch ein erfolgreicher<br />

Gouverneur des Staates Kalifornien bringt zunächst nur etwa soviel an<br />

weltpolitischer Erfahrung mit wie Ihr Erster Sekretär in Kasachstan.“<br />

In Menschen und Mächte ließ er die Welt wissen, Reagans „Sprache ist<br />

unkompliziert“. Reagan war kein Gegner mit Chance gegen Schmidt.<br />

Der Maestro fasste sein Lob auf den Ronny so zusammen: „Mit einem<br />

Wort: als Gesprächspartner ist Ronald Reagan angenehm, wenngleich<br />

nicht sonderlich anregend. Diesen Eindruck hatte ich schon 1978, als<br />

Reagan <strong>–</strong> damals in Vorbereitung seiner Präsidentschaftskandidatur <strong>–</strong><br />

mich im Bundeskanzleramt besuchte.“ Spätere Besuche bei Reagan bestätigten<br />

dem Maestro „seine Neigung und Fähigkeit, komplizierte Zusammenhänge<br />

lediglich in vereinfachter Form aufzufassen und sie<br />

dann, nochmals vereinfacht, zu interpretieren und politischen Schlussfolgerungen<br />

zuzuführen“. Das hätte er nun auch noch deutlicher sagen<br />

können <strong>–</strong> die Fähigkeit oder seine Neigung zur Vereinfachung?<br />

Da Schmidt ein offener und ehrlicher Mensch ist, finden sich bei ihm<br />

Erklärungen dafür, warum diese Amerikaner gegen ihn natürlich keine<br />

Chance hatten. Einerseits fiel dem Maestro „der naive Optimismus der<br />

Amerikaner“ auf, und andererseits merkte er an, dass es „nicht unbedingt<br />

eine amerikanische Stärke ist“, einmal zurückzublicken. Sicher<br />

blicke ich ebenfalls nicht ständig zurück. Ich habe mir die Arbeit hier<br />

auch nur gemacht, weil ich durchaus wissen wollte, warum diese Welt<br />

ein halbes Jahrhundert lang so viel Leid durch den Kalten Krieg hatte.<br />

Er wäre aber verkürzt worden, hätten die damaligen Akteure von Zeit<br />

zu Zeit unter einem neuen Blickwinkel alles Revue passieren lassen.<br />

Erst der Präsident George Bush, der nicht alle seine Qualitäten an seine<br />

Söhne weiterzugeben vermochte, „verstand bei seinem Amtsantritt im<br />

Weißen Haus mehr als die allermeisten seiner Vorgänger von Außenpolitik“.<br />

Das gab später Helmut Kohl zu Protokoll, und das war meines<br />

126


<strong>1945</strong><br />

Erachtens der wichtigste Grund, warum George Bush in der Lage war,<br />

die Teilung Europas <strong>1990</strong> zu beenden. Da hatte der große Kanzler aus<br />

dem lütten Städtchen Bonn am Rhein keine Chance mehr gehabt.<br />

Strauß äußerte sich zu den Auswirkungen der Weltmachtpolitik der<br />

Bonner Strategen ganz sachlich: „Die Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong> hat<br />

zwar in gewisser Weise immer eine Schlüsselrolle gespielt, nur in<br />

ihren Entstehungsjahren und während der Berlinkrisen bestimmten<br />

an sich regionale Ereignisse die weltpolitische Tagesordnung. 1961/62<br />

wurde dies durch die Überschichtung mit der Kubakrise vierzehn<br />

Monate nach dem Mauerbau in besonderer Weise augenfällig.<br />

Adenauers Denken und Sorgen konzentrierten sich jedoch bis zum<br />

Schluss auf das [west-]deutsche Schicksal. Hier Unheil abzuwehren sah<br />

er als seine politische und persönliche Aufgabe.<br />

Weitverzweigte globale Verflechtungen [Korea, dieses Land ist immer<br />

noch geteilt, und wenn die es nicht machen wie die Ost-Berliner, dann<br />

bleibt das auch so; Vietnam ging in den sechziger und siebziger Jahren<br />

in Flammen auf; und wegen des NATO-Raketenbeschlusses von 1979,<br />

den Kanzler Helmut Schmidt gegen Valéry Giscard d’Estaing, James<br />

»Jim« Callaghan und James »Jimmy« Carter durchgesetzt hat, musste<br />

später Afghanistan dran glauben] interessierten und bewegten den<br />

ersten Kanzler nur insoweit, als davon unmittelbar [west-]deutsche<br />

Interessen berührt waren.“<br />

Aus der heutigen Sicht ist mir der Antifaschismus Erich Honeckers von<br />

hinten lieber als Helmut Schmidts Antifaschismus von vorn. Wie es<br />

damals zu der Tragödie am Hindukusch kam, liefere ich Ihnen unter<br />

den Jahren von 1974 bis 1979. Danach war das ein Problem für andere.<br />

Es ist kein Zufall, dass wir dort heute militärisch nachbessern müssen.<br />

Schmidts Mist ausbaden. Weltmacht wider Willen war Bonn demzufolge<br />

nur bis zur Vereidigung von Helmut Schmidt. Danach tanzten alle die<br />

Puppen nach seiner Geige. Unter ihm hat sich die eine Supermacht tief<br />

in die Schulden gerüstet und die andere hat sich totgerüstet. Da halfen<br />

dann langfristig auch die Kredite nicht mehr, die westdeutsche Banken<br />

der Sowjetunion gewährten. Es wird einem nicht leicht gemacht, stolz<br />

127


<strong>1945</strong><br />

darauf zu sein, dass man zufällig ein Deutscher ist. Hier und da ist es<br />

verdammt peinlich. Franz Josef Strauß <strong>–</strong> Die Erinnerungen erschien nach<br />

dem Tod des Autors im Wolf Jobst Siedler Verlag zu West-Berlin. Auf<br />

der Rückseite dieses Buches steht: „Als Franz Josef Strauß am 3. Oktober<br />

1988 starb, lagen 1200 Manuskriptseiten seiner Erinnerungen vor.<br />

Noch wenige Tage vor seinem Tod arbeitete er daran. Sein Lebensbericht<br />

hebt an mit dem Hitler-Putsch vom 9. November 1923 an der<br />

Feldherrnhalle, und die letzten Eintragungen enden mit dem Besuch<br />

bei Gorbatschow im Kreml Ende Dezember 1987. Dazwischen liegen<br />

Triumphe und Niederlagen der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>. Strauß<br />

erzählt aus dem Zentrum der Macht.“<br />

Unter der unzweideutigen Überschrift: „Ohnmächtige Sieger <strong>–</strong> Wie die<br />

Alliierten daran scheiterten, <strong>Deutschland</strong> zu reformieren“ schrieb Der<br />

Spiegel: „Die Ziele waren edel, und die Sieger schienen allmächtig. Mit<br />

einer riesigen Koalitionsarmee waren die Alliierten ins »Dritte Reich«<br />

einmarschiert, um Hitler zu stürzen, <strong>Deutschland</strong> von Grund auf zu<br />

reformieren. Nie wieder sollte dieses Land die Welt mit Krieg überziehen.<br />

Damit das ambitionierte Programm auch umgesetzt wurde, übernahmen<br />

Briten, Amerikaner, Franzosen und Sowjets am 5. Juni <strong>1945</strong><br />

»die oberste Regierungsgewalt einschließlich aller Befugnisse der Regierung,<br />

Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden«.<br />

Die deutsche Niederlage sei der schlimmste Kollaps eines<br />

Imperiums »seit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches«, stellte<br />

der spätere Hochkommissar John McCloy kurz nach Kriegsende fest.<br />

Doch ausgerechnet jenes Volk, dessen Begeisterung für Befehl und Gehorsam<br />

Europa in Angst und Schrecken versetzt hatte, erwies sich nun<br />

in den Westzonen als überaus trickreich, wenn es darum ging, Anordnungen<br />

der Alliierten zu unterlaufen. Was hatte man sich nicht alles<br />

gewünscht in London und Washington [in Moskau und auch in Paris]:<br />

eine bürgernahe Verwaltung, in der die Juristenzunft nicht mehr die<br />

höheren Stellen monopolisierte, mehr Chancengleichheit in Schulen<br />

und Universitäten, eine Bodenreform. Vergebens.“ Eine Bodenreform.<br />

Dann war das gar kein kommunistischer Spleen?<br />

128


<strong>1945</strong><br />

Dass die rührenden Bemühungen der Alliierten um Europa vergeblich<br />

blieben, muss nicht unbedingt erstaunen. Werner Weidenfeld verriet<br />

seinem interessierten Publikum nachträglich: „Unzweifelhaft verstand<br />

Konrad Adenauer sich besonders auf das taktische Spiel im politischen<br />

Prozess. Die Antizipation der Interessen des Gegenüber, das Arrangement<br />

von Verhandlungspaketen, das Jonglieren mit unterschiedlichen<br />

Argumentationssträngen <strong>–</strong> alles das fällt immer wieder ins Auge, wenn<br />

man den Politiker Adenauer genauer verfolgt. Nicht selten hätte [der<br />

große Theoretiker einer sterilen Machtpolitik] Machiavelli seine helle<br />

Freude an ihm gehabt.“ Erinnern Sie sich an Ex-Außenminister Walter<br />

Scheels Worte der Würdigung für Niccolò Machiavelli?<br />

Hören Sie sich auch diese Einschätzung eines von Werner Weidenfeld<br />

nicht namentlich genannten Kritikers von Kanzler Adenauer an, um<br />

ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Chance die siegreichen Sieger<br />

gegen die besiegten Deutschen in Bonn am Rhein hatten: „Mir schien<br />

er [Adenauer] <strong>–</strong> wie ein Schachmeister <strong>–</strong> seinem Gesprächspartner im<br />

