1945 - Deutschland 1933 – 1990
1945 - Deutschland 1933 – 1990
1945 - Deutschland 1933 – 1990
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<strong>1945</strong><br />
Ein Wort zum Einmarsch der Alliierten in <strong>Deutschland</strong><br />
Die Absichten der großen Politiker sind natürlich nur eine Seite der<br />
Medaille, und wie einzelne Menschen das Geschehen konkret erleben,<br />
ist dann die andere Seite. So gibt es vielfältige Erinnerungen an den<br />
Einmarsch der alliierten Truppen in <strong>Deutschland</strong>, weil das Leben nicht<br />
nur aus Schwarz und Weiß besteht. Leider findet sich die Vielfalt der<br />
Erinnerungen nach dem Krieg weder in den ostdeutschen noch in den<br />
westdeutschen Medien wieder. Im Osten wie im Westen war die Kultur<br />
der Erinnerung geprägt durch die Rücksichtnahme auf die eine Seite<br />
und die Verurteilung der jeweils anderen. In der DDR war es damals<br />
bis zum Untergang des Staates nicht gelungen, mit den dunklen Seiten<br />
des Einmarsches der sowjetischen Truppen in <strong>Deutschland</strong> umzugehen.<br />
Aber auch in der Bundesrepublik hat es bis 1979 gedauert, bevor<br />
dann eine umfassende Darstellung von britischen und amerikanischen<br />
Akten einer völkerrechtswidrigen Kriegsführung unter dem Titel Die<br />
Wehrmacht-Untersuchungsstelle von Alfred M. de Zayas erschien.<br />
In der erweiterten Auflage aus dem Jahr 2001 werden Kritiken zu den<br />
früheren Auflagen wiedergegeben. So schrieb Die Zeit: „Dieses Buch,<br />
das wissenschaftliches Neuland erschließt, ist im Beweisgang sorgfältig<br />
abgestützt; es formuliert und wertet behutsam.“ In dem American<br />
Journal of International Law stand: „Eine Pionierstudie . . . ein interessantes<br />
und gut geschriebenes Werk.“<br />
Auf der Rückseite wurde aus dem Hamburger Spiegel zitiert: „Um nicht<br />
noch im Nachhinein nationalsozialistischer Propaganda aufzusitzen,<br />
prüfte de Zayas »die innere Folgerichtigkeit der Akten« und verglich<br />
die darin geschilderterten Vorgänge mit einschlägigen Materialien in<br />
Bonner, Londoner, amerikanischen und schweizerischen Archiven. Er<br />
machte Hunderte von Zeugen ausfindig, darunter rund 150 ehemalige<br />
Heeres-, Marine- und Luftwaffenrichter, die er nach dem Zustandekommen<br />
der Dokumente befragte . . . “<br />
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<strong>1945</strong><br />
Alfred M. de Zayas stellte am Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts<br />
ganz zweifellos geschehene östliche Kriegsverbrechen neben<br />
zweifellos geschehene Kriegsverbrechen, die von westlichen Alliierten<br />
verübt worden waren, was jedoch auf keinen Fall bedeutet hatte, dass<br />
solche Erkenntnisse über die Medien auch das öffentliche Bewusstsein<br />
erreicht hätten. Die Russen blieben selbstverständlich dunkelschwarz.<br />
Über die vier Jahrzehnte der längsten Friedensphase in Europa im XX.<br />
Jahrhundert, die als der „Kalte Krieg“ in die Geschichte einging, wurde<br />
jedes Mittel herangezogen, um auftretende verständnisvolle Gefühle<br />
für die Polen und Russen abzuwürgen. Die politische Korrektheit in<br />
den westdeutschen Medien begann erst später. Erst jetzt höre ich auf<br />
den entsprechenden Kanälen hin und wieder, dass es im Vorlauf ganz<br />
zweifellos geschehene deutsche Kriegsverbrechen gab, die im Osten<br />
unverhältnismäßig scheußlicher waren als im Westen, was dann der<br />
entsprechenden Reaktion im Osten auch ihren Pfeffer gab.<br />
Weil die Russen in dieser Angelegenheit aber auch weiterhin relativ<br />
schlecht wegkommen, will ich mich an der Stelle darauf beschränken,<br />
die subjektive Wahrnehmung von Egon Krenz, der dann in der DDR<br />
politisch Karriere machte, in meinen Abriss der Ereignisse aufzunehmen,<br />
weil so die weitere Entwicklung im Osten besser verständlich<br />
wird: „Auch ich erbte zu meiner Zeit ein Stück Geschichte. Kein gutes.<br />
Es war die Zeit des bald heraufziehenden faschistischen Raubkrieges.<br />
Als ich verstehen lernte, war der Krieg aus. Die Leute schlugen sich auf<br />
die eine oder andere Seite der Nachkriegsparteien. Man konnte <strong>1945</strong><br />
die Russen hassen, wenn man nicht gründlich genug das Hakenkreuz<br />
aus dem Schädel bekam. Ich hatte Glück. Ein Russe rettete mir das<br />
Leben, gab mir Fallschirmseide für Hemden und Kastenbrot für den<br />
größten Hunger. Auf denkwürdige Weise ersetzte er mir den im Krieg<br />
vermissten Vater, wohl deshalb, weil auch er tausend Kilometer entfernt<br />
einen Sohn hatte. Keine Indoktrination, sondern Kindheitserinnerungen<br />
trieben mich den Russen in die Arme und weckten irgendwann<br />
die Neugier auf die Sowjetunion. Sie standen am Anfang eines<br />
tiefen freundschaftlichen Gefühls, das sich bei mir auch mit wachsenden<br />
Funktionen nie verbürokratisiert hat.“<br />
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<strong>1945</strong><br />
Eine Weltverschwörung gegen die Vereinigung?<br />
Lange bevor die Waffen am Ende des Zweiten Weltkrieges schwiegen,<br />
hatten sich Menschen im In- und Ausland Gedanken gemacht, wie es<br />
mit <strong>Deutschland</strong> nun weitergehen sollte. Schon in den letzten Wochen<br />
des Weltkrieges suchten die Alliierten nach nicht braun vorgeprägten<br />
Deutschen, die in der Lage sein würden, die Organisation des täglichen<br />
Lebens ihres Volkes in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei griff man<br />
auch auf die Personen zurück, die sich bereits in den demokratischen<br />
Strukturen der Jahre vor <strong>1933</strong> einen guten Namen gemacht hatten.<br />
Nach einem von ihnen wurde in den schon befreiten Gebieten gezielt<br />
gesucht. Es war Konrad Adenauer. Schon seit Mitte März <strong>1945</strong> führten<br />
amerikanische Offiziere dann erste Sondierungsgespräche mit ihm. In<br />
einem dieser Gespräche äußerte er schon dezidiert den Wunsch, einen<br />
Bundesstaat „aus Österreich, den Resten Preußens, Westdeutschland<br />
(Westfalen und Rheinland) und Süddeutschland“ zu bilden. Zu diesem<br />
Zeitpunkt, zwei Monate vor der bedingungslosen Kapitulation unseres<br />
Landes, war noch nicht klar, wie sich die Alliierten in der Frage der<br />
territorialen Ausdehnung <strong>Deutschland</strong>s äußern würden. Absehbar war<br />
jedoch, dass das 1866 von Bismarck abgestoßene und 1938 von Hitler<br />
erneut eingemeindete Österreich nicht für den Verbleib im deutschen<br />
Staatsverbund vorgesehen war. Als Dr. Konrad Adenauer (geb. 1876)<br />
nach dem Krieg versuchte, dem in der Zwischenzeit in die SPD-Spitze<br />
aufgestiegenen Politiker Willy Brandt (geb. 1913) dessen deutschlandpolitische<br />
Ideen auszureden, sagte er dem viel jüngeren Brandt, der<br />
die Jahre der Nazi-Herrschaft vergleichsweise komfortabel im Exil in<br />
Skandinavien verbracht hatte und nicht in den Fingern der deutschen<br />
Gestapo, dass er doch: „eher ein Westdeutscher, denn ein Deutscher<br />
schlechthin sein wollte“. Und über die Zeit vor <strong>1933</strong> ließ er ihn wissen:<br />
„Im Zug nach Berlin habe er, der Präsident des Preußischen Staatsrats,<br />
immer das Gefühl gehabt, hinter der Elbe höre Europa auf und ab Magdeburg<br />
die Vorhänge zugezogen“, <strong>–</strong> „damit ich die asiatische Steppe<br />
nicht sehen mußte.“ Ich hoffe, Sie haben die Geburtsjahre verglichen <strong>–</strong><br />
den Beginn des Ersten Weltkrieges hat Adenauer mit 38 erlebt, damals<br />
konnte der kleine Willy gerade mal laufen. Das erklärt sehr viel.<br />
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<strong>1945</strong><br />
Groß rausgekommen war Adenauer allerdings nicht aus seinem Dorf.<br />
Günter Gaus, der später den ersten Vertreter der BRD in der DDR gab,<br />
bot dann ein schon etwas differenzierteres Bild: „Mitteldeutschland<br />
nenne ich häufig die DDR und weiß genau, dass dies ein ungenauer<br />
Sammelbegriff ist; denn Mecklenburg, natürlich, ist norddeutsch, an<br />
manchen Stellen mit ersten, leisen Anklängen des Ostens; und an den<br />
Elbhängen flußaufwärts von Dresden spielt nach meinem Empfinden<br />
Süddeutsches in das Mitteldeutsche hinein. Mein Sammelbegriff vernachlässigt<br />
das.“ Gaus wollte diesen Begriff Mitteldeutschland übrigens<br />
nicht als revanchistisch verstanden wissen. Wie man es dann eben hört.<br />
In den westdeutschen Massenmedien wird seit dem Kriegsende die<br />
Verschwörungstheorie warmgehalten, dass die Alliierten <strong>Deutschland</strong><br />
wegen des Zweiten Weltkrieges hätten teilen wollen. Einer, der dem<br />
Publikum „die fixe Idee von der ausländischen Verschwörung gegen<br />
<strong>Deutschland</strong> mit ihren Handlangern im Inland“ nahebrachte, war der<br />
gut bekannte Münchener Politiker der Jahre <strong>1945</strong> bis 1988, Franz Josef<br />
Strauß. So finden sich bis heute längere oder kürzere Einlassungen in<br />
den Medien der Bundesrepublik, wie diese von Sebastian Haffner aus<br />
dem Jahr 1953, der über die Jahre unter anderem für den Stern, Die Welt<br />
und Konkret arbeitete: „Jene Staatsmänner im Osten und im Westen,<br />
die ihre Politik auf die dauerhafte Teilung <strong>Deutschland</strong>s gründen und<br />
davon ausgehen, dass die Deutschen die Spaltung bereitwillig hinnehmen,<br />
können im Augenblick zahlreiche Beweise für die Richtigkeit<br />
ihrer Auffassung anführen.“ Für die Teilung dieses Landes war es aber<br />
überhaupt nicht erforderlich, dass die Alliierten einen solchen Plan für<br />
<strong>Deutschland</strong> haben mussten, wenn derselbe Publizist einschätzte, dass<br />
der ehemalige Oberbürgermeister von Köln, Dr. Konrad Adenauer,<br />
„warum das Wort scheuen? <strong>–</strong> einen neuen Rheinbund; ein westliches<br />
<strong>Deutschland</strong> ohne die ungeschickte Übergröße des Bismarckreichs,<br />
einen Staat von »europäischem Normalformat«, von derselben Größenordnung<br />
wie Frankreich, England und Italien, und mit ähnlicher<br />
innerer Verfassung wie diese“ anstrebte. Kanzler Kiesinger variierte<br />
später, ein vereinigtes <strong>Deutschland</strong> sei zu groß für den Frieden und zu<br />
klein für die Herrschaft.<br />
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<strong>1945</strong><br />
Haffner setzte so fort: „einen Staat überdies, der nicht mehr wie das<br />
Deutsche Reich ständig nach zwei Richtungen blicken musste, sondern<br />
sich ein für allemal im Westen heimisch machte, der unter Verzicht<br />
auf Preußen und Sachsen die engstmögliche Einheit mit Frankreich<br />
suchte und sich als Gliedstaat nicht eines deutschen, sondern eines<br />
werdenden westeuropäischen (»karolingischen«) Reichs fühlte. Man<br />
kann diese Konzeption natürlich ablehnen, und man kann bedauern,<br />
dass sie in den entscheidenden Jahren um 1950 über die deutsche Einheitskonzeption<br />
den Sieg davontrug. Was man nicht kann, ist so tun,<br />
als wäre das nicht geschehen.“ Hier vielleicht auch gleich die Frage,<br />
wie es zu verstehen ist, dass sich Dr. Helmut Kohl als politischer Enkel<br />
Dr. Adenauers verstand? Und dann die Zusatzfrage, wie man das ohne<br />
Freude an einem sozialistischen Aufbau in Preußen und Sachsen sowie<br />
in Pommern, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen, in Mecklenburg und in<br />
der Stadt Berlin erreichen wollte; in ganz Berlin natürlich, damit nicht<br />
dauernd die vollen Ladentheken im Westen der Stadt die Freude am<br />
Sozialismus im Osten der Stadt trüben konnten.<br />
Doch warum haben andere Journalisten, die von einer Verschwörung<br />
des umfangreichen Auslandes gegen das arme und liebe <strong>Deutschland</strong><br />
nichts wussten, dann nicht gegengesteuert und den Bürgerinnen und<br />
Bürgern die Wahrheit präsentiert? Um hier eine sachkundige Antwort<br />
zu erhalten, habe ich bei Günter Gaus nachgeschlagen, der ein halbes<br />
Jahrzehnt lang der Chefredakteur der Informationsquelle Der Spiegel<br />
war. Wer sollte es denn besser wissen als dieser Mann? „Was wir im<br />
Grunde glauben, habe ich vor Jahren so formuliert: Wir alle werden<br />
viel belogen, jeden Tag. Und tagtäglich werden wir auch aufgefordert,<br />
des Kaisers neue Kleider zu bestaunen, jenes Gespinst aus Nichts, das<br />
im Märchen vor dem Nicht-verblendet-Sein eines Kindes zerfällt, so<br />
dass endlich die nackte Wahrheit wiederzuerkennen ist. Wir werden<br />
belogen und sollen Dinge zur Kenntnis nehmen, die es so, wie sie uns<br />
präsentiert werden, nicht gibt. Es geschieht mit uns alle Tage: Absichtsvoll<br />
und unabsichtlich, bewusst wie unbewusst wird uns der<br />
Blick verstellt durch zweckbestimmte Gebots- und Verbotstafeln, auf<br />
denen geschrieben steht, wie wir dies und das sehen sollen, was wir<br />
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<strong>1945</strong><br />
nicht denken dürfen, sondern stattdessen zu glauben haben. Ende des<br />
Zitats. Die Mehrheit hierzulande nickt heftig mit dem Kopf, wenn derlei,<br />
das von des Kaisers neuen Kleidern, durchaus zutreffend, über die<br />
DDR gesagt wird. Aber im vorliegenden Fall war die Bundesrepublik<br />
gemeint. Man kann es ein gesamtdeutsches Credo nennen, das diesseits<br />
der Elbe von einer Minderheit angestimmt wird.“ Ei, ei. Darüber<br />
wollen wir jetzt nicht nachdenken. Wir wollen nicht nachdenken!<br />
Was die Ablehnung des Ostens <strong>Deutschland</strong>s anging, war Dr. Adenauer<br />
auch kein Sonderling in der Familie. Der CIP Press Service in New York<br />
gab am 29. Mai <strong>1945</strong> bekannt, dass der spätere Bonner Kanzler „ein<br />
enger Verwandter von Dr. Benedikt Schmittmann [war], einem prominenten<br />
Professor aus der Leitung der Kölner Universität, den die Nazis<br />
im Oktober 1939 ermordeten“. Und warum wurde Prof. Schmittmann<br />
am Ende der dreißiger Jahre hingerichtet? Er war damals der Präsident<br />
des Reichs- und Heimatbundes deutscher Katholiken und der Reichs-<br />
Arbeitsgemeinschaft deutscher Föderalisten gewesen, also von zwei<br />
„Organisationen, die die Zerschlagung Preußens und die Autonomie<br />
für das Rheinland und andere Teile <strong>Deutschland</strong>s in einem neuorganisierten<br />
Bundesstaat anstrebten“.<br />
Und das schon in den dreißiger Jahren. Darüber war der Fuehrer ganz<br />
gewiss nicht amüsiert. Das bedeutet, dass es auch im Gesichtskreis<br />
Konrad Adenauers Überlegungen gab, wie man einen erneuten Krieg<br />
vermeiden konnte, indem man einfach dem Kernland der Preußen die<br />
Rüstungsindustrie des Ruhrgebiets entzog. Aber was heißt da einfach,<br />
wenn der Fuehrer gerade dabei war, die Welt zu erobern?<br />
Dann ist nur noch interessant, wie Adenauer dem großen Ziel näherzukommen<br />
gedachte und ob er das auch ohne MitstreiterInnen, also<br />
ohne eine konzertierte Aktion erreichen konnte. Sein Politikerkollege<br />
Strauß hielt diesbezüglich fest: „Adenauers Politik war pragmatisch<br />
und bewegte sich, was kein Gegensatz sein muß, im Rahmen einer<br />
großen Strategie. Pragmatismus war bei ihm nicht Opportunismus<br />
oder Grundsatzlosigkeit. Er wollte der deutschen Politik einen Weg in<br />
19
<strong>1945</strong><br />
die Zukunft bahnen, der neue Fehlentwicklungen und Tragödien der<br />
deutschen Geschichte vermeiden sollte. Er war der Meinung, Preußen<br />
sei in seinem Machtdenken zu sehr auf militärische Kategorien ausgerichtet<br />
gewesen. Adenauer war ein leidenschaftlicher Feind des Militarismus.<br />
Er sah ein neues, ein anderes <strong>Deutschland</strong>, verankert in der<br />
Wertegemeinschaft des Westens, in enger Verbindung mit Frankreich<br />
und abgedeckt durch das Bündnis mit den Vereinigten Staaten von<br />
Amerika. [...] Adenauers strategischer Pragmatismus war gemischt mit<br />
einem sehr kalten Realismus, der manchen als Zynismus erschien.“<br />
Strauß fügte hinzu: „Als außerordentlich kluger und erfahrener Mann<br />
war für ihn das große Unglück der deutschen und europäischen<br />
Geschichte die disproportionierte Gestaltung des Deutschen Reiches<br />
mit dem dominierenden Übergewicht Preußens. Diese Umstände der<br />
Reichsgründung von 1871 hat er für eine der Ursachen einer tragischen<br />
geschichtlichen Entwicklung gehalten.“ Was störte, waren also<br />
nicht die Nazis in Köln oder ein Österreicher als Oberguru in Berlin,<br />
sondern das Land Preußen. Wenn Preußen aber störte, dann musste es<br />
weg. Da es sich hierbei allerdings um eine relativ große Immobilie<br />
handelte, konnte man es nicht schlicht und einfach verdampfen.<br />
Auch wenn deutsche Medien dem geschichtsinteressierten Publikum<br />
bis heute suggerieren, die Alliierten hätten die dauerhafte Besetzung<br />
und die Aufteilung <strong>Deutschland</strong>s im Visier gehabt, deuten viele ihrer<br />
Aktivitäten bis <strong>1990</strong> auf das Gegenteil hin. Beim Vergleich, wie ich die<br />
Bundesrepublik seit den siebziger Jahren von außen sah, und wie ich<br />
sie seit <strong>1990</strong> erlebe, mit all den Scheingefechten, in denen es darum<br />
ging, wer denn nun die Vereinigung am intensivsten gewünscht und<br />
wer sie abgelehnt habe, verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass sich<br />
die entscheidenden Akteure abgesehen von wenigen Ausnahmen seit<br />
dem Kriegsende unabhängig von ihrem Parteibuch einig waren, dass<br />
Bismarcks Deutsches Reich wieder in kleinere Staaten zurückgeführt<br />
werden sollte. Wenn man diese Geschichte unter diesem Blickwinkel<br />
betrachtet, sind solch fragwürdige Details nicht mehr überraschend<br />
wie jenes, dass sich Hildegard Hamm-Brücher aus der FDP-Spitze im<br />
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<strong>1945</strong><br />
Streit um die herzlichen Kontakte zwischen der Bonner SPD und der<br />
Ost-Berliner Staatspartei SED schützend vor den führenden SPD-Mann<br />
Johannes Rau stellte. Auch bei Hans-Dietrich Genscher aus der FDP-<br />
Führung findet sich solch eine Formulierung von „dem von mir hoch<br />
geschätzten Johannes Rau“.<br />
Das verleiht auch den „deutsch-deutsche[n] Doppelbödigkeiten“, vor<br />
denen das Ausland so unberechtigt Angst hatte, einen anderen Sinn.<br />
So hatte beispielsweise Alfred Dregger, der „Spitzenmann der rechten<br />
Stahlhelm-Fraktion in der CDU“, den Staatsratsvorsitzenden der DDR,<br />
Erich Honecker, bei seinem Staatsbesuch in jener Bundesrepublik im<br />
Herbst 1987 „als »deutschen Kommunisten« begrüßt, mit dem ihn als<br />
»deutscher Demokrat« viel verbinde.“ Was Honecker so mit der CDU<br />
verband, waren speziell die Verbindlichkeiten, die er im Westen hatte.<br />
Genau so wollte es der Herr. Einer trage des anderen Lasten, und also<br />
erfüllet das Gesetz des Christus. Das können Sie nachlesen. Galater 6, 2.<br />
Dem Ergebnis nach zu urteilen, muss die Grundidee tatsächlich darin<br />
bestanden haben, das überhöhte nationale Sendungsbewusstsein der<br />
Deutschen im Westen und im Süden gegen die Zugehörigkeit zu einer<br />
westlichen Wertegemeinschaft und im Osten <strong>Deutschland</strong>s zumindest<br />
gegen antifaschistische Werte zu ersetzen. Es hatte doch hoffentlich<br />
niemand ernstlich angenommen, es würde etwa zu einer östlichen<br />
Wertegemeinschaft kommen. Stichwort Stalin.<br />
Es war in diesem Rahmen eine mediale Glanzleistung, ausgerechnet<br />
Willy Brandt als den Vollstrecker der Anerkennung „unserer DDR“ zu<br />
verkaufen. Am Ende seines Lebens hielt der abgeschossene Kanzler in<br />
den Erinnerungen fest: „Über den mir zugeschriebenen, dann mit mir<br />
identifizierten Begriff »Ostpolitik« war ich nicht glücklich. Aber wie<br />
will man etwas einfangen, was sich selbstständig gemacht hat und<br />
rasch in fremde Sprachen aufgenommen worden ist?“ Aus jedem Wort<br />
von Willy Brandt geht hervor, dass ihm nicht Ostpolitik vorschwebte,<br />
sondern <strong>Deutschland</strong>politik. Leider benannte er seine Zweifel an der<br />
Marschrichtung seiner demokratischen Mitstreiter nur in kryptischen<br />
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<strong>1945</strong><br />
Halbsätzen wie: „soweit das Interesse nicht ohnehin auf ganz anderes<br />
als die deutsche Einheit gerichtet war“. Brandts Nachfolger Helmut<br />
Schmidt schrieb dann in den achtziger Jahren: „Im Grunde aber spielte<br />
die Hallstein-Doktrin [Bonns Anspruch, der einzige legitime Vertreter<br />
des deutschen Volkes zu sein] in meiner Amtszeit [1974-1982] keine<br />
hemmende Rolle mehr bei der Verfolgung unserer Interessen in östlichen<br />
Richtungen. Dies verdankten wir vor allem Willy Brandt, seinem<br />
Außenminister Walter Scheel sowie Egon Bahr.“ Das war die einzige<br />
„positive“ Erwähnung Willy Brandts in Menschen und Mächte.<br />
Es ist ein Ziel meiner Ausführungen, diese Propaganda zu widerlegen.<br />
Auffallend oft wird wiederholt, dass die britische Premierministerin<br />
Margaret Thatcher und der französische Präsident François Mitterrand<br />
die Wiedervereinigung noch viele Monate nach dem Mauerfall<br />
abgelehnt hätten. Gar nicht zu reden von den zotteligen Russen. Der<br />
zeitweilige Chefredakteur des Spiegel, Günter Gaus, brachte es präzise<br />
auf den Punkt: „Zum Lebensgefühl des deutschen Bürgertums, in der<br />
Bundesrepublik restauriert, scheint unausrottbar seit langem der<br />
Wahn von einer stets zielstrebigen, weitgespannten, verschwörerischen<br />
Bedrohung zu gehören. [...] Aber nicht erst seit gestern, seit<br />
<strong>1945</strong>, nein, schon seit über fünfzig Jahren sind die Deutschen nun von<br />
der kommunistischen Welteroberung bedroht; einer Verschwörung, in<br />
der sich inzwischen im bürgerlichen Bewusstsein Altes und Neues<br />
mischen: eiskalte, im Grunde eben doch unmenschliche Funktionäre,<br />
asiatische Horden und moderner Terrorismus.“ Es ist das Manko von<br />
Gaus’ Darstellung, dass er nicht anmerkt, dass sein Magazin über viele<br />
Jahre selbst an der großen Verschwörungstheorie mitgebastelt hat.<br />
Wo hätten die Leute in der Bundesrepublik den Quark sonst her?<br />
Was das Jahr <strong>1990</strong> anbelangt, wird geflissentlich unterschlagen, dass es<br />
sich hier um jenen Zeitraum handelte, in dem Dr. Helmut Kohl nun<br />
durchaus nicht zu bewegen war, die deutsche Ostgrenze des Jahres<br />
<strong>1945</strong> endgültig anzuerkennen. Es spricht für sich, wenn Der Spiegel die<br />
Bedeutung der Alliierten für die Nachkriegszeit in <strong>Deutschland</strong> kurz<br />
und bündig derart zusammenfassen konnte: „Der Einfluss von London,<br />
22
<strong>1945</strong><br />
Washington und Paris erweist sich als begrenzt, denn die Vertreter der<br />
westlichen Demokratien setzen zumeist auf Überzeugung. Es gelingt<br />
ihnen daher weder, das Berufsbeamtentum einzuschränken noch das<br />
Juristenmonopol aufzubrechen.“ Auf diesen zwei Säulen konnte man<br />
aufbauen. Indem man Altnazis unter jenes Beamtenrecht stellte, hatte<br />
man sie politisch ausgeschaltet, abgefüttert, in Schach gehalten und<br />
nutzbar gemacht; und die Bedeutung der Karlsruher Grundsatzurteile<br />
für die Bonner Außenpolitik kann gar nicht überschätzt werden.<br />
Washington, Moskau, London und Paris konnten sich erst Jahrzehnte<br />
später und nach dem Kalten Krieg gegen die deutsche Nachkriegselite<br />
durchsetzen: „Wer das Engagement der vier Mächte für die Anerkennung<br />
der deutsch-polnischen Grenze in Paris miterlebte, der konnte<br />
erkennen, welche Hindernisse, beginnend mit der Erklärung vor den<br />
Vereinten Nationen 1989, Schritt für Schritt aus dem Weg geräumt<br />
worden waren. Gleichzeitig wurde deutlich, wie sehr jedes deutsche<br />
Zögern uns geschadet hatte. Das war umso bedauerlicher, als von Anfang<br />
an klar war: Ohne eine Anerkennung der polnischen Westgrenze<br />
würde es weder im Osten noch im Westen Zustimmung zur deutschen<br />
Vereinigung geben.“<br />
Da hatte der Bonner Außenminister der siebziger und achtziger Jahre,<br />
Hans-Dietrich Genscher, absolut Recht. Jedes Zögern in Bonn hatte uns<br />
geschadet, besonders, wenn jemand in den Tiefen Osteuropas aus politischen<br />
Gründen schikaniert worden war. Nach diesen Worten über<br />
das Engagement der vier Alliierten, das noch <strong>1990</strong> nötig war, um die<br />
Staatsführung in Bonn zum Einlenken zu bewegen, wird klar, dass der<br />
Bonner Kanzler noch zu diesem Zeitpunkt verzweifelt versucht hat,<br />
die Vereinigung <strong>Deutschland</strong>s abzuwenden. Oder können Sie sich an<br />
Massendemonstrationen für die Wiedergewinnung der früheren deutschen<br />
Ostprovinzen erinnern? Dr. Helmut Kohl argumentierte ja seitdem,<br />
er habe aus Rücksicht auf Die Heimatvertriebenen bis zum Herbst<br />
<strong>1990</strong> mit der juristischen Anerkennung der Grenzen des Jahres <strong>1945</strong><br />
gezögert. Richtig ist jedoch vielmehr, dass in der Öffentlichkeit der<br />
Eindruck erzeugt worden war, dass da seit Brandts Ostverträgen nichts<br />
23
<strong>1945</strong><br />
mehr zu holen war. Es war sicher kein Zufall, dass Reden mit diesem<br />
Inhalt später immer als Sonntagsreden bezeichnet wurden.<br />
Ich erinnere mich umgekehrt, dass der SPD-Politiker Oskar Lafontaine<br />
aus der SPD-Spitze nach den Aufzeichnungen von Brigitte Seebacher<br />
<strong>1990</strong> in einem Gespräch mit Ex-Kanzler Brandt geäußert haben soll, er<br />
„wisse nicht, wo Leipzig und Rostock liegen, und wolle es auch nicht<br />
wissen, er kenne Mailand und Paris, und diese Städte seien ihm nun<br />
einmal nahe“. Meine westdeutschen Gesprächspartner wussten damals<br />
auch nicht, ob Erfurt oder Dresden weiter von der „innerdeutschen“<br />
Grenze entfernt war. Und da behauptet Helmut Kohl, dass sich eine zu<br />
Buche schlagende Anzahl Leute dafür interessiert hätte, wo Städte mit<br />
den ehemaligen Namen Breslau oder Tilsit wirklich lagen.<br />
Was die Alliierten <strong>1945</strong> tatsächlich wollten, wird meines Erachtens<br />
deutlich am Beispiel der Stadt Berlin. Sie wollten das Land von seiner<br />
Hauptstadt aus verwalten, bis ein Friedensvertrag unterzeichnet war,<br />
in dem die neuen Außengrenzen und die Höhe der Reparationen für<br />
die entstandenen Kriegsschäden festgeschrieben sein sollten. Diese<br />
Stadt Berlin, mitten im sowjetisch besetzten Teil <strong>Deutschland</strong>s, die bei<br />
einer Teilung des Landes ein Unruheherd bleiben musste, macht klar,<br />
dass niemand und am allerwenigsten Stalin an dieser Konstellation ein<br />
Interesse gehabt haben kann. Er hielt sich <strong>1945</strong> an die Absprache, die<br />
von seinen Truppen besetzte deutsche Hauptstadt für die Truppen der<br />
westlichen Alliierten zu öffnen; und diese haben wiederum gemäß der<br />
Übereinkunft der „Großen Vier“ ihre Truppen, die bis zur Thüringer<br />
Saale und im Norden bis zur Elbe standen, zum 1. Juli nach Westen<br />
zurückgezogen. Hier werden Sie verfolgen können, mit welchen Tricks<br />
und Kniffen die Regierung in Bonn bis 1962 (!) versuchte, West-Berlin<br />
mit der DDR zu vereinigen, was an Politikern wie Ernst Reuter, Jakob<br />
Kaiser oder Willy Brandt und last but not least auch an den westlichen<br />
Alliierten scheiterte.<br />
Wenn mit dieser Darstellung deutlich wird, dass die Teilung <strong>Deutschland</strong>s<br />
und in der Folge auch Europas auf eine deutsche Idee zurückgeht,<br />
24
<strong>1945</strong><br />
dann hat sie ihren Zweck erfüllt. Damit wir uns auch wirklich richtig<br />
verstehen: Ich gehe hier nicht der These nach, ob vielleicht die Möglichkeit<br />
bestanden hat, die Vereinigung dieses Landes zwanzig Jahre<br />
früher zu erreichen. Ich lasse hier keinen Zweifel daran, dass es ohne<br />
die Zirkelei rund um die Außengrenzen <strong>Deutschland</strong>s keine Teilung<br />
Europas von Wismar an der Ostsee bis Triest an der Adria gegeben<br />
hätte. Diese Lösung wäre dann auch die Erklärung für die wiederholte<br />
Kehrtwende der natürlich vollkommen unabhängigen westdeutschen<br />
Medien, wie sie von dem britischen Historiker Timothy Garton Ash<br />
beschrieben wurde: „Zuerst, in den fünfziger Jahren, wurde die DDR<br />
dämonisiert. Dann, in den siebziger und achtziger Jahren, wurde sie<br />
zunehmend idealisiert. Schließlich, in den frühen neunziger Jahren,<br />
wurde sie wieder dämonisiert.“ Hoffentlich mit einem gottverdammt<br />
schlechten Gewissen. Timothy Ash setzte fort: „Ganz gewiss hatte sich<br />
die Art und Weise, wie die DDR ihre eigenen Bürger behandelte, weit<br />
weniger verändert als die Art und Weise, mit der die Bundesrepublik<br />
die DDR behandelte.“ Über den Autor heißt es vorn in diesem Buch:<br />
„Timothy Garton Ash, geboren 1955, ist Fellow am berühmten St. Antony’s<br />
College der Universität Oxford, <strong>1990</strong> erschien »Ein Jahrhundert<br />
wird abgewählt«, das 1991 zum »politischen Buch des Jahres« gewählt<br />
wurde.“<br />
Bevor auch ich in den Genuss der Lesefreiheit gelangte, hielt ich die<br />
ostdeutsche Darstellung, nach der die Spaltung dieses Landes vom<br />
Westen ausging, für eine Schutzbehauptung. Heute kann ich endlich<br />
lesen, wie Propaganda von der anderen Seite aussah. Das Ministerium<br />
für gesamtdeutsche Fragen gab ein Nachschlagewerk unter dem Titel<br />
Die SBZ von A bis Z <strong>–</strong> Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische<br />
Besatzungszone <strong>Deutschland</strong>s heraus, in dessen achter Auflage aus dem<br />
Jahre 1963 unter dem Stichwort „Spaltung und Wiedervereinigung<br />
<strong>Deutschland</strong>s“ ausgeführt wird: „Auf der Konferenz in Teheran (Ende<br />
1943) vereinbarten Roosevelt, Churchill und Stalin die Spaltung<br />
<strong>Deutschland</strong>s. In Jalta (Febr. <strong>1945</strong>) war ihnen diese Forderung gemeinsam.<br />
Im März verzichtete Stalin gleich Churchill darauf, die Sp[altung]<br />
zu verlangen. Stalin ließ <strong>–</strong> dem Buchstaben nach <strong>–</strong> die Sp. fallen, denn<br />
25
<strong>1945</strong><br />
er befürchtete, seinen Anspruch auf Reparationen und Mitregierung<br />
des Ruhrgebietes, aber auch die langfristig geplante Bolschewisierung<br />
ganz <strong>Deutschland</strong>s zu gefährden. [Ich frage mich, welche Quellen 1963<br />
zugänglich waren, um diese Behauptung mit einem Moskauer Text zu<br />
unterlegen. Woher also wusste man dann von so einem Plan?]<br />
Das Potsdamer Abkommen (Besatzungspolitik) forderte nur »Dezentralisation<br />
. . . örtliche Selbstverwaltung« (§ III, A, 9), jedoch keine Sp.<br />
Immer wieder behauptet das Regime der SBZ, <strong>Deutschland</strong> sei nach<br />
<strong>1945</strong> von den Westmächten und politischen Kreisen Westdeutschlands<br />
gespalten worden.<br />
Bei seiner Wahl zum Präsidenten der Republik betonte Wilhelm Pieck<br />
am 11. 10. 1949 vor der Volkskammer [Parlament der DDR]: »Von den<br />
westlichen Besatzungsmächten . . . wurde <strong>Deutschland</strong> gespalten«,<br />
doch »niemals wird die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s . . . von der DDR anerkannt<br />
werden«. (Dok. zur Außenpol. d. DDR, Bd. I, Ost-Berlin 1955, S. 15<br />
f.) Das ZK der SED [das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei<br />
<strong>Deutschland</strong>s] behauptete zum »10. Jahrestag der Gründung der<br />
DDR« (7. 10. 1959), es hätten »die mit dem ausländischen Imperialismus<br />
verbündeten reaktionären imperialistischen Kreise in Westdeutschland<br />
die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s« bewerkstelligt.“<br />
Über die Rolle Wilhelm Piecks konnte ich mir noch kein hinreichendes<br />
Urteil bilden, das ich hier anbieten könnte. Bei anderen Ost-Berliner<br />
Akteuren kann jedoch sicherlich davon ausgegangen werden, dass sie<br />
nicht todunglücklich darüber waren, als alles auf die Spaltung dieses<br />
Landes hinauslief, bot sich ihnen doch somit die Möglichkeit, nun ihre<br />
Vorstellungen von einem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in<br />
die Tat umzusetzen. Zumindest in den frühen Jahren dürfte eine der in<br />
diese Richtung hin treibenden Figuren Walter Ulbricht gewesen sein.<br />
Während in dem Propaganda-Schinken Jossif Wissarjonowitsch Stalin<br />
vorgeworfen wurde, er habe die Spaltung des Landes den Buchstaben<br />
nach zwar fallengelassen, sie aber eigentlich doch betrieben, was von<br />
anderen Autoren, wie von Winkler, gegenteilig dargestellt wird, haben<br />
sich diese anderen Autoren darum verdient gemacht, meinen Brüdern<br />
26
<strong>1945</strong><br />
und Schwestern in der Bundesrepublik weiszumachen, es seien eben<br />
die Westmächte gewesen, die unser Land gespalten hätten. Nach den<br />
mir bisher zugänglichen Texten über die Jahre bis <strong>1990</strong> haben die vier<br />
Alliierten nun ihrerseits angenommen, Ost-Berlin habe einen eigenen<br />
Staat gewünscht, Bonn jedoch habe das Land nach der Ausschaltung<br />
der kommunistischen Sowjetunion vereinigen wollen. Es muss nicht<br />
gesondert betont werden, dass das in Moskau keine Freude auslöste.<br />
Ganz offensichtlich kam nicht die Erkenntnis zum Durchbruch, dass<br />
auch die Bonner Politik auf eine Spaltung hinauslief. Gustav Stolper<br />
arbeitete heraus, woran das lag: „Die Regierungen der Sieger hatten<br />
noch nicht verstanden, dass die geschichtliche Vorstellung, für die<br />
jede Nation eine eindeutige Persönlichkeit darstellte, inzwischen veraltet<br />
war. Der horizontale Schnitt, der im Gefolge von internationalen<br />
Ideologien wie Faschismus und Bolschewismus die europäischen Nationen<br />
spaltete, war ihnen noch verborgen. Lange ehe Hitlers Macht<br />
zerbrach, gab es eine deutsche Nation als Einheit nicht mehr, und dieser<br />
nationale Zerfall traf in größerem oder geringerem Maße alle Länder,<br />
in denen jene Ideologen fanatische Anhänger fanden.“ Danach gab<br />
es Faschisten und die Antifas. Verstanden haben die drei Alliierten in<br />
den demokratischen Staaten die Gesprächspartner aus der ehemaligen<br />
Diktatur wohl deshalb nur sehr mangelhaft, weil sie sicher nicht in der<br />
Lage waren, sich in das Denken von Deutschen hineinzuversetzen, die<br />
unter den Nazis in <strong>Deutschland</strong> gelebt haben und in diesen Jahren ihre<br />
lebensrettende Doppelzüngigkeit erlernt hatten. Sonst war jemand in<br />
jenen Jahren nämlich schnell weg vom Fenster. Wie der Mittzwanziger<br />
Erich Honecker.<br />
Bei Marion Gräfin Dönhoff und Franz Josef Strauß klingt an, wie sich<br />
das angefühlt hat und zu welchen rhetorischen Kunststücken Leute in<br />
der Lage sein mussten, um ihre wahre Meinung nicht zu offenbaren.<br />
Als die Diktatur ihr Leben ausgehaucht hatte, beherrschten sie dann<br />
allerdings diese Technik und dieses doppelbödige Denken, das mir als<br />
DDR-Bürger wohlvertraut ist. In einer freien Gesellschaft kann man<br />
dann alles sagen, man muss aber nicht jedem alles sagen. Andererseits<br />
27
<strong>1945</strong><br />
ist es aber auch bedenklich, wenn die schmerzhaften Tritte, die zum<br />
Beispiel Helmut Kohl, Helmut Schmidt, und zuvor Politiker wie Kurt<br />
Schumacher oder Konrad Adenauer den Alliierten verpasst haben,<br />
nicht psychologisch analysiert wurden. Um <strong>Deutschland</strong> wieder zu<br />
vereinigen, benötigte man das Wohlwollen des Auslands. Was hätten<br />
die Deutschen denn mit ihrem ganz unflätigen Verhalten erreichen<br />
können, außer der dauerhaften Teilung <strong>Deutschland</strong>s, die die Teilung<br />