Denken immer um zwei Züge voraus zu sein. Gepaart mit Geduld, war<br />

diese Überlegenheit gewiss ein Teil seines Erfolges.“ Da nun aber die<br />

Wiedervereinigung nicht in seine Amtszeit fiel, muss der Erfolg wohl<br />

am anderen Ende gesucht werden.<br />

Auch was das Verwaltungszentrum dieses Landes anging, standen die<br />

Auffassungen des „Alten aus Rhöndorf“, wie der spätere Kanzler gern<br />

genannt wurde, im Widerspruch zu den Vorstellungen der verehrten<br />

Siegermächte. Sie wollten, wie oben erwähnt, <strong>Deutschland</strong> und keinen<br />

Rheinbund von Berlin aus verwalten. Und er? Der Historiker Heinrich<br />

A. Winkler erkundete: „Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

häuften sich bei ihm nicht nur antipreußische Äußerungen, sondern<br />

auch klare Absagen an Berlin als neue deutsche Hauptstadt.<br />

Da »Asien« jetzt bis zur Elbe vorgerückt war, musste sich der westliche<br />

Teil <strong>Deutschland</strong>s fest mit dem Westen Europas verbinden.“ Berlin war<br />

aber gar nicht die neue, Berlin war die alte deutsche Hauptstadt. Wozu<br />

brauchte der Mann eigentlich in diesem Alter noch eine neue Hauptstadt?<br />

Dazu passt ganz ausgezeichnet Helmut Schmidts Einschätzung<br />

129


<strong>1945</strong><br />

der Freunde und Alliierten hinter dem großen Wasser: „Das Weltbild<br />

der meisten Amerikaner <strong>–</strong> und der meisten amerikanischen Politiker <strong>–</strong><br />

reicht jedoch nur wenig über die Grenzen des eigenen Landes hinaus.<br />

Von daher rührt die Naivität in der Beurteilung und Behandlung anderer<br />

Staaten und ihrer Interessen, die wir häufig genug erleben.“<br />

Helmut Schmidt konstatierte in Menschen und Mächte also mehr als einmal<br />

die Naivität der Amerikaner. Besonders stolz war er darauf, dass er<br />

sie „die Devisenverluste, die den Amerikanern durch die Stationierung<br />

ihrer Truppen und deren Angehörigen entstanden“ letztendlich auch<br />

noch selber tragen ließ, nachdem Bonn „die Amerikaner gegen ihre<br />

Tradition und gegen ihren Instinkt in Europa gewissermaßen festgenagelt“<br />

hatte. Es kann nicht verwundern, dass Strauß später über sein<br />

Verhältnis zu Schmidt bekannte: „In der großen Linie [der Außenpolitik]<br />

gibt es keine Differenzen mehr zwischen ihm und mir.“ Sie dürfen<br />

jetzt nur nicht bedenken, dass der eine auf der demokratischen Bühne<br />

für die CSU, der andere für die SPD und der Alte für die CDU stand.<br />

Dann muss es ja auch nicht mehr erstaunen, dass Kanzler Helmut<br />

Schmidt aus der SPD und Kanzler Helmut Kohl aus der CDU denselben<br />

Lieblingsphilosophen hatten, Karl Raimund Popper, der ja unmissverständlich<br />

klargemacht hatte, Geschichte sei nicht Schicksal sondern<br />

machbar.<br />

Zur Machbarkeit trug übrigens nicht nur die Naivität der Amerikaner<br />

und ihre Unerfahrenheit im Umgang mit einem Geheimdienst bei. Es<br />

gab nach Weiner in den ersten vier Jahren der CIA vier Chefs dieser<br />

Behörde, Kompetenzgerangel und eine ganze Reihe unfähiger Leute in<br />

den führenden Stellungen. Um eine Vorstellung davon zu bekommen,<br />

welche Linie im Umgang mit der vermeintlich angriffslustigen Union<br />

der Sozialistischen Sowjetrepubliken sich schließlich in Washington<br />

durchsetzte, lasse ich gern noch einmal Tim Weiner zu Wort kommen:<br />

„Frank Wisner übernahm die Leitung der amerikanischen Geheimaktionen<br />

am 1. September 1948. Sein Auftrag: die Sowjets hinter die<br />

früheren Grenzen Russlands zurückdrängen und Europa aus der Hand<br />

der Kommunisten befreien.“ Dafür wurden die wildesten Abenteuer in<br />

130


<strong>1945</strong><br />

Ost-Europa in Angriff genommen, in deren Folge sich die Sowjets nun<br />

ihrerseits völlig zu Recht bedroht fühlten und viele der von der CIA in<br />

den Osten geschickten Leute umbrachten. Jetzt sahen sich wiederum<br />

die Akteure in der amerikanischen Hauptstadt in ihrer Einschätzung<br />

der Unmenschlichkeit dieser Sowjets bestätigt und traten auch selbst<br />

immer brutaler auf, eine Spirale des Grauens.<br />

Einen kurzzeitigen Hoffnungsschimmer gab es Anfang der fünfziger<br />

Jahre bei einem der Köpfe der Agency: „In Washington trat Frank Lindsay,<br />

der aus der Zentrale die Operationen in Osteuropa geleitet hatte,<br />

vor lauter Gewissensqualen von seinem Posten zurück. Er riet Dulles<br />

und Wisner dringend, die CIA-Strategie der gegen den Kommunismus<br />

gerichteten Geheimaktionen durch die Ausspähung der Sowjets mit<br />

wissenschaftlichen und technischen Methoden zu ersetzen. Mit wirklichkeitsfremden<br />

paramilitärischen Missionen zur Unterstützung fiktiver<br />

Widerstandsbewegungen könne man die Russen nicht aus Europa<br />

verdrängen.“ Sein Rat traf auf taube Ohren.<br />

„Die verdeckten Operationen wurden zum wichtigsten Faktor der<br />

Agency <strong>–</strong> mit den meisten Leuten, dem meisten Geld, der meisten<br />

Macht <strong>–</strong> und blieben es mehr als zwanzig Jahre lang. Der gesetzlich<br />

festgelegte Auftrag der CIA lautete, sie habe den Präsidenten mit den<br />

für die nationale Sicherheit der USA unverzichtbaren geheimdienstlichen<br />

Erkenntnissen zu versorgen. Aber zur Spionage fehlte Wisner<br />

die Geduld, es fehlte ihm die Zeit, die man für das Sichten und Prüfen<br />

geheimer Botschaften braucht. Wie viel leichter, einen Staatsstreich zu<br />

planen oder einen Politiker zu bestechen, als das Politbüro zu unterwandern<br />

<strong>–</strong> und nach Wisners Ansicht: wie viel dringlicher.“ Bravo. So<br />

ging es ja auch unserem Markus Wolf, der von sich sagte: „Die Arbeit<br />

am Schreibtisch hat mir nie behagt.“ Witzig, Gehlen hatte in seinem<br />

Arbeitszimmer ein Bild von Canaris zur Mahnung an der Wand.<br />

131


<strong>1945</strong><br />

Der Aufbau der Parteien in West-<strong>Deutschland</strong><br />

Trotz der Wirren in diesen Monaten und trotz der existenziellen Nöte<br />

machten sich einige wackere Streiter unmittelbar nach dem Ende des<br />

Krieges stracks an den Aufbau einer neuen Parteienlandschaft. Wer ein<br />

öffentliches Amt bekleiden wollte, musste damals die Erlaubnis dafür<br />

von den Alliierten einholen, die dann Erkundigungen einzogen, welche<br />

Rolle die betreffende Person in der Nazi-Zeit gespielt hatte. Zumindest<br />

im Westen wurde auch in dieser Frage gern auf den Rat der Bekennenden<br />

Kirche gehört, was ihr einen gewissen Einfluss auf die weitere Entwicklung<br />

sicherte. Seit dem Frühjahr <strong>1945</strong> baute Dr. Kurt Schumacher<br />

in Hannover eine Ortsgruppe der SPD auf, „noch illegal, weil vorerst<br />

ohne Lizenz der Alliierten“. Für die folgenden zwanzig Jahre übernahm<br />

„die gemäßigte Linke in Gestalt der Sozialdemokratie unter Kurt<br />

Schumacher und Erich Ollenhauer den nationalen Part“ und versuchte<br />

„sich als Partei des Primats der deutschen Einheit zu profilieren“. Sind<br />

Sie wie ich eines jüngeren Baujahres, sollten Sie diesen Gedanken noch<br />

einmal lesen, denn dann haben Sie die SPD anders in Erinnerung. Am<br />

Rande: die SPD war ursprünglich 1869 in Eisenach im Großherzogtum<br />

Sachsen-Weimar gegründet worden.<br />

In diesen Monaten entstanden auch verschiedene Parteien, die später<br />

in der FDP aufgingen. Zu Pfingsten <strong>1945</strong> lud dann ein älterer Herr, ein<br />

gewisser Dr. Niemeyer, „ihm von früher her bekannte Liberale in seine<br />

Wohnung Wolfsbachweg 22 in Bredeney ein, um die Gründung einer<br />

liberalen Partei (Namensvorstellung »Liberaldemokratische Partei«)<br />

zu besprechen.“ In dieser ersten Runde saß auch Wolfgang Rubin, der<br />

dann 1967 den Startschuss zu einer Kampagne gab, die die FDP zur<br />

Avantgarde in der Frage der Anerkennung der DDR machte. Unter den<br />

Eingeladenen war auch der frisch gewählte Präses der Evangelischen<br />

Kirche in <strong>Deutschland</strong>, der Dr. Gustav Heinemann. „Da er während des<br />

Dritten Reiches im Bruderrat der Bekennenden Kirche aktiv gewesen<br />

war, wurde er nach <strong>1945</strong> Präses der Synode, sozusagen Parlamentspräsident<br />

der Evangelischen Kirche in <strong>Deutschland</strong> (EKD). [...] Die Kraft<br />

des Bekenntnisses und Engagements brachte in der Situation von <strong>1945</strong><br />

132


<strong>1945</strong><br />

zwangsläufig auch politische Aufgaben, hohe Ämter mit sich. Heinemann<br />

war Oberbürgermeister von Essen, Mitglied des Landtags von<br />

Nordrhein-Westfalen, Justizminister in Düsseldorf.“ Die FDP wurde am<br />

7. April 1946 dann mit einigen Bürgerinnen und Bürgern gegründet.<br />

Auffallend viele wichtige Persönlichkeiten auf der Lenkungsebene der<br />

späteren Bundesrepublik kamen aus östlicheren Regionen des Landes.<br />

Hans-Dietrich Genscher, der ja überraschend spät aus Sachsen-Anhalt<br />

dazustieß, versuchte das nach dem GAU von 1989 als Beleg dafür zu<br />

nutzen, dass zumindest der F.D.P.-Führung vielleicht die Einheit dieses<br />

Landes am Herzchen gelegen haben könnte. In seinem dicken Lebensrückblick<br />

schrieb er: „Der Wille zur deutschen Einheit war in der F.D.P.<br />

stets ein zentrales Anliegen. Bei keiner anderen Partei war eine so<br />

große Anzahl von Ost- und Mitteldeutschen in wichtigen Funktionen:<br />

Mende war Oberschlesier, Döring Leipziger, Schollwer Brandenburger,<br />

Hoppe kam aus Stralsund, Flach war Ostpreuße, Starke war Schlesier<br />

wie Mende, Mischnick war Dresdner.“<br />

„Genschman“ hätte allerdings viel Papier einsparen können, wenn er<br />

seine Hinweise darauf, wie er sich Nacht für Nacht den Kopf über die<br />

deutsche Einheit zerbrochen hat, auf zehn bis zwanzig Erwähnungen<br />

beschränkt hätte. Die lustigste Passage findet sich auf Seite 192 in den<br />

Erinnerungen. Dort schreibt er: „Die klare Sicherung der Option für die<br />

deutsche Einheit machte ich in einem Gespräch unter vier Augen mit<br />

Willy Brandt zur Voraussetzung meines Verbleibens im Amt.“ Und als<br />

ob das im Zusammenhang mit dem Einheitsromantiker Willy Brandt<br />

nicht schon zu viel des Guten gewesen wäre, steht dieser Satz Wort für<br />

Wort ganze acht Zeilen später auf Seite 193 noch einmal. So ist das mit<br />

diesen Computern. Ausschneiden. Einfügen. Weiterarbeiten. Einfügen.<br />

Oops. Und da ist es ihm wohl passiert. 1999, fünf Jahre nach der ersten<br />

Drucklegung, erschien die Jubiläumsausgabe der Erinnerungen erneut,<br />

und nun findet man auf diesen Zeilen bezogen auf Walter Scheel: „Dass<br />

der Brief zur deutschen Einheit seine Unterschrift trägt, ist für mich<br />

Anlass, stolz auf meinen Freund und Vorgänger als Außenminister und<br />

F.D.P.-Vorsitzender zu sein.“ Schwupp. Panne behoben.<br />

133


<strong>1945</strong><br />

Das klang bei den genannten Politikern allerdings auch schon einmal<br />

vollkommen anders. Im Oktober 1967 warb die FDP-Führung noch um<br />

die Gunst ihres (westdeutschen) Publikums mit dem Spruch: „Wir sind<br />

die »Anerkennungspartei«. Und wir wollen uns diese Auszeichnung<br />

reichlich verdienen, wir wollen die Plakette mit Stolz tragen.“ Dabei<br />

ging es selbstredend um eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zur<br />

juristischen Anerkennung eines zweiten Staates in <strong>Deutschland</strong>.<br />

Der Brite Timothy Garton Ash war später heftig verwundert über die<br />

Rede, die der gebürtige Dresdener Wolfgang Mischnick am Abend des<br />

9. November 1989 im Bonner Bundestag hielt, als Bürger der „D.D.R.“<br />

erste Grenzübergangsstellen mit aller Konsequenz für sich zu Übergängen<br />

machten: „Noch am Abend der Öffnung der Berliner Mauer<br />

beendete der Freidemokrat Wolfgang Mischnick seine Begrüßungsrede<br />

im Bundestag mit dem flehentlichen Aufruf an die Ostdeutschen:<br />

»Bleibt daheim!« Und das von einem Mann, der vierzig Jahre zuvor<br />

selbst aus der DDR geflohen war und im Westen erfolgreich Karriere<br />

machen konnte.“<br />

Die Christlich-Demokratische Union, die gute CDU, wurde parallel in<br />

Hannover, Stuttgart, Würzburg, München, Köln sowie in der Reichshauptstadt<br />

Berlin gegründet. Die Idee für eine große christliche und<br />

diesmal interkonfessionelle Partei war noch vor dem Ende des Krieges<br />

in den ausschlaggebenden Widerstandszirkeln entstanden.<br />

Andreas Hermes aus dem Kreis um Stauffenberg wurde <strong>1945</strong> ihr erster<br />

Vorsitzender. Und sonst wäre es ein anderer Gegner des Faschismus<br />

geworden. Im Rückblick auf das politische Wirken von Bundeskanzler<br />

Dr. Helmut Kohl habe ich diesen Wink mit dem Zaunpfahl gefunden:<br />

„Es ist sicherlich kein Zufall, dass von den wenigen Überlebenden des<br />

Kreisauer Kreises <strong>–</strong> die meisten endeten ja auf dem Schafott Hitlers <strong>–</strong><br />

sehr viele ihren Weg zur Christlich Demokratischen Union gefunden<br />

haben.<br />

Von den zweiundfünfzig Unterzeichnern des Berliner Gründungsaufrufs<br />

waren fast alle, an ihrer Spitze Andreas Hermes, Verfolgte des<br />

134


<strong>1945</strong><br />

Nazi-Regimes. So ist denn auch die Berliner Gründungsurkunde der<br />

CDU <strong>–</strong> neben dem Kölner Dokument eines der beiden Gründungsdokumente<br />

meiner Partei <strong>–</strong> sehr stark von Gedankengut aus dem Kreisauer<br />

Kreis mitgeprägt worden. Für mich ist daher Kreisau nicht nur ein<br />

wichtiger Ort deutscher Geschichte, sondern auch eine Stätte des<br />

Ursprungs christlich-demokratischer Überzeugungen.“ Und nicht nur<br />

christlich-demokratischer Überzeugungen. Auch Carlo Mierendorff,<br />

ein schon vor <strong>1933</strong> aktives Mitglied der SPD, der im Krieg bei einem<br />

Fliegerangriff ums Leben kam, gehörte zum Kreisauer Kreis.<br />

Unter den Gründervätern der CDU war wieder Dr. Gustav Heinemann,<br />

der Präses der Evangelischen Kirche in <strong>Deutschland</strong>. „Im Gründungsaufruf<br />

der CDU heißt es u. a.: Wir geloben, alles bis zum letzten auszutilgen,<br />

was dieses ungeheure Blutopfer und dieses namenlose Elend<br />

verschuldet hat.“ Dass die CDU eigentlich ein ganz cooler Haufen ist,<br />

wird deutlich, wenn es im Internet heißt, dass es im Jahr <strong>1945</strong> „zu fast<br />

gleichzeitigen, spontanen, voneinander unabhängigen Gründungen<br />

der Christlich-Demokratischen sowie der Christlich-Sozialen Union“<br />

an verschiedenen Orten gekommen sei. Wie erklärt es sich eigentlich,<br />

dass die voneinander völlig unabhängigen Gruppen alle spontan auf<br />

denselben Namen für ihre spontane Partei kamen?<br />

In Bayern bereitete am 14. August eine Gruppe um Fritz Schäffer (bis<br />

zum Frühjahr im KZ Dachau) und Franz Josef Strauß (20. Juli 1944) die<br />

Gründung der Christlich-Sozialen Union (CSU) vor. Sie wurde dann am<br />

13. Oktober <strong>1945</strong> mit einigen Bürgerinnen und Bürgern gegründet.<br />

Dass Strauß nach dem Krieg zum Landrat für den Landkreis Schongau<br />

berufen wurde, hatte auch damit zu tun, dass er den amerikanischen<br />

Befreiern „durch das korrekte Englisch“ aufgefallen war. Er hatte in<br />

den dreißiger Jahren wohl nicht ausschließlich alte Sprachen studiert.<br />

„Erster Vorsitzender der CSU in Bayern wurde der Rechtsanwalt Dr.<br />

Josef Müller, der seit seiner Schulzeit auf dem erzbischöflichen Knabenseminar<br />

zu Bamberg wegen seiner kleinbäuerlichen Herkunft<br />

»Ochsensepp« genannt wurde. Dieser »Ochsensepp«, eine ungewöhnlich<br />

schillernde Persönlichkeit, war im Zweiten Weltkrieg der Verbin-<br />

135


<strong>1945</strong><br />

dungsmann zwischen der militärischen Abwehr und dem Vatikan<br />

gewesen, hatte aber auch gute Beziehungen zu hohen SS-Führern<br />

sowie zu alliierten Geheimdiensten unterhalten. Gegen Kriegsende war<br />

er von der Gestapo wegen seiner Kontakte zu den Verschwörern vom<br />

20. Juli 1944 verhaftet worden. Doch dank seiner glänzenden Verbindungen<br />

nach allen Seiten war er mit dem Leben davongekommen.“<br />

Wenn man die beruflichen Erinnerungen von Markus Wolf liest, stürzt<br />

man über eine ganze Reihe führender Bonner Volksvertreter aus den<br />

Nachkriegsjahrzehnten, darunter auch eben jenen Dr. Josef Müller.<br />

Was sie verband, war, dass sie Markus Wolf den Bären aufbanden, dass<br />

sie, wie zum Beispiel Konrad Adenauers Finanzminister Fritz Schäffer,<br />

„deutschlandpolitische Vorstellungen [hegten], die in krassem Widerspruch<br />

zur Politik“ des Bundeskanzlers standen. Bedenklich stimmt,<br />

dass der Spionagechef das den führenden Köpfen so auch abkaufte:<br />

„Viele hatten wie [Ernst] Lemmer schon im Widerstand Kontakt zu<br />

kommunistischen Kreisen gehabt. Sie sahen es als patriotische Pflicht<br />

an, gegen den deutschland- und innenpolitischen Kurs Adenauers zu<br />

wirken. Gute Kontakte hatten wir schon früh in die bayerische CSU,<br />

und sie sollten bis zur Wende nicht abreißen. Eine unserer Quellen<br />

gehörte zum Kreis um den Vorsitzenden Dr. Josef Müller, genannt<br />

»Ochsensepp«, der Adenauers Politik kritisch gegenüberstand. Durch<br />

sie erfuhren wir auch erstmals von einem Nachwuchstalent namens<br />

Franz Josef Strauß.“ Der seinerseits allerdings jetzt aber bitte wirklich<br />

nicht gegen den deutschland- und innenpolitischen Kurs von Kanzler<br />

Adenauer in Erscheinung trat.<br />

Dem britischen Historiker Timothy G. Ash fiel auf, dass im Westen<br />

<strong>Deutschland</strong>s, „anders als in Frankreich und, mehr noch, den Vereinigten<br />