Europas nach sich zog? Ich begreife darüber hinaus auch nicht, warum<br />
es den Alliierten nicht zu denken gab, dass Konrad Adenauer schon<br />
immer signalisiert hatte, dass er an einer Wiedervereinigung in dem<br />
momentanen Moment immer gerade nicht interessiert war. Genauso<br />
unverständlich ist mir auch, dass es nicht aufhorchen ließ, als Bonn<br />
später im Alleingang anfing, das Wahlvolk zu überzeugen, man müsste<br />
auf einmal die DDR anerkennen. Die Alliierten hatten ausschließlich<br />
gefordert, dass hier die Außengrenzen von <strong>1945</strong> anerkannt werden.<br />
Die Regierungen in Westeuropa und in Amerika haben sich offensichtlich<br />
über vier Jahrzehnte um ein Ende der Teilung Europas bemüht,<br />
wobei sie Bonner Politiker immer wieder hinter geschlossenen Türen<br />
drängten, endlich in der Bevölkerung für die Anerkennung der Oder-<br />
Neiße-Grenze (und eben gerade nicht für die Anerkennung der DDR)<br />
zu werben. Die Formulierung der Premierministerin Großbritanniens,<br />
Margaret Thatcher, im Herbst 1989 (!), dass man Helmut Kohl nicht<br />
gewähren lassen dürfe, sonst schlucke er auch noch Österreich, macht<br />
deutlich, dass seit <strong>1945</strong> auch diese Grenze juristisch offen gelassen<br />
worden war. Die Moskauer Führung hatte sich im ureigenen Interesse<br />
fünfundvierzig Jahre lang um eine dauerhafte Lösung der deutschen<br />
Frage unter der Bedingung der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen<br />
bemüht. Der Außenminister der Republik Frankreich, Roland Dumas,<br />
stellte noch bei einem Besuch in West-Berlin am 1. März <strong>1990</strong> (!) klar,<br />
dass einfache Erklärungen, „so feierlich sie auch seien“, niemandem<br />
genügen würden. „Wichtige Fragen wie die Anerkennung von Grenzen<br />
erforderten vertragliche Regelungen mit einer Ratifizierung.“ Wenn<br />
all das richtig überliefert ist, dann muss die Lösung des Rätsels, wie es<br />
zu einer so langen Teilung kam, wohl eher bei den Deutschen selbst zu<br />
finden sein. Und bei denen ereigneten sich Wunder über Wunder.<br />
28
<strong>1945</strong><br />
Ohne Entnazifizierung zur Demokratie<br />
Den deutschen Nationalismus, der schließlich im Nationalsozialismus<br />
gipfelte, lehnte Konrad Adenauer ab, und damit stand er in <strong>Deutschland</strong><br />
nicht allein. Bereits im Laufe der dreißiger Jahre hatte es in allen<br />
Bevölkerungskreisen, anfangs jedoch vor allem unter Kommunisten<br />
und Sozialdemokraten, Kritik an der Politik der braunen Machthaber<br />
gegeben, die viele Staatsbürger des Reiches mit Inhaftierung, Folter<br />
und Tod bezahlten.<br />
„Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die<br />
Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den<br />
Konzentrationslagern“, konstatierte Dr. Adenauer im Februar 1946 in<br />
einem Brief an einen katholischen Geistlichen in Bonn. Dort schrieb er<br />
auch: „und dafür gibt es keine Entschuldigung“.<br />
Mit dem Ausbruch des Krieges im Sommer 1939 und verstärkt durch<br />
die Wahrnehmung unglaublicher Menschenrechtsverletzungen, die im<br />
Namen <strong>Deutschland</strong>s begangen wurden, bildeten und vergrößerten<br />
sich mehr oder weniger einflussreiche Kreise, die dem Regime kritisch<br />
gegenüberstanden. In einigen dieser Gruppen wurde geplant, den<br />
Krieg und die rassistisch motivierten Morde an Juden, Sinti und Roma<br />
und Angehörigen anderer Völker durch ein Attentat auf Adolf Hitler<br />
zu beenden. Ein späteres Wort Richard von Weizsäckers aus der CDU<br />
macht allerdings deutlich, dass es schon damals nicht hinreichend<br />
schien, einfach den Diktator umzubringen. 1964 sagte er: „Viele von<br />
ihnen meinten, selbst ein geglücktes Attentat würde angesichts des<br />
unbußfertigen Volkes nichts nützen.“<br />
Dass es der Nachkriegselite aber nicht um die Entnazifizierung der<br />
Verbrecher gegangen sein kann, macht zum Beispiel folgende Passage<br />
aus einem Spiegel-Interview mit Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt<br />
deutlich. Die Frage lautete: „Sie standen dem Nationalsozialismus während<br />
des Dritten Reiches kritisch gegenüber. Wie beurteilen Sie die<br />
Entnazifizierung?“ Darauf entgegnete Schmidt hanseatisch knapp: „Sie<br />
29
<strong>1945</strong><br />
hat mich nicht sonderlich interessiert.“ Im Falle Adenauers ist es dann<br />
wohl auf die ausgelassene Kölsche Fröhlichkeit zurückzuführen, dass<br />
der Witwer einer von Gestapo-Männern gequälten Frau forderte, jetzt<br />
müsse mit der Nazi-Riecherei aber endlich mal Schluss sein.<br />
Konrad Adenauer war von seinen Mitmenschen nach den zwölf Jahren<br />
mit braunen Leuten an der Spitze restlos bedient. In einem Gespräch<br />
vertraute er Carlo Schmid aus der SPD an: „Was uns beide unterscheidet,<br />
ist nicht nur das Alter, es ist noch etwas anderes: Sie glauben an<br />
den Menschen, ich glaube nicht an den Menschen und habe nie an den<br />
Menschen geglaubt.“ Adenauer sorgte dafür, dass Carlo Schmid dieses<br />
Gespräch nicht vergaß: „Noch nach Jahren zog er mich bei Empfängen<br />
gelegentlich in eine Ecke, zeigte in die Runde und sprach lächelnd:<br />
»Glauben Sie immer noch an den Menschen?«“<br />
Oder wie wäre es damit? Adenauers Finanzminister, der die unendlich<br />
langen Tausend Jahre Drittes Reich im schönen Bayern im KZ Dachau<br />
eingesperrt war, wurde von der amerikanischen Militärregierung am<br />
28. September <strong>1945</strong> abgesetzt „wegen zu großer Nachsicht und Laschheit<br />
bei der Säuberung des Beamtenapparats von stark belasteten<br />
Nazis. Wenige Wochen nach seiner Amtsenthebung gehörte dieser Dr.<br />
Fritz Schäffer zur Gründungsprominenz der Christlich-Sozialen Union<br />
in Bayern.“ Im September des Jahres 1949 gehörte er dann aber auch<br />
zur Gründungsprominenz der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>, und 1955<br />
fuhr er zu geheimen Verhandlungen über Wege zur Anerkennung der<br />
„D.D.R.“ nach „Pankow“. Aktenzeichen XY <strong>–</strong> Ungelöst. Jetzt höre ich<br />
aber schon seit zwei Jahrzehnten, dass die Entnazifizierung in der DDR<br />
nicht richtig gemacht worden sei. (In der DDR hat man dieses Problem<br />
über Bildung gelöst. Ich nenne Ihnen hier Gründe, warum das im Osten<br />
in den neunziger Jahren so schmerzhaft und vielfach tödlich schiefging.<br />
Der Antifaschismus drüben war ganz bestimmt verbesserungswürdig.<br />
Er war aber lange nicht so einseitig und nervtötend wie die<br />
gepresste politische Korrektheit heutzutage. Ist furchtbar daneben.)<br />
Wie also gedachte man in West-<strong>Deutschland</strong> diesem so unbußfertigen<br />
Volk zu Leibe zu rücken?<br />
30
<strong>1945</strong><br />
Zumindest bei einzelnen Politikern hatten auch die Alliierten davon<br />
Kenntnis, dass sie aus dem Widerstand kamen. So vermerkte der CIP<br />
Press Service unter dem Datum des 29. Mai <strong>1945</strong>, dass bestätigt worden<br />
sei, dass Dr. Konrad Adenauer Kontakt mit dem Anfang Februar <strong>1945</strong><br />
hingerichteten Carl Friedrich Goerdeler hatte. Es kann davon ausgegangen<br />
werden, dass sie ihn aus diesem Grund für geeignet hielten, um<br />
ihm und seinen Mitstreitern die demokratische Neuordnung des<br />
besiegten Landes anzuvertrauen. Die Entwicklung <strong>Deutschland</strong>s und<br />
Europas bis zum Ende der achtziger Jahre zeigt, dass die vier Alliierten<br />
jedoch bis zum Schluss nicht verstanden haben, welche Vision die<br />
Leute des 20. Juli ihrerseits von der Fortschreibung unserer Geschichte<br />
hatten. Auf die Idee, das Land zu teilen, um das heillos übersteigerte<br />
nationalistische Denken in diesem Land herunterzufahren, das Land in<br />
zwei internationale Bündnisse einzugliedern und Europa so vor den<br />
Deutschen zu schützen, muss man aber auch erst einmal kommen. Es<br />
war in diesem Rahmen überhaupt nicht wünschenswert, dass die Unbußfertigen<br />
im Volke von ihrer Forderung nach der Wiedererrichtung<br />
des Reiches von der Maas bis an die Memel abließen. Die glaubhaft vorgetragene<br />
Forderung nach dem Deutschen Reich des Jahres 1937 war der<br />
Garant dafür, dass die „offene“ deutsche Frage im Status quo erstarrte.<br />
Glaubhaft vorgetragen wurde diese Forderung damals von Personen<br />
wie Kurt Schumacher oder Konrad Adenauer, von Herbert Wehner<br />
oder von Kurt Georg Kiesinger, um hier nur einige bekannte Namen zu<br />
nennen, deren biographischer Hintergrund die Vermutung aufdrängt,<br />
dass sie „im Rahmen einer großen Strategie“, wie es Strauß formuliert<br />
hatte, zweckdienlich gelogen haben.<br />
31
<strong>1945</strong><br />
Erfahrungen mit Verlogenheit und Hinterlist<br />
Einer Reihe von Menschen war schon sehr früh klar, dass die Gebiete<br />
östlich der Oder verloren gehen werden, wenn der Weltkriegsgefreite<br />
Hitler tatsächlich seinen Krieg gegen die Sowjetunion beginnt. So viel<br />
politische Weitsicht äußerte zum Beispiel ausgerechnet der Vater des<br />
Abiturienten Franz Josef Strauß, als er Ende Januar <strong>1933</strong> aus seiner<br />
Morgenzeitung von der gelungenen Machtergreifung Hitlers erfuhr.<br />
1939 wurde sein Sohn schließlich nach dem Studium zum Lehrer für<br />
Geschichte und alte Sprachen zur Wehrmacht eingezogen.<br />
Die Verschwörer des 20. Juli <strong>–</strong> und unter ihnen Strauß jr. <strong>–</strong> konnten<br />
durch den Verlauf des Krieges bereits im Jahr 1944 davon ausgehen,<br />
dass die sowjetischen Truppen diese Gebiete fest im Griff hatten. Erwartungsgemäß<br />
wurden sich die alliierten Staaten ja auch einig, dass<br />
die Ostprovinzen von <strong>Deutschland</strong> abgetrennt werden sollten. Wenn<br />
nun nach dem Ende des Krieges der Spagat gelang, die Vereinigung<br />
<strong>Deutschland</strong>s zu fordern und sich auf Dauer zu weigern, die Nachkriegsgrenzen<br />
juristisch anzuerkennen, so war abgesichert, dass die<br />
Alliierten der Vereinigung niemals zustimmen würden. Dabei musste<br />
zwangsläufig der Eindruck entstehen, das Ausland sei daran schuld.<br />
Wer meint, soviel Verlogenheit sei nicht vorstellbar, nehme sich Die<br />
Erinnerungen des langjährigen Vorsitzenden der Christlich-Sozialen<br />
Union, Franz Josef Strauß (geb. 1915), zur Hand, um nachzulesen, wie<br />
er die Deutschen in seiner Jugend erlebt hat: „Am 9. März erfolgte der<br />
Aufmarsch von SA und SS, die Machtübernahme in München. Die<br />
bayerische Fahne wurde eingeholt, die Hakenkreuzfahne wurde gehisst.<br />
[...] Ich habe den Zug dann durch die ganze Stadt begleitet, [...]<br />
und überall, so weit ich es beobachten konnte, herrschte Jubel. Ich<br />
selbst schwankte zwischen Furcht und Hass.“<br />
Er erinnerte sich auch: „Um nicht in die peinliche Lage zu kommen,<br />
uns ideologische Vorträge anhören zu müssen, haben meine Freunde<br />
und ich beschlossen, den Posten des »weltanschaulichen Referenten«<br />
32
<strong>1945</strong><br />
mit einem aus unserer Mitte zu besetzen. Ich bin es dann geworden,<br />
und dies hat man mir später immer wieder vorgehalten. Dabei hatten<br />
meine gelegentlichen Vorträge mit allen möglichen historischen Themen<br />
zu tun, nur nichts mit den Nazis und ihrer Ideologie. Wäre ein<br />
anderer an meinem Platz gewesen, hätten wir uns die ganze nationalsozialistische<br />
und antisemitische Pseudophilosophie anhören müssen.<br />
Diese »verkehrte Welt« des Totalitarismus wird von Leuten, die diese<br />
Zeit nie kennengelernt haben, oftmals nicht begriffen. [...] Ich habe<br />
diesen Sprachschatz beherrscht wie ein tibetischer Mönch sein »Om<br />
mani padme hum«. Mein Gegenüber hat genau gewusst, was ich denke,<br />
aber gegen die Phrase war er machtlos. Das System war auf Lüge und<br />
Verlogenheit, auf Täuschung und Hinterlist aufgebaut.“<br />
Nach seiner Bekanntschaft mit der Verlogenheit seiner Mitmenschen<br />
in den dreißiger und vierziger Jahren, mit Täuschung und Hinterlist,<br />
ist nicht anzunehmen, dass der Franz wegen seiner dubiosen weltpolitischen<br />
Aktivitäten nach seiner Beteiligung am Staatsstreich von 1944<br />
ein schlechtes Gewissen gehabt haben könnte. Dass auch er 1944 dabei<br />
war, wussten Sie doch sicher noch nicht? Veröffentlichen ließ er das<br />
Buch Die Erinnerungen erst nach seinem Tod. Strauß wurde in den sechziger<br />
und siebziger Jahren berüchtigt durch seine herben Angriffe auf<br />
den Oberträumer, Bundeskanzler Willy Brandt, dem nun ausgerechnet<br />
er vorwarf, die Teilung <strong>Deutschland</strong>s zu verewigen.<br />
Der Volkstribun Willy Brandt hielt später in seinen Erinnerungen fest:<br />
„Rückschauend mutet es gespenstisch an, dass die Bundesregierung<br />
sowie vor und neben ihr die Parteien <strong>–</strong> mindestens <strong>–</strong> auf den Grenzen<br />
von 1937 bestanden, obwohl sie wissen mussten, dass sie dafür nirgends<br />
in der Welt Unterstützung fänden. Die Vereinigten Staaten und<br />
Großbritannien hatten in Potsdam de facto der neuen polnischen<br />
Westgrenze zugestimmt, Frankreichs nachträgliche Zustimmung war<br />
umso freundlicher.“<br />
Wer annimmt, dass schon die lauthals erhobene Forderung nach der<br />
Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen vor dem<br />
33
<strong>1945</strong><br />
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Krönung der Unverschämtheit<br />
gewesen sein könnte, hat nicht bei Henry Kissinger nachgelesen, der<br />
wegen seiner jüdischen Abstammung 1934 das Reich sicherheitshalber<br />
in Richtung Amerika verlassen hat und später zu einem der führenden<br />
Außenpolitiker der Vereinigten Staaten avancierte. Erstaunt hielt er<br />
später fest: „Hier gab es im Widerstand seltsame, bisweilen abstruse<br />
Auffassungen über ihre Verhandlungsposition gegenüber den Alliierten<br />
und unrealistische, fast naive Vorstellungen <strong>–</strong> etwa die Forderung<br />
nach Wiederherstellung des Reiches in den Grenzen von 1914.“<br />
Wer während dieses Krieges gesehen hatte, was Menschen im Namen<br />
der einen oder der anderen totalen Ideologie anderen Menschen anzutun<br />
bereit waren, war jedoch nicht mehr naiv. Tatsächlich fand die<br />
Gestapo bei einem der Verschwörer einen Forderungskatalog für die<br />
geplanten Verhandlungen Claus Graf Schenk von Stauffenbergs mit<br />
den Briten vom 25. Mai 1944, auf dem im achten Punkt ausgeführt<br />
wurde: „Reichsgrenze von 1914 im Osten, Erhaltung Österreichs und<br />
der Sudeten beim Reich, Autonomie Elsass-Lothringens, Gewinnung<br />
Tirols bei Bozen und Meran.“<br />
Zu diesem Zeitpunkt war aber schon längst kein Blumentopf mehr zu<br />
gewinnen; das ließ jedoch noch genug Verhandlungsspielraum, um<br />
dann zumindest die Grenzen von 1937 fordern zu können. Ich sehe in<br />
diesem Verhandlungsansatz tatsächlich des Pudels Kern, da sich die<br />
Forderung nach utopischen Grenzlinien von den ersten Sondierungsgesprächen<br />
der Amerikaner mit Konrad Adenauer bis zu den Verhandlungen<br />
mit Helmut Kohl im Sommer <strong>1990</strong> durchzog. Dabei wurde<br />
immer zweigleisig vorgegangen. Juristisch hielt man an den Gebietsforderungen<br />
fest, sagte aber immer augenzwinkernd dazu, dass diese<br />
Forderungen nur wegen der aus den Ostgebieten vertriebenen Leute<br />
aufrechterhalten würden. Selbstredend nahmen die verantwortlichen<br />
Politiker im Ausland wegen der unveränderten Rechtslage stets die<br />
maßgebliche juristische Position ernster als das Augenzwinkern. In<br />
späteren Jahren äußerte Bundeskanzler Konrad Adenauer sogar, die<br />
drei westlichen Alliierten könnten ja vielleicht daran interessiert sein,<br />
34
<strong>1945</strong><br />
<strong>Deutschland</strong> „etwa in den Grenzen des Reiches Karls des Großen wiederherzustellen“.<br />
Welches Horrorbild muss man im Ausland während<br />
des Weltkrieges von den Deutschen bekommen haben, dass man nach<br />
dem Vortrag derart unrealistischer, fast naiver Vorstellungen nicht<br />
einfach nur schallend gelacht hat.<br />
Viele der Flüchtlinge aus Schlesien, Pommern oder aus Ostpreußen<br />
ahnten auf ihren Fuhrwerken im Schnee <strong>1945</strong> vermutlich eher als die<br />
breite Öffentlichkeit, dass es eine Rückkehr in ihre Heimat nach dem<br />
Ostfeldzug nicht mehr geben würde. Dieser Eindruck wurde sicherlich<br />
nur verstärkt durch ihre ungnädige Aufnahme in den westlicheren<br />
Landesteilen, wo die Leute eigene und oft existenzielle Sorgen hatten<br />
und wohl eher keinen Enthusiasmus entwickelten für eine „Kriegsentscheidung<br />
östlich von <strong>Deutschland</strong>“, wie sie der SPD-Chef Schumacher<br />
am 17. September 1950 auf einer gemeinsamen Tagung der sozialdemokratischen<br />
Führungsgremien in Stuttgart forderte. Er begründete<br />
das so: „Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Volk zur Erhaltung<br />
fremder Nationalismen als nationale Substanz geopfert wird.“ Wenn es<br />
sich hierbei nicht um ein taktisches Manöver gehandelt haben soll,<br />
dann müsste man sich nachträglich Sorgen um Dr. Kurt Schumachers<br />
Verstand machen, hatte er doch die besonders nationalen Jahre in vier<br />
deutschen Konzentrationslagern verbracht und war immer wieder gefoltert<br />
worden. Doch es waren derartige Parolen, die bei manchen der<br />
Vertriebenen die Hoffnung weckten, es würde doch noch eine Lösung<br />
zu ihren Gunsten geben. Davon abgesehen denke ich, dass die Gefühle<br />
und Gedanken während der Folter, und bei Verwandten und Freunden<br />
das Mitgefühl, den Schlüssel für die Verlogenheit und Hinterlist liefert.<br />
So betrachtet werfen Texte wie der folgende von Sebastian Haffner die<br />
Frage auf, warum man in Ost und West nicht die tatsächliche Funktion<br />
der Grenzforderungen der Bundesregierungen in Bonn und ihre Bestätigung<br />
durch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verstand:<br />
„Nicht alles ist heute in <strong>Deutschland</strong> so, wie es bei oberflächlicher Betrachtung<br />
der Dinge zu sein scheint. Die westliche Öffentlichkeit hat<br />
sich daran gewöhnt, die Politik der westlichen Integration mit der Bereitschaft<br />
der »guten« Deutschen zur friedlichen Kooperation und die<br />
35
<strong>1945</strong><br />
Forderung nach nationaler Einheit [in den alten Grenzen] mit dem<br />
unverbesserlichen Nationalismus der »schlechten« Deutschen gleichzusetzen.<br />
Das ist eine gefährliche Vereinfachung. Genauso wie nicht<br />
nur prowestliche und antipreußische Liberale zu den Befürwortern<br />
der westlichen Integration gehören, sondern auch Kriegshetzer, die<br />
nur den günstigsten Zeitpunkt abwarten wollen, zählen nicht nur<br />
Nationalisten Bismarckscher Prägung zu den Befürwortern der deutschen<br />
Einheit, sondern auch aufrichtige Pazifisten, wie zum Beispiel<br />
die von Pastor Niemoeller und dem früheren Minister Heinemann<br />
geleitete Gruppe von Protestanten, die ein stabilisiertes <strong>Deutschland</strong><br />
anstreben, das ungeteilt und nicht den mit Rüstung und Allianz verbundenen<br />
Versuchungen ausgesetzt ist.“<br />
Einer der großen rhetorischen Kriegshetzer war jener Franz J. Strauß;<br />
aber lesen Sie einmal die rührenden Worte, die dieser Mann für den<br />
Frieden in Europa fand, und behalten Sie die prägenden Jahre seiner<br />
Jugend im Auge, die „auf Lüge und Verlogenheit, auf Täuschung und<br />
Hinterlist aufgebaut“ waren. Schon Altmeister Johann W. von Goethe<br />
arbeitete heraus, dass so etwas wie Geschichte immer dann beginnt,<br />
wenn ein Kind anfängt, seine Welt wahrzunehmen. Deshalb ist die<br />
Wahrnehmung von Geschichte stets subjektiv geprägt. Eine Menschheitsgeschichte<br />
ist ein sehr theoretisches Konstrukt. Dem viereinhalb<br />
Jahrzehnte währenden Frieden in Europa darf ich entnehmen, dass es<br />
den Kriegshetzern nicht um einen Krieg ging; und ich gehe davon aus,<br />
dass dieser aufrichtige Pazifismus der anderen repräsentativen Demokraten<br />
demselben Rollenspiel entsprang, unabhängig davon, dass Pazifismus<br />
schon besser klingt als Kriegshetze.<br />
Um zu verstehen, warum die Wiedervereinigung nun nicht 1970 über<br />
die Bühne ging, muss man wissen, dass Willy Brandts demokratische<br />
Mitspieler damals die Anerkennung endgültiger Grenzen verhindern<br />
konnten. Der Jura-Banause hatte nicht erfasst, dass seine wunderbaren<br />
Ost-Verträge Gewaltverzichtsabkommen waren, die sich auf die Lage<br />
des Kalten Krieges beriefen. Durch diese Verträge war die Sowjetunion<br />
gezwungen, wider die ökonomische Vernunft beim Hochrüsten nicht<br />
36
<strong>1945</strong><br />
zurückzufallen, weil sich sonst die Lage entspannt hätte. Genschman<br />
war so stolz wie ein junger Pfau, als es gelang, in die Schlussakte der<br />
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die 1975 in<br />
Helsinki unterzeichnet wurde, den peaceful change hinein zu kriegen.<br />
Weil Moskau eine Sicherheitszone für Europa unterschrieben haben<br />
wollte, musste Leonid Iljitsch Breshnjew dort also die Möglichkeit der<br />
friedlichen Veränderung der Grenzen schlucken. Es war die bayerische<br />
Landesregierung, die 1973 das völlig unabhängige Bundesverfassungsgericht<br />
anrief, um die Welt nun vom schönen Karlsruhe aus wissen zu<br />
lassen, dass die Geschäftsgrundlage nach wie vor jene Grenze von 1937<br />
war. Dieser Beschluss wurde dann 1975 punktgenau vor der Konferenz<br />
in Helsinki, die Kanzler Brandt mit seinen glänzenden Kontakten nach<br />
Skandinavien Bonn eingebrockt hatte, verkündet. Ich glaube, es war<br />
Adenauer, der gesagt hat: Wir leben alle unter dem gleichen Himmel,<br />
aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont. Die Alliierten wollten<br />
nach dem Krieg Demokraten haben, die dieses <strong>Deutschland</strong> regieren,<br />
und keine Juristen als Volksvertreter. Genscher hat sein erstes Staatsexamen<br />
noch in Halle gemacht und das zweite dann schon in Bremen.<br />
Strauß war Geschichtslehrer. Der hatte eine Klasse, die hat in keinen<br />
Raum gepasst. Wenn in diesem Land Leute wie Sebastian Haffner mit<br />
einem ganz ruhigen Gewissen geistreiche Rätsel zur Verwirrung ihrer<br />
Leserschar schreiben, müssen mich meine Verständigungsprobleme<br />
mit diversen West-Deutschen nicht mehr in Erstaunen versetzen.<br />
Die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze hat Dr. Helmut Kohl<br />
dann noch bis zum 14. November <strong>1990</strong> hinausgezögert. Das bedeutet,<br />
dass die Alliierten die Vereinigung am Ende erlaubten im Vertrauen<br />
darauf, dass der gesamtdeutsche Bundestag diese Grenze dann auch<br />
wirklich anerkennt. Von wegen Weltverschwörung. Aber kommen wir<br />
zurück auf den Ursprung im Jahr <strong>1945</strong>. Es gab vier Hauptalliierte: die<br />
Sowjets, die Briten, die Amerikaner und die Franzosen. Es wurde hier<br />
bereits angerissen, dass sie sich auf eine gemeinsame Befriedung des<br />
europäischen Kontinents geeinigt hatten. Die folgenden Jahrzehnte<br />
waren dann aber ausdrücklich nicht von der Harmonie der Alliierten<br />
geprägt, sondern von einem „Kalten Krieg“ zwischen ihnen.<br />
37
<strong>1945</strong><br />
Von der Schädlichkeit der Harmonie<br />
Verfolgen Sie jetzt gemeinsam mit mir eine äußerst aufschlussreiche<br />
Herleitung von Walter Scheel, Jahrgang 1919, der seinen politischen<br />
Weg nach dem Krieg in der FDP machte. Bei ihm werden wir erfahren,<br />
auf welch interessantem geistigen Unterbau die Führung in Bonn den<br />
europäischen Kontinent in eine dauerhafte Friedhofsruhe versetzte,<br />
indem man einfach die schädliche Harmonie ausschaltete: „Ich glaube,<br />
unser Verhältnis zum Staat ist aufs tiefste von der Idee des »Reichs«<br />
geprägt, ein Wort, das in allen gesamtdeutschen Staatsnamen bis <strong>1945</strong><br />
erscheint: im mittelalterlichen Reich bis 1806, im Deutschen Reich Bismarcks,<br />
im »Deutschen Reich« der Weimarer Republik, im »Deutschen<br />
Reich« <strong>–</strong> später »Großdeutschen Reich« Hitlers. Der Name »<strong>Deutschland</strong>«<br />
taucht als Bezeichnung eines deutschen Staates zum ersten Male<br />
im Namen der »Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>« auf.<br />
Das »Reich« aber war ursprünglich eine Weltordnungsidee, die das augusteische<br />
Imperium Romanum mit der augustinischen »Civitas Dei«<br />
verbinden wollte, ein gewaltiger Gedanke, gewiss, aber er war wohl zu<br />
groß für diese Welt. Und doch hat unser Volk jahrhundertelang seine<br />
besten Kräfte für diese Idee hingegeben und sich dabei zu höchsten<br />
militärischen, politischen, menschlichen, kulturellen Leistungen erhoben,<br />
die bis heute, ob im Bewusstsein oder im Unterbewusstsein, die<br />
Phantasie des Volkes beschäftigen.<br />
Ich habe vorgestern die Nürnberger Ausstellung über Kaiser Karl IV.<br />
besucht. Man kann dort viel über die Lebenskraft der föderalistischen<br />
Tradition erfahren, die uns aus dem alten Reich überkommen ist, und<br />
über die Anpassungsfähigkeit einer geschriebenen Reichsverfassung,<br />
die fast ein halbes Jahrtausend Bestand hatte. Das Reich wurde als ein<br />
»Überstaat« begriffen, »der in einer« <strong>–</strong> wie Prof. Ferdinand Seibt es<br />
mir beschrieben hat <strong>–</strong> »höheren Sphäre religiösen, also wahrhaft sanktionierten<br />
Gemeinschaftsverständnisses wirkte«.<br />
Aber daher rührt auch jene idealistische Staatsvorstellung, die uns<br />
Deutschen die Orientierung in der politischen Wirklichkeit oft so<br />
schwer gemacht hat.<br />
38
<strong>1945</strong><br />
Dass unsere Herrscher »Kaiser« waren und nicht Könige wie anderswo<br />
<strong>–</strong> und vor den Königen herausgehoben durch einen besonderen Auftrag<br />
<strong>–</strong>, schon allein das hat einen tiefen Einfluss auf unser politisches<br />
Bewusstsein gehabt. Der erste, der die nüchternen Fakten der irdischen<br />
Politik <strong>–</strong> ohne moralische Wertung <strong>–</strong> beschrieb, Machiavelli, ist<br />
nirgendwo so bekämpft worden wie in <strong>Deutschland</strong>. Selbst Friedrich<br />
der Große, der, nüchtern die Interessen seines Preußen berechnend,<br />
sich in drei Kriegen gegen den Kaiser empörte, fühlte sich bemüßigt,<br />
einen »Antimachiavelli« zu schreiben. [Anti-Machiavel]<br />
Die Harmonie der Welt, das war es, was unser Volk wollte, worin es<br />
den Sinn aller Politik sah. Was dieser Harmonie förderlich war, war gut<br />
<strong>–</strong> was sie störte, war schlecht. Daher rührt der stark konservative<br />
Grundzug unserer Geschichte. Alle Vergangenheit erscheint vom Goldglanz<br />
einer entschwundenen Harmonie überglänzt.<br />
Mittelalterliche ständische Strukturen hielten sich bei uns länger als<br />
anderswo. Sie waren Ausdruck einer »gottgewollten« Ordnung. Wer<br />
diese Strukturen ändern wollte, verging sich gegen die Ordnung und<br />
wurde mit Abneigung betrachtet. Hier liegt der tiefere Grund dafür,<br />
dass wir nie eine Revolution zuwege brachten, sondern dass sie alle<br />
alsbald erstickt werden konnten. Mit einer Ausnahme: der Reformation.“<br />
Genau diese Erfahrung dürfte der politischen Nachkriegselite in<br />
<strong>Deutschland</strong> auch die Sicherheit vermittelt haben, dass es zu einer<br />
„spontane[n] Erhebung des Volkes im klassischen Revolutionsstil von<br />
1789 oder 1848“ in Ost-<strong>Deutschland</strong> nie kommen könnte. Nach dem<br />
überraschenden Aufstand von 1953 schrieb Sebastian Haffner: „Das ist<br />
genau das, was <strong>–</strong> so sagten wir uns <strong>–</strong> unter den Bedingungen einer<br />
modernen, totalitären Staatsgewalt nicht geschehen könne.“<br />
Aber verfolgen wir doch noch weiter die Logik der besseren Deutschen<br />
in dieser klugen Darlegung von Walter Scheel: „Aus unserem Streben<br />
nach Harmonie erklärt sich die Abneigung, die unser Volk im Laufe der<br />
Zeit gegen Konflikte, gegen Kritik, gegen den Streit der Meinungen<br />
entwickelte. Unser Streben nach Harmonie hinderte uns daran, mit<br />
freiem Meinungsstreit zu leben. Wir bezogen ihn nicht in unser Leben<br />
ein <strong>–</strong> wir sperrten ihn aus unserem Leben aus.<br />
39
<strong>1945</strong><br />
Einem Philosophen, der wie Hegel den bestehenden Staat als das Endziel<br />
aller Geschichte hinstellte, wurde leidenschaftlich geglaubt. [...]<br />
Und in Tagen der Gefahr hieß es: »Ich kenne keine Parteien mehr <strong>–</strong><br />
ich kenne nur noch Deutsche.« Und später: »Ein Volk, ein Reich, ein<br />
Führer.« In dieser Reihenfolge. Die drei Begriffe wurden in eins<br />
gesetzt. Und es war der spätromantische, der wilhelminische und<br />
nationalsozialistische Reichsbegriff, der diese Gleichsetzung ermöglichte.<br />
Natürlich hoffte das Volk, dass der »Führer« tatsächlich von der<br />
»Vorsehung« ausersehen war, dass er gut war, dass er eine humane<br />
Ordnung herstellen würde. Hitler wurde nicht gewählt, weil er ein<br />
Verbrecher war und weil die Deutschen eine verbrecherische Diktatur<br />
wollten. Er wurde gewählt, weil ihnen die Auseinandersetzungen im<br />
Parlament fremd waren. Immer wieder hat Hitler in seinen Wahlreden<br />
die Parteien und die Parlamente lächerlich gemacht und verkündet, er<br />
werde dafür sorgen, dass der innere Streit aufhöre, dass jeder Volksgenosse<br />
von dem gleichen »vaterländischen« Geist durchdrungen werde.<br />
Und er fand Beifall. [...] Politik war für uns mehr eine Sache des Glaubens<br />
als der Vernunft. Und so waren wir anfällig für Ideologien und<br />
Personen, die uns das Heil versprachen. Dass die Kommunisten in<br />
<strong>Deutschland</strong> so besonders dogmatisch sind, kommt ja auch nicht von<br />
ungefähr.“ Wenn tatsächlich Harmonie das Grundübel der deutschen<br />
Geschichte war, dann standen die Deutschen nun vor der Aufgabe, die<br />
Harmonie <strong>–</strong> zum Wohle „<strong>Deutschland</strong>s“ <strong>–</strong> aus der Welt zu schaffen. Es<br />
war keine übermäßige Anstrengung nötig, um die vier Alliierten in<br />
zwei Blöcke zu zerlegen. Drei von ihnen waren westliche Demokratien,<br />
und ein alliierter Staat war die kommunistisch regierte Sowjetunion.<br />
Wenn es den Deutschen gelang, das Misstrauen in Amerika und in<br />
West-Europa gegen Stalins Reich mit vermeintlichen Fakten zu untermauern,<br />
ließ sich mit etwas Geschick <strong>Deutschland</strong> in zwei konträre<br />
Richtungen politisch und militärisch einbinden. Damit wir uns nicht<br />
falsch verstehen <strong>–</strong> meine Überlegungen machen den Kommunismus<br />
nicht besser und nicht schlechter, als er war. Ich will nur klären, dass<br />
es ihn ohne deutsches Zutun nicht über mehrere Jahrzehnte in ganz<br />
Osteuropa gegeben hätte. Wie kam es also letztlich zu den bekannten<br />
Feindseligkeiten zwischen den Westmächten und der Sowjetunion?<br />
40
<strong>1945</strong><br />
Nachhaltig wirksam <strong>–</strong> Reinhard Gehlen und der Kalte Krieg<br />
Die Teilung <strong>Deutschland</strong>s nach <strong>1945</strong> wird landläufig dem Kalten Krieg<br />
zwischen den USA und der Sowjetunion zugeschrieben, der in seinen<br />
Auswirkungen beschrieben wird, dessen Ursprung aber unklar bleibt.<br />
Dieser Begriff fällt in den unterschiedlichen Darstellungen erstmals im<br />
Zusammenhang mit Ereignissen, die sich zwischen <strong>1945</strong> und 1948 zutrugen,<br />
und dient in der Folge als Erklärungsmuster für die allmählich<br />
beginnende Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Demokratien<br />
im Westen. Es ist aber nicht auszumachen, welche abträgliche<br />
Aktivität der einen oder der anderen Seite ihn vielleicht ausgelöst hat.<br />
Die Veränderung der Politik Washingtons bezüglich der Sowjetunion<br />
wird frühestens auf den Tod des Präsidenten Franklin D. Roosevelt und<br />
die Amtsübernahme durch Harry Truman im Frühjahr <strong>1945</strong> datiert.<br />
Die deutsche Journalistin Marion Gräfin Dönhoff allerdings überrascht<br />
mit einem früheren Zeitpunkt. In einem Zeitungsartikel vom 26. Juli<br />
1963 bescheinigte sie ihrem Landsmann Reinhard Gehlen ein „präzises<br />
Gehirn, einem Elektronenrechner gleich“, der „bereits 1944 den Kalten<br />
Krieg kommen sah“. Der 42-jährige Generalmajor Reinhard Gehlen war<br />
damals der Chef der Abteilung Fremde Heere Ost des Generalstabs der<br />
Wehrmacht und später der erste Chef des Bundesnachrichtendienstes.<br />
Gehlens Annahme einer späteren Gegnerschaft zwischen dem Westen<br />
und der Sowjetunion schon im Jahr 1944 sollte verwundern, denn der<br />
Publizist Sebastian Haffner stellte im Londoner Observer am 1. Februar<br />
1959 fest: „Von <strong>1945</strong> bis 1948 bemühten sich die westlichen Alliierten<br />
und Russland, die deutsche Frage gemeinsam zu lösen.“ Warum wusste<br />
der deutsche General früher als die Amerikaner, dass es die Allianz der<br />
vier Alliierten in wenigen Jahren nicht mehr geben würde?<br />
Nähern wir uns der Lösung des Jahrhunderträtsels mit einem eher als<br />
Bettlektüre für Hobbyhistoriker geeigneten Werk. In Geheimdienste in<br />
der Weltgeschichte <strong>–</strong> Von der Antike bis heute erzählt der Autor Wolfgang<br />
Krieger in vernebelnden Formulierungen, was sich damals ereignete:<br />
41
<strong>1945</strong><br />
„Noch schlechter entwickelte sich der Ostkrieg selbst. Deshalb bereitete<br />
sich der zum Generalmajor aufgestiegene Gehlen <strong>–</strong> wie übrigens<br />
viele in den deutschen Eliten <strong>–</strong> auf den absehbaren Untergang der<br />
Herrschaft Hitlers vor. Er tat es allerdings sorgfältiger als die meisten.<br />
Einige handverlesene Mitarbeiter ließ er 50 wasserdichte Kisten mit<br />
Geheimdienstmaterial füllen und nach Süddeutschland transportieren.<br />
Dass Gehlen dabei, wie so viele vom Kriegsrausch verwirrte Deutsche,<br />
von einer Fortsetzung des Ostkrieges mit angloamerikanischer Unterstützung<br />
träumte, ist nicht auszuschließen. Beweisstücke, wenn es sie<br />
je gab, hätte Gehlen wohl später vernichtet. (Noch als BND-Präsident<br />
setzte er alle Hebel in Bewegung, um historische Untersuchungen über<br />
seine Tätigkeit an der Ostfront zu vereiteln.)“<br />
Auf den ersten Blick erstaunt, warum er Untersuchungen über seine<br />
Tätigkeit an der Ostfront so energisch vereitelte, gehörte er doch zu<br />
denen, die versuchten, den Hitleradolf aus der deutschen Geschichte<br />
zu nehmen. „Gehlen kannte nicht nur das Vorhaben der Verschwörer,<br />
er bewahrte in einer Schreibtischschublade in seinem Hauptquartier<br />
den Aktionsplan für die Operation Walküre, die Ermordung Hitlers,<br />
auf. Zum Zeitpunkt des gescheiterten Attentats selbst lag Gehlen im<br />
Lazarett“, erläuterte Erich Schmidt-Eenboom leider erst im Jahre 2004.<br />
Während Reinhard Gehlen auf der einen Seite Untersuchungen über<br />
seine Aktivitäten gegen Adolf Hitler vereitelte, beklagte er sich auf der<br />
anderen Seite noch in seinen Memoiren, die 1971 unter dem Titel Der<br />
Dienst auf den Markt kamen, dass kaum jemand wusste, welchen Anteil<br />
er selbst am Attentat hatte: „Wie andere meiner Freunde wurde auch<br />
Oberst von Roenne ein Opfer der nach dem 20. Juli 1944 ausgelösten<br />
Verfolgungen. Es ist nicht allein das tragische Schicksal vieler, mit<br />
denen ich mich verbunden fühlte, das mich veranlasst, mein Wissen<br />
um die Zusammenhänge und Hintergründe des 20. Juli darzustellen<br />
und die mir gegebenen Möglichkeiten aufzuzeigen. Ich nehme auch<br />