Staaten <strong>–</strong> dieselben Personen über eine lange Zeit hinweg mit denselben<br />

Themen befasst waren“. Es ist unwahrscheinlich, dass die in der<br />

Frage der Außenpolitik relevanten Journalisten, Publizisten und die<br />

Politiker ihr Ziel mit jedem neuen Jahrzehnt geändert haben könnten,<br />

wie es denn nun mit <strong>Deutschland</strong> nach Hitler weitergehen sollte. Die<br />

Beibehaltung des Kurses war nur am Anfang der siebziger Jahre eine<br />

136


<strong>1945</strong><br />

delikate Angelegenheit, weil sie gegen den vom Publikum gewählten<br />

Kanzler Brandt erreicht werden musste. Ohne Personenschaden.<br />

Da ging es im Osten <strong>Deutschland</strong>s schon eher zur Sache. 1965 gab sich<br />

Erich Apel die Kugel, weil seine Wirtschaftsreformen nicht umgesetzt<br />

wurden. Den Genossen Walter Ulbricht ließ Erich Honecker 1971 durch<br />

Männer vom Personenschutz mit Maschinenpistolen zum Rücktritt bewegen,<br />

und Herrn Honeckers Rivale Werner Lambertz ist 1978 unter<br />

selbstredend ungeklärten Umständen über der Wüste Sahara mit dem<br />

Hubschrauber vom Himmel gefallen. Das alles blieb dem Volkstribun<br />

Willy Brandt erspart. Der Held von Warschau durfte sich nach seinem<br />

Abschied von der großen Politik auf Wunsch von Helmut Schmidt „um<br />

die Partei und deren Kindergärten“ kümmern.<br />

Ich vermute ernstlich, dass die Alliierten bei ihren deutschen Partnern<br />

zweimal auf das falsche Pferd setzten. Sie vertrauten den Leuten um<br />

Gehlen, weil man sie ja für unschädlich gemachte Antikommunisten<br />

hielt; und für den Aufbau einer Demokratie vertrauten sie den Leuten<br />

aus dem Widerstand, weil sie aus dem Widerstand gegen die Diktatur<br />

kamen. Um ehrlich zu sein <strong>–</strong> je mehr ich darüber nachdenke, desto<br />

mehr glaube ich, dass all die Ausländer auf diesen Bluff zwangsläufig<br />

hereinfallen mussten. Wer hätte diese Hinterhältigkeit mitbekommen<br />

sollen? Das Schaf hatte sich nach dem Krieg in den Wolfspelz früherer<br />

Regierungen gekleidet und versetzte Alt-Europa in der altbekannten<br />

Tracht weiter in Angst und Schrecken. Dafür waren die Grundmotive<br />

der Bonner Politik <strong>–</strong> die Forderung nach den Grenzen von 1914 oder<br />

auch von 1937 genauso wie die Wiederbewaffnung bis hin zur dauernd<br />

geforderten Verfügungsgewalt über Atomwaffen <strong>–</strong> exzellent geeignet.<br />

All das ergab die höchst explosive Mischung, die jeden vernünftigen<br />

Menschen von Vorschlägen für eine Wiedervereinigung nur abhalten<br />

konnte. Ich bin auch nur durch Literatur darauf gekommen, die erst<br />

nach <strong>1990</strong> publiziert wurde <strong>–</strong> angeregt durch die erschrockene erste<br />

Reaktion von Bundeskanzler Helmut Kohl auf die Grenzöffnung. Diese<br />

Entscheidung der Verschwörer von 1989 hatte er als „ungewöhnliche<br />

intellektuelle Fehlleistung“ eingestuft.<br />

137


<strong>1945</strong><br />

Die Vereinigung der Arbeiterparteien in Ost-<strong>Deutschland</strong><br />

Um einigermaßen sinnvoll zu erklären, warum Konrad Adenauer die<br />

wahlberechtigte Bevölkerung in Mitteldeutschland loswerden wollte,<br />

wird von manchen Historikern das Argument ins Feld geführt, er habe<br />

keine andere Chance gesehen, um einen Wahlsieg der SPD in <strong>Deutschland</strong><br />

zu verhindern. Dieses Argument dürfte aber beim späteren Chef<br />

der westdeutschen Sozialdemokraten, Dr. Kurt Schumacher, nicht gut<br />

greifen. Immerhin lagen Hochburgen der deutschen Sozialdemokratie<br />

in Thüringen, in Sachsen und in der Reichshauptstadt Berlin. Orte wie<br />

Eisenach, Gotha und Erfurt sind eng mit der Geschichte der SPD verbunden.<br />

Er gab damals auch vor, eine Verkleinerung dieses Landes um<br />

die Provinzen östlich der Oder nicht zu wollen. Aber genau das war ja<br />

der Punkt: ohne die Verkleinerung gab es eben keine Vereinigung.<br />

Über Adenauer wurde erst lange nach seinem Tode offen eingeräumt,<br />

dass es ihm tatsächlich darum ging, aus diesem Land zwei zu machen.<br />

Eine solche Offenlegung der Ziele Schumachers fand aber auch nachträglich<br />

nicht statt. Bis heute gilt die Wahrheit Heinrich A. Winklers,<br />

der schrieb, Schumacher habe „nationaler und nationalstaatlicher“ als<br />

Konrad Adenauer gedacht. Was brachte mich auf den Gedanken, dass<br />

Schumacher genau wie Adenauer, und wie er auch ein Opfer der Nazi-<br />

Schergen, bei der Verkündung politischer Absichten gelogen hat, dass<br />

sich die Balken bogen?<br />

Erstens bestand auch er auf den Grenzen des Deutschen Reiches vor<br />

dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, wohl wissend, dass sie nicht wieder<br />

hergestellt werden würden. Noch nicht einmal ansatzweise hat er<br />

versucht, seinen SPD-Anhängern nahezulegen, um einer Vereinigung<br />

willen die Grenzen des Jahres <strong>1945</strong> nicht mehr in Zweifel zu ziehen. Im<br />

Gegenteil. Mit markigen Sprüchen heizte er die Stimmung gegen die<br />

Alliierten an. Darin unterschied er sich also auch nicht wesentlich von<br />

Adenauer; und zweitens lehnte Schumacher wie auch Adenauer bei<br />

seinen öffentlichen Auftritten jede Zusammenarbeit mit der KPD ab,<br />

was dann über die Jahre zu einer emotionalen Frontstellung gegen die<br />

138


<strong>1945</strong><br />

politische Entwicklung in der sowjetischen Zone führte. Was aber bei<br />

Adenauer ob seiner sozialen und politischen Einordnung noch nachvollziehbar<br />

scheint, ist bei Schumacher unverständlich, denn mit der<br />

erneuten Pflege antikommunistischer Ressentiments hat er nach dem<br />

Ende dieser Diktatur im linken Spektrum nicht viel Beifall bekommen.<br />

Wie auch in den Kreisen des bürgerlichen Widerstandes verstand man<br />

in der Arbeiterschaft, dass nur die enge Kooperation aller Parteien<br />

<strong>1933</strong> in der Lage gewesen wäre, die Naziherrschaft und den Krieg zu<br />

verhindern. Lassen wir uns von einem Zeitzeugen aus dem Süden von<br />

der damaligen Stimmung berichten: „Der Rang Kurt Schumachers als<br />

eines strammen Nationalisten und Antikommunisten“, erinnerte sich<br />

der damals dreißigjährige Franz J. Strauß, „konnte uns nicht darüber<br />

hinwegtäuschen, dass es in der SPD damals viele Fäden zur KPD gab,<br />

und zwar durchaus kräftige Fäden. Die Sozialdemokraten als Protagonisten<br />

des Kampfes gegen den Kommunismus <strong>–</strong> das war nur ein Teil<br />

des Bildes. Zum Gesamtbild gehörte eine breite Strömung innerhalb<br />

der SPD, wonach man mit den Kommunisten zusammenarbeiten und<br />

mit ihnen die künftige Struktur <strong>Deutschland</strong>s bestimmen müsse.“<br />

Franz J. Strauß formulierte an anderer Stelle: „Man darf auch nicht<br />

übersehen, dass es noch allerlei Kungeleien und Kumpaneien mit der<br />

KPD gab, obwohl Schumacher dies absolut nicht wollte.“<br />

Welches Problem hatte Kurt Schumacher? Die SPD hatte einen Großteil<br />

ihrer Wähler im Osten dieses Landes. Um den Mitgliedern „seiner“<br />

Partei einzureden, dass sie nichts mit den Kommunisten im Osten zu<br />

tun haben wollten, musste er zuallererst einmal verhindern, dass sich<br />

die einen mit den anderen im Westen vereinigten. Von Strauß stammt<br />

auch diese Ansage: „Die Einschätzung, dass SPD und KPD immer und<br />

überall wie Feuer und Wasser zueinander standen, wurde zwar später<br />

weitgehend Allgemeingut, traf aber die politische Wirklichkeit von<br />

damals nur zum Teil.“ Von daher „wäre eine »Sozialistische Einheitspartei«<br />

aus Sozialdemokraten und Kommunisten im Westen nicht mit<br />

Sicherheit auszuschließen gewesen“. Was heißt denn da Allgemeingut?<br />

Etwas anderes kommt ja nicht in die unabhängigen Zeitungen.<br />

139


<strong>1945</strong><br />

Kurt Schumacher schob jetzt „seine“ Partei schrittweise nach rechts<br />

bis an den Punkt, an dem „seinen“ Mitgliedern im Westen, die wie er<br />

selbst aus einem KZ gekommen waren, verboten wurde, zugleich auch<br />

im VVN, dem Verein der Verfolgten des Naziregimes, Mitglied zu sein.<br />

Das lässt sich freilich eher mit den von mir angenommenen taktischen<br />

Absprachen erklären als mit Kurt Schumachers politischen Lehren aus<br />

den vergangenen eintausend Jahren. Ein wenig nachvollziehbar muss<br />

Geschichtsschreibung schon bleiben. Wühlen Sie sich einmal durch die<br />

intellektuellen Kopfstände hindurch, die Historiker anstellen, um Kurt<br />

Schumachers feindselige Einstellung zu den Kommunisten zu erklären.<br />

Der Widerspruch, der auf der Hand liegt, bleibt dort auch ungeklärt<br />

liegen. Abgesehen davon ging es <strong>1945</strong> um <strong>Deutschland</strong> und nicht um<br />

die Kommunisten in der Sowjetunion.<br />

Über die Geschichte der Sowjetunion wissen die Kinder in der Bundesrepublik<br />

ohnehin mehr als über die deutsche Geschichte. Die lernen ja<br />

schon in der Kita Morgenstern, dass dort unter Stalin im Jahr 1937 sehr<br />

viele vermeintliche Gegner der Arbeiter- und Bauernmacht hingerichtet<br />

wurden. Das hatte Nikita Chruschtschow 1956 publik gemacht und<br />

angeprangert. Leider wurde nie dazugesagt, dass dieses Blutvergießen<br />

begann, nachdem Stalins Angst, seine Elite könnte etwas Böses gegen<br />

ihn planen, durch gefälschte Infos, die ihm aus der deutschen Hauptstadt<br />

Berlin zugespielt worden waren, ihre Bestätigung gefunden hatte.<br />

Verfallen Sie mir um Gottes Willen auch jetzt nicht auf den Gedanken,<br />

ich wollte die Verbrechen des Stalinismus hier irgendwie schönreden.<br />

Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Meine Überlegungen machen<br />

die Verbrechen, die im Sowjetreich im Namen eines Sozialismus verübt<br />

wurden, gewiss keinen Deut besser als sie waren. Unsere Familie<br />

hatte mit dem System genug Ärger, sodass ich nicht zum Relativieren<br />

dessen tendiere, was sich unter den Bezeichnungen Sozialismus oder<br />

Kommunismus in verschiedenen Ländern dieser Welt zutrug.<br />

Es ist andererseits sicher berechtigt, Abstufungen in diesen Ländern zu<br />

sehen, was dann aber wiederum nicht dazu führen darf, die Tragik bei<br />

jedem einzelnen Schicksal damit schönzureden. Ich für meinen Teil<br />

140


<strong>1945</strong><br />

war zu Recht in erster Linie auf Gott und die Welt in der DDR wütend.<br />

Seit ich mich jedoch mit dem Bonner Anteil an der jahrzehntelangen<br />

pseudosozialistischen Entwicklung im Osten Europas beschäftigt habe,<br />

stellen sich mir da noch ganz andere Fragen. Sehr bemerkenswert fand<br />

ich, wie sich der langjährige Boss der DDR dazu äußerte. Auf die Frage,<br />

woher Erich Honeckers Meinung nach „diese Menschenverachtung“ in<br />

der Sowjetunion unter Stalin gekommen sei, grübelte er: „Ich weiß es<br />

nicht <strong>–</strong> vielleicht aus ihrer Mentalität. Bei uns wollten sie das auch tun,<br />

aber wir haben das verhindert. Auch mich wollten sie einspannen für<br />

ihren Nachrichtendienst. Das habe ich abgelehnt. Das muss mit der<br />

Mentalität dieses Landes zusammenhängen. Woher kommt denn auf<br />

einmal die SS in Moskau. Erklären Sie mir das.“ Der Journalist meinte,<br />

es könnte vielleicht mit dem feudalen Hintergrund des alten Russland<br />

zusammengehangen haben, woraufhin Honecker entgegnete: „Wahrscheinlich.<br />

Wo kommen die Progomsachen dort plötzlich wieder her.<br />

Die Juden sind doch Menschen wie alle anderen.“ Ich will hier jedoch<br />

ganz klar unterscheiden zwischen der fragwürdigen Innenpolitik des<br />

Großen Führers in Moskau und der Außenpolitik Stalins. Wenn Sie das<br />

Gesicht des Mannes zum Beispiel am Rande der Konferenz in Potsdam<br />

sehen, dann sehen Sie seinen Stolz darüber, mit seinem großen Land<br />

unter den Großen dieser Welt angekommen zu sein. Sie sehen jedoch<br />

keine Verschlagenheit, aus der man entnehmen könnte, jetzt sei man<br />

hier ein bisschen am Schwatzen, aber hinterher wolle er sein Reich bis<br />

zur Wartburg oder gleich bis zum Atlantik ausdehnen.<br />

Es ist sicher wissenwert, dass die Führung in Berlin 1937 versuchte, das<br />

sowjetische Militär vor ihrem geplanten Überfall auf die Sowjetunion<br />

mit unlauteren Mitteln zu schwächen und so zu den Gewaltexzessen<br />

dort zumindest beitrug. In Oscar Reiles Der deutsche Geheimdienst im II.<br />

Weltkrieg <strong>–</strong> Ostfront erfährt man ab Seite 253 dazu interessante Details.<br />

Man kam auf den Gedanken, über „die Geheime Staatspolizei [Gestapo]<br />

dem sowjetrussischen Geheimdienst <strong>–</strong> OGPU <strong>–</strong> auf dem Wege über den<br />

tschechischen Nachrichtendienst gefälschte Schriftstücke über angebliche<br />

Verratshandlungen Tuchatschewskis und anderer russischer Militärs<br />

in die Hände“ zu spielen.<br />

141


<strong>1945</strong><br />

Als Beitrag zur Völkerverständigung war dieses unmännliche Kratzen<br />

und Beißen ganz sicher nicht gedacht gewesen. „Anfang 1937 wandte<br />

sich Heydrich eines Tages persönlich an Admiral Canaris und bat ihn<br />

um Überlassung schriftlicher Unterlagen aus der Zeit der militärischen<br />

Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Besonders läge ihm daran,<br />

Handschriftproben der deutschen Generale von Seeckt und von Hammerstein<br />

sowie vom sowjetrussischen Marschall Tuchatschewski zu<br />

erhalten. Außerdem wäre es ihm sehr erwünscht, wenn die Abwehr<br />

ihm einen Spezialisten zur Verfügung stellen könnte, der in der Nachahmung<br />

von Handschriften erfahren sei. Canaris, der ahnen mochte,<br />

was Heydrich vorhatte, lehnte das Ansinnen rundweg ab.“ Sehr nobel,<br />

doch Heydrich fragte noch andere große Jungs. „Nach etwa zwei Monaten<br />

erkannte der Admiral, welches infame Spiel Heydrich getrieben<br />

hatte, als in Moskau eine große Reinigungsaktion gegen die Spitzen<br />

der Roten Armee begann, in deren Verlauf Tuchatschewski und eine<br />

Reihe weiterer führender Offiziere der sowjetrussischen Wehrmacht<br />

zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.“<br />

Aber wir waren ja eben noch knapp neun Jahre danach in <strong>Deutschland</strong>.<br />

<strong>1945</strong> störte nur noch der Teil der SPD, der in der östlichen Besatzungszone<br />

zwischen den Trümmern umherlief. Günstig wäre wohl gewesen,<br />

hätten die Sowjets eine Neugründung der SPD in ihrer Zone seinerzeit<br />

gar nicht erst genehmigt. Man war jedoch nicht beim sonntäglichen<br />

Wunschkonzert. Doch dann kam die Rettung auf anderem Wege. Was<br />

Dr. Kurt Schumacher im Westen mit großer Mühe verhindern konnte,<br />

wurde im Osten zum Rettungsanker, und das Problem mit seinen SPD-<br />

Genossen dort löste sich freundlicherweise in Wohlgefallen auf.<br />

Der Historiker Andreas Malycha überraschte nach der Durchsicht nun<br />

zugänglicher Archive im Osten in seinem Buch Auf dem Weg zur SED <strong>–</strong><br />

Die Sozialdemokatie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der<br />

SBZ [der Sowjetischen Besatzungszone] 1996 mit der Feststellung, dass die<br />

Enttäuschung früherer Parteigänger der SPD über die Politik ihrer<br />

Chefetage Anfang der dreißiger Jahre in einigen Städten so weit ging,<br />

dass sie auf eine Neugründung dieser Partei ganz verzichten wollten.<br />

142


<strong>1945</strong><br />

„Die vorgenommene Auswahl der Dokumente belegt, dass es nicht<br />

wenige Sozialdemokraten gab, die eine Sozialdemokratische Partei<br />

nicht wieder gründen wollten. Ein quantitativ nicht messbarer Teil<br />

ehemaliger sozialdemokratischer Mitglieder und Funktionäre schloss<br />

sich vor und unmittelbar nach der Zulassung der Parteien im Mai/Juni<br />

<strong>1945</strong> der KPD an oder war <strong>–</strong> wie Köthen <strong>–</strong> an der Gründung von lokalen<br />