deshalb Stellung, weil mir gelegentlich aus Unkenntnis der Verhältnisse<br />
vorgehalten wurde, ich hätte mich stärker exponieren und aktiv<br />
an der Beseitigung Hitlers beteiligen sollen.“ Woher sollte man jedoch<br />
42
<strong>1945</strong><br />
Kenntnis von seiner Rolle haben, wenn er selbst darüber nicht sprach<br />
und eine Aufklärung der Zusammenhänge verhinderte? Noch in den<br />
Memoiren deutete er seine Rolle nur an. Doch allein schon weil er von<br />
diesem Plan Kenntnis hatte und ihn nicht sofort pflichtschuldigst bei<br />
der Gestapo anzeigte, war er natürlich einer von den Verschwörern.<br />
Die Schlüsselrolle, die Reinhard Gehlen bei diesem Staatsstreich von<br />
1944 innehatte, wurde also in den Jahren nach <strong>1945</strong> nicht erwähnt. Das<br />
wäre aber genau der Baustein gewesen, der im In- wie im Ausland zu<br />
einem anderen Bild von den Absichten der 1949er Führung in Bonn geführt<br />
hätte. Ganz beiläufig brabbelte der BND-Experte Erich Schmidt-<br />
Eenboom so vor sich hin: „Wie Gehlen es fertig brachte, von einer der<br />
publizistischen Wegbereiterinnen einer neuen, aufgeklärten Ostpolitik<br />
als Weggefährte angesehen zu werden, bleibt sein Geheimnis. Eine<br />
plausible Antwort auf die Frage, warum Gräfin Dönhoff ihn in jeder<br />
Beziehung zu loben wusste, könnte im Verhältnis beider zum militärischen<br />
Widerstand im Dritten Reich liegen, der für beide bestimmend<br />
für ihr weiteres Leben war.“ Das war durchaus eine plausible Antwort.<br />
Gräfin Dönhoff hatte während der Herrschaft eines Adolf Hitler unter<br />
Lebensgefahr Kurierdienste zwischen hochrangigen Persönlichkeiten<br />
im Widerstand und Kontaktpersonen im Ausland geleistet und später<br />
eine hervorragende Rolle in der therapeutischen Öffentlichkeitsarbeit<br />
der westdeutschen Nachkriegselite innegehabt.<br />
Tatsächlich sind Gehlens Memoiren geeignet, um das Rätselraten rund<br />
um die Vorgänge nach <strong>1945</strong> zu beenden. Lassen wir uns von ihm in die<br />
geheimsten Geheimnisse der Neuzeit einführen: „Jahrelang waren wir<br />
gezwungen, mit den Augen des Gegners zu sehen und uns in seine<br />
Denkweise und Absichten einzuleben. Schon frühzeitig konnten wir<br />
seine wachsende Siegeszuversicht feststellen und mussten sie als berechtigt<br />
anerkennen. Damit ahnten wir aber auch unausweichlich das<br />
Herannahen der Katastrophe voraus. Es ist verständlich, dass sich dabei<br />
auch Überlegungen aufdrängten, was getan werden müsse, wenn<br />
der Zusammenbruch einmal eingetreten sei.“ Welche Überlegungen<br />
waren das? Er schrieb, man wollte sich „nicht mit dem Gedanken abfinden,<br />
dass nunmehr endgültig das Ende <strong>Deutschland</strong>s gekommen sei.<br />
43
<strong>1945</strong><br />
Dieses Sich-nicht-abfinden-Wollen drängte mir darüber hinaus Überlegungen<br />
darüber auf, welche Verpflichtungen sich für mich aus meiner<br />
damaligen Stellung heraus für die Zukunft nach dem Kriege ergeben.“<br />
Daraus wurde ein gewagter Salto mortale. Generalmajor Gehlen<br />
träumte nicht vom Fortsetzen des Ostkrieges mit angloamerikanischer<br />
Unterstützung. Seine Stellung erlaubte ihm, den Amerikanern weiszumachen,<br />
er habe Kenntnis von sowjetischen Plänen zur Durchsetzung<br />
des Kommunismus in der Welt und den militärischen Möglichkeiten<br />
Moskaus. Wenn den Amerikanern das eingeredet werden konnte, war<br />
<strong>Deutschland</strong>-West aus der Schusslinie und man konnte dann zusehen,<br />
wie sich die früher verbündeten Staaten Schlachten irgendwo anders<br />
in der Welt lieferten.<br />
Anfang der siebziger Jahre war dieser Kalte Krieg dann schon so gut in<br />
Schwung gekommen, die Bedrohung durch die Atomwaffenarsenale in<br />
den USA und in der Sowjetunion schon so enorm, dass er wohl meinte,<br />
jetzt könne er sich damit brüsten, dass ursprünglich er die Amerikaner<br />
auf diese angebliche Gefahr gestupst hatte, die von den Russen ausgegangen<br />
sein soll. Damals war es ja längst nicht absehbar, dass einmal<br />
für die Amerikaner eine Möglichkeit bestehen würde, mit den Sowjets<br />
über ihre realen militär-technischen Möglichkeiten nach diesem Krieg<br />
ins Gespräch zu kommen; und immer, wenn die Russen ihre Unschuld<br />
beteuerten, wurde ihnen das ja, wie Sie sich erinnern, nicht geglaubt.<br />
„Selbstverständlich entstehen solche Überlegungen nicht auf einmal.<br />
Unsere Überlegungen reiften in einem langen, durch Zwischenräume,<br />
in denen uns die Nöte des Alltages voll beschäftigten, unterbrochenen,<br />
schmerzhaften Denkprozess. An ihm war neben mir vornehmlich mein<br />
Vertreter und zweimaliger Nachfolger, der jetzige Generalleutnant a.<br />
D. und Präsident des Bundesnachrichtendienstes Wessel, beteiligt.<br />
Unsere Überlegungen wurden dadurch begünstigt und nach außen<br />
abgeschirmt, dass der innere Zusammenhalt meiner Abteilung allen<br />
Krisen standhielt und dass wir uns vorbehaltlos aufeinander verlassen<br />
konnten. Selbst der »Nationalsozialistische Führungsoffizier« machte<br />
hierbei keine Ausnahme. Dies war nicht überall so.<br />
44
<strong>1945</strong><br />
Extreme Haltungen, sowohl in der Form eines ausgeprägten Nationalsozialismus<br />
wie auch eines hemmungslosen Fatalismus in der inneren<br />
Einstellung mancher jüngerer Offiziere außerhalb meiner Abteilung,<br />
zeigten doch zuweilen, dass die Dauer des Krieges und die Indoktrination<br />
sich auswirkten.“<br />
„Um das notwendige Schlüsselpersonal für die spätere Arbeit sicherzustellen,<br />
wurden drei Gruppen gebildet, die sich an drei vorbereiteten<br />
Punkten in den Alpen so lange <strong>–</strong> etwa 3 Wochen <strong>–</strong> aufhalten sollten, bis<br />
das große Durcheinander, das bei Kriegsende zu erwarten war, in einigermaßen<br />
überschaubare Verhältnisse übergegangen war. Dann sollten<br />
sich diese Gruppen bei der nächsten amerikanischen Ortskommandantur<br />
melden und sich in Gefangenschaft begeben. Da zu erwarten<br />
war, dass die Amerikaner versuchen würden, dieses Ic-Personal mit<br />
längerer Erfahrung in eigener Regie selbst einzusetzen, wurden die<br />
Gruppen angewiesen, sich zu keiner Mitarbeit bereitzuerklären, bevor<br />
sie einen schriftlichen Befehl von mir persönlich erhalten hätten.“<br />
Anschließend wurde es Ernst: „Während der beiden Pfingstfeiertage<br />
genossen wir die Gastfreundschaft der Eltern Erwins, mit denen wir<br />
uns viel zu erzählen hatten. Am Dienstag früh machten wir uns mit<br />
unseren Rucksäcken auf den Weg zum Bürgermeisteramt, in dem der<br />
Ortskommandant sein Domizil aufgeschlagen hatte. Ich kann mich<br />
noch gut an meine damaligen Gefühle erinnern. Auf der einen Seite<br />
empfand ich eine Art Galgenhumor, dass ich <strong>–</strong> immerhin Generalmajor<br />
in einer wesentlichen Stellung während des Krieges <strong>–</strong> mich nunmehr<br />
einem jungen amerikanischen Oberleutnant ausliefern musste. Andererseits<br />
gab es kein Zurück.<br />
Der Ortskommandant war verständlicherweise sehr aufgeregt, als sich<br />
bei ihm ein General und vier Generalstabsoffiziere meldeten. Welchen<br />
»Fang« er gemacht hatte, konnten wir ihm nicht auseinandersetzen,<br />
da er kein Deutsch und wir damals kein Englisch sprachen. Er rief<br />
sofort bei seiner vorgesetzten Dienststelle an und erhielt die Weisung,<br />
uns einzeln nacheinander zu der Division nach Wörgl zu bringen.<br />
45
<strong>1945</strong><br />
Ich wurde als erster in einen Jeep der MP [Military Police] verfrachtet<br />
und bei dem G-2, dem Feindlagenbearbeiter der Division, in Wörgl<br />
abgeliefert. Dieser G-2 erfasste sofort welche Bedeutung unsere Selbstgestellung<br />
hatte und zeigte sich an einer Befragung sehr interessiert.<br />
Ich wurde von ihm in Gegenwart einer Sekretärin vernommen, die<br />
über diese Aussagen Protokoll führte. Die wichtigsten Fragen erstreckten<br />
sich zunächst allerdings weniger auf meinen früheren Fachbereich<br />
als vielmehr auf die Verhältnisse in <strong>Deutschland</strong> in der Zeit des Nationalsozialismus.“<br />
Das konnte nicht wirklich überraschen, verdeutlicht<br />
aber, worum es den Amerikanern nach dem Sieg ursprünglich ging.<br />
„Bis jetzt war ich, einschließlich des uns betreuenden Vernehmungsoffiziers,<br />
nur amerikanischen Offizieren begegnet, die die Lage ausschließlich<br />
unter dem Eindruck der offiziellen [amerikanischen] Propaganda<br />
sahen. Fast alle, mit denen ich bisher gesprochen hatte,<br />
waren der Auffassung, dass die Sowjetunion sich vom Kommunismus<br />
hinweg zu einem liberalen Staat entwickele. Von Stalin wurde immer<br />
als von »Uncle Joe« gesprochen. Über die tatsächlichen expansiven<br />
Ziele der Sowjets bestanden bei meinen bisherigen Gesprächspartnern<br />
keinerlei Vorstellungen.“ Unter diesen Umständen wäre es sicher nach<br />
dem Krieg möglich gewesen, eine Liberalisierung der Sowjetunion auszuhandeln,<br />
sich aber zumindest in der deutschen Frage zu einigen und<br />
auch eine zeitnahe Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen zu<br />
erreichen. Daraus wurde jedoch nichts. Gehlen wurde erst einmal nach<br />
America überführt, wo man ihn weiter intensiv befragte.<br />
„Schon am Tage nach meinem Eintreffen wurde ich am Vormittag in<br />
den Garten heruntergeführt, wo mich ein Captain mit Namen Hallstedt<br />
begrüßte und sich mit mir in die Sonne auf eine Bank setzte. Captain<br />
Hallstedt war ein adrett aussehender, sympathisch wirkender Offizier.<br />
Er mochte etwa 35 Jahre alt sein und entsprach in seiner Haltung und<br />
seinem Auftreten unseren deutschen Vorstellungen über den Offizier<br />
schlechthin.<br />
Er war, wie ich später erfuhr, von deutscher Abstammung, Amerikaner<br />
in der zweiten Generation. In [Captain] Hallstedt traf ich den ersten<br />
46
<strong>1945</strong><br />
amerikanischen Offizier, der russlandkundig war, der die kommende<br />
politische Entwicklung illusionslos einschätzte und sich darüber eigene<br />
Gedanken machte. Diese Begegnung sollte die entscheidende sein<br />
für die weitere Entwicklung meiner Pläne.“ Da hatte er also sein erstes<br />
Opfer gefunden. Wer die Welt sieht, wie ich es wünsche, hat Ahnung<br />
von dieser Welt und ist ohne Illusionen. Pluspunkt: wie ein deutscher<br />
Offizier. Freud lässt grüßen: Diese Begegnung sollte die entscheidende<br />
sein für die weitere Entwicklung meiner Pläne. Hören wir ihn weiter.<br />
„Wir führten ein langes Gespräch über die politische und militärische<br />
Lage, er erkundigte sich eingehend nach meiner früheren Tätigkeit.<br />
Nachdem er gegangen war, hatte ich nunmehr eine Nacht Zeit, um mir<br />
darüber klar zu werden, ob ich die Karten auf den Tisch legen sollte.<br />
Ich tat dies nicht sofort in vollem Umfange, sondern wir tasteten uns<br />
in mehreren Gesprächen zunächst weiter aneinander heran. Hierbei<br />
ergab sich nebenbei die Möglichkeit, allmählich meine Gedanken über<br />
die Zukunft sowie über meine Absichten und Zielvorstellungen einfließen<br />
zu lassen. Die Reaktion des Captains war positiv. Ich nehme an,<br />
dass Hallstedt seinen Vorgesetzten, dem G-2 des Oberkommandos,<br />
General Sibert, sowie dem Chef des Stabes, General Bedell Smith, über<br />
unseren Dialog laufend vortrug und dabei angewiesen wurde, die Unterhaltungen<br />
im positiven Sinne fortzusetzen, denn Hallstedt wurde<br />
von Gespräch zu Gespräch aufgeschlossener. Wir kamen schließlich<br />
überein, eine kleine Gruppe meiner früheren Mitarbeiter, unter ihnen<br />
Wessel, in Stärke von acht Offizieren zusammenzuziehen. Sie sollten<br />
den Amerikanern zeigen, über welche besonderen Möglichkeiten und<br />
Kenntnisse wir verfügten. Ich gab Hallstedt eine Reihe von Briefen und<br />
die Namen der hierfür ausgewählten Offiziere, so dass er sie aus den<br />
Kriegsgefangenenlisten ermitteln konnte, um sie nach Wiesbaden zu<br />
holen. Es dauerte viele Tage, bis die Gruppe zusammen war. Hallstedt<br />
erzählte mir nach seiner Rückkehr mit einem amüsierten Lächeln,<br />
dass er alle Herren zunächst angesprochen hätte, ohne meinen Brief<br />
vorzuweisen; sie wären allesamt völlig unzugänglich gewesen, bis er<br />
den Brief, der wie eine Art »Sesam öffne dich« gewirkt habe, hervorzog.<br />
47
<strong>1945</strong><br />
Er gab freimütig zu, wie sehr ihn diese Haltung beeindruckt habe.“ Es<br />
ist schön, dass sich der Amerikaner so fürstlich amüsiert hat. Auf diese<br />
Art hatte Gehlen jedoch abgesichert, dass sein Plan aufging. Er nahm<br />
sich die Zeit, in Ruhe zu sondieren, ob er mit den Amerikanern Fußball<br />
spielen konnte, und als er alles vorbereitet hatte, ließ er die anderen<br />
Spielfiguren auf den Tisch holen. Mir fiel auf, dass er die Deutschen in<br />
seinem Büchli auf Seite 58 als ungeeignete Verschwörer bezeichnete.<br />
Kann sein, er hat sich was dabei gedacht. „Seinen neuen Verbündeten<br />
bot Gehlen, wie er es nannte <strong>–</strong> »gute Deutsche«, die ideologisch auf<br />
einer Linie mit dem siegreichen Westen seien.“ Wenn diese Argumentation<br />
die Amerikaner überzeugt hat, muss ich leider annehmen, dass<br />
sie nicht wussten, wie ein richtiger Nazi getickt hat und was „ein guter<br />
Deutscher“ zu jener Zeit vom Westen im Allgemeinen und von America<br />
im Besonderen hielt. Aber es ist wunderbar, dass sich die Amerikaner<br />
über ihren Erfolg gefreut haben.<br />
„Ein erster Schritt war getan. Ein kleiner Kreis meiner engsten Mitarbeiter<br />
war um mich versammelt. Damit waren wir in die Lage versetzt,<br />
uns über die verschiedensten Fragen auszusprechen und uns gegenseitig<br />
abzustimmen. Die nächste Zeit verging mit Gesprächen über die<br />
verschiedensten Themen aus Vergangenheit und Zukunft.<br />
Meine Unterhaltungen mit Hallstedt kreisten immer wieder um das<br />
gleiche Thema: Das Zerbrechen des alliierten Bündnisses kann nur<br />
eine Frage der Zeit sein.<br />
Damit wird der bisher nur unterschwellig spürbare Ost-West-Gegensatz<br />
aufbrechen und zu Gefahren für die Sicherheit Europas wie auch<br />
der Vereinigten Staaten führen. Wie können wir angesichts dieser Zukunftserwartungen<br />
möglichst bald zur Zusammenarbeit gelangen? <strong>–</strong><br />
Wir beide waren überzeugt, dass es hierzu kommen müsse, waren uns<br />
aber auch der Schwierigkeiten bewusst, die sich zwangsläufig ergeben<br />
mussten.<br />
Zunächst einmal stand noch keineswegs fest, dass mein Vorschlag, das<br />
deutsche nachrichtendienstliche Potenzial für die USA nutzbar zu<br />
machen, außerhalb des amerikanischen G-2-Dienstes positiv aufgenommen<br />
werden würde.<br />
48
<strong>1945</strong><br />
Der G-2-Dienst freilich wusste, wie gering die eigenen Kenntnisse über<br />
»Uncle Joe« und sein Imperium im Augenblick waren. Dem G-2-Dienst<br />
musste daher, wie die bisherigen Gespräche gezeigt hatten, das Angebot<br />
auf Zusammenarbeit nicht nur einleuchten, sondern sogar verlockend<br />
erscheinen. Seine Annahme würde ihm viele organisatorische<br />
Arbeit ersparen. Sie gewährleistete außerdem den Zugang zu Erkenntnissen,<br />
deren Beschaffung aus eigener Kraft erst nach Jahren möglich<br />
gewesen wäre. Aber im allgemeinen Bewusstsein war die Sowjetunion<br />
der Verbündete und Siegespartner, an dessen Freundschaft und demokratische<br />
Entwicklung viele noch glaubten.<br />
Waren nicht die Amerikaner auch deshalb in den Krieg gezogen, um<br />
den »preußisch-deutschen Militarismus« auszurotten? Konnte man<br />
der eigenen Öffentlichkeit, ja selbst der Masse der eigenen Offiziere<br />
zumuten, angesichts der Naziverbrechen, die das Fraternisierungsverbot<br />
ausgelöst hatten, nun mit ehemaligen deutschen Offizieren und<br />
früheren Angehörigen des deutschen Nachrichtendienstes zusammenzuarbeiten?“<br />
Die Neulinge auf dem Parkett der großen Politik haben es den Leuten<br />
in Amerika letztlich zugemutet. In <strong>Deutschland</strong> sammelte man in der<br />
Zwischenzeit diejenigen ein, die Generalmajor Gehlen als Mitarbeiter<br />
empfohlen hatte. Sicher ging Gehlen von einer gewissen Naivität der<br />
Amerikaner aus; aber das konnte er nicht voraussehen: „Obschon der<br />
G 2 von USFET, also Sibert, irgendeine bereits bestehende Abteilung<br />
des militärischen Nachrichtendienstes hätte beauftragen können, den<br />
zusammengefassten deutschen Stab zu strukturieren und zu führen,<br />
entschied er sich stattdessen, Oberstleutnant John Deane als Projektoffizier<br />
zu bestimmen. Er kam aus der G 2-Abteilung von USFET, war<br />
Fallschirmjäger, besaß keine Erfahrung auf dem Gebiet des Nachrichtendienstes<br />
und sprach kein Deutsch.“ Und als ob die Deutschen nicht<br />
bis vor kurzem mit scharfer Munition auf die Amerikaner geschossen<br />
hätten, „bedurfte [der Stab um Gerhard Wessel] keiner Überwachung<br />
durch einen Stab in Oberursel“. Man sollte meinen, diese Einschätzung<br />
stamme von einem der deutschen Akteure, doch sie stammt von James<br />
H. Critchfield.<br />
49
<strong>1945</strong><br />
Mister Critchfield war nicht irgendwer. Critchfield, der „während des<br />
Zweiten Weltkrieges als amerikanischer Heeresoffizier“ gedient hatte<br />
und ebenfalls von Nachrichtendiensten bisher nur wusste, dass es sie<br />
gibt, wurde beauftragt, Gehlens Truppe zu beaufsichtigen, damit sie in<br />
Zukunft keinen Schaden mehr anrichten können.<br />
Liest man die Erinnerungen von James H. Critchfield, muss man vermuten,<br />
über den Tisch gezogen zu werden sei Aufgabe der Amerikaner<br />
gewesen. „Unerklärlicherweise schien Sibert entschlossen, den Kommandeur<br />
der 970. Abteilung des Counter Intelligence Corps (CIC) nicht<br />
über das Projekt in Kenntnis zu setzen. Selbst als er im Frühjahr 1946<br />
Deanes Operation in der Amerikanischen Zone um den zusätzlichen<br />
Auftrag zu Spionageabwehr und Innerer Sicherheit erweiterte, überging<br />
er das Dezernat für Spionageabwehr seiner eigenen G 2-Abteilung<br />
und das der 970. Abteilung. Dies und der zusätzliche Ausschluss des<br />
Office of Strategic Services von jeglicher Beteiligung erwiesen sich als<br />
schwerwiegende Fehler.“<br />
Der Umschwung bei den Amerikanern dauerte länger als von Gehlen<br />
gedacht. „Wenn die Sprache auf meine Vorschläge kam, so war noch<br />
um die Jahreswende <strong>1945</strong>/46 die Reaktion ausweichend, da man offensichtlich<br />
zu diesem Zeitpunkt noch die damit verbundenen politischen<br />
Risiken scheute. Uns wurde gesagt, man müsse abwarten, bis sich die<br />
öffentliche Meinung gegenüber <strong>Deutschland</strong> beruhigt und gegenüber<br />
den Russen abgekühlt habe. Die Öffentlichkeit müsse erst einmal die<br />
Sowjets und das sowjetische Problem so sehen wie es in Wirklichkeit<br />
gesehen werden müsste, andernfalls würden in einem demokratisch<br />
geführten Staat wie den Vereinigten Staaten sowohl außenpolitische<br />
wie innenpolitische Schwierigkeiten eintreten.“<br />
„Im Juli 1946 verließ Gehlen mit seiner Gruppe Fort Hunt und kehrte<br />
nach <strong>Deutschland</strong> zurück. Er und seine Familie wurden in der gänzlich<br />
ungewohnten Umgebung des »Blue House« und Oberursels untergebracht.<br />
Gehlen arbeitete eng mit Wessel zusammen und übernahm die<br />
Führung der Gruppe.“<br />
50
<strong>1945</strong><br />
Bevor Generalmajor Edwin Siberts Dienstzeit im August 1946 zu Ende<br />
ging, wollte Gehlen ihm noch die Zustimmung zu den eigenen Plänen<br />
und somit ein „Ja“ von amerikanischer Seite entlocken, auf das er sich<br />
später berufen konnte. Völlig zutreffend war Sibert aufgefallen, dass<br />
Gehlen „die Überlegungen der Amerikaner für den Aufbau eines neuen<br />
deutschen Nachrichtendienstes noch immer nicht ganz verstanden“<br />
hatte. Dieser Edwin Sibert lebte ernstlich in der „Vorstellung, Gehlens<br />
Organisation vollständig in einen neuen amerikanischen Nachrichtendienst<br />
zu integrieren, wodurch deren Mitarbeiter mitsamt ihren Familien<br />
amerikanische Staatsbürger werden würden“. Aber warum soll ein<br />
Mensch nicht auch träumen dürfen? So berief Mister Sibert für den 30.<br />
August eine gemeinsame Sitzung ein, auf der er die Träume erläuterte.<br />
Gehlen fasste sie wie folgt zusammen: 1. „Die Organisation würde eine<br />
rein amerikanische werden.“ 2. „Die Amerikaner wären berechtigt, die<br />
Organisation zu inspizieren.“ Als dritten Punkt hielt Gehlen fest: „Die<br />
Organisation würde Teil eines zukünftigen amerikanischen Nachrichtendienstes<br />
werden, allerdings als ein freies Wirtschaftsunternehmen,<br />
welches anstelle einer mit amerikanischen Beamten und Angestellten<br />
besetzten amerikanischen Organisation geheimdienstliche Aufgaben<br />
wahrnimmt. Auf diese Bedingungen, die uns angeboten worden sind<br />
und die ganz eindeutig sind, müssen wir uns einstellen. Wir haben sie<br />
zu akzeptieren.“ So schön kann träumen sein. Gehlen hatte auch einen<br />
Plan, der Siberts Plan diametral widersprach; Gehlen verfuhr nach der<br />
Abreise Siberts nach seinem eigenen Plan.<br />
James Critchfield, der wohl eine zu demokratische Vorstellung davon<br />
hatte, was es heißt, die Aufsicht über eine Gruppe hochrangiger und<br />
erfahrener Militärs zu haben, notierte später: „Ich glaube, dass sowohl<br />
Gehlen als auch General Sibert von der Vermutung ausgingen, jeder<br />
habe dem anderen seine eigenen Vorstellungen dargelegt und der<br />
andere habe diesen zugestimmt. Wenn es die Umstände daheim in den<br />
Vereinigten Staaten erforderten, konnte Sibert behaupten, dass er die<br />
Idee, die deutsche Operation in den amerikanischen Geheimdienst zu<br />
51
<strong>1945</strong><br />
integrieren, erörtert hatte und die Deutschen nun die notwendigen<br />
Vorbereitungen einleiteten.<br />
Sibert konnte andeuten, dass er im Prinzip die Zustimmung der Deutschen<br />
erhalten hatte. Andererseits konnte Gehlen behaupten, dass sich<br />
seine Beziehungen zu General Sibert über einen langen Zeitraum entwickelt<br />
hatten, dass Sibert die vorgelegten nachrichtendienstlichen<br />
Ergebnisse sehr schätzte und dass er Siberts stillschweigende Billigung<br />
für seine langfristigen Vorstellungen und Pläne besaß. Das an diesem<br />
Tag abgeschlossene »Gentlemen’s Agreement«, wie Gehlen es oft beschrieben<br />
hat, wurde Teil der Nachkriegsgeschichte. Sibert und Gehlen<br />
gingen mit vorgefassten, aber sehr unterschiedlichen Vorstellungen<br />
über das auseinander, was sich zugetragen hatte. Sie hatten aneinander<br />
vorbeigeredet, und jeder glaubte, der andere hätte verstanden,<br />
was er ihm mitteilen wollte.<br />
Natürlich hatte der Rest von uns im Hauptquartier der 3. Armee im<br />
nur neunzig Kilometer entfernten Heidelberg keine Kenntnis davon.“<br />
Um nicht zu wissen, was in diesem Raum ausgehandelt worden war,<br />
hätte es jedoch völlig ausgereicht, nur neunzig Fuß von der Außenwand<br />
des Gebäudes entfernt auf ein Fahrzeug gewartet zu haben. Hier<br />
wäre es schon sinnvoll gewesen, gemeinsam ein Papier auszuarbeiten<br />
und von beiden Partnern unterschreiben zu lassen, ging es doch nicht<br />
um weniger als um die Zukunft der Vereinigten Staaten von Amerika.<br />
Verehrtes Publikum! Sie dürfen jetzt bitte nicht lachen, auf welcher<br />
Grundlage sich die Zusammenarbeit zwischen den Westdeutschen und<br />
den Freunden in Amerika letztlich abspielte. Stellen Sie sich also vor,<br />
Sie schließen mit jemandem einen Vertrag ab. Es geht darum, dass Sie<br />
sich gegen einen Dritten verteidigen und dafür die Hilfe Ihres Partners<br />
nutzen wollen. Ihr Partner gedenkt jedoch, nicht unter Ihnen oder<br />
auch nur für Sie zu arbeiten, sondern mit Ihnen zusammen. Er arbeitet<br />
auch nur unter der eigenen Regie. Sobald er souverän ist, dürfen Sie<br />
ihm nicht mehr die Aufgaben stellen. Doch Sie sollen den ganzen Spaß<br />
finanzieren. Ihr Partner gibt Ihnen dafür die Informationen, die er für<br />
richtig hält, die Sie aber in absehbarer Zeit nicht überprüfen können.<br />
52
<strong>1945</strong><br />
Ist Ihr Partner einmal souverän, kann er darüber entscheiden, ob die<br />
Arbeit fortgesetzt wird oder nicht. Sie dürfen den Partner aber nur bis<br />
zu diesem Zeitpunkt betreuen. Sollte Ihr Partner einmal vor einer Lage<br />
stehen, in der Ihr und sein Interesse voneinander abweichen, so steht<br />
es Ihrem Partner frei, der Linie seines eigenen Interesses zu folgen. Sie<br />
hatten sich aber zuvor verpflichtet, Ihrem Partner die entstehenden<br />
Unkosten zu begleichen. Wenn Sie da mitspielen würden, sind Sie ein<br />
Amerikaner. Sie können diesen Text auch auf den Seiten 149 und 150<br />
in Der Dienst selbst nachlesen.<br />
„1.) Es wird eine deutsche nachrichtendienstliche Organisation unter<br />
Benutzung des vorhandenen Potenzials geschaffen, die nach Osten<br />
aufklärt, bzw. die alte Arbeit im gleichen Sinne fortsetzt.<br />
Die Grundlage ist das gemeinsame Interesse an der Verteidigung<br />
gegen den Kommunismus.<br />
2.) Diese deutsche Organisation arbeitet nicht »für« oder »unter« den<br />
Amerikanern, sondern »mit den Amerikanern zusammen«.<br />
3.) Die Organisation arbeitet unter ausschließlich deutscher Führung,<br />
die ihre Aufgaben von amerikanischer Seite gestellt bekommt, solange<br />
in <strong>Deutschland</strong> noch keine neue deutsche Regierung besteht.<br />
4.) Die Organisation wird von amerikanischer Seite finanziert, wobei<br />
vereinbart wird, dass die Mittel dafür nicht aus den Besatzungskosten<br />
genommen werden. Dafür liefert die Organisation alle Aufklärungsergebnisse<br />
an die Amerikaner.<br />
5.) Sobald wieder eine souveräne deutsche Regierung besteht, obliegt<br />
dieser Regierung die Entscheidung darüber, ob die Arbeit fortgesetzt<br />
wird oder nicht.<br />
Bis dahin liegt die Betreuung dieser Organisation (später »trusteeship«<br />
genannt) bei den Amerikanern.<br />
53
<strong>1945</strong><br />
6.) Sollte die Organisation einmal vor einer Lage stehen, in der das<br />
amerikanische und das deutsche Interesse voneinander abweichen, so<br />
steht es der Organisation frei, der Linie des deutschen Interesses zu<br />
folgen.“<br />
Soll Gehlen seinen Erfolg selbst kommentieren: „Besonders der letzte<br />
Punkt mag verwundern, da hier doch zur Diskussion stehen könnte, ob<br />
der Vertreter der Amerikaner dem Deutschen nicht zuviel zugestanden<br />
habe. Gerade dieser Punkt zeugt jedoch von der Weitsichtigkeit<br />
des Generals Sibert. Er übersah klar, dass die Interessen zwischen den<br />
Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik auf lange Zeit identisch<br />
sein würden.“ Ein Arzt wird einem Patienten mit Weitsichtigkeit eine<br />
Brille empfehlen. An Stellen wie dieser frage ich mich, ob jemand bei<br />
der CIA Gehlens Memoiren gelesen hat, und wenn, ob der Zynismus in<br />
seiner Sprache auffiel. Schon die Stelle Besonders der letzte Punkt macht<br />
klar, dass er wusste, dass er dem Amerikaner 1946 ein unverschämtes<br />
Stück Papier vorgetragen hatte <strong>–</strong> wobei noch nicht einmal bekannt ist,<br />
ob er seine Darlegungen überhaupt zu Ende bringen konnte, da Sibert<br />
sich vorzeitig zurückzog, um seine sieben Sachen für die Heimreise zu<br />
packen. Vielleicht hätte er diese historisch bedeutsame Sitzung ja auch<br />
schon für den 29. August einberufen sollen.<br />
Schön ist Critchfields Auswertung: „Es ist schon bemerkenswert, dass<br />
Gehlen dachte, solche Bedingungen würden von den amerikanischen<br />
Geheimdienstbehörden hingenommen. Letzten Endes gelang es ihm<br />
aber, den größten Teil davon zu verwirklichen.“ Dieser Umstand geht<br />
klar auf das Schuldkonto von Critchfield selbst. Dem gut aussehenden<br />
Amerikaner ist schon aufgefallen, dass „nicht wenige Verantwortliche<br />
in der CIA“ der Auffassung waren, „dass die Entscheidung, die Aufsicht<br />
über die Operation zu übernehmen, die Agentur und die Interessen der<br />
Vereinigten Staaten gefährden“ konnte. Ohne auch nur mit einem weiteren<br />
Wort darauf einzugehen, freute er sich nach der Pensionierung:<br />
„Letztlich aber war dieser Schritt ein absoluter Wendepunkt in meiner<br />
Karriere.“ Das freut einen wirklich sehr; doch dieser fatale Schritt war<br />
zugleich das Grab für die Verwirklichung des großen amerikanischen<br />
54
<strong>1945</strong><br />
Traumes von demokratisch strukturierten Gesellschaften vom Atlantik<br />
bis zur sowjetischen Grenze oder gleich bis zum Pazifik.<br />
Es ist ja auch nicht so, dass Critchfield vielleicht keine Zweifel gehabt<br />
hätte. Obwohl er „neu bei der CIA“ und „kein Veteran der OSS“, also<br />
der Vorläuferorganisation der CIA aus den Jahren des Krieges gegen<br />
<strong>Deutschland</strong> war, war er mit einer ersten Bewertung der Tätigkeit der<br />
deutschen Spezialisten betraut worden, ein Auftrag, den er auf jeden<br />
Fall „ausgesprochen faszinierend“ fand. Bei der ersten Begegnung mit<br />
Gehlen teilte er ihm mit, dass er „die Identität jedes einzelnen Angehörigen<br />
seiner Organisation sowie deren Aufbau kennen lernen und eine<br />
umfassende Beschreibung seiner Operationen vorgelegt haben wollte.<br />
Er [Gehlen] sagte mir, er wollte die Integrität und die Selbstständigkeit<br />
der deutschen Organisation beibehalten. Ich antwortete, dass ich überhaupt<br />
kein Problem darin sah, die Organisation eigenständig arbeiten<br />
zu lassen, solange wir Amerikaner angemessen unterrichtet wurden.<br />
Darüber hinaus wies ich darauf hin, dass seine Zielvorstellungen, so<br />
wie er sie beschrieben hatte, nicht unbedingt im Gegensatz zu denen<br />
der CIA stehen mussten. Aber genau das könnte geschehen, wenn wir<br />
nicht auf dem Laufenden gehalten würden. Bei dieser Aussage entdeckte<br />
ich die erste Anspannung in Gehlens Reaktion. Nach einer auffälligen<br />
Unterbrechung, in der er an seiner Zigarre zog und seine Tasse<br />
austrank, lehnte er sich zurück und erläuterte mir seine grundlegenden<br />
Überlegungen, warum er die Selbstständigkeit und die deutschen<br />
Grundzüge seiner Organisation erhalten wollte.“ Doch darum ging es<br />
gar nicht. Er sollte die Identität aller Angehörigen seiner Organisation<br />
und eine umfassende Beschreibung seiner Operationen vorlegen. Mir<br />
will nicht in den Kopf, wie Critchfield nach Szenen wie dieser auf die<br />
Formulierung kam: „Ich glaube nicht, dass Gehlen die Frage, ob er eine<br />
vertrauensvolle und aufrichtige Beziehung zur CIA aufnehmen sollte<br />
oder nicht, jemals richtig zu Ende gedacht hatte.“<br />
Vielleicht noch ein Wort zum Ergebnis von Critchfields Analyse, die<br />
wirklichkeitsfremd in vier Wochen darüber befinden sollte, ob man<br />
Gehlens Truppe machen lassen sollte oder nicht. Herr Critchfield „war<br />
55
<strong>1945</strong><br />
überzeugt, dass den langfristigen Interessen der Vereinigten Staaten<br />
am besten damit gedient war, auf Gehlens Vorstellung einzugehen,<br />
seiner Organisation die typisch deutsche Prägung und Struktur zu belassen.<br />
In Anbetracht des Wandels in Europa war das sinnvoll. Allerdings<br />
gelangte ich auch zu der Schlussfolgerung, dass die CIA zum<br />
gegenwärtigen Zeitpunkt Gehlens Plänen, seine Organisation in einen<br />
neuen amtlichen Geheimdienst der künftigen deutschen Regierung<br />
umzuwandeln, ihre Zustimmung verweigern sollte.“ Das wäre gewiss<br />
sinnvoll gewesen, doch der amerikanische Aufseher gab seinen Widerstand<br />
gegen die Überführung von Gehlens Truppe in einen amtlichen<br />
Geheimdienst West-<strong>Deutschland</strong>s bald auf.<br />
Genau so traurig ist auch dies. Nach dramatischen Wendungen auf der<br />
Bühne der großen Politik gab es überraschenderweise schon im Jahre<br />
1949 die deutsche Regierung, von der Gehlens Gentlemen’s Agreement<br />
noch nebulös orakelt hatte. Nachdem Gehlen den Amerikanern seinen<br />
Trupp erst als Spähtrupp zum Schutz der USA angedient hatte, musste<br />
er ihnen anschließend beibringen, dass seine Spione unter deutschem<br />
Kommando wirken sollten. Hören Sie Gehlen selbst: „Zunächst verbot<br />
mir zwar, am 21. 12. 1949, Mr. M., wohl auf Weisung von Washington,<br />
weitere Verhandlungen mit deutschen Regierungsstellen zu führen,<br />
die Zukunft der Organisation sei ausschließlich US-Angelegenheit. Es<br />
wurde befürchtet, dass wir die Interessen der späteren Verbündeten<br />
stören könnten. Dieses Verbot stand nicht im Einklang mit unseren<br />
Abmachungen. Es wurde von mir stillschweigend nicht akzeptiert.“<br />
Ich mache nämlich, was ich will. Was wollt Ihr mir denn?<br />
Als Jahrzehnte ins Land gegangen waren, versuchte sich der Journalist<br />
der New York Times und zweifache Pulitzer-Preisträger Tim Weiner an<br />
einer Gesamtdarstellung der nicht besonders glorreichen Geschichte<br />
des Auslandsgeheimdienstes der Vereinigten Staaten. Sie erschien erst<br />
nach der Jahrhundertwende unter dem Titel CIA <strong>–</strong> Die ganze Geschichte.<br />
Das Vorwort zur deutschen Ausgabe macht klar, wie begierig die bis<br />
dahin so siegreichen Amerikaner die „Informationen“ aufsaugten, die<br />
Gehlen ihnen anbot: „Im Sommer <strong>1945</strong> erblühte in den Trümmern von<br />
56
<strong>1945</strong><br />
Berlin eine seltsame Romanze <strong>–</strong> amerikanische und deutsche Geheimdienstler<br />
umwarben einander. Männern wie Captain John R. Boker jr.,<br />
in dessen Familienstammbaum deutsche Vorfahren zu finden waren,<br />
leuchtete das Argument dafür unmittelbar ein. »Damals war der ideale<br />
Augenblick, um Informationen über die Sowjetunion zu gewinnen <strong>–</strong><br />
wenn wir je welche bekommen wollten«, sagte er. Als erster Amerikaner<br />
rekrutierte Captain Boker General Reinhard Gehlen, den Leiter der<br />
Abteilung Fremde Heere Ost in Hitlers Generalstab, der an der Ostfront<br />
gegen die Rote Armee eingesetzt war. Die neue Beziehung beruhte auf<br />
einem Gedanken, der so alt ist wie der Krieg selbst: Der Feind meines<br />
Feindes ist mein Freund.“ Ach so. Die amerikanische Logik bleibt mir<br />
rätselhaft. Warum sollte der Feind meines Feindes mein Freund sein?<br />
Was auf der anderen Seite die Trümmer von Berlin angeht <strong>–</strong> in Gehlens<br />
Memoiren geht es um eine ganze Reihe von Orten im Süden und Südwesten<br />
<strong>Deutschland</strong>s; von Berlin ist darin ganz bestimmt keine Rede.<br />
Wie kam dieser anonyme Autor überhaupt auf die umkämpfte Reichshauptstadt?<br />
Die ersten Amerikaner tauchten dort erst im Juli auf.<br />
Doch bleiben wir in diesem Vorwort: „Gehlen war ganz versessen darauf,<br />
für die Amerikaner zu arbeiten. »Von Anfang an«, sagte er später,<br />
»haben mich folgende Überzeugungen geleitet: Die entscheidende<br />
Kraftprobe zwischen Ost und West ist unvermeidlich. Jeder Deutsche<br />
ist verpflichtet, sein Teil dazu beizutragen, so dass <strong>Deutschland</strong> die<br />
Aufgabe hat, die ihm zufallenden Missionen für die gemeinsame Verteidigung<br />
der christlichen Zivilisation des Westens zu erfüllen.«“<br />
Das klang in den Ohren der Amerikaner offenbar logisch, weil es ihrem<br />
Bild von den Nazis entsprach. Hätte Gehlen das jedoch ernst gemeint,<br />
dann hätte er nicht gemeinsam mit seinen Männern den Endsieg des<br />
Österreichers über die Bolschewisten verhindert. Darüber hatte er die<br />
Freunde in America offensichtlich nicht informiert; doch dazu mehr im<br />
Kapitel Der lange Krieg gegen den Krieg.<br />
Es erschien mir anfangs ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Mann die<br />
Amerikaner allein auf das neue Gleis setzen konnte; und siehe da, das<br />
57
<strong>1945</strong><br />
war nicht nötig. General Reinhard Gehlen hatte einen ganzen Anhang<br />
im Gefolge: „Viele Freunde und Untergebene des Leiters der Abteilung<br />
Fremde Heere Ost (FHO) des Oberkommandos der Wehrmacht, General<br />
Reinhard Gehlen, waren in die Verschwörung [gegen Adolf] verwickelt<br />
gewesen. An ihrer Spitze stand wohl Alexis Freiherr von Roenne, 1940<br />
zur FHO versetzt, ab 1942 Major und Leiter der Gruppe III der FHO und<br />
seit 1944 Oberst und Leiter der Abteilung Fremde Heere West. [...]<br />
Gestapo-Chef Heinrich Müller leitete im persönlichen Auftrag Hitlers<br />
eine Sonderkommission mit 400 Spezialisten zur Untersuchung des<br />
Attentats. Die Spur Roenne führte ihn auch zur FHO.“<br />
Nein, nicht nur der spätere BND-Chef Gehlen spielte mit dieser Welt<br />
Blinde Kuh. Der von den hiesigen Medien erzeugte Eindruck, die frühe<br />
Bundesrepublik sei nichts als ein Refugium für antikommunistische<br />
Alt-Nazis gewesen, wurde nicht nur von einer Justiz geprägt, die aus<br />
ehrlichem Herzen auf dem rechten Auge blind war, sondern er rührte<br />
auch daher, dass eine ganze Reihe bedeutender Persönlichkeiten, wie<br />
die erste Ministerriege Adenauers oder auch Ministerpräsidenten verschiedener<br />
Bundesländer, nicht als Leute aus dem Widerstand geoutet<br />
wurden. Wen hätten denn die einheimischen und die aus dem Osten in<br />
Adenauers Reich geflüchteten Nazis auch wählen sollen, wenn klar<br />
gewesen wäre, dass beide deutsche Staaten von den „Antifas“ regiert<br />
wurden? Und auf der anderen Seite wurden dann später lang und breit<br />
diejenigen Leute ausgewertet, die politisch vorbelastet waren, um es<br />
ganz vorsichtig auszudrücken. Es lässt allerdings auch tiefe Einblicke<br />
in die völlige Unabhängigkeit der westdeutschen Medien zu, wenn die<br />
Verstrickung von Personen in das Staatswesen der Nazis nicht publik<br />
wurde, so diese ihr Wirken später in den Dienst der antifaschistischen<br />
Aufklärung stellten wie zum Beispiel der Nachkriegs-Fabulator Günter<br />
Grass: , , , ; , , . Der hatte bei der SS Vorgesetzte, Kameraden, Freunde,<br />
Feinde <strong>–</strong> und da hat keiner mal einen Leserbrief an die unabhängigen<br />
Medien geschrieben?<br />
Die mehr oder minder korrekten Informationen, die solche Fachleute<br />
wie General Gehlen den friends in America gaben, hatten jedenfalls den<br />
58
<strong>1945</strong><br />
gewollten Effekt <strong>–</strong> den Amerikanern wurde in Gestalt der Sowjetunion<br />
ein neues rotes Tuch vorgehalten, auf das sie sich jetzt konzentrieren<br />
sollten. Man muss demokratisierwütige Amerikaner nur beschäftigen.<br />
Die Amerikaner haben daraus haarscharf abgeleitet, jetzt bestünde die<br />
Notwendigkeit eines Feldzuges gegen den Kommunismus, und unterstützten<br />
dann selbst die rauhbeinigsten Diktaturen überall, so sie nur<br />
antikommunistisch genug waren. Nicht schön. Supermacht.<br />
Der Autor von Weiners Vorwort war amüsiert: „Allen Dulles, einer der<br />
Gründungsväter der Central Intelligence Agency, fand die Anwerbung<br />
von General Gehlen prachtvoll: »Im Spionagegeschäft gibt es selten<br />
Heilige. Er ist auf unserer Seite, und nur das zählt.« Das Interesse der<br />
Amerikaner am Erwerb auch noch der geringfügigsten Informationen,<br />
die Gehlen über die Sowjets besaß, wog schwerer als die Frage, was er<br />
und seine Leute während des Krieges getan hatten.“<br />
Genau wie Markus Wolf gingen sie davon aus, dass sie alles über Herrn<br />
Gehlen wussten, und haben großzügig verziehen, „was er und seine<br />
Leute während des Krieges getan hatten“. Sie wussten aber gar nicht,<br />
was er und seine Leute während des Krieges getan hatten und was sie<br />
ihnen verzeihen sollten; es gab nämlich auch damals schon mehrere<br />
Deutsche, und die haben in dieser Diktatur auch nicht alle das gleiche<br />
getan. Vorurteile sind schädlich.<br />
In einer Zusammenstellung von Interviews mit amerikanischen Zeitzeugen,<br />
erschienen 1991 unter dem Titel Die Rattenlinie <strong>–</strong> Fluchtwege der<br />
Nazis, kann man nachlesen, wie die Amerikaner geleimt worden waren.<br />
Victor Marchetti, der in der Rattenlinie als früherer Chefaufklärer der<br />
CIA über die Sowjetunion bezeichnet wird, erinnerte sich in einem der<br />
Interviews an „Informationen über die chemische und biologische Bewaffnung<br />
der Russen“ und beklagte, dass sie „von einer gefährlichen<br />
Ungenauigkeit“ gewesen seien. Er bemerkte, einige Jahrzehnte zu spät,<br />
die Mitarbeiter von Generalmajor Reinhard Gehlen „stützten sich auf<br />
unzusammenhängende Indizien, die sie durch eigene Interpretationen<br />
miteinander in Verbindung brachten. Auf diese Weise kamen sie zu<br />
59
<strong>1945</strong><br />
dem Schluss, dass die Sowjets weit höhere Kapazitäten auf diesem Gebiet<br />
hätten, als es tatsächlich der Fall war.“ Es wurde den Deutschen ja<br />
auch unerhört leicht gemacht, die Amerikaner über das Ohr zu hauen.<br />
Die Truppe um Hermann Baun arbeitete nach den Erinnerungen des<br />
Oberaufsehers Critchfield „nahezu unbeaufsichtigt“. Dann wird das ja<br />
auch keinen erstaunen: „Der Stab der Operationsabteilung wirkte auf<br />
uns nicht ganz klar strukturiert und hatte offensichtlich weit weniger<br />
Übersicht über seine Arbeit als der Stab der Auswertung.“ Hauptsache<br />
die Amerikaner behielten im deutschen Durcheinander den Überblick.<br />
Critchfield versuchte sich an einer Erklärung für all die fragwürdigen<br />
Ergebnisse: „Er [Reinhard Gehlen] stellte allerdings fest, dass Hermann<br />
Baun eine beträchtliche Unabhängigkeit erlangt hatte, indem er darauf<br />
bestand, dass er und Gehlen zwar getrennte, aber gleichrangige<br />
Organisationen im Rahmen eines größeren nachrichtendienstlichen<br />
Vorhabens leiteten.“ In dem vielleicht die linke Hand nicht so recht<br />
wusste, was die andere Hand machte, oder wie dachte er sich das?<br />
Die guten Seelen wurden ja noch nicht einmal stutzig, als sie Anfang<br />
der fünfziger Jahre bemerkten, dass ihr neuer Freund Reinhard Gehlen<br />
den Stäben der sogenannten Org. „keine besondere Aufmerksamkeit“<br />
widmete und „ein größeres Interesse an dem [entwickelt hat], was in<br />
Bonn geschah, als an den Einzelheiten der Operationen“.<br />
Marchetti war felsenfest davon überzeugt, dass „diese Informationen<br />
sehr schlecht waren“, äußerte jedoch nicht die Vermutung, dass er den<br />
Deutschen auf den Leim gegangen war. Nachdem die Informationen in<br />
die entscheidenden Köpfe eingedrungen waren, war die Führung in<br />
Washington also der Meinung, der Diktator in Moskau verfüge über<br />
Massenvernichtungswaffen. Haben sie wenige Monate später auch aus<br />
diesem Grund zwei Atombomben auf Japan abgeworfen? Wollten sie so<br />
verhindern, dass Stalin vielleicht auf die Idee kommt, biologische oder<br />
eventuell auch chemische Massenvernichtungswaffen gegen Städte in<br />
Westeuropa einzusetzen? Sie wissen ja: beim Russen weiß man nie. Es<br />
gibt da übrigens eine Parallele zum zweiten Irak-Krieg. Auch da waren<br />
es BND-Infos, die den USA Massenvernichtungswaffen vorgaukelten,<br />
60
<strong>1945</strong><br />
nachzulesen 2004 bei Erich Schmidt-Eenboom und 2006 im Spiegel. 2007<br />
stand es dann auch in Legacy of Ashes in Amerika.<br />
Sie dürfen aber nicht annehmen, dass bei dem Amerikaner auch nur<br />
ein böses Wort über die Deutschen steht. Ganz im Gegenteil. Nach dem<br />
Krieg waren die Kriegsgefangenenlager von den Sowjets unterwandert<br />
worden und die falschen Infos, die den Irakkrieg auslösten, kamen von<br />
treuen Partnerdiensten: „Die Geschichte, die größte Aufmerksamkeit<br />
erregte, war die über die mobilen Laboratorien für biologische Waffen.<br />
Der Informant war ein Iraker, der sich in die Obhut des deutschen<br />
Nachrichtendienstes begeben hatte. Sein Deckname war »Curveball«.“<br />
Als die friends ihn einmal sehen wollten, war das leider nicht möglich.<br />
Schönen Dank für solche Partner. Man muss Freund und Feind schon<br />
unterscheiden können. Unter dem Jahr 1951 werde ich von einem Kim<br />
berichten, von dem die Org. Tag und Nacht Berichte bekam. Die waren<br />
für die Amerikaner gedacht, aber dieser Kim wollte sie Gehlen geben,<br />
damit der sie an die Amerikaner weitergab. Das haben die Amerikaner<br />
Gehlen im wahrsten Sinne des Wortes abgekauft. Als sie bemerkten,<br />
dass diese Informationen nicht zutrafen, sollte eine Untersuchung des<br />
Falles stattfinden, da stellte der zuständige Kollege beim BND fest, dass<br />
Kim an einer unbehandelten Lungenerkrankung verstorben war. Es ist<br />
davon auszugehen, dass die Amerikaner ein Beileidsschreiben an den<br />
Partnerdienst hinter dem Atlantik geschickt haben. Diesen Kim gab es<br />
ganz bestimmt nicht, aber seine (oder auch nicht seine) Informationen<br />
schürten die Angst der Amerikaner vor den Sowjets.<br />
Die besondere Bedeutung der militärtechnischen Informationen von<br />
General Gehlen dürfte in ihrer Exklusivität gelegen haben. Marchetti<br />
bestätigt, dass die Amerikaner in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre<br />
noch „nichts Nennenswertes hinter dem Eisernen Vorhang“ hatten.<br />
Das wird inhaltlich sowohl von dem CIA-Beamten James H. Critchfield<br />
als auch von dem Journalisten Tim Weiner bestätigt.<br />
Und danach haben sich die Russen abgeschottet und niemanden mehr<br />
sehen lassen, was sie wirklich vorrätig hatten. Das war so verständlich,<br />
61
<strong>1945</strong><br />
wie es bedauerlich war. Es wäre interessant zu erfahren, ob Washington<br />
<strong>1945</strong> zumindest in Moskau nachgefragt hat, ob man sich vor Ort<br />
ein Bild von den Stätten machen dürfe, die ihnen Gehlens Spitzenleute<br />
beschrieben hatten, und ob das in Moskau vielleicht abgelehnt wurde.<br />
Auf jeden Fall bekam Gehlen nach den Worten von Murat Williams, der<br />
als US-Botschafter in Ungarn in den fünfziger Jahren vorgestellt wird,<br />
Gelegenheit, das amerikanische Bild von den militärischen Möglichkeiten<br />
der Sowjetunion zu beeinflussen. In diesem Interview heißt es:<br />
„Unsere Gefühle gegenüber dem Kalten Krieg wurden intensiviert. Das<br />
hätte man vermeiden müssen. Dieser Kalte Krieg wäre nicht notwendig<br />
gewesen.“<br />
Dieser Kalte Krieg war überflüssig wie ein Kropf, und er widersprach<br />
den Interessen der USA sowohl wirtschaftlich als auch in dem Wunsch<br />
nach demokratisch strukturierten Gesellschaften weltweit und nicht<br />
nur in Bayern. Harry Rositzke, der als Geburtshelfer der militärischen<br />
Aufklärung gegen die Sowjetunion bezeichnet wird, sagte leider erst<br />
nach dem Ende des furchtbar kalten Krieges: „Heute, nach vierzig Jahren,<br />
wo das sowjetische Reich zum Teil auseinanderbricht, hat diese<br />
unsere Politik des »Containments« zur Folge, dass die zwei stärksten<br />
Wirtschaftsmächte in der Welt, die japanische und die westdeutsche,<br />
in direkter Konkurrenz zur amerikanischen Wirtschaft stehen. Heute,<br />
wo allmählich jeder akzeptiert, dass ökonomischer Wohlstand der<br />
wichtigste Maßstab des politischen Erfolgs ist!“<br />
Ein Schnellmerker. Da war die Rechnung Reinhard Gehlens aber schon<br />
sehr lange aufgegangen gewesen. „In der Einstellung unserer amerikanischen<br />
Freunde zum weiteren Schicksal der »Organisation Gehlen«<br />
hatte sich ab Ende 1950 ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Sie<br />
hatten <strong>–</strong> vor allem Mr. M., aber auch die beiden Chefs der CIA, zuerst<br />
General Walter Bedell Smith, dann Allan Dulles (ab Januar 1953) <strong>–</strong><br />
erkannt, dass sich meine Konzeption von <strong>1945</strong> realisieren würde, zu<br />
der sich als erster General Sibert im »Gentlemen’s Agreement« bekannt<br />
hatte.<br />
62
<strong>1945</strong><br />
Sie zogen daraus den Schluss, die Überführung der Organisation in die<br />
Hände der Bundesregierung mit allen Kräften zu unterstützen. Amerikanische<br />
Beauftragte führten deshalb im Laufe der Jahre mehrere Gespräche<br />
mit dem Bundeskanzleramt über technische Fragen der Überführung<br />
und bewogen auf den verschiedensten Wegen auch die anderen<br />
Alliierten dazu, die gleiche zustimmende Haltung einzunehmen.<br />
Sie taten dies in der selbstverständlichen Erwartung, dass die enge Zusammenarbeit<br />
des Dienstes mit ihnen und den anderen Alliierten auch<br />
in Zukunft bestehen bleiben würde. Die CIA war darüber hinaus davon<br />
überzeugt, dass sich diese positive Haltung später in der zukünftigen<br />
politischen Partnerschaft der Bundesrepublik mit den Westalliierten<br />
bezahlt machen würde. Diese Rechnung ging selbstverständlich auf;<br />
die vertrauensvolle kameradschaftliche Partnerschaft trug für alle<br />
Teile reiche Frucht.“ Für den Westen <strong>Deutschland</strong>s auf jeden Fall. Der<br />
Rest der Welt hat seine Steuergelder in die Aufrüstung gesteckt.<br />
Von Günter Gaus hatten Sie etwas über den Ursprung der sowjetischen<br />
Gefahr erfahren. Als langjähriger Redakteur des Spiegel wusste er allerdings<br />
auch, dass Medien wie Der Spiegel zur Unausrottbarkeit des von<br />
ihm kritisierten Blödsinns „von der kommunistischen Welteroberung“<br />
über Jahrzehnte beitrugen. Gaus benannte auch den offensichtlichen<br />
Widerspruch, der sich vermutlich unbemerkt in den Köpfen einnistete:<br />
„einerseits kommt morgen der Russe, aber andererseits werden wir<br />
demnächst siegreich durchs Brandenburger Tor marschieren und den<br />
Annaberg in Schlesien zurückerobern“. Ganz selbstverständlich hatten<br />
die Polen und die Russen vor den Deutschen Angst. Und alle anderen<br />
Nachbarn auch. Aber die intellektuelle Elite, die den Widerspruch säte,<br />
dürfte sich des Widerspruchs doch wohl bewusst gewesen sein.<br />
Zur Unausrottbarkeit dieser Verschwörungstheorie trugen logischerweise<br />
auch unabhängige Wissenschaftler der bunten Republik bei. Wer<br />
unabhängige westdeutsche Geschichtsschreibung vom Feinsten haben<br />
will, muss unbedingt Prof. Dr. Heinrich A. Winkler zur Hand nehmen.<br />
In Der lange Weg nach Westen heißt es bei dem Meister über den Beginn<br />
dieses Kalten Krieges: „Amerika übernahm mit dem Marshallplan jene<br />
63
<strong>1945</strong><br />
Führungsrolle in Europa, vor der es nach dem Ersten Weltkrieg noch<br />
zurückgeschreckt war. Die Folgen der damaligen Zugeständnisse an<br />
den politischen Isolationismus waren den verantwortlichen Akteuren<br />
der USA sehr wohl bewusst. Eine Spätfolge dieser Zurückhaltung war,<br />
dass Hitler bei seiner Expansionspolitik lange Zeit auf keinen wirksamen<br />
Widerstand gestoßen war.“<br />
Welchen Satz schloss Prof. Dr. Winkler an diesen nachvollziehbaren<br />
Gedanken über Hitlers Expansionspolitik an? Ohne neu Luft zu holen,<br />
setzte er an dieser Stelle fort: „Einer weiteren Ausdehnung der sowjetischen<br />
Hemisphäre wollte Amerika nicht tatenlos zusehen. Die Politik<br />
der »Eindämmung« war der Versuch, aus der Geschichte zu lernen <strong>–</strong><br />
ein gelungener Versuch, wie man rückblickend feststellen muss.“<br />
Hier benutzt Winkler die antizipierte Überzeugung seines Publikums,<br />
dass Hitlers Expansionismus völlig zu Recht ein Riegel vorgeschoben<br />
wurde, und überträgt dieses Gefühl kurzerhand auf die Sowjetunion.<br />
Damit sein Trick funktioniert, lässt er einfach das Argument weg, dass<br />
die sowjetischen Truppen in den osteuropäischen Ländern (scheinbar)<br />
die einzigen Garanten für die östlichen deutschen Nachkriegsgrenzen<br />
waren. Noch stärkeren Tobak findet man in dieser Frage bei Helmut<br />
Schmidt in den achtziger Jahren. Ihm schien es noch nach dem Amtsantritt<br />
Gorbatschows „unklug, unsere eigene Politik auf ein tatsächliches<br />
Ende des russisch-sowjetischen Expansionismus zu gründen“.<br />
Schräge Argumentationen von dieser Klangqualität bestärkten mich,<br />
mir selbst ein Bild von den Vorgängen in unserem Land zu machen.<br />
Wenn dieser Professor Doktor Winkler rückblickend feststellen muss, dass<br />
der amerikanische Versuch gelang, klingt das übrigens auch nicht so,<br />
als hätte jemand darauf gehofft.<br />
Er gelang aber erst <strong>1990</strong>. Rückblickend muss man auch feststellen, wie<br />
rabiat Bonn offensichtlich fünfundvierzig Jahre lang die Amerikaner<br />
an der Nase herumgeführt hat. Aber schon im Vorwort zur deutschen<br />
Ausgabe des über achthundertseitigen Bandes CIA <strong>–</strong> Die ganze Geschichte<br />
64
<strong>1945</strong><br />
vermerkte ja der anonyme Autor, Staaten hätten keine Freunde, nur<br />
Interessen. Das war trefflich angemerkt. In Tim Weiners Buch fand ich<br />
die traurige Bestätigung dafür, dass es den Deutschen leicht gemacht<br />
wurde, die Amerikaner über den Tisch zu ziehen. Nach Weiners Buch<br />
darf ich mir sicher sein, dass es in Amerika vor dem Zweiten Weltkrieg<br />
ernstlich so wenig Interesse an Europa gab, dass die USA noch keinen<br />
Geheimdienst für das Ausland hatten. Das dürften die Herren Canaris<br />
und Gehlen gewusst haben, und darauf werden sie ihre Hoffnungen<br />
gesetzt haben. Es ist kein Witz, in Tim Weiners Buch steht, dass sie ihr<br />
Erfahrungsdefizit in diesem Bereich wettzumachen trachteten, indem<br />
sie sich Entwicklungshilfe im befreundeten England und eben allen<br />
Ernstes in der Hoffnung auf Hilfe gegen eine befürchtete Gefährdung<br />
durch die Sowjetunion bei dem Kriegsgegner <strong>Deutschland</strong> suchten. Als<br />
Ost-Deutscher kann ich darüber leider nicht lachen. Ohne den Dummen<br />
Krieg der Amerikaner gegen die Sowjets hätten wir heute nicht diesen<br />
Zirkus mit den West-Deutschen, die sich jetzt als meine Retter aus der<br />
Not aufspielen. Der Chef von Reinhard Gehlens Spionageabwehr, Heinz<br />
Felfe, hat dann bis zum Beginn der sechziger Jahre „die wesentlichen<br />
Einzelheiten aller wichtigen CIA-Aktionen gegen Moskau verraten.<br />
Dazu gehörten annähernd siebzig größere Geheimoperationen, die<br />
Identität von mehr als hundert CIA-Agenten und ungefähr fünfzehntausend<br />
Geheiminformationen. [...] Die CIA war in <strong>Deutschland</strong> und in<br />
ganz Osteuropa so gut wie aus dem Geschäft, und es brauchte ein Jahrzehnt,<br />
um diesen Schaden wettzumachen.“ So weit der anonyme Autor<br />
des Vorwortes. Damit wir uns hier nicht falsch verstehen <strong>–</strong> der Autor<br />
hält an der Version fest, dass der Westen einschließlich des BND von<br />
Felfes bösem Tun bitter enttäuscht war und „am 6. November 1961<br />
wurde Heinz Felfe, der Chef der Spionageabwehr beim BND, von seiner<br />
eigenen Sicherheitspolizei verhaftet“.<br />
Was blieb dem BND auch anderes übrig, als den Mann zu opfern, als er<br />
unhaltbar geworden war? Von Markus Wolf ist zu erfahren, dass Felfe<br />
schließlich im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um eine<br />
Bundespräsidentenwahl ausgerechnet auf herzlichen Wunsch Unseres<br />
Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, 1969 „im Austausch gegen<br />
65
<strong>1945</strong><br />
einundzwanzig in der DDR inhaftierte Personen“ wieder die Sonne zu<br />
sehen bekam. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe ist auch zu finden,<br />
dass das Wettrüsten zwischen den beiden „Supermächten“ nicht nur<br />
kurz nach dem Weltkrieg sondern noch in den späten fünfziger Jahren<br />
durch falsche Informationen vom BND angeheizt wurde. Da es sich<br />
<strong>1945</strong> um eine absichtliche Irreführung der Amerikaner handelte, habe<br />
ich keinen Grund, die späteren Fehlinformationen so zu deuten wie<br />
der Autor des deutschen Vorworts zu Tim Weiners Buch über die CIA:<br />
„Der BND schluckte sowjetische Fehlinformationen <strong>–</strong> darunter in den<br />
späten fünfziger Jahren die Behauptung, Moskau besitze Tausende von<br />
Kernwaffen, die es nachweislich nicht hatte.“ Hier bewährte sich die<br />
von Gehlen in Der Dienst gegen manche Missverständnisse verteidigte<br />
Zusammenarbeit mit den unabhängigen Medien. Es führte zu „einer<br />
öffentlichen Anhörung im amerikanischen Senat“, dass Der Spiegel „ein<br />
halbes Jahr früher als der NATO-Oberbefehlshaber gewusst hatte, dass<br />
die Sowjets über eine Atom-Artillerie verfügten“. Schrecken war auch<br />
zu verbreiten, indem der Spiegel 1953 ein halbes Jahr „Uran-Schieber“<br />
jagte, „die ihr kostbares Metall im Osten verhökern wollten“, als hätte<br />
man dafür in Amerika keinen besseren Preis bekommen. Gut, dass die<br />
Schieber nicht gleich ein paar eigene Atombomben nur für den Hausgebrauch<br />
bauen wollten. Aber wir waren bei einem anderen Gauner.<br />
Bei Weiner fehlt mir in den drei Textpassagen, in denen es um Heinz<br />
Felfe geht, die Überlegung, dass Gehlens Abwehrchef im Auftrag seines<br />
Bosses die CIA geleimt haben könnte. Es klingt nicht gut, wenn man in<br />
den beruflichen Erinnerungen des ehemaligen BND-Kollegen Oskar<br />
Reile schon <strong>1990</strong>, und somit anderthalb Jahrzehnte vor Weiners Buch,<br />
zu lesen bekommt: „Bereits vor diesem Fall <strong>–</strong> im Winter 1952/53 <strong>–</strong><br />
hatte ich General Gehlen zwei Verdachtsmeldungen gegen den in<br />
einer Außenstelle der »Org« [der Organisation Gehlen] tätigen Heinz<br />
Felfe, einen ehemaligen SS-Obersturmführer, vorgelegt, in denen ich<br />
darauf hinwies, dass die Meldungen auf Feststellungen beruhten, die<br />
vom Verfassungsschutz in Düsseldorf getroffen waren.<br />
Mit diesen Meldungen befasste sich anschließend auftragsgemäß die<br />
Sicherheitsabteilung der »Org«. Zu meinem und anderer Mitarbeiter<br />
66
<strong>1945</strong><br />
Erstaunen wurde Felfe trotz der vorliegenden Verdachtsmeldungen in<br />
die Zentrale der »Org« geholt und ausgerechnet der Abteilung Gegenspionage<br />
zugeteilt. Felfe gewann sehr bald das Vertrauen Gehlens,<br />
während mein Stern beim hohen Chef zu sinken begann. [...]<br />
In den Jahren bis zu meinem Ausscheiden aus dem Bundesnachrichtendienst<br />
im Dezember 1961 erlebte ich noch so manches Mal, dass<br />
General Gehlen bei Entscheidungen eine unglückliche Hand hatte.<br />
Unter anderem schlug er mir und Mitarbeitern von mir bedeutende<br />
geheimdienstliche Unternehmen, die wir angebahnt hatten, aus der<br />
Hand und übertrug sie anderen.“ Es klingt ebenfalls nicht gut, wenn<br />
Marion Gräfin Dönhoff mit ihrem einzigartigen Charme dem geliebten<br />
Publikum im Juli des Jahres 1963 erläuterte: „Erst wenn man weiß, wie<br />
lange es dauert, einen verdächtigen Spion in den eigenen Reihen zu<br />
überführen, bekommt man eine Ahnung von den Schwierigkeiten.“<br />
Huch! Ja, ist es denn die Möglichkeit?<br />
In seinen Memoiren klagte der geheimnisvolle Mr. Gehlen: „Es müsste<br />
den Rahmen meines Rückblicks sprengen, wenn ich an dieser Stelle<br />
auf die zahlreichen falschen Behauptungen, Übertreibungen und Vereinfachungen<br />
eingehen würde. Ich will mich deshalb auf einige wenige<br />
Feststellungen beschränken, die nach meiner Ansicht dennoch geeignet<br />
sind, diesen schwerwiegenden Verratsfall in einem anderen Lichte<br />
erscheinen zu lassen.“ Um es vorwegzunehmen: das gelang ihm nicht.<br />
Dafür ist seine Sprache zu unsachlich. Überhaupt habe ich mich nach<br />
meinem Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus gewundert, wie<br />
ähnlich Propaganda in allen Teilen der Heimat eines Joseph Goebbels<br />
klang. Sie können das in Der Dienst auf den Seiten 286 bis 289 ja selbst<br />
nachlesen. Am Ende der Darstellung kündigt Gehlen sogar besondere<br />
seherische Qualitäten an: „Es ist damit zu rechnen, dass in Kürze unter<br />
Felfes Namen Memoiren erscheinen werden, für die das sowjetische<br />
KGB Material freigegeben hat.“ Das war ein wenig verfrüht. Im Dienst<br />
des Gegners erschien erst 1986. „In Kenntnis aller Zusammenhänge und<br />
Hintergründe habe ich indes Anlass zu der Ansicht, dass Felfe nicht so<br />
erfolgreich gearbeitet hat, wie seine Auftraggeber erwartet haben und<br />
wie es nach seinem geplanten Buch den Anschein haben wird.“ Wie<br />
67
<strong>1945</strong><br />
man das eben so betrachtet. Aber vielleicht waren „annähernd siebzig<br />
größere Geheimoperationen, die Identität von mehr als hundert CIA-<br />
Agenten und ungefähr fünfzehntausend Geheiminformationen“ seiner<br />
Auffassung nach auch noch keine Katastrophe.<br />
Im Unterschied zu Reinhard Gehlen befand das Gericht: „Seine Schuld<br />
wiegt schon angesichts des außerordentlich großen Umfangs seiner<br />
langjährigen Verratstätigkeit und der hohen Bedeutung des von ihm<br />
gelieferten Materials überschwer. Auch seine persönliche Gefährlichkeit<br />
war groß, vor allem wegen seiner dienstlichen Stellung, seiner<br />
hohen Intelligenz und seiner Gewissenlosigkeit.“<br />
Clever gingen Gericht und Medien mit der „Aufarbeitung“ dieses Falles<br />
um. Dort wurde das Augenmerk des Publikums pädagogisch wertvoll<br />
auf das eigentliche Thema der Zeit nach einem Kanzler Hitler gelenkt.<br />
„Im Juli 1963 fanden dann die Massenmedien rasch ihre Sensation: Im<br />
Prozess gegen Felfe und seine Komplicen, der leider in öffentlicher<br />
Verhandlung anlief, galt das Hauptinteresse nicht mehr dem Verräter<br />
und seinem Tun, sondern der angeblich »verfehlten Personalpolitik«<br />
des Dienstes. Felfes Vergangenheit, er war während des Krieges als<br />
Kriminalbeamter in den SD übernommen worden, was er verschwiegen<br />
hatte, stand im Mittelpunkt zahlreicher Presseartikel, in denen<br />
der Dienst mit einem ebenso subjektiven wie oberflächlichen Analogieschluss<br />
als »Sammelstelle für alte Nazis« bezeichnet wurde.“ Damit<br />
leisteten die Medien ihren Beitrag zur Verschleierung der Umstände<br />
und zugleich zur antifaschistischen Umerziehung der Westdeutschen.<br />
Der leider in öffentlicher Verhandlung anlief. Reinhard Gehlen war ein<br />
Meister seines Fachs. Soll Tim Weiner berichten, wie der Fall Felfe in<br />
den USA gesehen wurde, wo sowohl Gehlen als auch Felfe unter der<br />
Rubrik alte Nazis liefen : „Da es der US-Armee nicht gelang, die Organisation<br />
Gehlen unter ihre Kontrolle zu bringen, obgleich sie deren<br />
Operationen freigiebig finanzierte, versuchte sie wiederholt, sie in die<br />
CIA abzudrängen. Viele von Richard Helms’ Mitarbeitern waren strikt<br />
dagegen. Einer gab zu Protokoll, es schüttele ihn beim Gedanken, mit<br />
68
<strong>1945</strong><br />
einem Netz von »SS-Leuten mit bekannter Nazi-Vergangenheit« zusammenzuarbeiten.<br />
Ein anderer meinte warnend: »Der amerikanische<br />
Nachrichtendienst ist ein reicher Blinder, der die Abwehr als Blindenhund<br />
benutzt. Das einzige Problem: die Leine ist viel zu lang.« Helms<br />
selbst äußerte die nur allzu berechtigte Befürchtung: »Ohne Zweifel<br />
wissen die Russen, dass wir diese Operation durchführen.«<br />
»Wir wollten da nicht ran«, sagte Peter Sichel, damals in der CIA-Zentrale<br />
verantwortlich für die deutschen Operationen. »Das hatte gar<br />
nichts mit Moral oder Ethik zu tun, sondern in erster Linie etwas mit<br />
Sicherheit.«<br />
Doch im Juli 1949 übernahm die CIA, unter dem hartnäckigen Druck<br />
der Armee, die Organisation Gehlen. Gehlen residierte in einem außerhalb<br />
Münchens gelegenen ehemaligen Nazi-Hauptquartier und nahm<br />
Dutzende prominenter Kriegsverbrecher mit offenen Armen in seinen<br />
Kreis auf. Ganz wie Helms und Sichel befürchtet hatte, war die Organisation<br />
Gehlen auf höchster Ebene von den Nachrichtendiensten Ostdeutschlands<br />
und der Sowjetunion unterwandert.<br />
Der schlimmste Maulwurf kam erst ans Tageslicht, als sich die Organisation<br />
Gehlen schon längst in den westdeutschen Bundesnachrichtendienst<br />
verwandelt hatte. Gehlens langjähriger Chef der Spionageabwehr<br />
hatte die ganze Zeit für Moskau gearbeitet.“ Das war Herr Felfe.<br />
Wen es interessiert, wie Heinz Felfes Verhältnis zu den Kameraden der<br />
braunen Fraktion beschaffen war, kann auch gleich Reinhard Gehlens<br />
Autobiographie lesen. Felfe mochte die blinden Fanatiker auch keinen<br />
Deut mehr als sein Herr und Meister. Das dürfte Felfe in dem Jahrzehnt<br />
mit Gehlen aufgefallen sein. Nichtsdestotrotz rückt er ihn in seinem<br />
Werk in die braune Schmuddelecke und bestätigt so das braune Image<br />
des Strategen in Pullach. Daneben räumt Heinz Felfe schon ein, dass im<br />
BND nicht nur üble Gesellen beschäftigt waren: „Unter den alten, langjährigen<br />
Mitarbeitern des RSHA [Reichssicherheitshauptamt], die sich<br />
einen Platz in der Organisation suchten, waren subjektiv ehrliche,<br />
anständige Menschen, sogenannte Idealisten, die nicht die Naziideologie<br />
vertreten, sondern mit gutem Gewissen ihre dienstlichen Pflichten<br />
erfüllt und sich in jeder Hinsicht korrekt verhalten hatten.“<br />
69
<strong>1945</strong><br />
Felfe brachte die Widersprüche auf den Punkt: „Wie war es eigentlich<br />
gekommen, dass unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation,<br />
nach dem Untergang des Dritten Reichs und der Auflösung der Wehrmacht,<br />
Rudimente dieses Kriegsapparates weiterexistieren und mit<br />
amerikanischer Hilfe ihre Arbeit fortsetzen konnten, als wäre nichts<br />
geschehen? Wie war es möglich, dass die Amerikaner dem endlich niedergerungenen<br />
Feind erlaubten, gegen den bisherigen Verbündeten<br />
dieselbe Arbeit fortzusetzen, die in der 12. Abteilung des Generalstabs<br />
des Heeres, der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO), bis zum Kriegsende<br />
betrieben worden war? Und was waren das für Leute, die ihr Leben<br />
als Generalstabsoffiziere fortsetzen durften, die keine Umerziehung<br />
durchzumachen brauchten, wie es wenigstens die Briten mit den<br />
Kriegsgefangenen in Wilton Park gemacht hatten, die nach ihrer Auffassung<br />
geeignet sein konnten, am Aufbau eines neuen deutschen<br />
Staatswesens mitzuarbeiten?“ Er hatte Fragen über Fragen, bei denen<br />
Felfe seine Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte. Fragen, auf die<br />
der Amerikaner Tim Weiner auch zwei Jahrzehnte nach dem Ende des<br />
Kalten Krieges noch immer keine Antworten fand. Er suchte aber auch<br />
in Korea, in China, in der Sowjetunion und zu Hause in Amerika nach<br />
guten Antworten. Bei den Deutschen geht er jedoch in CIA <strong>–</strong> Die ganze<br />
Geschichte nicht ins Detail. In <strong>Deutschland</strong> war alles klar. Wo die Infos<br />
hergekommen waren, war jedoch der neuralgische Punkt nach diesem<br />
Krieg. Dort hätten seine Analysen beginnen und enden müssen.<br />
Selbst der Umstand, dass lange vor Felfes bösem Tun Tausende Blitz-,<br />
Schock- und Eilmeldungen in den Monaten direkt nach dem Weltkrieg<br />
namentlich aus Berlin, Wien und aus den Kriegsgefangenenlagern in<br />
<strong>Deutschland</strong> kamen, weckte bei Weiner nicht den Verdacht, es könnte<br />
sich eventuell um eine Verschwörung unter diesen Agenten gehandelt<br />
haben. Stattdessen vermutet er hinter dieser Flut an falschen Infos die<br />
Gier nach Produkten wie Zigaretten. Sehr verständnisvoll. Nach den<br />
Worten von Weiner traf die Informationsschwemme auf Amerikaner,<br />
die nicht in der Lage waren, Dichtung von Wahrheit zu unterscheiden.<br />
Schade auch.<br />
70
<strong>1945</strong><br />
Putzig ist natürlich auch die Passage, in der Felfe vermerkt, er habe<br />
Anfang der fünfziger Jahre Herbert Wehner zum ersten Mal getroffen,<br />
der „Vorsitzender irgendeines Bundestagsausschusses“ gewesen sei. Es<br />
muss erstaunen, dass ihm entfallen war, dass Wehner damals der Vorsitzende<br />
des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche und Berliner<br />
Fragen war, denn er selbst war zu dieser Zeit im Bundesministerium<br />
für gesamtdeutsche Fragen beschäftigt <strong>–</strong> ein guter Grund, um Herbert<br />
Wehner hin und wieder zum ersten Mal zu begegnen. Was sich durch<br />
logisches Kombinieren zum Verdacht verdichtete, ist beim Lesen der<br />
Autobiographie Heinz Felfes zur Gewissheit geworden. Natürlich hat<br />
Felfe für Gehlen böse Planungen der Amerikaner den Sowjets verraten.<br />
Wissenswert ist ebenfalls, dass ihn im Vorfeld seiner Aktivitäten in der<br />
Organisation Gehlen der britische Geheimdienst MI 6 fallen gelassen<br />
hatte, weil man bei ihm schon im Jahr 1946 eine Doppelagententätigkeit<br />
vermutet hatte, wie Wikipedia zu berichten weiß. Er selbst konnte<br />
sich daran jedoch nur noch schwach erinnern: „Vorher hatte ich mich<br />
übrigens bei der Polizei beworben, nachdem ich durch mein Studium<br />
in Bonn die Voraussetzungen dafür geschaffen hatte. Die Engländer<br />
verhinderten jedoch meine Einstellung. Ihre Gründe dafür sind mir bis<br />
heute unbekannt.“ Genauso unbekannt wie der MI 6. Vielleicht noch<br />
ein Wort zu Wikipedia. Dort wurde Heinz Felfes Buchtitel Im Dienst des<br />
Gegners <strong>–</strong> Autobiographie kreativ umgewandelt in Im Dienst des Gegners <strong>–</strong><br />
10 Jahre Moskaus Mann im BND. Falsche Zitate sind kein Ost-Phänomen.<br />
Bleibt nur noch anzumerken, dass Heinz Felfe von einer sowjetfreundlichen<br />
Uncle-Joe-Stimmung in America nichts wusste, die andere Zeitzeugen<br />
wie Siegfried Zoglmann allerdings nach <strong>1990</strong> bestätigten. Dafür<br />
untermauerte Heinz Felfe mit Insider-Wissen eine Weltverschwörung<br />
gegen <strong>Deutschland</strong>. Ihm war in den Jahren des Weltkrieges zu Ohren<br />
gekommen, dass Briten und Amerikaner <strong>Deutschland</strong> teilen und gegen<br />
den russischen Bären in Marsch setzen wollten. Andererseits stellte er<br />
auf Seite 149 fest, dieser Kalte Krieg habe erst „Mitte 1947“ eingesetzt.<br />
Das war dann aber nicht vor sondern nach dem Zusammentreffen der<br />
Amerikaner mit Gehlen. Übrigens berichtete auch der amerikanische<br />
Aufseher Critchfield von den Auswirkungen dieser Stimmung. James<br />
71
<strong>1945</strong><br />
Forrestal, damals Marineminister der Vereinigten Staaten, war auf die<br />
Idee gekommen, in einem Crash-Kurs denjenigen grundlegende Kenntnisse<br />
über Europa zu vermitteln, die man dort einzusetzen gedachte.<br />
„Mehrere Professoren hielten Vorlesungen über russische Geschichte.<br />
Sechs Monate nach unserem Sieg in Europa galt Russland ja im Großen<br />
und Ganzen noch immer als großer Verbündeter unseres Landes, und<br />
zumindest ein Professor für Volkswirtschaft hob den Vorzug und die<br />
Erfolgsgeschichte der industriellen Entwicklung Russlands unter Jossif<br />
Stalin in den Himmel.“<br />
Je mehr Darstellungen ich zur Nachkriegsgeschichte lese, um so besser<br />
fügen sich die Puzzleteile zusammen und ergeben ein Bild. Anders als<br />
bei einem Puzzlespiel gibt es im richtigen Leben aber deutlich mehr<br />
Einzelteile als für das Bild nötig sind, so dass es darauf ankommt, die<br />
brauchbaren von den unbrauchbaren Teilen zu trennen, um langsam<br />
ein realistisches und lebenstaugliches Bild vor seinem geistigen Auge<br />
zu entwickeln. Es war ganz gewiss eine gute Idee Im Dienst des Gegners<br />
von Heinz Felfe erst zu lesen, nachdem ich das Feld rundum abgegrast<br />
hatte. Dieses Meisterwerk der deutschen Literatur steht in der großen<br />
Tradition von Wissenschaftlern wie Wilhelm und Jacob Grimm, wenn<br />
es sich bei den Bildern auch auf schwarz-weiße Fotos beschränkt. Der<br />