Einheitsparteien beteiligt.<br />

Bei den Gründungen der Einheitsparteien im Mai/Juni <strong>1945</strong> handelte<br />

es sich in den meisten Fällen um Übertritte von Sozialdemokraten, die<br />

vor <strong>1933</strong> der parteioffiziellen Politik kritisch gegenübergestanden hatten,<br />

zur KPD. Oft gehörten Mitglieder der ehemaligen SAP, des ISK<br />

oder der KPD(O) zu den Initiatoren von Einheitsparteigründungen.<br />

Enttäuscht von der Haltung der damaligen Führungen von KPD und<br />

SPD, suchten sie eine neue politische Heimat. In vielen Fällen firmierte<br />

die Ortsgruppe der KPD als Einheitspartei, so beispielsweise in Riesa.<br />

Hinweise auf organisierte Übertritte von Sozialdemokraten zur KPD<br />

zum Zwecke der Bildung einer Einheitspartei existieren in allen Ländern<br />

der sowjetischen Zone, doch mit Sicherheit ist anzunehmen, dass<br />

die Bereitschaft zur sofortigen organisatorischen Vereinigung nur bei<br />

einer Minderheit der Sozialdemokraten ausgeprägt war. In den Orten,<br />

wo eine Einheitspartei entstand, hielt sich der größte Teil der Sozialdemokraten<br />

zurück und verhielt sich abwartend. In Potsdam machte<br />

beispielsweise der Gründerkreis um Georg Spiegel zwar den Kommunisten<br />

das Angebot zur Bildung einer Einheitspartei, traf aber gleichzeitig<br />

Vorbereitungen zur Wiedergründung der SPD.“<br />

Wieso aber? Sollte es nicht eigentlich heißen: und traf gleichzeitig Vorbereitungen<br />

zur Wiedergründung der SPD? Der Widerspruch will mir<br />

nicht einleuchten. Wie hätte man zwei Parteien vereinigen wollen,<br />

wenn eine davon noch nicht einmal gegründet worden war? Was wäre<br />

sonst auch der Grund gewesen, warum der Gründerkreis um Georg<br />

Spiegel den Kommunisten dieses Angebot zur Bildung einer Einheitspartei<br />

gemacht hat?<br />

143


<strong>1945</strong><br />

Davon abgesehen greift Andreas Malycha in diesem Zusammenhang<br />

erstaunlicherweise auch nicht das von ihm an anderer Stelle erwähnte<br />

Papier der KPD vom Juni <strong>1945</strong> als Erklärung für separate Gründungen<br />

von Ortsvereinen der SPD auf. In diesem Papier stand, dass die KPD-<br />

Führung an einer schnellen Fusion der beiden Parteien zu dieser Zeit<br />

noch kein Interesse hatte. Einige Seiten weiter steht dann: „Nach der<br />

Absage der KPD an eine Einheitspartei und dem Bekanntwerden der<br />

Legalisierungmodalitäten begann der systematische Aufbau der Ortsvereine<br />

der SPD Ende Juni, Anfang Juli in den Kreisstädten, wie z. B. in<br />

Brandenburg (Havel), Cottbus, Eberswalde, Frankfurt (Oder), Luckau,<br />

Potsdam und Spremberg.“ Und es wundert mich anderereits auch gar<br />

nicht, dass die KPD bis zum Herbst <strong>1945</strong> keinen Wert auf eine schnelle<br />

Vereinigung der beiden Parteien legte, da sie befürchten musste, dass<br />

ihre eigenen ideologischen Standpunkte durch die hinzukommenden<br />

Sozialdemokraten aufgeweicht werden könnten. Die KPD hatte ja auch<br />

viel weniger Mitglieder <strong>–</strong> allein schon durch die Kollateralschäden der<br />

Nazi-Herrschaft über unser Land. John Scheer war schneller tot, als er<br />

sich umdrehen konnte. Der hat es noch nicht mal bis ins KZ geschafft.<br />

Es muss sicher nicht gesondert betont werden, dass es damals auch im<br />

Osten dieses Landes SPD-Mitglieder gab, die aus alten oder aus neuen<br />

Motiven trotz alledem zum Zusammengehen mit Genossen Ulbrichts<br />

Kommunisten nicht bereit waren, denn diese Überlieferung wird ja<br />

schon von den großen Medien dieser Republik an das Publikum gebracht.<br />

Malycha schreibt aber auch: „Ein völliges und grundsätzliches<br />

Fehlen einer Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten,<br />

wie in Leipzig, bildete für Sozialdemokraten in der Anfangsphase die<br />

Ausnahme.“ Das steht dann aber nicht mehr in den großen Zeitungen.<br />

Erlauben Sie mir hier bitte eine persönliche Anmerkung, die vielleicht<br />

illustrieren kann, warum manche Leute nichts mit den Kommunisten<br />

zu tun haben wollten. Der Vater meines Vaters trat wegen der bevorstehenden<br />

Vereinigung aus der SPD aus. Ihm erschien es intellektuell<br />

unterbelichtet, dass die Kommunisten in seinem Dorf in Thüringen in<br />

den zwanziger Jahren meinten, wenn sie die Fabrikanten in dem Dorf<br />

144


<strong>1945</strong><br />

aufhängten, dann hätten sie den Kommunismus. Vielleicht war es ein<br />

Akt pubertärer Rebellion, dass mein Vater dann, im Jahr 1946, in die<br />

taufrische Sozialistische Einheitspartei <strong>Deutschland</strong>s (SED) eintrat. Ich<br />

bin dann da wieder nicht eingetreten, weil die Dummen meinen Papa<br />

geärgert haben. Den Herrn Doktor. Ein paar Worte darüber später.<br />

In der detailreichen Analyse der Monate zwischen dem Kriegsende im<br />

Mai <strong>1945</strong> und der Vereinigung von SPD und KPD zur SED im April 1946<br />

von Andreas Malycha heißt es auch: „Mitte der achtziger Jahre wurde<br />

in der Bundesrepublik der Begriff der Zwangsvereinigung einerseits<br />

kritisch hinterfragt und andererseits zunehmend inhaltlich differenziert.<br />

Für Dietrich Staritz reichte der Zwang als Erklärungsmuster für<br />

die damaligen Vorgänge nicht mehr aus. Er fragte nach den Faktoren<br />

des Meinungsklimas und der Meinungsbeeinflussung sowie nach den<br />

handlungsleitenden Motiven der Sozialdemokraten in der sowjetischen<br />

Zone.“ Vermutlich haben sich die handlungsleitenden Motive<br />

der Sozialdemokraten in der amerikanischen, in der französischen und<br />

in der britischen Zone nicht gravierend von denen in der sowjetischen<br />

Zone unterschieden. Wir sind ja ein Volk, grins.<br />

Am 30. August <strong>1945</strong> lud der so national orientierte Kurt Schumacher<br />

die westdeutschen Ortsverbände der SPD zu einer Parteikonferenz ein.<br />

Ein Kurier wurde auch in die westlichen Sektoren der Stadt Berlin<br />

geschickt. Dabei passierte dort ein Übermittlungsfehler, so dass in der<br />

Hauptstadt der Eindruck entstanden war, es handele sich hier um eine<br />

Reichskonferenz. So ist es zu erklären, dass überhaupt Vertreter aus<br />

der sowjetischen Zone dieses Landes teilgenommen haben. Die SPD-<br />

Konferenz fand vom 5. bis zum 7. Oktober in Wennigsen bei Hannover<br />

statt. Im Gespräch zwischen Otto Grotewohl und Kurt Schumacher<br />

wurde dann festgelegt, dass Kurt Schumacher der Beauftragte für die<br />

westlichen Besatzungszonen und Otto Grotewohl der Zuständige für<br />

die östliche Zone werden sollte.<br />

„[Peter] Merseburger schließt aus alledem, dass Schumacher »die Freiheit<br />

über die Einheit gestellt« habe.“ Ich schließe aus alledem, dass<br />

145


<strong>1945</strong><br />

Kurt Schumacher nach seiner Absage an Vereinigungsabsichten seiner<br />

Genossen im Westen und nach der Ausschaltung der östlichen SPD-<br />

Verbände in Wennigsen auch in der SPD-West Voraussetzungen für<br />

eine konträre Entwicklung in West- und in Ostdeutschland schuf. Fortan<br />

war im Westen von einer Zwangsvereinigung der beiden Parteien<br />

im Osten die Rede, was in der Einseitigkeit, wie das hier in den Medien<br />

vorgetragen wird, offenbar zumindest bis zum Herbst <strong>1945</strong> nicht dem<br />

tatsächlichen Hergang der damaligen Ereignisse entspricht. Da drängt<br />

sich eine Anfrage an Radio Jerewan auf: Wo sind denn eigentlich die<br />

differenzierten Wertungen aus den achtziger Jahren geblieben?<br />

Im Herbst <strong>1945</strong> kam es schließlich zu gegenläufigen Entwicklungen in<br />

den beiden Arbeiterparteien im Osten. Eine Anzahl von Mitgliedern<br />

der SPD wollte bei einer fortbestehenden grundsätzlichen Bereitschaft<br />

zur Kooperation mit der KPD die Vereinigung nunmehr hinauszögern,<br />

um mehr von ihren eigenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen in<br />

der neuen Partei umsetzen zu können und um personell stärker in den<br />

neuen Führungsgremien vertreten zu sein.<br />

Diese Haltung, die ab dem Herbst <strong>1945</strong> nachweisbar ist, wurde später<br />

im Westen als Beleg dafür herangezogen, dass es sich doch um eine<br />

Zwangsvereinigung handelte. Da das in der medialen Darstellung ohne<br />

Gegenargumente angeboten wird, darf das sicherlich als Propaganda<br />

gelten, zumal die Öffentlichkeit auch nicht daran erinnert wird, dass<br />

Dr. Kurt Schumacher in seinem Reich über die gesellschaftspolitischen<br />

Vorstellungen vereinigungswilliger Sozialdemokraten einfach hinwegmarschiert<br />

ist. Folgerichtig müsste dort von der Zwangsisolierung der<br />

SPD von der KPD gesprochen werden. Auf der anderen Seite änderte<br />

die KPD-Führung offenbar unter dem Eindruck der ersten Nachkriegswahlen<br />

in Ungarn am 11. November und Österreich am 25. November,<br />

bei denen die Kommunisten sehr schwach abgeschnitten hatten, ihre<br />

Linie und ging auf die Anfragen aus der SPD ein. Letztlich gründeten<br />

die Spitzen dieser beiden Parteien im April 1946 hier die Sozialistische<br />

Einheitspartei <strong>Deutschland</strong>s.<br />

146


<strong>1945</strong><br />

Verrenkungen unternahm der Historiker Heinrich A. Winkler, um zu<br />

erklären, warum sich Kurt Schumacher damals so positionierte: „Da<br />

»Asien« jetzt bis zur Elbe vorgerückt war, musste sich der westliche<br />

Teil <strong>Deutschland</strong>s fest mit dem Westen Europas verbinden. Aus dieser<br />

Haltung heraus konnte Adenauer im Sommer und Herbst <strong>1945</strong> wiederholt<br />

ohne erkennbare Gefühlsbewegung aussprechen, was für ihn eine<br />

Tatsache, für Schumacher aber unerträglich war: »Der von Russland<br />

besetzte Teil sei für eine nicht zu schätzende Zeit für <strong>Deutschland</strong> verloren.«“<br />

Und auch hier gab es kein Wort über die Grenzen.<br />

Unerträglicher als die Teilung des Landes dürfte für Kurt Schumacher<br />

aber die Folter durch fanatische deutsche Männer gewesen sein. Herrn<br />

Prof. Dr. Winkler fiel als Begründung für seine These nun auch durchaus<br />

nur die ostdeutsche Herkunft Dr. Schumachers ein. Wenn Sie sich<br />

aber die Herkunft der anderen Akteure anschauen, von denen hier die<br />

Rede ist, dann stammten die meisten von ihnen aus Mittel- und Ost-<br />

<strong>Deutschland</strong>. Der Einheitsromantiker Willy kam allerdings aus Lübeck.<br />

Eine Episode bei Timothy Garton Ash scheint darauf hinzuweisen, dass<br />

auch Dr. Helmut Kohl aus Ludwigshafen bis 1970 die Vereinigung noch<br />

wollte. Die Herkunft der Akteure ist also kein brauchbares Argument.<br />

147


<strong>1945</strong><br />

Kirchenmänner für und gegen Hitler<br />

Welche Rolle spielten nun die beiden großen christlichen Kirchen in<br />

der jüngeren deutschen Geschichte? Um eine Vorstellung davon zu<br />

vermitteln, was schon kurz nach der Machtergreifung durch Hitler aus<br />

dem Mund von staatsloyalen Christen kam, sei hier exemplarisch aus<br />

der Erklärung der Deutschen Christen auf ihrer ersten Reichstagung am<br />

3. und 4. April <strong>1933</strong> zitiert: „Gott hat mich als Deutschen geschaffen,<br />

Deutschsein ist Geschenk Gottes. Gott will, dass ich für mein <strong>Deutschland</strong><br />

kämpfe. Kriegsdienst ist in keinem Fall Vergewaltigung des<br />

christlichen Gewissens, sondern Gehorsam gegen Gott. [...] Der Staat<br />

Adolf Hitlers ruft nach der Kirche, die Kirche hat den Ruf zu hören. [...]<br />

Christus ist zu uns gekommen durch Adolf Hitler!“ Im April <strong>1933</strong>.<br />

Aber es gab auch die bekennenden Christen, die als Bischof, als kleine<br />

Pfarrer oder als einfache Menschen versucht haben, den Entgleisungen,<br />

mit denen sie in ihrem täglichen Leben konfrontiert waren, Zivilcourage<br />

entgegenzusetzen. Viele von ihnen bezahlten hart für ihren<br />

Mut. So vergeblich das Bemühen und das Leiden dieser bekennenden<br />

Christen bis zum Frühjahr <strong>1945</strong> auch gewesen sein mag, so nachhaltig<br />

war ihr Wirken danach. An der Basis hatten sie nun Gelegenheit, Sonntag<br />

für Sonntag dem breiten Publikum nahezubringen, welche Werte<br />

für einen Menschen zählen müssen; und in den oberen Rängen der Gesellschaft<br />

hatten sie dann entscheidenden Einfluss auf die Politik des<br />

Landes. Der Bekennenden Kirche entstammte unter anderem auch der<br />

Leiter des Bundes der Evangelischen Kirchen in Unserer DDR, Bischof<br />

Albrecht Schönherr, unter dessen Leitung es im Frühjahr 1978 zu dem<br />

Spitzentreffen der DDR-Bischöfe mit Erich Honecker kam, und Gustav<br />

Heinemann, der <strong>1945</strong> Präses der Synode der Evangelischen Kirche in<br />

<strong>Deutschland</strong> wurde und im Westen sowohl die FDP als auch die CDU<br />

mitbegründet hat und später in die SPD wechselte.<br />

Warum es zu dem besagten Spitzentreffen erst 1978 und nicht schon<br />

Jahrzehnte zuvor kam, beantwortete Erich Honecker später in einem<br />

durchaus recht ausführlichen Interview: „Unser Verhältnis zur Kirche.<br />

148


<strong>1945</strong><br />

Ich möchte sagen, dazu gehörten selbstverständlich immer zwei. Unsererseits<br />

haben wir in der Vergangenheit von 40 Jahren verschiedene<br />

Dummheiten gemacht, von der anderen Seite kann man das gleiche<br />

nicht abstreiten. Aber wir waren mit den Ergebnissen vom 6. März<br />

1978 doch zu einer Grundlage des Zusammenwirkens von Kirche, Staat<br />

und Gesellschaft gekommen, die gute Ansatzpunkte enthielt für die<br />

gesamte weitere Entwicklung.“<br />

Als in den fünfziger Jahren die offene Unterstützung für die DDR noch<br />

nicht so recht zum Kalten Krieg passen wollte, waren es Einrichtungen<br />

der Kirchen, die die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsleistungen<br />

für den deutschen Staat der Arbeiter und Bauern abwickelten, um die<br />

Embargomaßnahmen der Amerikaner abzumildern, die immer alles zu<br />

ernsthaft betreiben. Dabei kam den beiden Kirchen zugute, dass ihre<br />

Aktivitäten keiner Kontrolle durch demokratische Gremien unterlagen.<br />

Prof. Heinrich August Winkler wird schon Recht gehabt haben,<br />

als er nebulös orakelte: „Und vielleicht stand auch Luther Pate bei den<br />

Bemühungen, die Erfahrung von Schuld auf die Ebene einer säkularisierten<br />

Geschichtstheologie zu heben.“ Und denken Sie mir nur nicht,<br />

ich hätte das etwa aus dem Kontext gerissen. Die Zeilen zuvor lauten:<br />

„Zu akzeptieren, dass die Teilung <strong>Deutschland</strong>s in letzter Instanz<br />

selbstverschuldet war und insoweit in der »Logik der Geschichte« lag,<br />

hieß für mich, dieser Geschichte einen Sinn abgewinnen und das<br />

Leben mit ihr zu erleichtern. Aber woher wusste ich, der ich 1986 die<br />

»Logik der Geschichte« beschwor, dass sie die unbegrenzte Fortdauer<br />

der Teilung verlangte? Und wenn auch meine ostdeutschen Freunde,<br />

die alle zu den Gegnern des Regimes gehörten, ebenso dachten wie ich:<br />

War es nicht unendlich viel leichter, vom Westen aus die Teilung<br />

<strong>Deutschland</strong>s historisch zu »erklären«, als dort, wo man auf eine ganz<br />

andere, nämlich existenzielle Weise unter den Folgen der Teilung litt?<br />

Nietzsches Diktum, wir Deutschen wären Hegelianer, auch wenn es nie<br />

einen Hegel gegeben hätte, hat wohl einen richtigen Kern. Jedenfalls<br />

gibt es bei deutschen Intellektuellen eine ausgeprägte Neigung, frei<br />

nach Hegel das Wirkliche als vernünftig zu begreifen. Und vielleicht<br />

stand auch Luther Pate . . . “ Theologie von und für Lieschen Müller.<br />

149


<strong>1945</strong><br />

Die leise Auswertung des Versagens der großen Kirchen<br />

Vom 21. bis zum 23. August <strong>1945</strong> trafen sich die katholischen Bischöfe<br />

in Fulda. Die Auswertung des Wirkens der Bischöfe in diesen „Tausend<br />

Jahren“ fiel zu Recht hart aus: „Furchtbares ist schon vor dem Kriege<br />

in <strong>Deutschland</strong> und während des Krieges in den besetzten Ländern<br />

geschehen. Wir beklagen es zutiefst. [...] Schwere Verantwortung trifft<br />

jene, die auf Grund ihrer Stellung wissen konnten, was bei uns vorging.“<br />

„Da die Kirche als Institution des öffentlichen Lebens in ihrer Struktur<br />

und ihrem Selbstverständnis nahezu intakt geblieben war, waren die<br />

Bischöfe aufgerufen, wieder, wie 100 Jahre zuvor, den neuen Staat mit<br />

aufzubauen. Dabei ging es um die Umsetzung der Prinzipien der katholischen<br />

Soziallehre in praktische Politik und um ein Staats-Kirche-<br />

Verhältnis, das die Rechte und das Selbstbestimmungsrecht der Kirche<br />

wahrte <strong>–</strong> und zwar auf der Basis der Trennung von Kirche und Staat,<br />

aber in einem partnerschaftlichen Zusammenwirken. Immer öfter<br />

meldeten sich die deutschen »am Grabe des Hl. Bonifatius in Fulda versammelten«<br />