Künstler zeigt sich befähigt mit der Muttersprache umzugehen wie ein<br />
Chamäleon mit seinen Farben. Angepasst an den Inhalt changiert er in<br />
einem beeindruckenden Spektrum zwischen der nüchternen Sprache<br />
des Agenten im Krieg, der keinen Zweifel lässt an seinen fachlichen<br />
Qualitäten und seiner Eignung, und einer Sprache, die bis hin zu den<br />
Feinheiten der Wortwahl jeden Journalisten des Neuen <strong>Deutschland</strong> aus<br />
Ost-Berlin in den Schatten stellt. In dieser Art schreibt kein Eiferer für<br />
eine Ideologie. So schreibt ein Profi, der weiß, wie Leute funktionieren.<br />
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge stelle ich fest, dass<br />
der Ost-Berliner 001 Markus Wolf nach der richtigen Methode vorging;<br />
er setzte die Puzzleteile zusammen; und er hatte Recht, als er meinte,<br />
dass die gegnerische Seite auch nur mit Wasser kochte. Bleibt nur zu<br />
ergänzen, dass ein Gericht, das ein Hobbykoch wie Wolf mit Wasser<br />
72
<strong>1945</strong><br />
bereitet, häufig nicht annähernd die Qualität hat wie ein Gericht, das<br />
ein Fünf-Sterne-Koch wie Gehlen mit dem gleichen Wasser kreiert.<br />
Jossif Wissarjonowitsch Stalin dürfte es nach dem Interventionskrieg<br />
vieler Staaten gegen das kommunistische Land Anfang der zwanziger<br />
Jahre und dem deutschen Überfall im Sommer 1941 vorrangig um die<br />
Sicherheit seines Vielvölkerstaates sowie um Reparationsleistungen<br />
für die Kriegsschäden als Wiederaufbauhilfe gegangen sein. Darüber<br />
hinaus wünschte er einen Friedensvertrag mit dem besiegten Land bei<br />
Anerkennung der polnisch-deutschen Grenze an der Oder und der<br />
Görlitzer Neiße. Weitere Ziele, wie eine Ausdehnung der sowjetischen<br />
Innenpolitik auf <strong>Deutschland</strong> oder einen Teil davon, durften den übergeordneten<br />
Zielen zumindest nicht im Wege stehen. Wenn ich westdeutsche<br />
Propaganda lese, die von einer geplanten Bolschewisierung<br />
ganz <strong>Deutschland</strong>s spricht, frage ich mich unwillkürlich, wie das hätte<br />
funktionieren sollen. Der Westen stand ja unter dem Schutz von drei<br />
Mächten; hätte Stalin sie denn alle wegbomben sollen? Dann hätte er<br />
auf den Ärger nicht lange warten müssen. Pläne dieser Art hatten die<br />
Amerikaner jedoch nach Gehlens vermeintlichen Kassandra-Sprüchen<br />
jahrzehntelang befürchtet.<br />
Das Bedürfnis nach Sicherheit für die Sowjetunion dürfte sich weiter<br />
verstärkt haben, nachdem der amerikanische Präsident im August am<br />
Beispiel zweier japanischer Städte demonstriert hatte, dass er in der<br />
Lage und bereit war, Atomwaffen einzusetzen. Dafür sprechen auch<br />
Stalins Verzicht auf den Einfluss in Finnland und in Österreich, nachdem<br />
ihm diese Länder Sicherheitsgarantien gegeben hatten. Auch für<br />
<strong>Deutschland</strong> stand dieses Angebot bis Mitte der fünfziger Jahre.<br />
Da es nach <strong>1945</strong> aber weder zu einem Friedensvertrag noch zu Sicherheitsgarantien<br />
oder zu einer Festlegung völkerrechtlich verbindlicher<br />
Grenzziehungen kam, blieb Jossif Stalin gar nichts anderes übrig, als<br />
seine Truppen dort stehen zu lassen, wo sie waren, und abzuwarten,<br />
wann sich in Bonn irgendetwas bewegt. Vielleicht darf man ja auch bei<br />
einem Diktator strategisches Denken annehmen. Richtig ist allerdings,<br />
73
<strong>1945</strong><br />
dass sich im Windschatten der großen Politik deutsche Kommunisten<br />
ihren Lebenstraum vom Sozialismus auf heimatlichem Boden erfüllte.<br />
Über die Bemühungen Walter Ulbrichts, nichtkommunistische Kräfte,<br />
gegen die die Sowjets damals durchaus nichts hatten, aus den lokalen<br />
Verwaltungen hinauszudrängen, kann man eine gute Darstellung in<br />
einem Buch des Historikers Norbert Podewin unter dem Titel Walter<br />
Ulbricht <strong>–</strong> Eine neue Biographie finden. Die Russen waren nach diesem<br />
Krieg schon froh, als sie in <strong>Deutschland</strong> nicht nur auf Nazis stießen.<br />
Dass der Moskauer Staatschef <strong>1945</strong> doch die Sowjetisierung eines Teils<br />
von <strong>Deutschland</strong> oder eine proletarische Revolution am Rhein und in<br />
den schönen Alpen angeregt hätte, wurde meines Wissens noch von<br />
niemandem mit Quellen belegt. Davon völlig unbeeindruckt wird es<br />
immer wieder behauptet. Es gab ja wirklich einmal eine Formulierung<br />
von einer Weltrevolution. Aber das Thema war meines Erachtens vom<br />
Tisch, als Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin sich 1917 mit seiner<br />
Vorstellung durchgesetzt hatte, es in einem einzelnen und mit seinem<br />
Russland obendrein in einem ökonomisch recht schwach entwickelten<br />
Land zu versuchen. Mit Unterstützung durch den Deutschen Kaiser.<br />
Die Idee einer Weltrevolution bezog sich darüber hinaus auf Aufstände<br />
des Proletariats gegen die Bourgeoisie in den einzelnen Ländern. Von<br />
Kriegen, die eine Revolution in ein Land tragen sollten, war meines<br />
Wissens nirgendwo die Rede. Ich lasse mich aber gern berichtigen. Die<br />
zahlreichen Äußerungen über den Optimismus, dass sich Proletarier in<br />
den Ländern des Westens von der Ausbeutung bald befreien würden,<br />
dürfen ihrerseits als innenpolitische Demagogie verstanden werden.<br />
Das fruchtete freilich auch in den Weiten der Sowjetunion eher als in<br />
Ungarn, in der ČSSR oder der DDR, wo sich schnell herumsprach, dass<br />
es mit der Ausbeutung der Proletarier im Westen nicht überschlimm<br />
gewesen sein kann und dass dort sogar ehemalige Proletarier mit dem<br />
Arbeitslosengeld besser lebten als ein Werktätiger im eigenen Land.<br />
Abgesehen davon kann ich mir vorstellen, dass die Moskauer Führung<br />
ohne die Auseinandersetzung zwischen den späteren sozialistischen<br />
Ländern und den Demokratien des Westens nicht so brachial mit den<br />
74
<strong>1945</strong><br />
Kritikern ihres Systems umgegangen wäre, was ihr in der Folge viele<br />
weitere Kritiker erspart hätte. Dass es übrigens einen Zusammenhang<br />
zwischen den Kriegsvorbereitungen in Berlin und den Gewaltexzessen<br />
in der Sowjetunion in den späten dreißiger Jahren gab, wird jetzt noch<br />
nicht verraten. Vorfreude ist und bleibt die schönste Freude.<br />
Die rigorose Demontage von Industriegütern und die Abpressung der<br />
Reparationen für ganz <strong>Deutschland</strong> aus der einen Zone, auf die Stalin<br />
nach dem Beginn des Kalten Krieges noch Zugriff hatte, deuten übrigens<br />
auch nicht darauf hin, dass dem Chef in Moskau der Aufbau eines<br />
Vasallenstaates in <strong>Deutschland</strong> vorgeschwebt hätte. Nach den Worten<br />
von Helmut Kohl hat die DDR Reparationen in Höhe von umgerechnet<br />
727 Milliarden D-Mark gezahlt. John Dornberg veröffentlichte 1968 in<br />
Wien ein Buch, in dem es hieß: „Erst nach der Genfer Konferenz von<br />
1955, als die diversen Wiedervereinigungspläne ad acta gelegt worden<br />
waren, erhielt Ulbricht grünes Licht zum wirtschaftlichen Aufbau.“ So<br />
war das. Und wäre Stalin nicht durch die Bonner Verweigerung einer<br />
Grenzanerkennung und die offizielle Unterstützung Bonns durch die<br />
NATO-Partner zum vermeintlich einzigen militärischen Garanten des<br />
polnischen Staates geworden, hätte er seine Truppen auch dort nicht<br />
belassen können. Die Polen haben die sowjetischen Truppen genauso<br />
widerwillig ertragen wie die Westdeutschen die US-Amerikaner oder<br />
die Briten und die Franzosen. Fragen Sie mal die älteren Semester.<br />
Carlo Schmid, der nach dem Krieg und bis Anfang der siebziger Jahre<br />
in der Führung der SPD war, brachte von einem Besuch in Polen eine<br />
Bestätigung dafür mit: „Ein geistlicher Würdenträger sagte mir: Jeder<br />
Versuch Polens, sich von dem sowjetischen Bündnis zu lösen, würde<br />
darauf hinauslaufen, dass es sich zwischen zwei Stühle setze, und das<br />
werde man unter allen Umständen zu vermeiden suchen, auch wenn<br />
man die Freundschaft der Sowjetunion teuer zu bezahlen habe. Das für<br />
das polnische Volk Wesentliche werde die Kirche zu wahren wissen.“<br />
Wenn es in den unabhängigen Medien der BRD auch so selten deutlich<br />
gesagt wird, erfüllt es mich doch mit Genugtuung, dass zumindest hin<br />
75
<strong>1945</strong><br />
und wieder einmal so etwas zu finden ist: „Ein großer Teil der Bundesbürger<br />
glaubt ganz ehrlich, dass die Russen und die deutschen Kommunisten<br />
<strong>Deutschland</strong> gespalten hätten, und nicht sie selbst und die<br />
Westmächte.“ Sie glauben das freilich deshalb ganz ehrlich, weil Ihnen<br />
so selten eine andere Wahrheit zu Ohren kommt. Andererseits betrübt<br />
es mich durchaus, wenn Sebastian Haffner in seinem zweiten Teilsatz<br />
nicht nur den Eindruck von einer mächtigen Weltverschwörung gegen<br />
<strong>Deutschland</strong> hätschelt, sondern sein dumm gehaltenes Wahlvolk auch<br />
noch für diese jahrzehntelange Spaltung unseres Landes in Haftung<br />
nimmt. Ein jeder denkt nur, was er denken kann. Und für die richtigen<br />
Ableitungen benötigt man korrekte Informationen. Sonst wird man<br />
und frau politikverdrossen. Politikverdrossen macht allerdings auch,<br />
dass derselbe Schlauberger (freilich 17 Jahre zuvor) seine Leserschar<br />
über Staatsmänner im Osten und im Westen „informiert“ hatte, die ihre<br />
Politik angeblich auf die dauerhafte Teilung <strong>Deutschland</strong>s gründeten.<br />
Und an den Text aus diesem bundesdeutschen Propagandaschinken<br />
Die SBZ von A bis Z <strong>–</strong> Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische<br />
Besatzungszone <strong>Deutschland</strong>s erinnern Sie sich doch bestimmt: „Immer<br />
wieder behauptet das Regime der SBZ, <strong>Deutschland</strong> sei nach <strong>1945</strong> von<br />
den Westmächten und politischen Kreisen Westdeutschlands gespalten<br />
worden. Bei seiner Wahl zum Präsidenten der Republik betonte<br />
Wilhelm Pieck am 11. 10. 1949 vor der Volkskammer: »Von den westlichen<br />
Besatzungsmächten . . . wurde <strong>Deutschland</strong> gespalten«, doch<br />
»niemals wird die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s . . . von der DDR anerkannt<br />
werden«.“ Hauptsache immer drei Punkte. Und wer stand da noch?<br />
Viel zu spät, um diese Amerikaner noch von ihrer Verfolgungsangst<br />
abzubringen, kam schlussendlich die Entwarnung: „Doch die Spekulationen<br />
der Nachrichtendienstler über die Sowjets waren Bilder, wie sie<br />
ein Zerrspiegel zurückwirft. Stalin hatte weder einen umfassenden<br />
Plan zur Beherrschung der Welt noch die Mittel, einen solchen durchzusetzen.<br />
Der Mann, der nach seinem Tod schließlich die Macht in der<br />
Sowjetunion übernahm, nämlich Nikita Chruschtschow, erinnerte sich<br />
später, beim Gedanken an eine weltweite Auseinandersetzung mit<br />
Amerika habe Stalin »gezittert« und »gebibbert«.“<br />
76
<strong>1945</strong><br />
Erinnern Sie sich, wie Herr Prof. Heinrich August Winkler versuchte,<br />
uns den Ursprung des Kalten Krieges zu erläutern? Die Einschätzung,<br />
die Dr. Helmut Kohls Chefunterhändler bei den „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen<br />
des Jahres <strong>1990</strong>, Dieter Kastrup, 1991 über die politischen<br />
Ziele Moskaus nach <strong>1945</strong> abgab, klingt dann schon nachvollziehbarer:<br />
„Der Zweite Weltkrieg war von der Sowjetunion zur Befreiung ihres<br />
Territoriums und der anschließenden Niederwerfung des Nationalsozialismus<br />
geführt worden. Die dabei erbrachten ungeheuren Opfer<br />
sind bekannt. Die Behandlung des besiegten <strong>Deutschland</strong> war in verschiedenen<br />
Absprachen der vier Siegermächte niedergelegt worden,<br />
insbesondere im sogenannten Potsdamer Abkommen.<br />
Die Sowjetunion hat stets den Standpunkt bezogen, die Politik, die sie<br />
in ihrer Besatzungszone betrieben habe, sei eine der Entnazifizierung,<br />
Entmilitarisierung und Demokratisierung gewesen. Diese Politik ist<br />
von der sowjetischen Gesellschaft als Frucht der erbrachten Opfer begriffen<br />
worden. [Es ging um die Enteignung von Großgrundbesitz auf<br />
Grund des Potsdamer Abkommens bzw. um die Rückgabe der Flächen.]<br />
Sie nachträglich zur Disposition des besiegten <strong>Deutschland</strong> zu stellen,<br />
hätte bei der sowjetischen Bevölkerung das Gefühl wecken können, die<br />
sowjetische Nachkriegspolitik in <strong>Deutschland</strong> sei nutzlos geblieben,<br />
die Opfer der sowjetischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg seien<br />
vergebens gewesen.“ Sagte der CDU-Mann.<br />
Für die Meinungsbildung über die sowjetische Nachkriegspolitik ist es<br />
durchaus von Bedeutung, dass die Sowjetunion erst 1949 über erste<br />
atomare Sprengkörper verfügte; die Jahre zuvor aber entschieden über<br />
das Schicksal Europas in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts und<br />
über viele Biographien, darunter auch den Verbleib hunderttausender<br />
deutscher Soldaten in der Kriegsgefangenschaft und die Karriere des<br />
Dachdeckerlehrlings Erich Honecker, die ihn an die Spitze eines neuen<br />
deutschen Staates führte. Dem Bürgermeister von Ost-Berlin, Friedrich<br />
Ebert, ließ er 1971 durchaus nicht den Vortritt, wie mir der Historiker<br />
Norbert Podewin berichtete. Friedrich Eberts Papa war ja wenigstens<br />
Reichspräsident. Damit konnte in Bonn keiner dienen.<br />
77
<strong>1945</strong><br />
Interessant ist natürlich, wie sich letztlich auch die Sowjetunion durch<br />
den Bau von Atomwaffen nach 1949 allmählich zu einer Supermacht<br />
mauserte. Vom Kriegsende bis 1949 waren die Sowjets ja noch in der<br />
misslichen Lage, auf eventuell herunterfallende amerikanische Atombomben<br />
mit dem Panzer T 34 beziehungsweise mit ihrem erstklassigen<br />
Maschinengewehr Kalaschnikow reagieren zu müssen. Richtig gut wäre<br />
es dann aber schon gewesen, hätten sie auch eigene Atombomben zur<br />
Abschreckung vorrätig gehabt. Auch an diesem Frontabschnitt waren<br />
die Deutschen hilfreich. Hören Sie, was der Wissenschaftler Manfred<br />
von Ardenne zur Aufhellung der Hintergründe beitrug: „Im Sommer<br />
1944 besuchte uns Dr. Hermann von Siemens zum letzten Mal. [...] Bei<br />
dieser Gelegenheit nahmen wir kein Blatt vor den Mund. Der Krieg war<br />
verloren. Wir besprachen Möglichkeiten, wie wir unsere Mitarbeiter in<br />
dem zu erwartenden Chaos bei Kriegsende am besten schützen konnten.“<br />
Obwohl ihm zuvor „eine Bescheinigung ausgestellt worden [war],<br />
die es mir ermöglicht hätte, zusammen mit meiner Familie sowie den<br />
meisten Anlagen und Dokumenten Berlin zu verlassen und einen Ort<br />
westlich der Elbe aufzusuchen“, entschied er sich, ohne ein Motiv zu<br />
nennen, „zum Bleiben <strong>–</strong> und damit für die sowjetische Seite. [...] Das so<br />
fest zusammengewachsene wissenschaftlich-technische Kollektiv mit<br />
seiner vielfältigen Tradition zerflatterte nicht im Sturmwirbel der Ereignisse.“<br />
So wurde nichts aus dem mit dem Besitz der großen Bombe<br />
verbundenen amerikanischen Traum „die Mächte des Bösen, ja alle<br />
Mächte zu verabschieden und sich in einem Weltstaat zusammenzufinden“.<br />
Noch nebulöser erläuterte Wernher von Braun, wie er zum<br />
Freund und Helfer der Amis wurde. Der Biograph Johannes Weyer dazu:<br />
„Wieso von Braun sich für die USA entschied, hat er nie befriedigend<br />
erklären können.“ Was Braun als Verhaftung deklarierte, deute ich als<br />
Begleitschutz der SS nach Bayern. Dort wartete er, genau wie Reinhard<br />
Gehlen, in den Alpen das Ende des Krieges ab, und dann passierte das<br />
Unerhörte: „Kammler [der SS-Chef von Peenemünde] war spurlos verschwunden,<br />
und die Kontrolle durch die SS lockerte sich in den letzten<br />
Kriegstagen. So konnte der Entschluss fallen, die Kontaktaufnahme mit<br />
den Amerikanern zu wagen.“ So schön können deutsche Märchen sein.<br />
78
<strong>1945</strong><br />
Wenn aber von der Sowjetunion gar keine Bedrohung für den Rest der<br />
Welt ausging, dann muss das doch aber ein paar Agenten aufgefallen<br />
sein, die gegen das Reich des Bösen eingesetzt waren. Nach ihnen habe<br />
ich genauso gefahndet, wie nach Wolfs Agenten in der Bundesrepublik,<br />
von denen ja irgendeiner bemerkt haben muss, dass es auf gar keinen<br />
Fall das Ziel der Bonner Staatsführung gewesen sein kann, sich Unsere<br />
DDR „einzuverleiben“, wie es ja in der Ost-Berliner Propaganda immer<br />
hieß. Während ich leider keinen Hinweis auf solche Gedankengänge<br />
bei einem DDR-Agenten in der BRD fand, entdeckte ich bei Tim Weiner<br />
einen Ami, der seinem eigenen Verstand mehr traute als der üblichen<br />
antisowjetischen Propaganda zu Hause. Im Jahr des Amtsantritts von<br />
Gorbatschow 1985 wurde Aldrich Hazen Ames der Leiter der Spionageabwehr<br />
der Amerikaner gegen die Sowjetunion und Osteuropa. „Er<br />
hielt die Behauptung für absurd, dass die Bedrohung durch die Sowjetunion<br />
immens sei und immer größer werde. Er war überzeugt davon,<br />
es besser zu wissen. Er erinnerte sich, dass er dachte: »Ich kenne die<br />
Sowjetunion in- und auswendig, und ich weiß, was für die Außenpolitik<br />
und für die nationale Sicherheit [der Vereinigten Staaten] das Beste<br />
ist. Und entsprechend werde ich handeln.«“ Von dieser Erinnerung erfuhr<br />
Weiner bei einem Besuch im Bezirksgefängnis von Alexandria in<br />
den Weiten der USA, da der arme Kerl das eigenständige Denken zum<br />
Wohle seines Landes jetzt mit einer lebenslangen Haftstrafe bezahlt.<br />
Beginnend mit Kanzler Adenauer pflegte derweil die Staatsführung in<br />
Bonn unter den Kanzlern Erhard, Kiesinger, Schmidt und Kohl weiter<br />
sorgfältig die zarte Blume dieses Kalten Krieges. Nach Gesprächen mit<br />
Bonner Politikern im Jahr 1953 sah der Journalist Sebastian Haffner in<br />
Bonn zwei außenpolitische Strömungen am Werk. Die einen wollten<br />
mithelfen, „den Kalten Krieg zu beenden, um die Teilung zu überwinden,<br />
die <strong>Deutschland</strong> nicht durch eigene Schuld erlitten hat, und die<br />
Konsequenzen seines verlorenen Krieges zu tragen. Andere vertreten<br />
die Ansicht, dass es im deutschen Interesse liege, auf die Wiedervereinigung<br />
zu verzichten und statt dessen den Kalten Krieg anzuheizen,<br />
um schließlich die Konsequenzen des eigenen, verlorenen Krieges zu<br />
annullieren. Der große politische Kampf in <strong>Deutschland</strong> wird in den<br />
79
<strong>1945</strong><br />
nächsten vier Jahren zwischen diesen beiden Lagern stattfinden.“ Bei<br />
den nächsten vier Jahren blieb es jedoch nicht, und der Kalte Krieg<br />
und das schöne Leben in West-<strong>Deutschland</strong> zogen sich bis <strong>1990</strong> hin.<br />
Bei Willy Brandt, der sich rührend, wenn auch vergeblich, um ein Ende<br />
des Kalten Krieges bemühte, findet sich die folgende Einschätzung des<br />
ersten Kanzlers: „Adenauers Nachkriegs-Konsequenz zielte darauf, die<br />
Verhältnisse zu stabilisieren. Er fürchtete in diesen Jahren nichts<br />
mehr, als dass sich die Siegermächte einander wieder nähern könnten.<br />
Das sah ich anders. Er verneinte die Chance zur deutschen Einheit und<br />
nutzte die Vorteile Westeuropas für den westdeutschen Staat. Dem<br />
ließ sich <strong>–</strong> in dem Maße, in dem die Voraussetzung ohne Alternative<br />
blieb <strong>–</strong> immer weniger widersprechen. [...] Der »Alte« hat über weite<br />
Strecken anders geredet als gedacht. [...] Ob sich mit einem anderen <strong>–</strong><br />
gesamtdeutschen <strong>–</strong> Ansatz mehr hätte erreichen lassen, bleibt eine<br />
offene Frage.“<br />
Bei Strauß liest sich dieses Motiv so: „So reagierte er außerordentlich<br />
empfindlich, manchmal überempfindlich, geradezu gereizt, wo immer<br />
sich eine Verständigung oder Annäherung zwischen den USA und der<br />
Sowjetunion abzeichnete. Dann herrschte bei ihm Alarmstimmung.<br />
Er hatte eine Art »Cauchemar von Potsdam«, eine tiefeingewurzelte<br />
Angst, dass sich die Sieger und ehemaligen Alliierten über <strong>Deutschland</strong><br />
hinweg einigen könnten.“<br />
Dass Dr. Adenauer Angst haben musste, dass die Amerikaner Moskau<br />
dabei ein Stück der freien Welt überlassen hätten, kann mit Sicherheit<br />
ausgeschlossen werden. Also hatte Adenauer Angst, dass Russen und<br />
Amerikaner bei einem Festessen im Kreml im Interesse ihrer Staatskassen<br />
die Vereinigung <strong>Deutschland</strong>s und Europas verfügten, weil sie<br />
doch sahen, dass sich die Deutschen längst mit der neuen Gebietslage<br />
abgefunden hatten. Dann war es also ernst gemeint, als es in einem<br />
Informationstext über das Berliner Lokal »Staev«, benannt nach der<br />
ehemaligen Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, lächelnd hieß,<br />
man habe in den Politiker-Klausen zu Bonn „die Welträtsel gelöst“.<br />
80
<strong>1945</strong><br />
Diese Formulierung war in gesellige Worte eingepackt: „Dieses Milieu<br />
traf sich später in der »Schumann-Klause« in Bonn <strong>–</strong> man lebte dort,<br />
machte die Nacht zum Tag. Der Staatsschutz vom K 14 saß immer<br />
dabei. Demonstrationen wurden vorbereitet, die Welträtsel gelöst und<br />
endlos gezecht.“ Zum Zechen wird man den Staatsschutz ja vielleicht<br />
nicht benötigt haben. Unter dem Jahr 1949 werden Sie mehr zu diesem<br />
„Milieu“ erfahren.<br />
Einer einvernehmlichen Lösung der deutschen Frage unter den vier<br />
Alliierten stand eine Anerkennung der Westverschiebung Polens auf<br />
Kosten ostdeutscher Gebiete auf gar keinen Fall im Wege, auch wenn<br />
die drei westlichen Mächte den Deutschen selbst die Anerkennung der<br />
neuen Ostgrenze überlassen wollten. So sollten Reaktionen wie die auf<br />
den Vertrag von Versailles (1919) vermieden werden. Damit hatten die<br />
Russen den Schwarzen Peter allein in der Hand. Auf der Potsdamer<br />
Konferenz im Sommer <strong>1945</strong> hatten sich die Alliierten nur geeinigt,<br />
eine schlussendliche Grenzregelung erst in einer Friedenskonferenz<br />
vorzunehmen. Und an diesem juristischen Haken setzten die Bonner<br />
Spitzenpolitiker an.<br />
Die Verhinderung einer Friedenskonferenz hatte zumindest für die<br />
Einwohner der westlichen Besatzungszonen einen recht wohltuenden<br />
„Nebeneffekt“. Der spätere Ministerpräsident von Bayern, Franz Josef<br />
Strauß, schrieb darüber in seinen unbedingt lesenswerten Memoiren:<br />
„Wenn wir einen Friedensvertrag schließen, dann verlangt man von<br />
uns Reparationen. Da wir aber nicht bereit und nicht in der Lage sind,<br />
Reparationen zu zahlen, wollen wir auch keinen Friedensvertrag. Die<br />
höhere und die niedere Mathematik der Politik trafen hier zusammen<br />
<strong>–</strong> das Offenhalten der deutschen Frage und das Vermeiden gigantischer<br />
Reparationszahlungen.“ Das ist einer jener von mir so liebevoll<br />
gesammelten Texte, die ohne jeden Kommentar klären, dass die DDR<br />
kein Kind der bösen Russen war, sondern vielmehr ein Kind der guten<br />
Deutschen. Der besseren Deutschen. Wenn man die „deutsche Frage“<br />
offenhalten wollte, durfte sie gar nicht beantwortet werden. George<br />
Bush erwies Dr. Kohl somit einen Bärendienst, als er die Vereinigung<br />
81
<strong>1945</strong><br />
<strong>Deutschland</strong>s an ihm vorbei und über seinen Kopf hinweg erzwang.<br />
Wie ich hörte, gibt es in Frankreich inzwischen ein Buch, dass genau<br />
das publik machen möchte. Helmut Kohl wollte alles andere als eine<br />
Vereinigung unseres Landes. Sonst wäre er nämlich auch nicht länger<br />
als ein Willy Brandt der Kanzler in Bonn am Rhein geblieben.<br />
Diese Überlegung zu den Reparationen für die Kriegsschäden wurde<br />
durch den Aufstand des Jahres 1989 ganz plötzlich brandaktuell. In den<br />
Erinnerungen des Bonner Außenamtschefs Genscher findet sich dieses<br />
Motiv dann so: „Eine Friedenskonferenz konnte ebensowenig in Frage<br />
kommen wie ein Friedensvertrag. [...] Die Verhandlungen hätten sich<br />
an der Frage der Reparationen festgefahren.“ Im Jahr <strong>1990</strong> ist es dem<br />
Diplomatenduo Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl tatsächlich<br />
endgültig gelungen, eine reguläre Friedenskonferenz zu verhindern.<br />
Aber große Sprüche über das Leid des Krieges klopfen. Sie erinnern<br />
sich <strong>–</strong> 727 Milliarden DM haben die Leute in Ostdeutschland in den<br />
Entschädigungstopf eingezahlt. Die haben übrigens für Investitionen<br />
in die Wirtschaft dann auch nicht zur Verfügung gestanden. Das war<br />
doppelt verheerend, weil sie gerade in den Aufbaujahren nach dem<br />
Krieg gefehlt haben. Die Menschen im Osten hätten auch mit der Planwirtschaft<br />
besser leben können; man erinnere sich, dass man in den<br />
späten sechziger Jahren in West-<strong>Deutschland</strong> vom zweiten deutschen<br />
Wirtschaftswunder <strong>–</strong> in der DDR <strong>–</strong> sprach, die damals freilich noch als<br />
SBZ bezeichnet wurde. Erst danach wirkte sich allmählich die neue<br />
„Wirtschaftspolitik“ des diktatorischen Dachdeckerlehrlings aus.<br />
Aus der heutigen Perspektive lässt es sich einfach erklären, wie es den<br />
Bonnern gelungen ist, die großen Staaten gegeneinander in Stellung<br />
zu bringen und ihnen ihre angstgeladene Außenpolitik vorzugeben.<br />
Während Murat Williams überzeugt war, dass „die Gehlen-Leute sich<br />
immer schon dem Krieg gegen die Sowjetunion verschrieben hatten“,<br />
verriet der aus Funk und Fernsehen bekannte Geheimdienstexperte<br />
Erich Schmidt-Eenboom, wenn auch erst 2004: „Gehlen hat zwar im<br />
vertrauten Kreis häufig eine gewisse Nähe zum Widerstand des 20. Juli<br />
1944 betont, besonders, wenn es ihm als Appell an gemeinsame Grund-<br />
82
<strong>1945</strong><br />
anschauungen nützlich erschien, die Rolle Wessels jedoch nie öffentlich<br />
gemacht.“ Gerhard Wessel war damals Gehlens Stellvertreter und<br />
wurde später dann auch sein Nachfolger an der Spitze des BND, was<br />
vom Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes, Markus Wolf, als Beleg für<br />
eine vermeintliche faschistische Kontinuität der BRD gedeutet wurde.<br />
Schmidt-Eenboom setzte fort: „Auch im frühen Nachkriegsdeutschland<br />
führte Gehlen dieses Doppelspiel zwischen stiller Sympathie für<br />
die Gegner Hitlers in der Wehrmacht und taktischer Distanz zu ihrem<br />
gescheiterten Anschlag auf Hitler weiter.“<br />
In Zweite Front von Valentin Falin fand ich weitere Erklärungen, warum<br />
diese Rechnung aufging: Als Hitlers Wehrmacht West-Europa überfiel,<br />
glänzte der sowjetische Außenminister Molotov mit „Schmeicheleien<br />
dem »Dritten Reich« gegenüber“, es hagelte „Zuneigungsbekundungen<br />
für die Naziführer“ und „die beschämenden Gesten, mit denen die Eroberung<br />
Dänemarks und Norwegens oder die Erfolge der Wehrmacht<br />
im Frankreichfeldzug von sowjetischer Seite begleitet wurden“. Dem<br />
Nichtangriffsvertrag mit <strong>Deutschland</strong> folgte noch ein Neutralitätspakt<br />
mit Japan. Valentin Falin selbst recherchierte, dass ein gemeinsamer<br />
Griff Hitlers und Stalins nach der Weltherrschaft angenommen wurde.<br />
Gewiss trug auch „Molotovs Berlin-Visite“ zu dem Misstrauen bei. Was<br />
spätere deutsche Vorstellungen vom Krieg gegen Moskau gemeinsam<br />
mit den Westmächten glaubhaft werden ließ, war sicherlich auch, dass<br />
es solche Bestrebungen in <strong>Deutschland</strong> bis hin zu Hitler selbst wirklich<br />
gab; wer sollte vom Ausland aus überblicken, dass da Cleverlinge eine<br />
Vorstellung aus der anderen abgezweigt und umfunktioniert hatten?<br />
Die SPD-Größe Carlo Schmid erläuterte, warum die „Supermächte“ aus<br />
diesem abgezirkelten Teufelskreis nicht herauskamen. Damit man sich<br />
das gut vorstellen konnte, zog er eine historische Parallele zu der Zeit<br />
nach dem Ersten Weltkrieg: „Unter den heutigen Verhältnissen hätte<br />
ein Locarnovertrag alten Stils nicht mehr funktioniert. Man würde <strong>–</strong><br />
wollte man realistisch bleiben <strong>–</strong> zwei Vertragsgruppen dieses Schemas<br />
schaffen müssen: ein »großes« und ein »kleines Locarno«. Das »große<br />
Locarno« hätte Sowjetrussland und die Vereinigten Staaten umfassen<br />
83
<strong>1945</strong><br />
müssen, wobei hier allerdings auf eine Garantie durch dritte Mächte<br />
zu verzichten war. Voraussetzung für die Möglichkeit eines »großen<br />
Locarno« dieser Art war die vorherige allgemeine Verständigung der<br />
Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über die Liquidierung des<br />
Kalten Krieges in der ganzen Welt, also die Saturierung der Ansprüche<br />
der Sowjetunion, ohne in die Lebensinteressen der Vereinigten Staaten<br />
einzugreifen, was der Quadratur des Zirkels gleichkam. Ein »kleines<br />
Locarno« würde sich auf Europa zu beschränken haben; es müsste<br />
die Räumung der noch besetzten Länder von Besatzungstruppen vorsehen<br />
und reale Garantien für die innere und äußere Unabhängigkeit<br />
der vertragschließenden Staaten schaffen, was die Wiederherstellung<br />
der Einheit <strong>Deutschland</strong>s <strong>–</strong> wenigstens innerhalb der in der Potsdamer<br />
Erklärung vorgesehenen Demarkationslinien <strong>–</strong> voraussetzte.<br />
Die Einhaltung der gegenseitigen Verpflichtungen hätte durch die<br />
Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich<br />
garantiert werden müssen.<br />
Bei den Locarnoverträgen von 1925 gab es einen vertraglich festgelegten<br />
Besitzstand und einen allgemein anerkannten rechtlichen Status<br />
der Partner. Nun aber fehlte es an einem rechtlich anerkannten Besitzstand<br />
<strong>Deutschland</strong>s, der garantiert werden konnte. [Das konstatierte<br />
der gute Mann 1979 und somit nach Brandts schönen Ost-Verträgen.]<br />
Dies aber bedeutete, dass man vor Abschluss solcher »Locarnoverträge«<br />
oder gleichzeitig mit ihnen zu einem Friedensvertrag mit<br />
<strong>Deutschland</strong> kommen musste, der seine Grenzen festlegte; das jedoch<br />
setzte die vorherige Wiederherstellung der Einheit <strong>Deutschland</strong>s voraus.<br />
Ein Friedensvertrag mit Wirkung für alle konnte nur mit einer<br />
gesamtdeutschen Regierung abgeschlossen werden, und eine solche<br />
Regierung war nur durch vorherige Wahlen in allen vier Besatzungszonen<br />
<strong>Deutschland</strong>s zu schaffen; diese konnten jedoch erst erfolgen,<br />
wenn die vier Besatzungsmächte ihre Meinungsverschiedenheiten<br />
bezüglich <strong>Deutschland</strong>s bereinigt hatten. Damit war klar, dass die Idee,<br />
den Kalten Krieg durch »Locarnoverträge« zu beenden, die vorherige<br />
Lösung der Probleme voraussetzte, die das Weiterbestehen der Teilung<br />
<strong>Deutschland</strong>s aufwarf. »Locarnoverträge« allein waren nicht in der<br />
Lage, den Kalten Krieg zu erledigen. Sie hätten aber vielleicht ein ge-<br />
84
<strong>1945</strong><br />
eignetes Mittel sein können, die Bereitschaft der Beteiligten für seine<br />
Erledigung zu fördern und erträgliche Zwischenlösungen zu finden,<br />
bis die Zeit jene Problematik gegenstandslos gemacht haben würde.<br />
Diese Analyse zeigt, dass es zu einem brauchbaren System kollektiver<br />
Sicherheit vor einem die Grenzen <strong>Deutschland</strong>s festlegenden Friedensvertrag<br />
nicht kommen konnte. Man mochte die Sache drehen und<br />
wenden, wie man wollte, das Grundproblem blieb: entweder Beendigung<br />
des Kalten Krieges durch Herstellung der Einheit <strong>Deutschland</strong>s<br />
im Rahmen einer Verständigung der Weltmächte über ihre Einflusszonen<br />
in den strittigen Teilen der Welt <strong>–</strong> oder das Sich-Abfinden mit<br />
der Teilung <strong>Deutschland</strong>s, was weltpolitisch darauf hinauslaufen musste,<br />
dass die Russen ihre Deutschen behielten und die Westmächte die<br />
ihrigen.“ Ein fein abgezirkelter Teufelskreis, der dem Publikum als die<br />
Weltverschwörung gegen <strong>Deutschland</strong> verkauft wurde.<br />
Der Politologe Ferdinand Kroh vermerkte bezogen auf die achtziger<br />
Jahre: „Hier lag aber keine Verschwörung [zwischen Sowjetunion und<br />
USA] vor, sondern ein langwieriger und komplizierter Politikprozess,<br />
dessen Ziel von beiden Seiten unter völlig unterschiedlichen Interessenlagen<br />
öffentlich formuliert war: die Beendigung des Kalten Kriegs.<br />
Während die Amerikaner das Sowjetimperium damit zu Fall bringen<br />
wollten, war es das Ziel der Sowjets, ihr Reich mit derselben Strategie<br />
zu retten.“ Und Gräfin Dönhoff äußerte über General Gehlen, der den<br />
Ärger nach diesem Krieg überhaupt erst ausgelöst hatte, ihre schlecht<br />
gespielte Überraschung darüber, „dass ein Mann, dessen Metier es mit<br />
sich brachte, dass er seit Jahrzehnten den Osten als den potenziellen<br />
Gegner betrachten mußte, sich so freigehalten hat von antikommunistischen<br />
Komplexen“. Und da war er in bester Gesellschaft.<br />
85
<strong>1945</strong><br />
Frei von antikommunistischen Komplexen:<br />
Meistersinger Konrad Adenauer & Gesellen<br />
Mit dem wortreich zelebrierten Antikommunismus des späteren CDU-<br />
Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer war es ja hinter verschlossenen<br />
Türen auch nicht weit her. So hielt der amerikanische Offizier, der das<br />
zweite Sondierungsgespräch mit ihm Ende März <strong>1945</strong> protokollierte,<br />
damals fest: „Im weiteren Verlauf der Unterhaltung bemerkte er bei<br />
einer Schilderung seiner Erfahrungen während der Haft in der zweiten<br />
Jahreshälfte 1944, er habe Russen kennengelernt, die ihn in seiner<br />
Hochachtung vor den großen Errungenschaften Russlands bestärkt<br />
hätten. Er wies besonders auf die großartigen Fortschritte auf dem Bildungssektor<br />
hin. Er bemerkte, das Bemühen der Russen, der Bildung<br />
größere Verbreitung zu verschaffen, sei einer der entscheidenden<br />
Unterschiede zwischen ihnen und den Nazis, die Bildung und Wissen<br />
unterdrückten.“ Eine ganz ähnliche Argumentation verwendete 1986<br />
Ex-Bundespräsident Walter Scheel in einer Rede zum Jahrestag des<br />
1953er Volksaufstandes in der DDR: „Doch Karl Marx war ein kluger<br />
Deutscher, dessen Gedankengebäude <strong>–</strong> im Gegensatz etwa zum Nationalsozialismus<br />
<strong>–</strong> in der Tradition des deutschen Humanismus steht.<br />
Schon allein das spricht dafür, dass er nicht nur Falsches gedacht hat.<br />
Sein Weltentwurf ist, wie alles Menschenwerk, eine Mischung von<br />
Falschem und Richtigem, von Wahrem und Unwahrem.“ Vielleicht<br />
erinnern Sie sich <strong>–</strong> 1986 wussten die führenden Volksvertreter in Bonn<br />
schon vier Jahre lang, dass die DDR ohne westdeutsches Geld nicht<br />
mehr zahlungsfähig war. Davon abgesehen fehlt bei diesem FDPisten<br />
der Drang nach Freiheit.<br />
Der fehlte bei Konrad Adenauer auch schon am Anfang. 1949 wurde die<br />
NATO gegründet, 1955 der Warschauer Vertrag, und James Critchfield,<br />
der für die CIA ein Auge auf die politische Entwicklung <strong>Deutschland</strong>s<br />
werfen sollte, war darüber einigermaßen erstaunt: „Adenauer hoffte,<br />
dass die Konsolidierung der NATO und die Gründung des Warschauer<br />
Paktes die Amerikaner dazu bewegen könnte, ihre noch vom Kalten<br />
Krieg geprägten politischen Überlegungen des »Rollback« und der<br />
86
<strong>1945</strong><br />
»Liberation«, des Zurückdrängens und der Befreiung, die er nie mitgetragen<br />