Bischöfe kritisch in gemeinsamen Hirtenbriefen zu Wort.“<br />

Und die Hirtenbriefe wurden fein auf deutsch abgefasst, damit die Botschaften<br />

beim Publikum dann auch ganz sicher ankamen. Wohl mit<br />

demselben Ziel bemühte man sich in der katholischen Kirche „um die<br />

schrittweise Einführung der Muttersprache beim Gottesdienst“, was<br />

vorerst am Vatikan scheiterte.<br />

Josef Kardinal Frings war einer jener katholischen Würdenträger, die<br />

<strong>Deutschland</strong> nach der Wende von <strong>1945</strong> die Entwicklung vorgaben. „Das<br />

Amt des Erzbischofs von Köln, in das er am 1. Mai 1942 überraschend<br />

berufen wurde, bekleidete er von 1942 bis 1969. Seine Bischofsweihe<br />

nahm am 21. Juni 1942 der apostolische Nuntius in <strong>Deutschland</strong>, Erzbischof<br />

Cesare Orsenigo, im Kölner Dom vor.<br />

Der Presse in <strong>Deutschland</strong> hatte das nationalsozialistische Regime verboten,<br />

über die Weihe des neuen Erzbischofs von Köln zu berichten; so<br />

behalfen sich die Kölner Katholiken, indem sie private Kleinanzeigen<br />

150


<strong>1945</strong><br />

aufgaben. Die internationale Presse war bei den Weihefeierlichkeiten<br />

im Kölner Dom jedoch vertreten, so dass außerhalb von <strong>Deutschland</strong><br />

mancherorts über die Weihe berichtet wurde. Die Judenverfolgung<br />

bezeichnete Frings öffentlich als »himmelschreiendes Unrecht«, seine<br />

Popularität bewahrte ihn vor Repressalien. Allerdings wurde er von<br />

der Gestapo mit Hilfe einer Anzahl von V-Leuten, von denen mindestens<br />

einige Kleriker waren, anhaltend intensiv beobachtet.“ Von <strong>1945</strong><br />

bis 1965 war er Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz. In den<br />

sechziger Jahren führte er dann den späteren Papst Benedikt XVI. im<br />

Vatikan ein. Deutsche Geschichte ist spannender, als man denkt.<br />

Die Kirche organisierte sich bereits im Jahr <strong>1945</strong>, als noch gar nichts<br />

klar war, in „auctoritas territorialis“, also in Gebietskörperschaften, so<br />

dass die Teilung des Landes hier bereits vorbereitet wurde. Und so<br />

hört sich der einschlägige Text mit der Begründung im Original an:<br />

„Um die Liturgie überall einheitlich ordnen zu können <strong>–</strong> es ging u. a.<br />

um die schrittweise Einführung der Muttersprache beim Gottesdienst<br />

und bei liturgischen Handlungen und die dazu erforderlichen authentischen<br />

Texte <strong>–</strong> konstituierten sich die deutschen Bischöfe in Rom als<br />

»auctoritas territorialis« gem. Art. 22 § 2 der Liturgiekonstitution, wie<br />

sie jeweils eigens bei diesen Sitzungen betonten (im Vorgriff auf die<br />

später generell notwendig werdende rechtliche Neuregelung).“ Mit<br />

der gut verständlichen Begründung, dass sie die Liturgie überall einheitlich<br />

regeln wollten. So war das. Ganz harmlos. Im Vorgriff. Also<br />

bevor die Alliierten von der Teilung dieses Landes wussten. Sie hatten<br />

<strong>Deutschland</strong> bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages besetzt.<br />

Der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg lag am 28. Juni 1919<br />

im Schloss zu Versailles unterschriftsreif vor. Damit revanchierte sich<br />

Frankreich damals für die Kaiserkrönung Wilhelm I. auf französischer<br />

Erde, den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und für den Weltkrieg.<br />

Dieser Schuss ging aber ins Knie, denn nun waren die Deutschen<br />

wütend und sannen auf Rache.<br />

Ende August trafen sich in Treysa dann auch auf der evangelischen<br />

Seite „die Vertreter des Einigungswerkes, des Reichsbruderrates und<br />

151


<strong>1945</strong><br />

der inzwischen größtenteils umgebildeten Kirchenleitungen der Landeskirchen“.<br />

Klingt auch völlig harmlos. Der inzwischen größtenteils<br />

umgebildeten Kirchenleitungen. An die frische Luft gesetzt haben sie<br />

die Nazi-Bischöfe. Die Eröffnungsrede hielt der Bischof Wurm. Er hatte<br />

wie auch die katholischen Bischöfe Faulhaber und Preysing Kontakte<br />

zum Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke unterhalten.<br />

Und auch diese Männer gaben unserem Land nach dem Krieg die neue<br />

Richtung. Zu Wort kam in Treysa als Sprecher des Reichsbruderrates<br />

unter anderem der ein Vierteljahr zuvor von den Amerikanern aus<br />

dem Konzentrationslager Dachau befreite Pastor Martin Niemöller:<br />

„Gewiss, wir stehen vor großen drückenden Nöten überall, wir stehen<br />

vor dem Chaos und vielfach schon mitten drin. Und wir haben zu<br />

fragen, was uns dahin gebracht hat. Die Not geht nicht zurück auf die<br />

Tatsache, dass wir den Krieg verloren haben; wer von uns möchte<br />

denn wünschen, wir hätten ihn gewonnen; wo würden wir erst stehen,<br />

wenn Hitler gesiegt hätte! Es ist ja gar nicht auszudenken, was das erst<br />

für eine Katastrophe und für ein Chaos geworden wäre. Unsere heutige<br />

Situation ist aber auch nicht in erster Linie die Schuld unseres Volkes<br />

und der Nazis; wie hätten sie den Weg gehen sollen, den sie nicht<br />

kannten; sie haben doch einfach geglaubt, auf dem rechten Weg zu<br />

sein! Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche; denn sie allein<br />

wusste, dass der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat<br />

unser Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt<br />

oder erst, wenn es zu spät war. [...] Wir aber, die Kirche, haben<br />

an unsere Brust zu schlagen und zu bekennen: meine Schuld, meine<br />

Schuld, meine übergroße Schuld! [...] Wir haben jetzt nicht die Nazis<br />

anzuklagen, die finden schon ihre Kläger und Richter, wir haben allein<br />

uns selber anzuklagen und daraus die Folgen zu ziehen.“<br />

Beim Umbilden der Kirchenleitungen wurden also deutsch-christliche<br />

Personen durch solche aus den Bruderräten der Bekenntnissynoden<br />

ersetzt. Das konnte aber eine heikle Prozedur sein. So war zum Beispiel<br />

Walter Koch bis 1946 Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche<br />

im Rheinland, und sein Nachfolger Joachim Beckmann trat dieses Amt<br />

bereits im Jahr <strong>1945</strong> an. Im Osten wurde genauso vorgegangen, wie in<br />

152


<strong>1945</strong><br />

einer jüngeren Studie herausgearbeitet wurde: „Die Leitung der Kirche<br />

Berlin-Brandenburg übernahmen nach dem Krieg Pfarrer aus der antifaschistisch<br />

orientierten Bekennenden Kirche. Sie entfernten zwar NSbelastete<br />

Kollegen aus dem Dienst, taten dies jedoch eher im Verborgenen,<br />

um die Unabhängigkeit der Kirche zu wahren, so die These<br />

Halbrocks.“ Nach dem in Gütersloh herausgegebenen Kirchlichen Jahrbuch<br />

von <strong>1945</strong> bis 1948 ging es in jenen Jahren darum, „einer kirchlichen<br />

Restauration zu wehren und auch weiterhin den Erkenntnissen der<br />

Bekennenden Kirche bei den weitreichenden Entscheidungen über die<br />

aktuellen kirchlichen Fragen Geltung zu verschaffen“.<br />

Wie in der Politik hat man auch in den Kirchen nicht laut gesagt, auf<br />

welcher Seite der Barrikade die neuen Leute an der Spitze denn nun<br />

vor <strong>1945</strong> gestanden hatten. Stattdessen nahmen die Hitler-Gegner die<br />

später aufkommende Kritik an den Bischöfen, die sich mit den Nazis<br />

eingelassen hatten, auf sich. Ich gehe davon aus, dass es ohne dieses<br />

Versteckspiel der Nachkriegselite in allen Bereichen der Gesellschaft<br />

nicht zu dieser permanenten Revolution der achtundsechziger Jugend<br />

gegen das vermeintlich unbelehrbare, alte deutsche Establishment mit<br />

Kaufhausbränden und Morden gekommen wäre, die ein Jahrzehnt lang<br />

den Westen unseres Landes in Angst und Schrecken hielt.<br />

153


<strong>1945</strong><br />

Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Kirche<br />

Am 19. Oktober <strong>1945</strong> brachte die Evangelische Kirche die Stuttgarter<br />

Schulderklärung unter das Volk. Darin konnte der geneigte Teil des<br />

Publikums lesen: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches<br />

Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir<br />

unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im<br />

Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch<br />

im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen<br />

Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden<br />

hat: aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht<br />

treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt<br />

haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.<br />

Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf<br />

den alleinigen Herrn der Kirche, gehen sie daran, sich von glaubensfremden<br />

Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen<br />

zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass Er unsere Kirchen als<br />

Sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, Sein Wort<br />

zu verkündigen und Seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns<br />

selbst und bei unserem ganzen Volk. Dass wir uns bei diesem neuen<br />

Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft<br />

herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude. Wir<br />

hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem<br />

Geist der Macht und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig<br />

werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens<br />

und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte<br />

Menschheit Genesung finden kann. So bitten wir in einer Stunde, in<br />

der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni creator spiritus!“<br />

Albrecht Schönherr, der sich 1943 der Bekennenden Kirche angeschlossen<br />

hatte und der dann im Jahr 1946 in der sowjetischen Zone<br />

Superintendent wurde, schrieb über die Stuttgarter Schulderklärung:<br />

„Ich erinnere mich noch sehr deutlich, wie schwer es mir als Lagerpfarrer<br />

geworden ist, es den hohen Offizieren, die eine Zeit lang meine<br />

»Gemeinde« waren, klarzumachen.“<br />

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