hatte, noch einmal zu überdenken.“<br />
Oder wie wäre es mit diesem Auftritt des dann schon neunzigjährigen<br />
Konrad Adenauer in einer Wiedergabe Willy Brandts: „Zwei Monate<br />
später <strong>–</strong> März 1966 <strong>–</strong> machte er auf dem Parteitag der CDU, seinem<br />
letzten, nicht wenig Furore, als er erklärte, die Sowjetunion sei in die<br />
Reihe der Völker eingetreten, die den Frieden wollten; man müsse verstehen,<br />
dass sich das russische Volk vor den Deutschen fürchte, denn<br />
es habe fünfzehn (sowjetische Zahl: zwanzig) Millionen Tote gehabt.<br />
Die harten Wunden, die die Russen <strong>Deutschland</strong> geschlagen hätten,<br />
seien »Vergeltung für harte Wunden, die den Russen unter Hitler<br />
geschlagen worden sind.« Mir sagte er um dieselbe Zeit: »Wir haben<br />
die Russen falsch behandelt.« Vor allem »die Herren vom AA« [vom<br />
Auswärtigen Amt] hätten das nicht richtig gemacht, sie seien mit dem<br />
sowjetischen Botschafter ganz falsch umgegangen. Hieß dies, wie nicht<br />
wenige seiner Parteigänger unterstellten, dass der alte Herr der Senilität<br />
anheimgefallen wäre? Ich meine nein und halte jene Deutung für<br />
zu simpel. Von einem seiner wenigen Vertrauten <strong>–</strong> Heinrich Krone <strong>–</strong><br />
ist überliefert, was er schon Ende 1961, im Jahr der Mauer-Krise,<br />
gesagt hatte: Für den Rest seines Lebens sei es das Wichtigste, »unser<br />
Verhältnis zu Russland in eine erträgliche Ordnung zu bringen.«“<br />
Noch ein „Antikommunist“ mit einer Neigung für das Skurrile war von<br />
<strong>1945</strong> bis 1988 Franz Josef Strauß. Auf die Frage, was die politischen<br />
Leitsterne im Leben von Strauß gewesen seien, meinte Franz Handlos,<br />
der vor dem großen Geldsegen für Erich Honecker ein Anhänger der<br />
CSU war: „Die Ablehnung des kommunistischen Systems in der DDR,<br />
der Aufbau der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong> in militärischer und politischer<br />
Hinsicht, eine enge Verbundenheit zu den USA und ein engeres<br />
Zusammenrücken der europäischen Staaten. Strauß hat den einen<br />
Punkt total verraten <strong>–</strong> Widerstand gegen das kommunistische System,<br />
als er 1983 den Milliardenkredit an den Kommunisten Honecker eingefädelt<br />
hat.“ Und als Honecker gefragt wurde: „Wie kam ausgerechnet<br />
Strauß dazu, den Kredit zu unterstützen, wo er doch jahrzehntelang<br />
87
<strong>1945</strong><br />
ein Hauptgegner des Sozialismus und der DDR war?“ erläuterte der<br />
Kommunist: „Lesen Sie mal das Buch von Strauß »Erinnerungen«. Dort<br />
werden Sie die Antwort finden. Strauß war ein Realpolitiker. Ich habe<br />
ihn sehr geachtet. Er hat immer das eingehalten, was er gesagt hat.“<br />
Doch man wollte noch mehr wissen: „Haben Sie sich nicht gewundert,<br />
dass er plötzlich so ein »Freund« der DDR war?“ Und obwohl Strauß in<br />
den Lexika der DDR so hässliche Kritiken einsteckte, antwortete der<br />
Kommunist Honecker: „Ich habe Strauß nie als einen Feind der DDR<br />
gesehen. Und er hat das auch nie behauptet. Die internationalen Beziehungen<br />
richten sich nicht danach, ob die Person ein »Freund« oder<br />
sonstwas ist, das sind Beziehungen zwischen den Staaten.“<br />
Nun müssen Sie aber nicht denken, Strauß hätte seine Sympathie für<br />
den Sozialismus auf deutschem Boden erst so spät entdeckt. Markus<br />
Wolf, der Chef der Auslandsspionage der DDR, wusste zu berichten,<br />
dass die Verbindung zu Strauß auf die Zeit kurz nach der Gründung<br />
der DDR zurückging: „Neben Dr. Wiedemanns Büro ließ sich im Bonn<br />
der 50er Jahre der Salon einer Dame recht vielversprechend an. [...]<br />
Lydia, so lautete unser Deckname für Susanne Sievers, richtete in Bonn<br />
eine gastliche Wohnung ein, in der sie eine Art Salon führte, wo Abgeordnete<br />
und Politiker sich zwanglos einfanden, darunter Franz Josef<br />
Strauß und Willy Brandt, mit dem Susanne Sievers vor ihrer verhängnisvollen<br />
Reise zur Leipziger Messe eine leidenschaftliche Affäre gehabt<br />
hatte. Durch sie erfuhren wir, dass Strauß nicht zu jeder Stunde<br />
der fanatische Sozialistenfresser war, den er vor der Öffentlichkeit abgab,<br />
sondern ein nüchtern denkender Pragmatiker.“<br />
Wolf ergatterte ja neben anderen eigentlich nützlichen Informationen<br />
auch jene, „dass man im Lager von Kohl, Strauß und Flick sehr viel<br />
pragmatischer dachte, als es den Anschein haben mochte, und das<br />
nicht nur, wenn es um Geld ging“. Wie der Zufall so spielt, finden sich<br />
genau diese drei Namen auch in einem Reisebericht von Helmut Kohl<br />
wieder, der unter anderem Anfang der siebziger Jahre privat durch die<br />
schönste DDR auf dieser Welt tourte: „Auf der Reise erlebten wir viel<br />
88
<strong>1945</strong><br />
Unerquickliches. So wurde die Wartburg, eine der ersten Stationen,<br />
nach unserem Eintreffen in Minutenschnelle vom Staatssicherheitsdienst<br />
geräumt. Ganze Reisegruppen wurden hinausgetrieben. In einer<br />
Baracke des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar<br />
fand ich mich als »Kriegstreiber« vereint mit Franz Josef Strauß und<br />
Friedrich-Karl Flick auf einem riesigen Plakat. Ich stand inmitten einer<br />
Schulklasse, der von einer Lehrerin die »Kriegstreiber von heute« erklärt<br />
wurden. Als die Kinder bemerkten, dass einer der Abgebildeten<br />
leibhaftig mitten unter ihnen stand, wurden sie eiligst aus der Baracke<br />
gescheucht.“<br />
Angenehm war auch Erich Honeckers Erinnerung an einen weiteren<br />
wichtigen Repräsentanten des faulenden, parasitären und sterbenden<br />
Kapitalismus in der BRD. Nach seinem Sturz war er über die plötzliche<br />
Kriminalisierung von Alexander Schalck-Golodkowski höchst empört,<br />
hatte doch Otto Graf Lambsdorff aus der F.D.P.-Spitze über den großen<br />
Experten geäußert: „Schalck hat sich so benommen wie ein Geschäftsmann.“<br />
Diesen guten Leumund kommentierte Herr Honecker witzigerweise<br />
mit der Ansage: „Leider hatte die DDR wenig solcher Geschäftsleute.“<br />
Nachdem die Geschäftsleute, die es in der DDR noch sehr lange<br />
gab, unter seiner Regentschaft enteignet worden waren.<br />
Und abgesehen von den West-Berliner Vertretern der Zunft waren die<br />
Freundlichkeiten, die zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten<br />
damals ausgetauscht wurden, auch nicht beschränkt auf das Bonbon,<br />
das der Genosse Erich Honecker Bundeskanzler Helmut Schmidt am<br />
Ende von Schmidts Staatsbesuch in der DDR Ende 1981 bei der Abfahrt<br />
seines Sonderzuges zusteckte. „Sozialdemokraten, die den Kontakt zu<br />
Oppositionellen suchten, standen in der Kritik ihrer Parteiführung,<br />
weil sie die Beziehungen zur SED belasteten.“ Oskar Lafontaine hatte<br />
selbstverständlich Recht, als er nach der Ost-Berliner Kritik an einem<br />
renitenten Mitglied des Bundestages bedauerte: „In einer Partei wie<br />
der SPD sei es nahezu unmöglich, alles unter Kontrolle zu bringen,<br />
schon gar nicht die Abgeordneten des Bundestages. Lafontaine fügte<br />
zur Beruhigung seiner Partner hinzu: Auch die Kontakte führender<br />
89
<strong>1945</strong><br />
SPD-Politiker zur evangelischen Kirche bedeuteten nicht, dass die SED<br />
nicht weiterhin den Vorzug genieße <strong>–</strong> jede andere Vorstellung sei<br />
»völlig absurd«.“<br />
Das illustrierte Erich Honecker mit seiner Erinnerung an den Freund<br />
und Genossen Helmut Schmidt aus der SPD, der seinerzeit Brandt und<br />
dessen gesamteuropäisches Engagement dann mit großem Elan vom<br />
Tisch fegte: „Zwischen mir und Helmut Schmidt bestand ein direktes<br />
Verhältnis. Ich hatte als Regierungschef die Verantwortung für die<br />
Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD. Ich<br />
möchte sagen, dass Helmut Schmidt der erste war, der im Bundestag<br />
von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik sprach. Auch<br />
hier hat sich ein Entwicklungsprozess vollzogen. Helmut Schmidt war<br />
eben ein großer Staatsmann. Er hat die Realitäten respektiert und hat<br />
versucht, aus den Dingen, wie sie nun einmal lagen, [wie Bonn sie sich<br />
zurechtgelegt hatte] das Beste zu machen. Das heißt, seine Bemühungen<br />
haben sich mit der der Regierung von Helmut Schmidt getroffen, und<br />
bei meinem Aufenthalt in der BRD hatte ich auch eine Begegnung mit<br />
ihm. Ich möchte sagen, dass alle Begegnungen zwischen mir und<br />
Helmut Schmidt <strong>–</strong> sei es in Helsinki, sei es in Belgrad, sei es in Hubertusstock,<br />
sei es bei anderen Gelegenheiten <strong>–</strong> immer sehr korrekt verliefen.<br />
Die Fragen wurden im gegenseitigen Einverständnis gelöst.“<br />
Darüber hat sich Herr Honecker auf jeden Fall gefreut. Sein Gesprächspartner<br />
war jedoch nach Egon Bahrs Brief zum Grundlagenvertrag von<br />
1972 juristisch gar nicht befugt, von Bürgern der DDR zu sprechen. Es<br />
muss Sie übrigens nicht über Gebühr in Erstaunen versetzen, dass sich<br />
Helmut Schmidts Bemühungen mit denen seiner Regierung trafen, war<br />
es doch immerhin seine Regierung. Wenn ich nun schon einmal beim<br />
Meckern bin <strong>–</strong> Honecker war nie Regierungschef irgendeines Landes;<br />
aber es spricht selbstredend Bände über Seine Diktatur, wenn er so die<br />
große Bedeutung seines Genossen Horst Sindermann und von dessen<br />
Nachfolger Willy Stoph zusammenfassen konnte. Der Journalist fragte<br />
Honecker auch, ob er „eine persönliche Affinität“ zu Helmut Schmidt<br />
gehabt habe, worauf der frühere Staatschef sagte: „Ja, das wurde etwas<br />
90
<strong>1945</strong><br />
entstellt. Das hatte einen anderen Rang. Wir haben uns so gut verstanden,<br />
dass in Verbindung mit den Witzen, die da ausgetauscht wurden<br />
bei seinem Besuch bei uns, ich tatsächlich einen Bonbon in der Tasche<br />
hatte und zum Abschluss gesagt habe: »Na, Helmut, hier hast du den.«<br />
Und er hat ihn mit Freuden genommen. Wir haben uns auch Schneebälle<br />
zugeworfen an der Treppe des Rathauses von Güstrow.“<br />
Nun haben wir genug Schmus zum Wohle des Sozialismus gehört und<br />
wollen uns jetzt wieder dem realen Leben existierender Menschen<br />
zuwenden. Ist eigentlich witzig: Schmus ist ein hebräisch-jiddisches<br />
Wort. Ja, ja. Immer die Juden. Im historisch-linguistischen Diskurs an<br />
den Stammtischen westdeutscher Eckkneipen wird gelegentlich die<br />
Frage thematisiert, inwiefern sich die These aufrechterhalten lässt, wir<br />
seien ein Volk. Hier handelt es sich um eine bedeutungsvolle Frage, die<br />
an dieser Stelle auch erörtert werden soll. Mein Votum fällt, wie nicht<br />
anders zu erwarten, positiv aus; und ich will Ihnen mein gewichtigstes<br />
Argument hier nennen. Das Motiv, es sei doch nicht alles ganz falsch<br />
gewesen, gab es im allerschönsten Teil dieses Landes auch, wenngleich<br />
Jahrzehnte vor dem schrecklichen Sülz im Osten und um einige Ellen<br />
gruseliger: „Die Gegenwart versöhnte durch die Gemeinsamkeit mit<br />
den Amerikanern in der Feindschaft zum Kommunismus; eine Übereinstimmung,<br />
die für die Westdeutschen einen starken Gefühlstrieb<br />
aus dem Motivbündel der Hitlerei wieder freisetzte: Alles war doch<br />
nicht falsch gewesen. Die gesellschaftspolitischen Fragen im Land fanden<br />
ihre glückliche Antwort: durch den Vergleich mit drüben, mit den<br />
Entwicklungen jenseits der Elbe.“ Da hatte Günter Gaus vollkommen<br />
Recht <strong>–</strong> dort wurden die armen Nazis sogar aus ihren angestammten<br />
Berufen hinausexpediert! Lehrer, Richter, KZ-Ärzte. Die spätere rosa<br />
Propaganda, wie sie in den siebziger und in den achtziger Jahren über<br />
den West-DeutschInnen hernieder ging, blieb natürlich nicht ohne<br />
Folgen. So rieben sich hier die Ost-DeutschInnen nach ihrer Absage an<br />
einen Sozialismus von und mit Genossen Erich Honecker erstaunt ihre<br />
Augen: „<strong>1990</strong>, sobald der Osten den Westen gewählt hatte, stattete ihn<br />
der Westen großzügig mit Schulbüchern aus, damit junge Ostdeutsche<br />
die Wahrheit über deutsche Politik und Geschichte lernen konnten. Als<br />
91
<strong>1945</strong><br />
sie diese Schulbücher öffneten, konnten die jungen Ostdeutschen <strong>–</strong><br />
von denen so mancher gerade noch auf der Straße gegen die Diktatur<br />
demonstriert hatte <strong>–</strong> lesen: »Beide Staaten [DDR und BRD] verstehen<br />
sich als Demokratien.«“ Doch der Brite Timothy Garton Ash fand noch<br />
weitere anschauliche Beispiele für die rosarote Propaganda in jenen<br />
Jahren: „»Lest Nr. 10.24«, wurden sie in einem anderen Schulbuch aufgefordert,<br />
»und versucht zu erklären, warum viele DDR-Bürger selbstbewusst<br />
und auch stolz auf ihren Staat sind.«“ Ja, da schau her! Diese<br />
Propaganda der letzten zwanzig Jahre einer separaten Republik BRD<br />
machte nach dem Umsturz in der DDR alles sehr kompliziert. Da sie<br />
auf einmal durch ein wildes Geschrei über das Unrechtsregime in der<br />
„D.D.R.“ ersetzt wurde, verstanden die West-Deutschen nun gar nichts<br />
mehr; bei Unterlassung hätten die Opfer des Regimes rebelliert; und<br />
hätte man das Gedöns fortgesetzt, hätten das noch nicht einmal die<br />
früheren Mitglieder der SED verstanden. Auf diesen entstaubten Antikommunismus<br />
der ersten zwanzig Jahre der Teilung dürfte es auch<br />
zurückzuführen sein, dass trotz der Bildungsmisere in der BRD noch<br />
nicht einmal das vom ideologischen Quark bereinigte Bildungswesen<br />
der DDR übernommen wurde. Nur mit halbherzigen Worten, die unter<br />
der Hand auch noch widerrufen wurden, war Unserem Kommunismus<br />
natürlich nicht beizukommen.<br />
92
Der lange Krieg gegen den Krieg<br />
<strong>1945</strong><br />
Um die Verlogenheit des westdeutschen Pseudo-Antikommunismus zu<br />
verstehen, wird es günstig sein, unbekanntere Seiten der Diktatur der<br />
dreißiger und vierziger Jahre noch einmal etwas näher anzuschauen.<br />
Heinrich Walle führte in Aufstand des Gewissens aus, dass schon seit der<br />
Röhm-Affäre des Jahres 1934 und noch verstärkt durch die unwürdige<br />
Ablösung von Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch im Jahr 1938<br />
in den oberen Rängen der Wehrmacht das Bedürfnis nach Widerstand<br />
gegen Hitler wuchs. „Blomberg wie auch Fritsch hatten geglaubt, der<br />
Wehrmacht durch Anpassung einen herausragenden Platz im Dritten<br />
Reich sichern zu können.<br />
Bei der übereilt durchgeführten Aufrüstung waren diesen Offizieren<br />
jedoch Bedenken vor Sanktionen des Auslands gekommen, vor allem<br />
als Hitler am 5. November 1937 vor den Oberbefehlshabern und dem<br />
Außenminister die Lösung seiner Lebensraumforderungen durch eine<br />
kriegerische Auseinandersetzung in naher Zukunft bekanntgab und<br />
die militärische Niederwerfung der Tschechoslowakei und Österreichs<br />
1939 ins Auge fasste. Dagegen hatten Blomberg und Fritsch Einwände<br />
erhoben. Bei Generaloberst Fritsch hatte sich nach der Röhmaffäre,<br />
durch die Eindrücke der zunehmenden Kirchenverfolgung und durch<br />
dauernde Reibereien mit der SS eine Distanzierung vom Nationalsozialismus<br />
vollzogen.<br />
So kam es Hitler gelegen, den zögernden Kriegsminister und den unbequem<br />
gewordenen Oberbefehlshaber des Heeres entlassen zu können.<br />
Gleichzeitig wurden weitere Generale entlassen. [...]<br />
Dennoch blieb Hitlers Misstrauen gegen das Offizierskorps zu Recht<br />
wach. In der Tat begannen als Folge der Fritsch-Affäre die Ansätze zur<br />
Bildung einer bürgerlich-konservativen Opposition gegen Hitler. [...]<br />
Ihr technisches Zentrum bildete sich im Amt Ausland/Abwehr (Spionage<br />
und Spionageabwehr) im OKW unter Admiral Wilhelm Canaris<br />
und seinem engsten Mitarbeiter Oberstleutnant Hans Oster. Diesen<br />
Männern waren schon bald auf Grund ihrer eingehenden Informationen<br />
die Augen über die verbrecherischen Methoden und Ziele der<br />
neuen Machthaber aufgegangen. Canaris und vor allem Oster traten<br />
93
<strong>1945</strong><br />
mit dem Chef des Generalstabes des Heeres, General der Artillerie Ludwig<br />
Beck, in Verbindung. Hatte General Beck <strong>1933</strong> noch den Siegeszug<br />
der nationalsozialistischen Bewegung begrüßt, so kamen ihm schon<br />
bald aus vorwiegend fachlich-technischen Gründen ernste Bedenken<br />
über die Folgen der neuen Politik. Spätestens nach dem endgültigen<br />
Entschluss Hitlers am 30. Mai 1938, die Tschechoslowakei anzugreifen,<br />
sah er eine drohende kriegerische Verwicklung mit Frankreich und<br />
England, die den Bestand von Volk und Vaterland ernsthaft gefährden<br />
musste. Hier waren für ihn die Grenzen des militärischen Gehorsams<br />
erreicht.“<br />
Es blieb nicht ohne Folgen, dass sich der Widerstand gegen den Krieg<br />
gerade in dem Amt Ausland/Abwehr (Spionage und Spionageabwehr)<br />
bildete. So gelang es letztlich, den Sieg in diesem Krieg davonzutragen.<br />
Den fanatischen Militärs war dann irgendwann aufgefallen, dass ihre<br />
Aufklärungsorgane nichts beziehungsweise nichts Brauchbares auf die<br />
Reihe bekamen. Obwohl der Zweite Weltkrieg an sich ja schon eine irre<br />
Veranstaltung war, darf davon ausgegangen werden, dass er aus zwei<br />
Kriegen bestand: einem Krieg um den Endsieg und dem Krieg um ein<br />
schnelles Ende des Krieges. Beide Kriege forderten zahllose Opfer.<br />
Wilhelm Canaris war der Chef der Abwehrabteilung im Reichskriegsministerium,<br />
und Reinhard Gehlen war der Chef der Militärspione im<br />
Osten. „Als der Ostfeldzug ins Stocken geriet, schob man die Schuld<br />
dem zuständigen militärischen Nachrichtendienst, genannt Abteilung<br />
»Fremde Heere Ost«, in die Schuhe.“ Inzwischen ist mir klar, dass man<br />
es der Abteilung auch nicht umsonst zuschrieb, dass dieser rassistisch<br />
motivierte und genauso geführte Krieg vor den Baum ging. Weil es im<br />
Westen dann offensichtlich wurde, hat man Wilhelm Canaris, den Chef<br />
der Spione, 1944 hingerichtet. Wenn Sie Bilder von ihm sehen <strong>–</strong> ein<br />
Vatertyp mit warmen, schönen Augen. Ein Mensch und kein Fanatiker.<br />
Diese Nazi-Trottel haben noch nach mehreren Jahren nicht gerafft,<br />
dass die Spionagechefs ihre Informationen so hinbogen, dass der Krieg<br />
möglichst schnell zu Ende ging, hoffend, dass einem Attentat auf den<br />
Führer der Fanatiker inzwischen Erfolg beschieden sein möge.<br />
94
<strong>1945</strong><br />
Eine Illustration lieferte Reinhard Gehlen gleich persönlich. Ihm war<br />
nicht unbekannt, dass „die Sowjets in der deutschen obersten Führung<br />
über eine gut orientierte Nachrichtenquelle verfügen mussten“, da sie<br />
„in kürzester Zeit über Vorgänge und Erwägungen, die auf deutscher<br />
Seite an der Spitze angestellt wurden, bis ins Einzelne unterrichtet“<br />
waren. Da stellte sich natürlich die Frage: Wer war es? Probieren Sie<br />
einmal die Wendungen langes Schweigen, ein Geheimnis, den Schlüssel, verhängnisvolle<br />
Rolle, aufs Sorgfältigste, die rätselhaftesten Fälle und engster<br />
Vertrauter in zwei Sätzen unterzubringen. Gehlen schaffte das: „Ich will<br />
an dieser Stelle mein langes Schweigen um ein Geheimnis brechen, das<br />
<strong>–</strong> von sowjetischer Seite aufs Sorgfältigste gehütet <strong>–</strong> den Schlüssel zu<br />
einem der rätselhaftesten Fälle unseres Jahrhunderts in sich birgt. Es<br />
ist die verhängnisvolle Rolle, die Hitlers engster Vertrauter, Martin<br />
Bormann, in den letzten Kriegsjahren und danach gespielt hat.“ Der<br />
gute Mann schrieb auch nicht: vermutlich gespielt hat. Er hat und fertig.<br />
Dazu lieferte er keinen Beweis, nichts. Spekulationen und warme Luft.<br />
Sein Text gipfelt in den Sätzen: „Zwei zuverlässige Informanten gaben<br />
mir in den 50er Jahren die Gewissheit, dass Martin Bormann perfekt<br />
abgeschirmt in der Sowjetunion lebte. Der ehemalige Reichsleiter war<br />
bei der Besetzung Berlins durch die Rote Armee zu den Sowjets übergetreten<br />
und ist inzwischen in Russland gestorben.“ Sehen Sie? Dann<br />
hat Hitlers Vertrauter alles verraten! Das macht mich sehr betroffen.<br />
Vollkommen unabhängig davon würdigte er 77 Seiten später seinen<br />
Kollegen, „den Oberstleutnant Baun, den Leiter der Dienststelle Walli I,<br />
in Bad Elster“. Hermann Baun hatte „auch zuletzt noch Verbindungen<br />
bis unmittelbar nach Moskau unterhalten können“. Während es hier<br />
wahrhaftig keiner blühenden Phantasie bedarf, in Baun die undichte<br />
Stelle zu vermuten, äußerte Meister Gehlen bei ihm noch nicht einmal<br />
einen Anfangsverdacht. Dafür lenkte er das Augenmerk seiner Leserin<br />
ohne jegliches Indiz auf den Alt-Nazi Martin Bormann, der bekanntermaßen<br />
den Bunker des Fuehrers verließ, bevor sich selbiger Fuehrer<br />
dort seines Lebens beraubte. Genau der muss es gewesen sein, der den<br />
Sowjets alles verraten hat.<br />
95
<strong>1945</strong><br />
In den Memoiren Reinhard Gehlens finden sich unter anderem einige<br />
Seiten über Admiral Wilhelm Canaris. In der gebotenen Kürze will ich<br />
nur ein paar Sätze exemplarisch zitieren, um einen Eindruck vom Verhältnis<br />
dieser beiden Männer zu vermitteln: „Die Persönlichkeit des<br />
Admirals ist fünfundzwanzig Jahre nach seinem tragischen Tode <strong>–</strong> er<br />
wurde am 9. April <strong>1945</strong> nach einem höchst fragwürdigen Verfahren<br />
vor einem SS-Gericht in Flossenbürg hingerichtet <strong>–</strong> noch immer mit<br />
einem scheinbaren Schleier des Zwielichtes umgeben. Er teilt dieses<br />
Los mit vielen anderen hervorragenden Persönlichkeiten des Nachrichtendienstes<br />
im In- und Ausland, wie z. B. mit Oberst Nicolai. In<br />
manchen Veröffentlichungen äußern sich Verfasser, die den Admiral<br />
sicherlich nicht gründlich gekannt haben dürften, kritisch über seine<br />
Persönlichkeit und sein Wirken. Sie werfen ihm Zaudern, mangelndes<br />
Stehvermögen und letztlich immer wieder Undurchsichtigkeit vor.“<br />
Dabei lag es im Auge des jeweiligen Betrachters, wie man den Admiral<br />
sah. Undurchsichtigkeit werden ihm die Kämpfer für den Endsieg vorgeworfen<br />
haben; die anderen unter seinen Kriegskameraden sahen ihn<br />
sicherlich eher so: „Dagegen spricht vor allem die Verehrung, welche<br />
die Angehörigen der »Abwehr« dem Admiral entgegenbrachten und<br />
auch heute noch entgegenbringen.“ Hätten ihn jedoch alle Kameraden<br />
verehrt, hätte Gehlens Abteilung nicht „nach außen abgeschirmt“ sein<br />
müssen, und es wäre nicht so wichtig gewesen, dass sich diese Männer<br />
„vorbehaltlos aufeinander verlassen konnten“. Bei Gehlen findet sich<br />
folgerichtig auch diese Feststellung: „Dem Nationalsozialismus stand<br />
Canaris ablehnend gegenüber. Ebenso wie Generaloberst Beck litt er<br />
ständig darunter, dass seine innere Einstellung dem unter Bezug auf<br />
Gott geleisteten Diensteid widersprach.“<br />
Marion Dönhoff, die sich äußerst emanzipiert in der Männerdomäne<br />
bewegte, notierte später: „Sehr beschäftigte die Kreisauer auch das<br />
Problem der Loyalität in der Diktatur, das Recht auf Widerstand, die<br />
Bedeutung des Eides, die Bestrafung der Kriegsverbrecher.“ Bei der<br />
Gräfin fand ich auch Worte von Ludwig Beck, dem Chef des Generalstabs<br />
der Wehrmacht, an die ihm unterstellten Offiziere: „Ihr soldati-<br />
96
<strong>1945</strong><br />
scher Gehorsam hat dort eine Grenze, wo Ihr Wissen, Ihr Gewissen und<br />
Ihre Verantwortung Ihnen die Ausführung eines Befehls verbieten.“<br />
Vielleicht interessiert es Sie, dass diese Anweisung auf einer Grundfeste<br />
des preußischen Befehls basierte. Er war nur bindend, wenn er<br />
höherem Gesetz nicht widersprach. Erst 1934 wurde letztendlich jeder<br />
Soldat auf den Führer vereidigt, was es seinem Gewissen viel schwerer<br />
machte, den Führer selbst über die Klinge springen zu lassen. General<br />
Ludwig Beck gab auch die Order aus: „Es ist ein Mangel an Größe und<br />
an Erkenntnis der Aufgabe, wenn ein Soldat in höchster Stellung in<br />
solchen Zeiten seine Pflichten und Aufgaben nur in dem begrenzten<br />
Rahmen seiner militärischen Aufgaben sieht, ohne sich der höchsten<br />
Verantwortung vor dem gesamten Volk bewusst zu werden.“<br />
Heinrich Walle berichtete, wie das Leben auch ohne Beck weiterging:<br />
„Becks Nachfolger, General der Artillerie Franz Halder, übernahm am<br />
28. August [1938] das Amt des Chefs des Generalstabs des Heeres. Er<br />
wollte ebenfalls das Risiko eines großen Krieges vermeiden und griff<br />
daher frühere Staatsstreichpläne seines Vorgängers auf, für den Fall,<br />
dass Hitler den Angriff gegen die Tschechoslowakei befehlen sollte. [...]<br />
Emissäre Halders und Osters informierten Mitglieder der britischen<br />
Regierung und versuchten, sie zu einem Kurs der Härte gegen Hitlers<br />
Forderungen zu bewegen. Oberstleutnant Oster hatte den konservativen<br />
Ewald von Kleist-Schmenzin zum damaligen britischen Oppositionsführer<br />
Winston Churchill entsandt, General Halder hatte durch den<br />
Hauptmann Karl Boehm-Tettelbach mit dem britischen Kriegsministerium<br />
Verbindung aufnehmen lassen. Im Auftrage des Staatssekretärs<br />
des Auswärtigen Amtes, Ernst Freiherr von Weizsäcker, informierte<br />
der Botschaftsrat der deutschen Botschaft in London, Theo Kordt, den<br />
britischen Außenminister Halifax über die Pläne der Opposition. Großbritannien<br />
sollte dadurch zu einer unnachgiebigen Haltung veranlasst<br />
werden, damit Hitler das Kriegsrisiko unmissverständlich klargemacht<br />
würde. Die Engländer blieben jedoch mißtrauisch. Großbritannien<br />
suchte zu einer vertraglichen Lösung der Sudetenfrage zu kommen.<br />
Für die Durchführung einer möglichen Aktion im Rahmen der Staats-<br />
97
<strong>1945</strong><br />
streichpläne wurde der Kommandierende General des III. Armeekorps<br />
und Befehlshaber im Wehrkreis III (Berlin), General der Infanterie von<br />
Witzleben, gewonnen. [...] General Halder sollte den auslösenden Befehl<br />
geben, General von Witzleben die Durchführung leiten. [...] Außer<br />
der Verhaftung von Regierungsmitgliedern und Parteifunktionären<br />
war die Verhaftung Hitlers in der Reichskanzlei geplant. Hitler sollte<br />
nach den Vorstellungen von General Beck und einigen Verschwörern<br />
vor Gericht gestellt und abgeurteilt werden. Damit hoffte man die Entstehung<br />
einer neuen »Dolchstoßlegende« zu verhindern.<br />
Oster und der an der Verschwörung beteiligte Reichsgerichtsrat Dr.<br />
Hans von Dohnanyi wollten ihn durch ein Ärztekonsilium unter dem<br />
Vorsitz von Dohnanyis Schwiegervater, dem Psychiater Prof. Karl Bonhoeffer,<br />
für geisteskrank erklären lassen. [...] Zur Durchführung des<br />
Staatsstreiches kam es jedoch nicht.<br />
Als die Verschwörer bereit zum Losschlagen waren, kam es zur »Münchener<br />
Konferenz« am 29./30. September 1938. Hier erklärte sich der<br />
britische Premierminister Chamberlain, der französische Ministerpräsident<br />
Daladier und der italienische Staatsführer (»Duce«) Mussolini<br />
mit der Angliederung des Sudetenlandes an das Reich einverstanden.<br />
Ein Staatsstreich gegen den wiederum erfolgreichen »Führer« war damit<br />
unmöglich geworden.“<br />
„Dass ein Umsturz unvermeidlich war, dass man sich dafür voll einsetzen<br />
müsse, wurde Peter Yorck schon sehr früh klar. Aber für ihn wie<br />
auch für Moltke, die beide sehr bewusst als Christen lebten, war die<br />
Vorstellung, Hitlers Ermordung planmäßig zu organisieren, ein schweres<br />
Problem, die anderen nicht so zu schaffen machte. Moltke weigerte<br />
sich, die Verbrecher mit »Gangstermethoden« zu beseitigen: »So kann<br />
man keine neue Epoche einleiten!«<br />
York teilte seine Meinung nicht ganz so eindeutig, je weiter die Zeit<br />
fortschritt. In der letzten Zeit hatte er sich dann auch selbst zur Aktion<br />
durchgerungen. Alle miteinander aber hielten es für ihre Pflicht, darüber<br />
nachzudenken, was getan werden müsse, wenn es einmal so weit<br />
sein würde.“ Sie lesen hier Erinnerungen von Marion Dönhoff. „Viel<br />
98
<strong>1945</strong><br />
wurde über die letzten Dinge der Politik gegrübelt, über die Rolle des<br />
Staates und die Grenzen der Freiheit. [...]<br />
Während Peter Yorck und Helmuth Moltke brauchbare, integre Menschen<br />
sammelten, die den neuen Staat bauen und verwalten sollten,<br />
und während sie sich bemühten, gemeinsam mit diesen moralische<br />
und politische Maßstäbe für das nachhitlersche <strong>Deutschland</strong> zu entwickeln,<br />
wurden die oppositionellen Offiziere von Zweifeln hin- und<br />
hergerissen: In der Phase spektakulärer Siege war es zu früh, Hitler<br />
umzubringen, zu groß schien die Gefahr der Dolchstoßlegende; und als<br />
die Rückschläge einsetzten, war es vielleicht schon zu spät, um etwas<br />
anderes als bedingungslose Kapitulation zu erreichen. Dennoch wurde<br />
immer wieder Vorbereitung für ein Attentat getroffen, die immer wieder<br />
auf fast magische Weise scheiterte, weil Hitler seine festgesetzten<br />
Pläne oder vorgesehenen Routen änderte.“<br />
Aber wir waren bei den Fremden Heeren Ost: „Ein neues Management<br />
sollte gefunden werden, und so betraute man im April 1942 Gehlen mit<br />
der Leitung, obwohl dieser sich nie mit Geheimdienstarbeit befasst<br />
hatte, keine Fremdsprachen beherrschte und von Russland keine<br />
Ahnung hatte. In dieser Versetzung wurde die Geringschätzung deutlich,<br />
welche die Tradition preußisch-deutscher Generalstabsoffiziere<br />
dem Metier der Geheimdienstleute entgegenbrachte.“ Das kann dieser<br />
Wolfgang Krieger gerne der Oma erzählen. Welcher Österreicher hätte<br />
aber auch vermuten sollen, dass man aus dieser Abteilung zum Chef<br />
machen konnte, wen man wollte, und hatte doch immer denkende<br />
Deutsche vor sich, die die Tätigkeit ihrer Vorgänger fortsetzten? Wie<br />
zum Beispiel Alexis Freiherr von Roenne nach Wilhelm Canaris. Und<br />
wie behalf sich Gehlen mit den Sprachen? „Ich holte mir als ersten<br />
Mitarbeiter (Ia) den Oberstleutnant i. G. Freiherr von Roenne und als<br />
Gruppenleiter I den Major i. G. Herre, beides hochqualifizierte Generalstabsoffiziere,<br />
die auch russisch sprachen, in die Abteilung“, so Gehlen,<br />
und es blieb nicht bei den beiden Spezialisten. „Die Gruppe III setzte<br />
sich aus Russlandspezialisten zusammen, zumeist Deutschen, die in<br />
Russland geboren waren, Land und Leute kannten und die russische<br />
Sprache wie ihre Muttersprache beherrschten.“<br />
99
<strong>1945</strong><br />
„Gehlen gelang es, die Arbeiten in »Fremde Heere Ost« stärker zu systematisieren,<br />
doch die Analysen blieben mäßig bis schlecht.“ Dass sie<br />
sich manchmal sogar mäßig ausnahmen, lag am Selbsterhaltungstrieb<br />
Gehlens. Er wäre auch hingerichtet worden, hätte man aus den ausnahmslos<br />
schlechten Berichten und Analysen eher geschlussfolgert,<br />
dass sich der „Spion“ darum sorgte, dass dieser Krieg nicht mit einem<br />
Endsieg für diesen Psychopaten aus Braunau am Inn enden darf, der als<br />
Kind immer geärgert worden war, er hätte jüdische Vorfahren. Schon<br />
damals in der größten DDR auf der Welt hatte ich eine Leidenschaft für<br />
treffsicheren politischen Humor. So verwundert es nicht, dass mir ein<br />
Spruch des Diplomaten von Etzdorf gefällt. Bei passender Gelegenheit<br />
brachte er „in Anlehnung an den Titel einer Schrift von Schopenhauer:<br />
Die Welt als Wille und Vorstellung die wirklichkeitsfremde Denkweise<br />
Hitlers auf den bitteren Nenner: Die Welt als Wille ohne Vorstellung“.<br />
Wenn ich hier behaupte, man hätte aus der Abwehr zum Chef machen<br />
können, wen man wollte, so wird das unter anderem damit illustriert,<br />
dass auch der nächstbeste Kandidat auf deutscher Seite gekämpft hat<br />
und nicht auf der österreichischen, zumindest nicht für Hitlermausi.<br />
„Als Gehlens Stellvertreter Gerhard Wessel unterrichtet wurde, dass<br />
der Umsturzversuch missglückt war, öffnete er mit einem Nachschlüssel<br />
den Schreibtisch seines erkrankten Chefs und vernichtete die<br />
belastenden Unterlagen. Als die Gestapo dann am nächsten Tag in<br />
Gehlens Büro eindrang, konnte sie keinen Hinweis auf die konspirative<br />
Verbindung des FHO-Chefs zum Widerstandskreis mehr finden. So<br />
blieb dem General ein ähnliches Schicksal erspart wie dem Abwehrchef,<br />
Admiral Wilhelm Canaris, der wenige Monate später im Konzentrationslager<br />
Flossenbürg unter dem Fallbeil starb.“<br />
Ein anderer Akteur neben Gehlen, der den Amerikanern später Angst<br />
vor den Sowjets einjagte, war Hans Herwarth von Bittenfeld. Er war<br />
Ende der dreißiger Jahre ein Diplomat an der deutschen Botschaft an<br />
der Moskwa. „Er erzählte US-Vertrauensleuten alle Einzelheiten der<br />
deutsch-sowjetischen Annäherung von 1939. Nach dem Krieg wurde er<br />
Protokollchef des Auswärtigen Amtes (bis 1955), Botschafter in London<br />
100
<strong>1945</strong><br />
(1955-1961), Chef des Bundespräsidialamtes (1961-1965), Präsident des<br />
Goethe-Institutes (1971-1977) und nach der Pensionierung Aufsichtsratsvorsitzender<br />
der Deutschen Unilever.“<br />
Wie begeistert dieser deutsche Diplomat von Hitlers Außenpolitik war,<br />
erfahren wir von Strauß: Hans Herwarth von Bittenfeld „war ein hoch<br />
angesehener Diplomat, der in den dreißiger Jahren an der Deutschen<br />
Botschaft in Moskau tätig gewesen war und am Tag nach dem Hitler-<br />
Stalin-Pakt aus Protest in das Heer eintrat, ein mutiger Schritt, aus<br />
dem er nie Aufhebens machte.“ Erläuternd hieß es an anderer Stelle:<br />
„denn die Wehrmacht, namentlich das Heer, war keineswegs die<br />
Speerspitze des Nationalsozialismus, sie war im Gegenteil in gewisser<br />
Weise sogar ein Refugium, das vor vielerlei Zumutungen des Regimes<br />
eine gewisse Zuflucht bot. Auch Hitler hat das nicht anders gesehen,<br />
schließlich kam aus dem Heer der einzige ernst zu nehmende Schlag<br />
gegen ihn.“<br />
Sehr viel deutlicher noch als Strauß wurde der Autor Peter Hoffmann<br />
in seinem Aufsatz für Aufstand des Gewissens <strong>–</strong> Militärischer Widerstand<br />
gegen Hitler und das NS-Regime: „Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />
gab es im nationalsozialistischen <strong>Deutschland</strong> offen organisierten<br />
Widerstand nur vonseiten der Kirchen und der Reichswehr; danach<br />
stellten sich einzelne, meist an einflussreicher Stelle, aber nicht unter<br />
Berufung auf ihre Amtspflicht, sondern in persönlicher Gewissensentscheidung<br />
gegen das Regime. Bei Ausbruch des Krieges kamen zu den<br />
Berufssoldaten und Wehrdienstpflichtigen Regimegegner aus zivilen<br />
Berufen in die Wehrmacht, z. B. in das OKW/Amt Ausland/Abwehr der<br />
Jurist und Reichsgerichtsrat Dr. Hans v. Dohnanyi als Sonderführer<br />
(Major), ferner Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, die Juristen Dr. Hans<br />
Bernd Gisevius und Dr. Josef Müller [über ihn werden Sie mehr hören,<br />
und nach weiteren Namen schließt dieser Satz mit] Peter Graf York,<br />
Ulrich Graf Schwerin, Hans Herwarth v. Bittenfeld dienten im Heer.“<br />
Sollten Sie die Wehrmacht für einen gewöhnungsbedürftigen Fluchtpunkt<br />
für oppositionelle Zivilisten halten, dann geht es Ihnen wie mir.<br />
101
<strong>1945</strong><br />
Darauf muss man ja wirklich erst einmal kommen. Aber dort sind die<br />
Waffenträger in einer großen Anzahl zu finden, die gegen scheußliche<br />
Zustände mehr tun können, als Flugblätter gegen den Krieg verteilen.<br />
Die von den Leuten noch nicht einmal gelesen werden. Sehr energisch<br />
verteidigt Hans Bernd Gisevius in den zwei Bänden Bis zum bittern Ende,<br />
die 1947 erschienen, die Frauen und Männer, die in ihren Ämtern verblieben,<br />
um gegen Diktatur und Krieg zu kämpfen. Er klärt, dass „von<br />
außen“ wenig zu erreichen war. Unter anderem heißt es bei ihm, der<br />
sicher über jeden Zweifel erhaben ist: „Nein, die Linke hatte einfach<br />
keine Chance, dabeizusein! Denn politisch und soziologisch standen<br />
die Angehörigen der Mitte und Rechten den Generälen und hohen<br />
Staatsbeamten näher. Und darauf kam es an, nachdem die Möglichkeit<br />
eines Aufstandsversuches von unten verpasst war.“<br />
Und woher weiß so ein oppositioneller Zivilist, wo er sich hinwenden<br />
muss mit seinem Anliegen? Da kann man ja nicht den Flur lang gehen,<br />
nach dem Lottoprinzip mal an eine Tür klopfen und sagen: Guten Tag,<br />
ich bin der oppositionelle Zivilist. Ich will jetzt mal etwas gegen die<br />
scheußlichen Zustände unternehmen. Das ging damals böse ins Auge.<br />
Aber ein solches Vorgehen war 1939 schon nicht mehr nötig: „Oberstleutnant<br />
Oster war auch der maßgebliche Verbindungsmann zu zivilen<br />
Oppositionellen, vor allem aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes.<br />
Dort hatten einige verantwortungsbewusste Diplomaten ebenfalls die<br />
Gefahren von Hitlers außenpolitischem Hasardspiel erkannt.“<br />
Wenn ich den Autoren des Buches Verrat in der Normandie <strong>–</strong> Eisenhowers<br />
deutsche Helfer, den empörten Friedrich Georg, richtig verstehe, hatten<br />
neben Reinhard Gehlen allerdings noch weitere deutsche Militärs die<br />
Gefahren der verbrecherischen Kriegsführung erkannt und dem Krieg<br />
den Krieg erklärt. Die National-Zeitung war so freundlich, sein feines<br />
Buch publik zu machen.<br />
Friedrich Georg hat in mühevoller Detailarbeit den Weltkrieg nachträglich<br />
gewonnen, ein Unterfangen, das ich früher immer für einen<br />
ziemlich sinnlosen Zeitvertreib für ältere Herren und für kleine Jungs<br />
102
<strong>1945</strong><br />
hielt. Im einleitenden Text wird gesagt, dass der empörte Autor der<br />
Frage nachgeht, „ob organisierter Verrat und Sabotage durch hohe<br />
und höchste deutsche Offiziere den Erfolg der alliierten Landung in<br />
der Normandie erst möglich gemacht haben. Autor Friedrich Georg<br />
geht zahlreichen Anzeichen nach, dass es im Juni 1944 am Atlantikwall<br />
eine organisierte Verschwörung gegeben haben könnte. Neue Erkenntnisse,<br />
die sich aus der Freigabe geheimer russischer Archive, aus<br />
Berichten von Militärwissenschaftlern, Memoiren der Beteiligten, sowie<br />
kritischen Untersuchungen von Fachleuten ergeben, erfordern<br />
nach Ansicht des Verfassers eine völlig neue Sicht auf die Invasion.<br />
Georg hat eine atemberaubende Indizienkette zusammengetragen, die<br />
es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass allein Zufall für das Versagen<br />
der deutschen Seite verantwortlich gewesen ist.“<br />
In einem Interview wurde der Autor gefragt: „Obwohl die Verteidiger<br />
am Strand von der deutschen Führung ihrem Schicksal überlassen<br />
wurden, hätten diese über Stunden beinahe allein schon die Landung<br />
in Bedrängnis gebracht. Die deutsche Hauptmacht aber wartete bis<br />
Ende Juli 1944 untätig Gewehr bei Fuß auf eine angebliche zweite alliierte<br />
Invasion in Pas-de-Calais, die nie kam. Hätte die Invasion in der<br />
Normandie beim rechtzeitigen Einsatz aller deutschen Einheiten abgewehrt<br />
werden können?“<br />
Darauf antwortete der empörte Autor Friedrich Georg: „Ja, eindeutig.<br />
Hier sind sich alle Fachleute auf beiden Seiten der ehemaligen Kriegsgegner<br />
einig. Es standen genügend deutsche Truppen bereit, um noch<br />
in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 in den Invasionsraum herangeführt<br />
zu werden, da hätte man noch nicht einmal die 15. Armee in<br />
Pas-de-Calais als Sicherheitsreserve benötigt. Nach der unterbliebenen<br />
rechtzeitigen Alarmierung der Küstenverteidigung war das Ausbleiben<br />
des vom deutschen Kriegsplan geforderten gepanzerten Gegenstoßes<br />
der zweite bisher unerklärliche Kardinalfehler der deutschen Verteidigung.<br />
Stattdessen überließ man die Verteidiger am Strand ihrem<br />
Schicksal, nachdem man ihnen noch wenige Tage vor der Landung die<br />
Hälfte der Munition weggenommen und nach hinten abgefahren hatte.<br />
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<strong>1945</strong><br />
Dennoch brachten die wenigen stationären Divisionen der Strandverteidigung<br />
die Invasionstruppen zeitweise in große Schwierigkeiten,<br />
und so gab es vom 10.<strong>–</strong>15. Juni 1944 in London eine inoffizielle Erörterung<br />
der englischen und US-amerikanischen Stabschefs. Dabei beschloss<br />
man sowohl den Ausbau des Landungskopfes als auch den<br />
Rückzug der alliierten Truppen, falls die Wehrmacht ihren Widerstand<br />
verstärken und innerhalb von sieben bis acht Tagen einen größeren<br />
Gegenschlag führen würde. Dies fand nicht statt, stattdessen hielten<br />
die inadäquaten Handlungen des OKW und der Befehlshaber der Heeresgruppen<br />
an. Der dritte große Fehler der Deutschen war, die in unmittelbarer<br />
Nähe vorhandenen Reserven Wochen oder Monate hindurch<br />
nicht einzusetzen. Ein in der Kriegsgeschichte nahezu einmaliger<br />
Vorgang. Trotz allem befanden sich die Alliierten noch Mitte Juli<br />
1944 in einer Krise, was die Deutschen nicht einmal bemerkten.“ Das<br />
lag dann sicherlich daran, dass Deutsche in aller Regel doof sind und<br />
nichts bemerken. Jeder darf jedoch selbst entscheiden, ob er meint, es<br />
habe sich bei den Fehlern der führenden deutschen Offiziere wirklich<br />
um Fehler gehandelt <strong>–</strong> und worin zu jener Zeit die Alternative bestand.<br />
Der Redakteur der National-Zeitung fragte danach: „Worauf führen Sie<br />
zurück, dass die deutschen Verteidigungskräfte zurückgehalten wurden<br />
und sich auf der Kommandoebene der Deutschen Fehler an Fehler<br />
reihte?“ Darauf antwortete der verzweifelte Friedrich Georg: „In Anbetracht<br />
der lückenlosen Indizienkette mehr als höchst merkwürdiger<br />
Ereignisse im Umfeld der Landung, die für die deutschen Betroffenen<br />
an der Front oft tragisch endeten, bleibt jedem objektiven Betrachter<br />
nur der eindeutige Schluss übrig, dass wir es hier mit einer organisierten<br />
Aktion hoher und höchster deutscher Offiziere zu tun haben. Gemeinsames<br />
Ziel war die eigene Niederlage!“ Bei der Analyse der Front<br />
im Westen deckt sich das bei den „inadäquaten Handlungen des OKW“<br />
sogar in der Wortwahl mit Valentin Falins Darstellung in Zweite Front.<br />
Auf die Frage: „Wussten die Westalliierten, dass Verrat und Sabotage<br />
auf der deutschen Seite ihnen in die Hände spielen würde?“ sagte Herr<br />
Georg: „Seit 1943 waren hier aktive Verhandlungen im Gange, um den<br />
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<strong>1945</strong><br />
Alliierten ihre riskante Landung mit deutscher Hilfe zu ermöglichen.<br />
Die Verhandlungen liefen vor allem über die Türkei, Spanien und die<br />
Schweiz. Maßgebend war wohl das Treffen zwischen Canaris, Donovan<br />
und Menzies in Santander im Sommer 1943, das alles Weitere in die<br />
Wege leitete. Bis Mai 1944 lagen Roosevelt mehrere deutsche Angebote<br />
vor, die Invasion zu erleichtern. Aus dem Leverkühn-Brief wissen wir,<br />
dass dazu verspätete Abwehrmaßnahmen gehörten, wie sie dann ja<br />
auch erfolgten. Eisenhower durfte also darauf hoffen, dass sein Landungsrisiko<br />
verringert werden würde.“<br />
Stellvertretend für die amerikanische Wahrnehmung dieser Vorgänge<br />
soll James H. Critchfield zu Wort kommen, der während dieses Krieges<br />
Offizier der US-Army war: „Der Verlauf des Krieges änderte sich rasch.<br />
Die an der Westfront operierenden deutschen Streitkräfte versuchten<br />
nicht länger, den vorstoßenden alliierten Truppen entschlossenen Widerstand<br />
entgegenzusetzen.“ Das erklärte er sich so: „Nach den Vorstellungen<br />
der meisten deutschen Befehlshaber war die Beendigung<br />
des Krieges durch einen Sieg der Westmächte derjenigen durch einen<br />
Sieg der Sowjets vorzuziehen.“<br />
Rückte Präsident Franklin D. Roosevelt auch deshalb vom Morgenthau-<br />
Plan des Finanzministeriums ab, der eine Deindustrialisierung unseres<br />
Landes vorsah, und folgte schließlich dem Rat des Kriegsministeriums,<br />
der empfahl, mit den Deutschen „milde umzugehen“? Als eine Gegenleistung<br />
für die Unterstützung des Sieges über Nazi-<strong>Deutschland</strong>? Das<br />
könnte man denken, wenn man Zweite Front von Valentin Falin liest.<br />
Der Gewinner Georg wurde auch gefragt, „welche hohen und höchsten<br />
deutschen Offiziere“ dabei eine entscheidende Rolle gespielt hätten,<br />
worauf Georg sagte: „Wir können hier nur von Indizien ausgehen, die<br />
aber teilweise recht massiv und überzeugend sind. Danach sind die<br />
Handlungen von Canaris, Speidel, Dollmann, von Roenne, Wagner,<br />
Finkh und später von Kluge sehr auffällig <strong>–</strong> um es milde auszudrücken.<br />
Eine Vielzahl von weiteren Entscheidungsträgern im Westen und bei<br />
OKW und OKL haben dabei eifrig mitgewirkt. Ich denke hier nur mal<br />
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<strong>1945</strong><br />
an die Vorgänge bei der Luftwaffe.“ Herr Georg scheint häufig in den<br />
einschlägigen Archiven zu sein und selten in den Büchern von Leuten<br />
zu schmökern, die sich mit dem Widerstand gegen die Naziherrschaft<br />
beschäftigen. Dort findet man Namen der von ihm benannten Männer<br />
nämlich wieder. Es wird nun sicher niemanden verwundern, dass die<br />
Deutschen, die vom Widerstand führender Offiziere gegen den Endsieg<br />
des neuen Napoleon wussten, nach dem Krieg nicht hausieren gingen<br />
mit dem Wissen. Der empörte Autor des Buches Verrat in der Normandie<br />
<strong>–</strong> Eisenhowers deutsche Helfer fand nun durchaus keine Erklärung dafür,<br />
warum sich Deutsche in Entscheidungspositionen für den Krieg gegen<br />
diesen Krieg entschieden hatten. Als ob man sich jetzt die Motive jener<br />
Männer nicht an sehr wenigen Fingern abzählen könnte, gab Georg auf<br />
die diesbezügliche Frage eine freundlich zurückhaltende Antwort: „Es<br />
ist nach über 60 Jahren kaum möglich über die Motive von Leuten zu<br />
sprechen, die teilweise noch nicht einmal bekannt sind. Ich möchte<br />
mich deshalb hier nicht an solchen Spekulationen beteiligen.“<br />
Nö, an solchen Spekulationen über die Motivationen jener Menschen<br />
mochte sich dieser Herr nicht gern beteiligen; aber über seine Spekulationen<br />
zu „Verrat und Sabotage auf der deutschen Seite“ schrieb der<br />
gute Mann ein ganzes Buch. Dafür hat seine Zeit gereicht. Je länger ich<br />
mich mit der Materie beschäftige, desto mehr weiß ich die mäßigende<br />
Wirkung eines guten Pfarrers zu schätzen. Der konnte den kleinen<br />
Jungs beispielsweise schon sehr früh das Bibelwort beibringen, Du<br />
sollst nicht töten <strong>–</strong> mal abgesehen von Zeiten des Krieges. Aber dann<br />
sollst du nicht viehisch töten. Es gab nämlich auch damals schon verabredete<br />
Normen für die Kriegsführung, und wer auch bloß Gerüchte<br />
darüber gehört hatte, wie mit Partisanen in der Sowjetunion oder mit<br />
Partisanen der französischen Resistance umgegangen wurde, wird gebetet<br />
haben, dass es keine Kollektivstrafe für all jene Männer gibt, die<br />
in deutschen Uniformen gesteckt hatten, ganz zu schweigen von ihren<br />
Frauen in der Heimat. Hier dürfte sicherlich auch ein Zusammenhang<br />
zu den Aufständen der Wehrmacht gegen die SS in Wien und in Paris<br />
im Zusammenhang mit dem Attentat von 1944 bestehen.<br />
106
<strong>1945</strong><br />
Lassen wir uns von Reinhard Gehlen verraten, wie auch er in den Club<br />
geholt wurde: „Im Jahre 1943 wies mich General Heusinger kurz in die<br />
Widerstandsvorbereitungen ein. Nach allen Feststellungen und Überlegungen,<br />
die immer wieder auf Hitler als den Verantwortlichen für<br />
die bevorstehende Katastrophe führten, kamen mir Heusingers Hinweise<br />
nicht überraschend; gehörte doch der General, ebenso wie ich,<br />
zum Kreise derer, denen alle Nachrichten zugänglich und damit auch<br />
die Folgen für unser schwer ringendes Vaterland erkennbar waren. In<br />
der Folgezeit habe ich mich bemüht, in manchen Unterhaltungen mit<br />
meinem Regimentskameraden Stieff, damals Chef der Organisationsabteilung,<br />
auf die zwingend notwendige Beschränkung des Mitwisserkreises<br />
und vor allem auf allergrößte Vorsicht bei der Vorbereitung<br />
von Gewaltaktionen zur Beseitigung Hitlers hinzuweisen.“ Das erklärt<br />
natürlich, warum Adolf Heusinger unter Konrad Adenauer zum Leiter<br />
des Führungsstabes der Bundeswehr wurde.<br />
Was den letztendlich geleisteten Widerstand angeht, darf er gewiss<br />
auch nur als die Spitze eines Eisberges angesehen werden. Nicht jeder,<br />
der einmal irgendetwas nicht ganz in Ordnung fand, was da in seinem<br />
Blickfeld vorging, ist gleich losgezogen und hat Flugblätter unter das<br />
Volk geworfen. Ganz bestimmt nicht. Für alle, die es vergessen haben <strong>–</strong><br />
<strong>1933</strong> bildete sich in <strong>Deutschland</strong> über mehrere Monate allmählich eine<br />
Diktatur heraus, eine Regierungsform, die bis zu der Zeit hierzulande<br />
ohne historisches Vorbild war. Für den Umgang mit diesem Phänomen<br />
gab es somit auch keine fertige Handlungsanleitung. Seit dem späten<br />
Mittelalter waren die Leute in unserem Raum an eine funktionierende<br />
Rechtsprechung gewöhnt, und es ist umso höher zu würdigen, wenn<br />
einer unter den neuen Umständen auf eigene Faust oder ganz und gar<br />
zusammen mit anderen etwas gegen die neue Erfahrung einer Willkürherrschaft<br />
unternahm. Ich habe am Ende der achtziger Jahre auch in<br />
Bautzen gewohnt und wusste, dass es dort einen Stasi-Knast gab und<br />
habe mich nicht davor gestellt und protestiert. Unter Umständen wie<br />
diesen muss man sicher besonders sorgfältig überlegen, welches Risiko<br />
den Einsatz wert ist, wenn man effektiv etwas bewirken will. Das soll<br />
andererseits nicht gutheißen, wenn jemand gar nichts gemacht hat.<br />
107
<strong>1945</strong><br />
Einen Eindruck von seinen persönlichen Gefühlen in den dreißiger<br />
Jahren lieferte mein Namensgeber, Onkel Reinhard, der 1924 geboren<br />
wurde, in Spiegelbilder meiner Entwicklung: „Wenn in der jüngeren Vergangenheit<br />
ein namhafter Politiker [gemeint war Helmut Kohl, CDU]<br />
den Begriff der »Gnade der späten Geburt« prägte und damit meinte,<br />
Gott sei Dank in eine Zeit hineingeboren zu sein, die eine »Schuldzuweisung<br />
für die Gräuel der Nazizeit« nicht mehr zulasse, so kann bei<br />
meiner Generation wohl eher von einem »schicksalhaft gnadenlosen<br />
Geburtstermin« gesprochen werden. Mit dem politischen Umbruch<br />
<strong>1933</strong> wurden Weichen gestellt, die unsere Nation direkt ins Verderben<br />
lenkten. Als das Volk den neuen Herrschern zujubelte, waren wir noch<br />
Kinder, und so prägte mich diese Zeit nachhaltig. Frühzeitig geriet ich<br />
in einen Zwiespalt. Mein sozialdemokratisches Elternhaus lehnte das<br />
an die Macht gekommene Regime ab. Schule und Hitlerjugend verlangten<br />
von mir, der neuen Ideologie bedingungslos zu folgen; und das,<br />
obwohl uns diese Institutionen <strong>–</strong> aus heutiger Sicht betrachtet <strong>–</strong><br />
gnadenlos und systematisch auf einen Krieg vorbereiteten, der ohne<br />
den Endsieg nicht vorstellbar war. Ich kann sagen, dass die damals<br />
erlernte Maxime, etwas zu akzeptieren, was ich selbst bzw. mein<br />
Elternhaus ablehnte, sowohl meine Kindheit als auch die Zeit darüber<br />
hinaus stark beeinflusst hat.“<br />
Warum wurde diese für <strong>Deutschland</strong> historisch neue Zwangssituation<br />
für die Nachgeborenen nicht realistisch vermittelt? Warum wurde so<br />
verfahren, wie es der Journalist und der spätere Diplomat Günter Gaus<br />
beschrieben hat: „Der in der Bundesrepublik mehrheitlich anerkannte<br />
Widerstand gegen die damalige Mehrheit des deutschen Volkes, die<br />
nationalsozialistischen Bürokraten, Handlanger und Mitläufer in allen<br />
Schichten der Gesellschaft, war bald nach der Staatsgründung im Jahre<br />
1949 auf die Opposition in Stabsquartieren, auf Rittergütern und in<br />
großbürgerlichen Herrenzimmern eingegrenzt worden. So wurde der<br />
befremdliche Vorgang von Verweigerung, von Unangepasstheit für die<br />
<strong>–</strong> tonangebende, breit gewordene, in manchen Formen neuartige, in<br />
den Machtstrukturen und Abhängigkeiten jedoch weithin restaurierte<br />
<strong>–</strong> Mittelstandsgesellschaft in Kreise versetzt, zu denen man aufblicken<br />
108
<strong>1945</strong><br />
konnte, ohne sich im Verhalten und Benehmen mit ihnen vergleichen<br />
zu müssen. Ein Widerstand <strong>–</strong> nicht tatsächlich, aber in der öffentlichen<br />
Vorstellung <strong>–</strong> wie auf dem satinierten Papier der »Eleganten Welt«.<br />
Des Widerstands aus der Wohnküche, in Arbeitervierteln der Großstädte,<br />
der sich in aller Ohnmacht früher regte als der auf den Landsitzen<br />
und in Generalkommandos, wurde nach dem Kriege fast immer<br />
nur in betroffenen Zirkeln gedacht, wenig oder gar nicht von Staats<br />
wegen. Das Verschwinden des sozialdemokratischen Stadtverordneten<br />
aus der kleinbürgerlichen Nachbarschaft im Lager <strong>–</strong> das hätte selbst<br />
noch in der Erinnerung verlegen machen können.“ Und hätte, wäre es<br />
behutsam angewandt worden, heilsam gewirkt; stattdessen wurde die<br />
Erinnerung an diese Form des Widerstands verdrängt und abgewürgt.<br />
Wenn da aber viele in den deutschen Eliten, viele, die dafür in die KZs<br />
gegangen wurden, und viele, die nicht den Arsch in der Hose hatten,<br />
etwas zu unternehmen, gegen diesen größenwahnsinnigen Krieg und<br />
diesen furchterregenden Rassismus waren, so kann man mit Sicherheit<br />
nicht mehr von einem Dolchstoß reden. Dann hatte der Österreicher<br />
am Tage seiner Machtergreifung eher eine entsicherte Handgranate<br />
geschluckt. Eine Diktatur hat eben ihre eigenen Spielregeln, und es ist<br />
nicht einfach, dann brauchbare Leute zusammenzukriegen, mit denen<br />
man am Ende Pferde stehlen kann. So hat man sich das vorgestellt. Die<br />
Leute haben ruhiggehalten, also wollten sie tote Juden und den irren<br />
Krieg gegen den Rest der Welt. 98,7 Prozent.<br />
Wenn jemand mal Zeit hat, kann er mir vielleicht erklären, warum wir<br />
hier einfach kein ausgewogenes Geschichtsbild zustande bekommen.<br />
Kann man nicht sagen, dass sich in den dreißiger und vierziger Jahren<br />
bei den Deutschen ein Zivilisationskampf abspielte? Die einen waren in<br />
ihrem Übereifer zu jeder Schandtat bereit und hatten leider die Staatsführung<br />
auf ihrer Seite, und die anderen hatten leider Gottes in diesen<br />
Jahren die Staatsführung und die Justiz nicht auf ihrer Seite. Wem ist<br />
denn nur damit gedient, wenn die Ablehnung jenes völlig überhöhten<br />
Nationalismus in einer vergangenen Zeit danach zu einer pauschalen<br />
Verurteilung des Nationalstolzes führte? Sonst hätte man nach dem<br />
109
<strong>1945</strong><br />
Krieg konsequenterweise auch unsere Autobahnen wegreißen müssen.<br />
Ausgerechnet von Herrn Gehlen stammt folgende Erkenntnis: „Dieses<br />
wahrhaft stolze Gefühl meiner französischen Partner, ja aller Franzosen<br />
über die Parteien hinweg, hat mich häufig beeindruckt. Es drückte<br />
sich aus in den Worten eines französischen Freundes, der mir einmal<br />
sagte: »Nur der kann ein zuverlässiger Europäer werden, der zunächst<br />
einmal ein guter Franzose, ein guter Engländer, ein guter Italiener<br />
oder ein guter Deutscher ist und auf das Gute in der geschichtlichen<br />
Tradition seines Landes stolz ist.«“ So kann man das auch betrachten.<br />
Stefan Luft trat mit einem Buch für ein anderes Konzept bei der Integration<br />
von Zuwanderern nach <strong>Deutschland</strong> auf den Plan. Dort zitierte<br />
er unter anderem aus einem Artikel eines Reinhard Müller, der am<br />
3. November 2005 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand: „Woher<br />
soll der Stolz von Einwanderern auf das neue Heimatland kommen,<br />
wenn selbst die einheimische Elite ein distanziertes Verhältnis dazu<br />
pflegt? <strong>Deutschland</strong> ist ein Land, in dem Minister Probleme mit Amtseid<br />
und Hymne haben; in dem man selbst in Veranstaltungen des<br />
Goethe-Instituts mitunter kaum ein deutsches Wort hört; wo auf mancher<br />
Konferenz der Max-Planck-Gesellschaft ausschließlich deutsche<br />
Teilnehmer auf englisch radebrechen; ein Land, dessen führende<br />
Konzerne sich global nennen und gebärden, obwohl doch alle Welt<br />
sie als deutsch (oder gar bayerisch) wahrnimmt; ein Land, das das Interesse<br />
der Welt an seiner Sprache und an seinem Rechtssystem mit<br />
der Kürzung der Mittel für den Kultur und Wissenschaftsaustausch beantwortet.<br />
Warum sollte sich ein Türke zu diesem Land bekennen, das dessen<br />
eigene Bürger verachten?“ Schön ist auch sein Hinweis, dass in diesem<br />
Land jede Kultur willkommen ist, die nicht mit dem Attribut deutsch<br />
in Verbindung steht. Ich wünsche mir, dass den Kindern mit Stolz von<br />
den Männern und den Frauen erzählt wird, die in vielen Bereichen der<br />
Gesellschaft das ihnen Mögliche für das Ende der Herrschaft der Nazis<br />
und für ein Ende des Krieges getan haben. Mit Nationalstolz. Weil es<br />
nicht hilft, ihn wegzudiskutieren. Das gelingt ohnehin nur in einem<br />
Spektrum, das nicht zum Nazismus neigt, und überlässt sinnigerweise<br />
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<strong>1945</strong><br />
den Stolz auf dieses Land und seine Geschichte denen, die dem Namen<br />
dieses Landes Bärendienste erwiesen haben und noch heute erweisen.<br />
Als erstes Zeichen der schon lange überfälligen Perestroika in diesem<br />
Land will ich nie mehr verlogene Reden am 3. Oktober, dem Todestag<br />
von Franz Josef Strauß und späteren Tag der deutschen Einheit, hören<br />
müssen. Dieses Datum hatte sein bester Intimfeind, Helmut Kohl, super<br />
ausgewählt. Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den<br />
15. November als deutschen Staatsfeiertag, den Geburtstag von Claus<br />
Philipp Maria Graf Schenk von Stauffenberg. Wegen der Wahrheit und<br />
Klarheit der deutschen Politik.<br />
Damit komme ich zurück zu Aufstand des Gewissens <strong>–</strong> Militärischer Widerstand<br />
gegen Hitler und das NS-Regime. Die Beteiligung eines Franz Josef<br />
Strauß an der Verschörung wurde in dem Produkt aus dem Jahre 1985<br />
noch nicht erwähnt. Zu jener Zeit gab er seinem Publikum noch den<br />
Beelzebub. Hätte man um dieses feine Detail eher gewusst, wäre er von<br />
einigen sicher eher für den Dolchstoß gehalten worden. In dem Buch<br />
wurde zumindest angemerkt: „Schon die Ermittlung der Fakten war<br />
und ist <strong>–</strong> wie sich das angesichts des Untersuchungsgegenstandes fast<br />
von selbst versteht <strong>–</strong> äußerst schwierig. Trotzdem hat die historische<br />
Forschung in mehr als drei Jahrzehnten ohne Zweifel Bedeutendes geleistet,<br />
so dass die Militärgeschichte in vielen wichtigen Bereichen auf<br />
einigermaßen gesichertem Boden steht. Selbst diese Ergebnisse sind<br />
jedoch in der Bundeswehr und in der Öffentlichkeit keineswegs so verbreitet,<br />
dass die Teilnehmer der Diskussionen über dieses Thema <strong>–</strong> und<br />
der 40. Jahrestag des 20. Juli 1944 wird in besonderer Weise zu intensiver<br />
Diskussion anregen <strong>–</strong> von einer gemeinsamen Wissensgrundlage<br />
ausgehen können.“ Eine solche gemeinsame Wissensgrundlage hätten<br />
wohl auch die Alliierten gut gebrauchen können. Die Forschung hinkt<br />
ja sowieso immer hinterher; doch die Beteiligten haben gewusst, wer<br />
an all den verschiedenen missglückten Staatsstreichen beteiligt war;<br />
schwiegen sich darüber aber aus und forderten Schlesien zurück.<br />
111
<strong>1945</strong><br />
Die Auswahl des Personals für die Staatsführung im Westen<br />
Einer der Widerstandsgruppen gehörte jener Claus Graf Schenk von<br />
Stauffenberg an, der nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler<br />
vom 20. Juli 1944 am frühen Morgen des nächsten Tages hingerichtet<br />
worden war. Auch wenn dieses Attentat weder den Tod der anderen<br />
Hälfte der deutschen Kriegsopfer, die in der Zeit zwischen Juli 1944<br />
und Mai <strong>1945</strong> umkamen, noch das Sterben in den Lagern der Nazis verhindern<br />
konnte, handelte es sich doch um einen gut organisierten<br />
Staatsstreich, der eine neue Führung des Staates und des Militärs zur<br />
Folge haben sollte. Im Jahr 1944 standen für alle wichtigen Positionen<br />
im Reich schon Nachfolger bereit. Viele der Verschwörer wurden in<br />
den Wochen und Monaten nach dem Attentat furchtbar gefoltert, und<br />
einige von ihnen wurden damals grauenvoll hingerichtet. Das soll nun<br />
nicht verspätetes Mitleid bewirken, sondern eine Vorstellung von den<br />
Gefühlen vermitteln, mit denen die Überlebenden dieser Kreise in den<br />
Jahrzehnten nach dem Krieg ihre durchaus raffinierten Schachzüge in<br />
der Innen- und Außenpolitik umgesetzt haben. Es war die von mir sehr<br />
verehrte Schriftstellerin Christa Wolf, die in ihrer Kassandra die denkwürdige<br />
Erkenntnis festhielt: „Viel später fiel mir auf, dass, wie ein<br />
Mensch sich gegenüber Schmerz verhält, mehr über seine Zukunft<br />
verrät als die meisten andern Zeichen, die ich kenne.“<br />
Von Helmut Schmidt stammt die Schilderung von einem der Prozesse<br />
gegen die Anti-Hitler-Verschwörer von 1944 vor dem Volksgerichtshof<br />
in Leipzig: „Es war der Prozess gegen Leuschner, Goerdeler, von Hassel<br />
und Wirmer. Besonders habe ich Hassel und Wirmer erlebt, die einen<br />
vorzüglichen Eindruck auf mich gemacht hatten; sie standen mannhaft<br />
und bewahrten ihre Würde. Die ganze Verhandlung war aber nur<br />
eine Selbstdarstellung Roland Freislers [von 1942 bis <strong>1945</strong> Präsident<br />
des faschistischen »Volksgerichtshofes«], der dabei Goebbels’sche Intelligenz<br />
und demagogische Zungenfertigkeit mit dem Jargon des Pöbels<br />
vereinigte; sie war so bedrückend, dass ich nicht vermochte, auch<br />
den zweiten Tag wieder hinzugehen.“<br />
112
<strong>1945</strong><br />
Im Kern waren es wohl wirklich die Überlebenden des misslungenen<br />
Staatsstreiches vom Juli 1944, die dieses Land nach dem Krieg in neue<br />
Bahnen lenkten. Andreas Hermes wurde der erste Vorsitzende der<br />
Christlich-Demokratischen Union (CDU). „Hermes engagierte sich im<br />
Widerstand gegen das NS-Regime und hatte Kontakte zum Kreis um<br />
Carl Friedrich Goerdeler und zum Kreisauer Kreis. Nach dem Attentat<br />
vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und auf Grund seiner Nennung<br />
auf einer Ministerliste von Goerdeler als möglicher Landwirtschaftsminister<br />
am 11. Januar <strong>1945</strong> zum Tode verurteilt. Als Hauptmotiv für<br />
seine Beteiligung am Widerstand nannte er seine christliche Weltanschauung.<br />
Seine Frau erreichte, dass die Vollstreckung des Urteils<br />
mehrmals aufgeschoben wurde. Die Eroberung Berlins durch sowjetische<br />
Truppen bewahrte Hermes vor der Hinrichtung.“<br />
Es fällt allerdings auf, dass ein Teil der Beteiligten für die Idee einer<br />
Teilung des Landes nicht zu erwärmen war. Das bedeutet, dass sich<br />
noch während des Dritten Reiches in den kleinen Gesprächsgruppen,<br />
die sich damals trafen, herauskristalliert hatte, wer nun eine gesamtdeutsche<br />
Lösung vorzog und wer die Teilung dieses Landes als Lösung<br />
aller Probleme ansah. Aus den Umständen ergibt sich, dass den Befürwortern<br />
einer gesamtdeutschen Lösung nicht mitgeteilt wurde, dass<br />
das Konzept für die Teilung längst fertig war und die Vorbereitungen<br />
bereits im Gange. In jenen Monaten war ja General Gehlen mit seinen<br />
Mitarbeitern schon dabei, jene Feindlageberichte über die Rote Armee<br />
zu erstellen, die man den Amerikanern zu übergeben gedachte. Nach<br />
dem Krieg tobte zwischen diesen Gruppen die Auseinandersetzung.<br />
Andreas Hermes war offensichtlich einer von denen, die sich eine antifaschistische<br />
Neuordnung im Rahmen des ganzen Landes vorstellen<br />
konnten. Das dürfte der Grund gewesen sein, warum er nicht lange<br />
von Bedeutung war. Es fällt darüber hinaus auf, dass jene, die ins Exil<br />
gingen und auf eine europäische Friedensordnung geeicht worden<br />
waren, danach trachteten, den Kalten Krieg zu beenden und das Land<br />
zu vereinigen. Sicher erinnern Sie sich auf der anderen Seite auch<br />
noch an die Hinrichtung von Dr. Benedikt Schmittmann im Jahr 1939,<br />
der im Reichs- und Heimatbund deutscher Katholiken oder auch in der<br />
113
<strong>1945</strong><br />
Reichs-Arbeitsgemeinschaft deutscher Föderalisten versucht hatte, in<br />
den dreißiger Jahren bereits eine Abtrennung der westlichen von den<br />
östlichen Landesteilen zu erreichen.<br />
Eugen Gerstenmaier und Theodor Steltzer aus jenem Kreisauer Kreis<br />
wurden zu außenpolitischen Beratern Adenauers, ein Hans Lukaschek<br />
zum Minister für Vertriebene (das musste dann schon der Richtige<br />
machen), und auch ein Ludwig Erhard, der Vordenker des Wirtschaftswunders,<br />
hatte seine Empfehlung für einen Beraterjob bei Adenauer<br />
vom ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, dem Kopf des zivilen<br />
Widerstandes, Carl Friedrich Goerdeler, persönlich. Adenauer hatte in<br />
Vorbereitung des Staatsstreiches mit Carl Goerdeler Kontakt, und nach<br />
dem Attentat wurde Adenauers Frau gefoltert, weil die Gestapo das<br />
Versteck ihres Mannes herausbekommen wollte. Das wollen Sie sich<br />
ganz bestimmt nicht vorstellen. Und anschließend war der neunundsechzigjährige<br />
Mann nach 1934 erneut und diesmal ein halbes Jahr in<br />
Haft. Frau Adenauer hat damals versucht, sich das Leben zu nehmen.<br />
Sie starb kurz nach dem Krieg. Wollen Sie sich die Gefühle vorstellen,<br />
die der alte Mann den Deutschen gegenüber hatte? Von der Maas bis<br />
an die Memel alle auf den Mond schießen. Der hat die uferlose Sturheit<br />
der Altnazis lächelnd zum Werkzeug seiner Version von Demokratie<br />
gemacht. Franz J. Strauß sehe ich förmlich grinsen, als er brummte:<br />
„Man muss sich der nationalen Kräfte bedienen, auch wenn sie noch so<br />
reaktionär sind <strong>–</strong> mit Hilfstruppen darf man nicht zimperlich sein!“<br />
Konrad Adenauer wurde 1949 Kanzler der BRD, und Kurt Schumacher,<br />
der es bei einem anderen Wahlausgang geworden wäre, wurde wegen<br />
des Attentates 1944 auch wieder verhaftet. Der Wirtschaftsfachmann<br />
Ludwig Erhard von C. Goerdelers Gnaden wurde im Jahr 1963 Kanzler.<br />
Und welches Vorleben hatten andere Kanzler in Bonn am Rhein?<br />
Kurt Georg Kiesinger (NSDAP, später CDU) hatte an seinem Arbeitsplatz<br />
im Reichsaußenministerium „während seiner Tätigkeit in der<br />
rundfunkpolitischen Abteilung antijüdische Aktionen gehemmt und<br />
verhindert“. Es steht nicht in Frage, dass er <strong>1933</strong> in die NSDAP eintrat.<br />
114
<strong>1945</strong><br />
Wer allerdings verurteilen will, dass er aus der Partei nicht austrat, als<br />
klar wurde, wohin der Zug fuhr, sollte wissen, dass es auch in der<br />
nächsten deutschen Diktatur das weitaus größere Politikum war, aus<br />
der SED auszutreten, als gar nicht erst einzutreten. Davon abgesehen<br />
wäre es auch hilfreich gewesen, wenn sich mehr SED-Mitglieder einer<br />
weiteren Mitwirkung verweigert hätten, als sie bemerkten, dass ihnen<br />
ihr Eintritt in diese Partei nicht die erhoffte Möglichkeit bot, um die<br />
Partei von innen heraus zu verändern. Dieser Zeitpunkt wäre geeignet<br />
gewesen, um zu bemerken, dass es sich schon wieder um eine Diktatur<br />
handelte, in der der Einzelne, der daran etwas ändern will, nur die<br />
Möglichkeit hat, seine eigene Person aus dem Räderwerk zu nehmen,<br />
um es auf diese Art allmählich lahmzulegen.<br />
Der Katholik Kurt G. Kiesinger entzog sich dem Staat ohne Zeitverzug<br />
und „betätigte sich nach der zweiten juristischen Staatsprüfung, die er<br />
im Sommer 1934 ablegte, als freiberuflicher Rechtsanwalt und privater<br />
Rechtslehrer (Repetitor für Staats- und allgemeines Recht an der<br />
Friedrich-Wilhelm-Universität) in Berlin. Über weitergehende Kontakte<br />
zur NSDAP oder zu einer ihrer Untergliederungen verfügte er<br />
von nun an nicht mehr. Im Gegenteil: Er vermied es tunlichst, in den<br />
Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund (NSRB) einzutreten. Das<br />
war für einen Juristen im »Dritten Reich« eine seltene Ausnahme. Sein<br />
Name wurde im Berliner Anwaltsverzeichnis nicht im umfangreichen<br />
Teil der Mitglieder des NSRB, sondern zumindest bis 1938 zusammen<br />
mit den jüdischen Anwälten im angehängten schmalen Teil aufgelistet.<br />
Für eine Karriere war das auf alle Fälle wenig förderlich.“<br />
Da konnte er sich auf alle Fälle schon einmal mit dem Phänomen der<br />
Diskriminierung der Juden auseinandersetzen. Ich weiß nicht, ob man<br />
seit 1938 ein gebürtiger Jude sein musste, um in diesen angehängten<br />
schmalen Teil hineinzukommen, oder ob Juden schon 1938 aus dem<br />
Berliner Anwaltsverzeichnis gänzlich verschwanden.<br />
Kiesinger war sicher kein Hellseher, der im Sommer 1934 wusste, dass<br />
der Spuk nur noch elf Jahre dauern würde und dass ihm der Verzicht<br />
115
<strong>1945</strong><br />
auf eine berufliche Karriere unter den damaligen Umständen später<br />
eine politische Karriere ermöglichen würde. Geplant waren erstmal<br />
eintausend Jahre Drittes Reich, in denen es nach dem Chaos der Krise<br />
sozialpolitisch für die Mitschwimmer bis 1939 jedes Jahr besser wurde.<br />
Am 1. September 1939 hieß es dann im Radio: Ab heute wird zurückgeschossen;<br />
damit begann Adolf Hitlers Krieg um alles oder nichts. Als<br />
der Mittdreißiger Kiesinger im Frühjahr des Jahres 1940 schließlich<br />
selbst einen Gestellungsbefehl zur Wehrmacht erhalten hatte, half ihm<br />
Vitamin B (Beziehungen oder neu-deutsch auch Connections). „Der im<br />
Auswärtigen Amt tätige Heinz Gerstner wies Kiesinger darauf hin, dass<br />
in der Kulturabteilung Personal gesucht würde.“ Damals konnte man<br />
ja nicht irgendwie mal ganz einfach verweigern, sonst wurde man da<br />
irgendwie ganz einfach erschossen. Da war eine warme Amtsstube im<br />
Auswärtigen Amt doch die angenehmere Alternative. Jürgen Klöckler<br />
sagte auch ein Wort zum weiteren Werdegang des für Kurt Kiesinger<br />
rettenden Strohhalmes: „Heinz Gerstner machte später in der DDR<br />
Karriere als Journalist. Er war u. a. Chefredakteur der Berliner Zeitung<br />
und Moderator der Fernsehsendung Prisma.“<br />
Es ging einige Zeit ins Land, und es wäre Kiesinger um ein Haar auf die<br />
Füße gefallen, was die Deutschen zu allen Zeiten besser beherrschten<br />
als das selbstständige Nachdenken. Sie können andere gut verpfeifen.<br />
„Das Schlüsseldokument zur Rolle Kiesingers im Auswärtigen Amt ist<br />
die Denunziation durch seine beiden Mitarbeiter Ernst Otto Dörries<br />
und Hans Dietrich Ahrens, beide Referatsleiter in der Rundfunkpolitischen<br />
Abteilung. In einer Aufzeichnung vom 7. November 1944, die<br />
dem Reichssicherheitshauptamt und dem Persönlichen Stab des<br />
Reichsführers SS zuging, griffen sie ihn schwer an.<br />
Kiesinger wurde in dem Schriftstück der »Sabotage der antijüdischen<br />
Aktion« beschuldigt. Er sei Vertreter einer »liberalistischen Gesinnung«,<br />
»die entweder bewusst oder unbewusst den Radikalismus der<br />
nationalsozialistischen Weltanschauung ablehnt und als Wunschziel<br />
(oder festes Programm?) einen Ausgleich um jeden Preis mit der<br />
anglo-amerikanischen Welt anstrebt.<br />
116
<strong>1945</strong><br />
In der Rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes . . . ist es<br />
der frühere Verbindungsmann der Abteilung zum Pro[paganda]mi[nisterium]<br />
und jetzige stellvertretende Abteilungsleiter Kiesinger,<br />
der nachweislich die antijüdische Aktion hemmt.« Durch den Zusammenbruch<br />
des Deutschen Reiches im Frühjahr <strong>1945</strong> hatte die Denunziation<br />
keine unmittelbaren Folgen mehr für Kiesinger.“<br />
Jürgen Klöckler bastelte munter weiter an der Legende <strong>–</strong> es ist doch<br />
eine Legende? <strong>–</strong>, dieses Papier sei gerade rechtzeitig vor der Bundestagswahl<br />
1966 im Archiv des Hamburger Spiegel gefunden und Herrn<br />
Kiesinger von Conrad Ahlers (CDU/SPD) überreicht worden. Was man<br />
aber auch alles im Keller irgendwelcher Verlagshäuser finden kann!<br />
Die Insider hatten dieses Papier jedoch nicht gebraucht, um zu wissen,<br />
wen sie da vor sich hatten. Ihnen war Kurt Kiesingers Denken bereits<br />
1947 bekannt. Bei Jürgen Klöckler findet man den bewussten Vorgang<br />
so: „Kiesinger hatte das Glück, dass er über ein kleines »Netzwerk« von<br />
persönlichen Bekanntschaften mit nunmehr maßgebenden Persönlichkeiten<br />
Württemberg-Hohenzollerns verfügte; Bekanntschaften, die<br />
zum Teil schon ein Vierteljahrhundert währten.<br />
Erster Ansprechpartner in politischer Hinsicht war bei Kiesingers<br />
Rückkehr ins Württembergische Paul Binder, den er schon in seiner<br />
Studentenzeit kannte. [...] Auf Vermittlung seines ehemaligen Lehrers<br />
im Rottweiler Seminar, Dr. Karl Amann, durfte Kiesinger bei seinem<br />
Februar-Besuch in Tübingen auch beim Chef des Direktorialamts der<br />
von Carlo Schmid (SPD) geführten provisorischen Regierung, Ministerialrat<br />
G. H. Müller, vorsprechen. Müller, wie Kiesinger ein Intellektueller<br />
und eine Ausnahme-Erscheinung beim politischen Neubeginn,<br />
war in der NS-Zeit auf Grund seiner politischen Einstellung schon<br />
während seines Rechtsreferendariats auf Schwierigkeiten gestoßen<br />
und hatte die ungesicherte Existenz eines freien Schriftstellers einer<br />
Laufbahn im württembergischen Justizdienst, die in seinem Falle mit<br />
laufender Beobachtung durch die NSDAP verbunden gewesen wäre,<br />
vorgezogen.“<br />
117
<strong>1945</strong><br />
Wer in der BRD die zweite Garnitur war und wer die erste Wahl, wird<br />
deutlich, wenn Jürgen Klöckler an den Unglücklichen erinnert, der<br />
Kiesinger von früher her kannte und nunmehr versuchte, ihm aus der<br />
gemeinsamen Mitgliedschaft in dieser NSDAP einen Strick zu drehen:<br />
„Das Dokument wurde auch im Rahmen von Rechercheaufträgen aufgefunden,<br />
die im Umfeld des ehemaligen SS-Obergruppenführers Werner<br />
Best an eine amerikanische Historikerin in den dortigen Archiven<br />
vergeben worden waren. Der Kreis um Best neidete dem ehemaligen<br />
NSDAP-Parteigenossen Kiesinger den steilen bundesrepublikanischen<br />
Aufstieg, während ihnen der Zugang zu öffentlichen und politischen<br />
Ämtern versperrt blieb. Ziel der Recherchen sollte sein, möglichst eine<br />
Verstrickung Kiesingers in die NS-Politik gegen die Juden zu belegen.<br />
Doch dazu taugte die aufgefundene Denunziation überhaupt nicht.“<br />
Wenn Menschen wie er aber solch strahlende Vorbilder waren, harrt<br />
die Frage der Beantwortung, warum die unabhängigen Medien sie<br />
nicht gleich als strahlende Vorbilder darstellten. Kurt Georg Kiesinger<br />
wurde 1966 Kanzler der BRD.<br />
Helmut Schmidt, der Kanzler Brandt von der Verantwortung entband,<br />
schrieb über jene Zeit, die seine Jugend hätte sein können: „1941 in<br />
Russland hatte ich gelernt, mich innerlich auf Gott zu verlassen. Dabei<br />
blieb es auch während der weiteren Kriegsjahre, vor allem wenn die<br />
Angst kam. Aber wir hatten mit einem Übermaß an Angst zu leben:<br />
Angst vor russischer Gefangenschaft, Angst vor Verschüttung im Keller,<br />
Angst vor Aufdeckung der Abstammung, denn mein Großvater<br />
väterlicherseits war Jude, Angst vor einem Kriegsgerichtsverfahren,<br />
Angst vor der Gestapo und dem Volksgerichtshof, die ich als einheitliche<br />
Organisation erlebt hatte. Auch die Angst vor dem Tod hat eine<br />
große Rolle gespielt; man hoffte nur, er ginge schnell vor sich. <strong>–</strong> Das<br />
alles war jetzt im Mai <strong>1945</strong>, Gott sei Dank, zu Ende!“ Helmut Schmidt<br />
wurde 1974 Kanzler der BRD.<br />
Dem Genossen Erich Honecker (geb. 1912) fiel leider erst nach dem<br />
Umsturz vom Herbst 1989 in seiner Gefängniszelle in Berlin-Moabit<br />
auf, dass Dr. Helmut Kohl (geb. 1930) bei den Trauerfeierlichkeiten für<br />
118
<strong>1945</strong><br />
die beiden sowjetischen Staatschefs Jurij Andropow und Konstantin<br />
Tschernenko 1984 und 1985 in Moskau mit ihm über die „Widerstandsbewegung<br />
gegen Hitler, die Geschwister Scholl und andere“ sprechen<br />
wollte. Honecker wollte jedoch mit dem Bundeskanzler über ein Ende<br />
des Kalten Krieges sprechen. Honecker wurde selbstverständlich nicht<br />
Bundeskanzler; und Brandt blieb es nicht lange. Dass, wie bei Brandt,<br />
auch bei Genossen Honecker Agenten von der anderen Seite waren,<br />
fand man erst nach <strong>1990</strong> im Spiegel. Dr. Helmut Kohl war dann seit 1983<br />
Kanzler der BRD, und er blieb linientreu bis zum bitteren Ende und<br />
noch Monate danach: „Kohl hat, im Gegensatz zu anderen deutschen<br />
und ausländischen Akteuren und Analysten, lange Zeit nicht begreifen<br />
wollen, dass die deutsche Frage seit 1986 wieder offen war und eine<br />
operative Wiedervereinigungspolitik möglich gewesen wäre.“ Das ließ<br />
2005 der Politologe Ferdinand Kroh in dem Buch Wendemanöver gleich<br />
auf Seite 2 verlauten, und das Buch geht gut weiter. Ich bin gespannt,<br />
ob nach den Auswertungen wie der von Kroh die Gefahr gebannt wird,<br />
dass Kohl wegen der Vereinigung Europas der Friedensnobelpreis verliehen<br />
wird. Der Politologe setzte an dieser Stelle in Wendemanöver fort:<br />
„Helmut Kohl ignorierte 1987 und 1988 entsprechende Angebote von<br />
Gorbatschow und setzte sogar noch auf eine Konföderation, als der<br />
Zug <strong>–</strong> mit Gorbatschows Bonn-Besuch [im Sommer des Jahres] 1989 <strong>–</strong><br />
längst in Richtung deutscher Einheit abgefahren war.“<br />
Über den spektakulär vom Spieltisch gesetzten Bundeskanzler Brandt<br />
findet sich bei der mutigen Marion Gräfin Dönhoff dieser bitterböse<br />
Nachruf: „Wahrscheinlich haben Adenauer und Schmidt mehr für die<br />
Bundesrepublik geleistet als Willy Brandt. Aber wenn die zukünftigen<br />
Bürger dieses Landes von jenen vielleicht nur noch die Namen kennen<br />
werden, wird die Geschichte immer noch den Kniefall in Warschau zu<br />
berichten wissen. Denn das ist der Stoff, aus dem seit alters die Mythen<br />
und Legenden gewoben werden.“ Das war mit Bedacht formuliert, sie<br />
haben mehr getan für die Bundesrepublik. Nicht mehr und auch nicht<br />
weniger. Und folgerichtig hat Gräfin Dönhoff Willy Brandt in ihrem<br />
Buch Menschen, die wissen, worum es geht im Unterschied zu Helmut<br />
Schmidt kein Kapitel gewidmet. Der gute Willy Brandt merkte bis zum<br />
119
<strong>1945</strong><br />
Schluss nicht, dass es um die Zerlegung des Bismarck-Reiches von 1871<br />
in kleinere deutsche Staaten ging. Die spätere Staatsführung in Ost-<br />
Berlin revidierte ihre böse Einschätzung des braunen Adenauer-Staates<br />
bemerkenswerterweise noch nicht einmal dann, als immer mehr Geld<br />
heimlich in die DDR hineingepumpt wurde und als auf verschiedenen<br />
Wegen die vormaligen Aktivitäten hoher Bonner Beamter im antifaschistischen<br />
Widerstand bekannt wurden. So schrieb der Chefagent<br />
Markus Wolf über ein Gespräch, das bereits 1955 stattgefunden hatte:<br />
„Überraschendes erfuhren wir auch über den einflussreichsten CSU-<br />
Politiker, den Bundesfinanzminister Fritz Schäffer. [...] Auch dieser<br />
kleine, eher bescheidene und unauffällige Mann hatte eine andere<br />
Vergangenheit als die große Mehrheit der Funktionsträger im Bonner<br />
Staat, die dem Nationalsozialismus aktiv oder zumindest als Mitläufer<br />
gedient hatte. Schäffer war aus politischen Gründen mehrfach von der<br />
Gestapo verhaftet und schließlich in das KZ Dachau gebracht worden,<br />
aus dem er <strong>1945</strong> befreit worden war.“ Fritz Schäffer war dann nach der<br />
Gründung der Bundesrepublik ganz frei nach William Shakespeare der<br />
vierte Mann im Staate Dänemark. Der dritte war der mutige Mann des<br />
Widerstandes, Konrad Adenauer. Der zweite war Bundestagspräsident<br />
Erich Köhler, der wegen seiner jüdischen Frau so seinen Ärger mit den<br />
Nazis hatte. Und der erste Mann in der Bonner Republik war Bundespräsident<br />
Theodor Heuss, dessen Schrift Hitlers Weg <strong>1933</strong> im Rahmen<br />
der Bücherverbrennungen auf den Scheiterhaufen in vielen deutschen<br />
Städten landete. Und nach Minister Fritz Schäffer kamen immer noch<br />
eine ganze Reihe von Antifas in den führenden Positionen. Vielleicht<br />
hat die Staatsführung den Erkenntnissen von Markus Wolf ja einfach<br />
keinen Glauben geschenkt? Es wären solche Informationen gewesen,<br />
die eine Erklärung liefern konnten, warum die entscheidenden Leute<br />
in Bonn so vehement die Spaltung <strong>Deutschland</strong>s betrieben, wie es ostdeutsche<br />
Zeitgeschichtler in ihren Publikationen beschrieben hatten.<br />
Die angenommene Absicht einer Einverleibung der DDR hätte man viel<br />
einfacher haben können, bevor es 1949 tatsächlich zur Gründung eines<br />
zweiten deutschen Staates gekommen war. In den darauffolgenden<br />
Jahrzehnten waren es dann ausgerechnet die Hitler-Gegner, die wie<br />
vom Teufel besessen auf den alten Grenzen herumhackten.<br />
120
<strong>1945</strong><br />
Die Weltmacht wider Willen und die beiden Supermächte<br />
Der britische Historiker Timothy Garton Ash formulierte eine weitere<br />
spannende Beobachtung in seinem Buch Im Namen Europas <strong>–</strong> <strong>Deutschland</strong><br />
und der geteilte Kontinent: „Welche Art Macht war das vereinigte<br />
<strong>Deutschland</strong>? Während Nachbarn und Partner mit unklaren Begriffen<br />
wie »Vorherrschaft«, »Hegemonie«, »Dominanz« oder einfach »Führung«<br />
hantierten, war das Sortiment deutscher Selbstdefinitionen<br />
immer immens.“ Und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: „Noch<br />
vor der Vereinigung hatte ein Historiker die Bundesrepublik bereits<br />
als »Weltmacht wider Willen« beschrieben.“ Das ist nicht schlecht als<br />
Selbstdefinition für ein augenscheinlich besetztes und geteiltes Land.<br />
Es ist aber nicht relevant, ob die BRD Weltmacht sein wollte oder ob<br />
nicht; durch die Umstände war sie eine. Nachdem Dr. Kohl sein Werk<br />
über sein Werk unter die Leserschar geworfen hatte, erinnerte nun Die<br />
Zeit an einen der großen Denker der Weltmacht Bonn: „Helmut Kohls<br />
Geschichte beginnt mit der Berufung auf den Lieblingsphilosophen,<br />
den der Kanzler wohl oder übel mit Helmut Schmidt teilt, Karl Raimund<br />
Popper: Geschichte sei nicht Schicksal, sondern machbar.“ Wohl<br />
oder übel, denn der eine stand für die CDU und der andere für die SPD.<br />
Natürlich war unsere Geschichte machbar, wenn man es verstand, die<br />
Gegebenheiten der Situation nach <strong>1945</strong> auszunutzen. Schon nach der<br />
Rückkehr Adenauers von der Londoner Neunmächtekonferenz Anfang<br />
Oktober 1954 hatte sich der Kanzler im Vorstand der CDU auf die Zeit<br />
gefreut, in der man auch in Moskau einen Botschafter haben würde,<br />
was ein Jahr später geschafft war: „Wir haben dann auch den Status<br />
wiedererrungen, den eine Großmacht haben muss. Wir können dann<br />
mit Fug und Recht sagen, dass wir wieder eine Großmacht geworden<br />
sind.“ Im Februar 1959 konnte Sebastian Haffner schon ungestraft in<br />
dem Londoner Blatt The Observer hinterlassen: „Heute ist Westdeutschland<br />
in jeder Hinsicht wieder eine Großmacht, nur in militärischer<br />
nicht, es ist Großbritannien und Frankreich gleichrangig.“<br />
121
<strong>1945</strong><br />
In schonungsloser Offenheit gab Ex-Kanzler Helmut Schmidt dann<br />
auch dem Kapitel seines Buches Menschen und Mächte, das sich mit den<br />
Vereinigten Staaten von Amerika befasste, den Titel „Die USA <strong>–</strong> Von<br />
der Schwierigkeit, eine Weltmacht zu sein.“ Auch das will eben erst<br />
einmal gelernt sein. Die Deutschen hatten da immerhin schon seit den<br />
Zeiten des seligen Otto von Bismarck Erfahrung. Als sie den Alten, der<br />
so genial mit mehreren Bällen jonglieren konnte, rausgemobbt hatten,<br />
sind dann auch die Amateure ans Ruder gekommen, und dann sind die<br />
Anfängerfehler passiert. Erster Weltkrieg. Zweiter Weltkrieg.<br />
Nach dem zweiten Krieg der Herrenmenschen gegen den Rest dieser<br />
Welt war es schlussendlich gelungen, dass „die Amerikaner gegen ihre<br />
Tradition und gegen ihren Instinkt in Europa gewissermaßen festgenagelt“<br />
wurden, wie sich Franz J. Strauß freute. Auf diese Art gelang es,<br />
„das Schicksal der Westmächte so eng an das deutsche und unser<br />
Schicksal so eng an das der Alliierten zu binden, dass sie uns nicht<br />
mehr fallenlassen konnten“. Auch SPD-Chef Kurt Schumacher machte<br />
sich zum Beispiel am 25. November 1950 in Bonn darum verdient, die<br />
Amerikaner ins Land zu holen, weshalb dann die Russen das Land<br />
selbstverständlich nicht verließen: „Es ist gar nicht einzusehen, dass<br />
die amerikanischen Divisionen nicht in Grafenwöhr oder in der Lüneburger<br />
Heide ausgebildet werden, statt in Texas und Arizona.“ Es ist ja<br />
vielleicht auch nur eine Art Versehen, wenn westdeutsche Historiker<br />
analysier(t)en, Kurt Schumacher sei im Kampf gegen Herrn Adenauer<br />
aufgetreten gegen eine Westbindung der BRD. Profi-Historiker.<br />
Voraussetzung für eine Weltmacht BRD war natürlich, dass kein Land<br />
ihr diese Stellung streitig machen konnte. Wer waren die Mitbewerber<br />
der Dichter und Denker in Bonn am Rhein? Wer trachtete außer ihnen<br />
danach, das Gesicht der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zu prägen?<br />
Auch England und Frankreich waren durch diesen Krieg angeschlagen<br />
und auf amerikanische Hilfe angewiesen, um überhaupt wieder auf die<br />
Beine zu kommen. Die Sowjetunion wurde als kommunistischer Staat<br />
argwöhnisch beobachtet. Für eine richtungweisende Rolle kamen jetzt<br />
noch die Vereinigten Staaten in Frage. In seinen Memoiren fasste der<br />
122
<strong>1945</strong><br />
Historiker und US-Außenminister Henry A. Kissinger zusammen, was<br />
Washington daran hinderte, die Welt so zu gestalten, wie man sie sich<br />
gerne wünschte: „Der Mythos von der arglistigen und daher überlegenen<br />
ausländischen Diplomatie lebte bis in das 20. Jahrhundert weiter.<br />
Will Rogers konnte immer damit rechnen, die Lacher auf seiner Seite<br />
zu haben, wenn er seinen alten Witz machte: »Amerika hat niemals<br />
einen Krieg verloren und nie eine Konferenz gewonnen.« [William P.<br />
Rogers war unter Nixon der Vorgänger von Kissinger im Washingtoner<br />
Außenministerium.]<br />
So war Amerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlecht auf die Rolle<br />
vorbereitet, die es jetzt spielen sollte. Vergessen war die Staatskunst,<br />
mit der die Gründungsväter unsere Unabhängigkeit gewonnen hatten,<br />
verächtlich beiseite geschoben die Methoden, mit denen alle Nationen<br />
ihre Interessen wahren müssen. [...]<br />
Man betrachtete die Nachrichtendienste als unter unserer Würde,<br />
wenn nicht sogar als Bedrohung unserer Freiheiten.“ In Legacy of Ashes<br />
beschrieb Weiner im Detail, wie sich die guten Amerikaner anstellten,<br />
als sie mit ihrer CIA schließlich doch einen Auslandsgeheimdienst aus<br />
dem Boden gestampft hatten. Aber zurück zu Henry Kissinger und in<br />
die 1940er Jahre: „Der Zweite Weltkrieg dauerte schon eine ganze Zeit,<br />
bis wir durch einen Überraschungsangriff gegen amerikanischen Boden<br />
aus unserer Isolation aufgeschreckt wurden.<br />
Doch dann waren wir von der Idee des totalen Sieges so besessen, dass<br />
wir die Vorstellung verächtlich beiseite schoben, die Sicherheit der<br />
Nachkriegswelt könnte von irgendeinem Gleichgewicht der Kräfte abhängen.<br />
Deshalb waren wir über die politischen Entwicklungen nach<br />
dem Kriege sehr erstaunt.“<br />
„Die Vereinigten Staaten waren, ohne es zu wollen, zum Bewahrer des<br />
neuen Gleichgewichts geworden. Es ist das unbestrittene Verdienst<br />
jener Generation von Amerikanern, dass sie diese Verantwortung mit<br />
Energie, Ideenreichtum und Sachkenntnis übernommen hat.“ Klar. Mit<br />
Energie auf jeden Fall. Es kam in Gegenden der Welt zu Kriegen, von<br />
denen Europäer zuvor noch nie ein Wort gehört hatten. Unbestreitbar<br />
ein Verdienst der Amerikaner. Was andererseits die Sachkenntnis an-<br />
123
<strong>1945</strong><br />
geht, mit der zum Beispiel ein Kissinger ans Werk ging, bleiben keine<br />
Fragen offen, wenn er seit seinem Auftreten auf der Weltbühne in<br />
Bonn als der Super-Henry verspottet wurde. „Aber die Hochstimmung<br />
und Begeisterung dieser Periode mussten im Lauf der Zeit verblassen,<br />
wenn auch nur, weil wir mit den Konsequenzen unseres Erfolges konfrontiert<br />
wurden. Der Wiederaufbau in Europa und Japan erforderte<br />
die Anpassung unserer Beziehungen zu unseren Verbündeten an die<br />
neue Lage; die neu entstandenen Nationen, deren Unabhängigkeit wir<br />
gefördert hatten, würden mit Sicherheit einen größeren Anteil am allgemeinen<br />
Wohlstand beanspruchen, und nichts, was wir hätten tun<br />
können, hätte die Sowjetunion daran gehindert, sich vom Kriege zu erholen<br />
und ihre neue Machtstellung zu sichern.“<br />
Doch diese zweifelhafte Aufgabe, die Sowjetunion an der Überwindung<br />
der Folgen des Krieges zu hindern, hatten sich die Amerikaner selbst<br />
gestellt. Über die Folgen dieser verheerend falschen Schlussfolgerung<br />
für Ost-Europa kann man bei Kissinger nachlesen: „Ich möchte sogar<br />
bezweifeln, dass Stalin ursprünglich damit gerechnet hat, alle osteuropäischen<br />
Länder in den Kreis seiner Satelliten aufnehmen zu können;<br />
aus seinen ersten nach dem Kriege unternommenen Schritten <strong>–</strong> etwa<br />
der Zulassung freier Wahlen in Polen, der Tschechoslowakei und in<br />
Ungarn, die die Kommunisten überall verloren haben <strong>–</strong> könnte man<br />
schließen, dass er bereit gewesen ist, ihnen einen ähnlichen Status wie<br />
Finnland zuzubilligen. Doch unerwartet verschoben wir ernsthafte<br />
Verhandlungen auf einen Zeitpunkt, zu dem wir unsere potenzielle<br />
Streitkraft stärker mobilisiert hatten.“ Vergessen war die Staatskunst.<br />
Wie der erste Bundeskanzler in Bonn am Rhein seinen Alliierten und<br />
Freunden deutschen Fußball beibrachte, erfahren die interessierten<br />
Leserinnen und Leser bei John Dornberg: „Außerdem behauptet Bonn,<br />
die Teilung sei eine der Ursachen des kalten Krieges gewesen, jedoch<br />
nicht dessen Ergebnis. Daraus entstand die recht zweifelhafte Theorie,<br />
dass es vor einer deutschen Wiedervereinigung keine Entspannung in<br />
Mitteleuropa geben kann. Diese Maxime zwang Bonn, sich in alle<br />
Bemühungen um Entspannung einzuschalten, bis Präsident Lyndon<br />
124
<strong>1945</strong><br />
Johnson am 7. Oktober 1966 die neue Politik des Ost-West-Brückenbaues<br />
formulierte. Bis dahin schien jedes Arrangement gegen deutsche<br />
Interessen gerichtet, jede Änderung im Status quo als schädlich für die<br />
Wiedervereinigung. Solche Diplomatie führte zu Reibungen zwischen<br />
Adenauer und Präsident John F. Kennedy.<br />
Als Präsident de Gaulle ähnliche Gedanken verriet, kühlten sich die<br />
deutsch-französischen Beziehungen ab.“ Der Nachfolger Adenauers,<br />
Ludwig Erhard, legte die Beziehungen notfalls auch ganz auf Eis und<br />
sprach bei Staatsbesuchen der Franzosen gleich gar nicht mehr, woran<br />
Franz Josef Strauß erinnerte: „Konrad Adenauer und Charles de Gaulle<br />
waren trotz aller Unterschiede in Wesen und Prägung zwei Staatsmänner,<br />
die in geschichtlichen Bahnen dachten, die sich gegenseitig<br />
verstanden und respektierten. Die beiden hatten sich etwas zu sagen<br />
und hörten einander zu. Zwischen ihnen gab es nie eine lähmende<br />
Verlegenheit, weil sie unter dem Zwang gestanden hätten, wortlose<br />
Zeit überbrücken zu müssen, wie es mitunter zwischen dem General<br />
und Erhard der Fall war.“ Ex-Kanzler Helmut Schmidt äußerte über die<br />
mangelhafte Qualität von US-Präsident John F. Kennedy: „Mit einem<br />
Wort: 1961 hatte ich meine Zweifel, ob Kennedy, dem außenpolitische<br />
Erfahrungen offenkundig fehlten, genug Urteils- und Entschlusskraft<br />
zur Bewältigung internationaler Krisen besitzen würde.“ Doch nicht<br />
nur Adenauer und Erhard verstanden sich prächtig darauf, jeden Keim<br />
einer Entspannung zwischen den „Supermächten“ abzuwürgen. Auch<br />
unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger gelang es im Wesentlichen, solche<br />
sektiererischen Tendenzen auf ein Minimum zu begrenzen. Über die<br />
erste Konferenz derjenigen Staaten, die nicht über eigene Kernwaffen<br />
verfügten, knurrte Willy Brandt: „Wenn es nach einigen Kollegen im<br />
Kabinett, so Verteidigungsminister Schröder [CDU] gegangen wäre,<br />
hätte die Bundesrepublik in Genf durch Abwesenheit geglänzt.“<br />
Über die haarsträubende außenpolitische „Naivität“ der Amerikaner<br />
zeigte sich Helmut Schmidt „bestürzt“. Recht machen konnte man es<br />
Schmidt aber auch nicht. Als sich James Carters Sicherheitsberater<br />
zum Beispiel so langsam in seine neue Rolle hineingelebt hatte, hieß es<br />
dann: „Im Zuge dieses wachsenden Einflusses kam es 1977 zu zwei<br />
125
<strong>1945</strong><br />
Besuchen Brzezinskis bei mir; er trat unverhüllt als selbstbewusster<br />
Vertreter einer Weltmacht auf.“ Woher sollte der arme Mann denn<br />
auch wissen, bei wem er da gerade zu Besuch war? Ausgerechnet im<br />
Gespräch mit dem Moskauer Chef Leonid Iljitsch Breshnjew äußerte<br />
Schmidt über US-Präsident Ronald Reagan: „Auch ein erfolgreicher<br />
Gouverneur des Staates Kalifornien bringt zunächst nur etwa soviel an<br />
weltpolitischer Erfahrung mit wie Ihr Erster Sekretär in Kasachstan.“<br />
In Menschen und Mächte ließ er die Welt wissen, Reagans „Sprache ist<br />
unkompliziert“. Reagan war kein Gegner mit Chance gegen Schmidt.<br />
Der Maestro fasste sein Lob auf den Ronny so zusammen: „Mit einem<br />
Wort: als Gesprächspartner ist Ronald Reagan angenehm, wenngleich<br />
nicht sonderlich anregend. Diesen Eindruck hatte ich schon 1978, als<br />
Reagan <strong>–</strong> damals in Vorbereitung seiner Präsidentschaftskandidatur <strong>–</strong><br />
mich im Bundeskanzleramt besuchte.“ Spätere Besuche bei Reagan bestätigten<br />
dem Maestro „seine Neigung und Fähigkeit, komplizierte Zusammenhänge<br />
lediglich in vereinfachter Form aufzufassen und sie<br />
dann, nochmals vereinfacht, zu interpretieren und politischen Schlussfolgerungen<br />
zuzuführen“. Das hätte er nun auch noch deutlicher sagen<br />
können <strong>–</strong> die Fähigkeit oder seine Neigung zur Vereinfachung?<br />
Da Schmidt ein offener und ehrlicher Mensch ist, finden sich bei ihm<br />
Erklärungen dafür, warum diese Amerikaner gegen ihn natürlich keine<br />
Chance hatten. Einerseits fiel dem Maestro „der naive Optimismus der<br />
Amerikaner“ auf, und andererseits merkte er an, dass es „nicht unbedingt<br />
eine amerikanische Stärke ist“, einmal zurückzublicken. Sicher<br />
blicke ich ebenfalls nicht ständig zurück. Ich habe mir die Arbeit hier<br />
auch nur gemacht, weil ich durchaus wissen wollte, warum diese Welt<br />
ein halbes Jahrhundert lang so viel Leid durch den Kalten Krieg hatte.<br />
Er wäre aber verkürzt worden, hätten die damaligen Akteure von Zeit<br />
zu Zeit unter einem neuen Blickwinkel alles Revue passieren lassen.<br />
Erst der Präsident George Bush, der nicht alle seine Qualitäten an seine<br />
Söhne weiterzugeben vermochte, „verstand bei seinem Amtsantritt im<br />
Weißen Haus mehr als die allermeisten seiner Vorgänger von Außenpolitik“.<br />
Das gab später Helmut Kohl zu Protokoll, und das war meines<br />
126
<strong>1945</strong><br />
Erachtens der wichtigste Grund, warum George Bush in der Lage war,<br />
die Teilung Europas <strong>1990</strong> zu beenden. Da hatte der große Kanzler aus<br />
dem lütten Städtchen Bonn am Rhein keine Chance mehr gehabt.<br />
Strauß äußerte sich zu den Auswirkungen der Weltmachtpolitik der<br />
Bonner Strategen ganz sachlich: „Die Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong> hat<br />
zwar in gewisser Weise immer eine Schlüsselrolle gespielt, nur in<br />
ihren Entstehungsjahren und während der Berlinkrisen bestimmten<br />
an sich regionale Ereignisse die weltpolitische Tagesordnung. 1961/62<br />
wurde dies durch die Überschichtung mit der Kubakrise vierzehn<br />
Monate nach dem Mauerbau in besonderer Weise augenfällig.<br />
Adenauers Denken und Sorgen konzentrierten sich jedoch bis zum<br />
Schluss auf das [west-]deutsche Schicksal. Hier Unheil abzuwehren sah<br />
er als seine politische und persönliche Aufgabe.<br />
Weitverzweigte globale Verflechtungen [Korea, dieses Land ist immer<br />
noch geteilt, und wenn die es nicht machen wie die Ost-Berliner, dann<br />
bleibt das auch so; Vietnam ging in den sechziger und siebziger Jahren<br />
in Flammen auf; und wegen des NATO-Raketenbeschlusses von 1979,<br />
den Kanzler Helmut Schmidt gegen Valéry Giscard d’Estaing, James<br />
»Jim« Callaghan und James »Jimmy« Carter durchgesetzt hat, musste<br />
später Afghanistan dran glauben] interessierten und bewegten den<br />
ersten Kanzler nur insoweit, als davon unmittelbar [west-]deutsche<br />
Interessen berührt waren.“<br />
Aus der heutigen Sicht ist mir der Antifaschismus Erich Honeckers von<br />
hinten lieber als Helmut Schmidts Antifaschismus von vorn. Wie es<br />
damals zu der Tragödie am Hindukusch kam, liefere ich Ihnen unter<br />
den Jahren von 1974 bis 1979. Danach war das ein Problem für andere.<br />
Es ist kein Zufall, dass wir dort heute militärisch nachbessern müssen.<br />
Schmidts Mist ausbaden. Weltmacht wider Willen war Bonn demzufolge<br />
nur bis zur Vereidigung von Helmut Schmidt. Danach tanzten alle die<br />
Puppen nach seiner Geige. Unter ihm hat sich die eine Supermacht tief<br />
in die Schulden gerüstet und die andere hat sich totgerüstet. Da halfen<br />
dann langfristig auch die Kredite nicht mehr, die westdeutsche Banken<br />
der Sowjetunion gewährten. Es wird einem nicht leicht gemacht, stolz<br />
127
<strong>1945</strong><br />
darauf zu sein, dass man zufällig ein Deutscher ist. Hier und da ist es<br />
verdammt peinlich. Franz Josef Strauß <strong>–</strong> Die Erinnerungen erschien nach<br />
dem Tod des Autors im Wolf Jobst Siedler Verlag zu West-Berlin. Auf<br />
der Rückseite dieses Buches steht: „Als Franz Josef Strauß am 3. Oktober<br />
1988 starb, lagen 1200 Manuskriptseiten seiner Erinnerungen vor.<br />
Noch wenige Tage vor seinem Tod arbeitete er daran. Sein Lebensbericht<br />
hebt an mit dem Hitler-Putsch vom 9. November 1923 an der<br />
Feldherrnhalle, und die letzten Eintragungen enden mit dem Besuch<br />
bei Gorbatschow im Kreml Ende Dezember 1987. Dazwischen liegen<br />
Triumphe und Niederlagen der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>. Strauß<br />
erzählt aus dem Zentrum der Macht.“<br />
Unter der unzweideutigen Überschrift: „Ohnmächtige Sieger <strong>–</strong> Wie die<br />
Alliierten daran scheiterten, <strong>Deutschland</strong> zu reformieren“ schrieb Der<br />
Spiegel: „Die Ziele waren edel, und die Sieger schienen allmächtig. Mit<br />
einer riesigen Koalitionsarmee waren die Alliierten ins »Dritte Reich«<br />
einmarschiert, um Hitler zu stürzen, <strong>Deutschland</strong> von Grund auf zu<br />
reformieren. Nie wieder sollte dieses Land die Welt mit Krieg überziehen.<br />
Damit das ambitionierte Programm auch umgesetzt wurde, übernahmen<br />
Briten, Amerikaner, Franzosen und Sowjets am 5. Juni <strong>1945</strong><br />
»die oberste Regierungsgewalt einschließlich aller Befugnisse der Regierung,<br />
Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden«.<br />
Die deutsche Niederlage sei der schlimmste Kollaps eines<br />
Imperiums »seit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches«, stellte<br />
der spätere Hochkommissar John McCloy kurz nach Kriegsende fest.<br />
Doch ausgerechnet jenes Volk, dessen Begeisterung für Befehl und Gehorsam<br />
Europa in Angst und Schrecken versetzt hatte, erwies sich nun<br />
in den Westzonen als überaus trickreich, wenn es darum ging, Anordnungen<br />
der Alliierten zu unterlaufen. Was hatte man sich nicht alles<br />
gewünscht in London und Washington [in Moskau und auch in Paris]:<br />
eine bürgernahe Verwaltung, in der die Juristenzunft nicht mehr die<br />
höheren Stellen monopolisierte, mehr Chancengleichheit in Schulen<br />
und Universitäten, eine Bodenreform. Vergebens.“ Eine Bodenreform.<br />
Dann war das gar kein kommunistischer Spleen?<br />
128
<strong>1945</strong><br />
Dass die rührenden Bemühungen der Alliierten um Europa vergeblich<br />
blieben, muss nicht unbedingt erstaunen. Werner Weidenfeld verriet<br />
seinem interessierten Publikum nachträglich: „Unzweifelhaft verstand<br />
Konrad Adenauer sich besonders auf das taktische Spiel im politischen<br />
Prozess. Die Antizipation der Interessen des Gegenüber, das Arrangement<br />
von Verhandlungspaketen, das Jonglieren mit unterschiedlichen<br />
Argumentationssträngen <strong>–</strong> alles das fällt immer wieder ins Auge, wenn<br />
man den Politiker Adenauer genauer verfolgt. Nicht selten hätte [der<br />
große Theoretiker einer sterilen Machtpolitik] Machiavelli seine helle<br />
Freude an ihm gehabt.“ Erinnern Sie sich an Ex-Außenminister Walter<br />
Scheels Worte der Würdigung für Niccolò Machiavelli?<br />
Hören Sie sich auch diese Einschätzung eines von Werner Weidenfeld<br />
nicht namentlich genannten Kritikers von Kanzler Adenauer an, um<br />
ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Chance die siegreichen Sieger<br />
gegen die besiegten Deutschen in Bonn am Rhein hatten: „Mir schien<br />
er [Adenauer] <strong>–</strong> wie ein Schachmeister <strong>–</strong> seinem Gesprächspartner im<br />
Denken immer um zwei Züge voraus zu sein. Gepaart mit Geduld, war<br />
diese Überlegenheit gewiss ein Teil seines Erfolges.“ Da nun aber die<br />
Wiedervereinigung nicht in seine Amtszeit fiel, muss der Erfolg wohl<br />
am anderen Ende gesucht werden.<br />
Auch was das Verwaltungszentrum dieses Landes anging, standen die<br />
Auffassungen des „Alten aus Rhöndorf“, wie der spätere Kanzler gern<br />
genannt wurde, im Widerspruch zu den Vorstellungen der verehrten<br />
Siegermächte. Sie wollten, wie oben erwähnt, <strong>Deutschland</strong> und keinen<br />
Rheinbund von Berlin aus verwalten. Und er? Der Historiker Heinrich<br />
A. Winkler erkundete: „Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
häuften sich bei ihm nicht nur antipreußische Äußerungen, sondern<br />
auch klare Absagen an Berlin als neue deutsche Hauptstadt.<br />
Da »Asien« jetzt bis zur Elbe vorgerückt war, musste sich der westliche<br />
Teil <strong>Deutschland</strong>s fest mit dem Westen Europas verbinden.“ Berlin war<br />
aber gar nicht die neue, Berlin war die alte deutsche Hauptstadt. Wozu<br />
brauchte der Mann eigentlich in diesem Alter noch eine neue Hauptstadt?<br />
Dazu passt ganz ausgezeichnet Helmut Schmidts Einschätzung<br />
129
<strong>1945</strong><br />
der Freunde und Alliierten hinter dem großen Wasser: „Das Weltbild<br />
der meisten Amerikaner <strong>–</strong> und der meisten amerikanischen Politiker <strong>–</strong><br />
reicht jedoch nur wenig über die Grenzen des eigenen Landes hinaus.<br />
Von daher rührt die Naivität in der Beurteilung und Behandlung anderer<br />
Staaten und ihrer Interessen, die wir häufig genug erleben.“<br />
Helmut Schmidt konstatierte in Menschen und Mächte also mehr als einmal<br />
die Naivität der Amerikaner. Besonders stolz war er darauf, dass er<br />
sie „die Devisenverluste, die den Amerikanern durch die Stationierung<br />
ihrer Truppen und deren Angehörigen entstanden“ letztendlich auch<br />
noch selber tragen ließ, nachdem Bonn „die Amerikaner gegen ihre<br />
Tradition und gegen ihren Instinkt in Europa gewissermaßen festgenagelt“<br />
hatte. Es kann nicht verwundern, dass Strauß später über sein<br />
Verhältnis zu Schmidt bekannte: „In der großen Linie [der Außenpolitik]<br />
gibt es keine Differenzen mehr zwischen ihm und mir.“ Sie dürfen<br />
jetzt nur nicht bedenken, dass der eine auf der demokratischen Bühne<br />
für die CSU, der andere für die SPD und der Alte für die CDU stand.<br />
Dann muss es ja auch nicht mehr erstaunen, dass Kanzler Helmut<br />
Schmidt aus der SPD und Kanzler Helmut Kohl aus der CDU denselben<br />
Lieblingsphilosophen hatten, Karl Raimund Popper, der ja unmissverständlich<br />
klargemacht hatte, Geschichte sei nicht Schicksal sondern<br />
machbar.<br />
Zur Machbarkeit trug übrigens nicht nur die Naivität der Amerikaner<br />
und ihre Unerfahrenheit im Umgang mit einem Geheimdienst bei. Es<br />
gab nach Weiner in den ersten vier Jahren der CIA vier Chefs dieser<br />
Behörde, Kompetenzgerangel und eine ganze Reihe unfähiger Leute in<br />
den führenden Stellungen. Um eine Vorstellung davon zu bekommen,<br />
welche Linie im Umgang mit der vermeintlich angriffslustigen Union<br />
der Sozialistischen Sowjetrepubliken sich schließlich in Washington<br />
durchsetzte, lasse ich gern noch einmal Tim Weiner zu Wort kommen:<br />
„Frank Wisner übernahm die Leitung der amerikanischen Geheimaktionen<br />
am 1. September 1948. Sein Auftrag: die Sowjets hinter die<br />
früheren Grenzen Russlands zurückdrängen und Europa aus der Hand<br />
der Kommunisten befreien.“ Dafür wurden die wildesten Abenteuer in<br />
130
<strong>1945</strong><br />
Ost-Europa in Angriff genommen, in deren Folge sich die Sowjets nun<br />
ihrerseits völlig zu Recht bedroht fühlten und viele der von der CIA in<br />
den Osten geschickten Leute umbrachten. Jetzt sahen sich wiederum<br />
die Akteure in der amerikanischen Hauptstadt in ihrer Einschätzung<br />
der Unmenschlichkeit dieser Sowjets bestätigt und traten auch selbst<br />
immer brutaler auf, eine Spirale des Grauens.<br />
Einen kurzzeitigen Hoffnungsschimmer gab es Anfang der fünfziger<br />
Jahre bei einem der Köpfe der Agency: „In Washington trat Frank Lindsay,<br />
der aus der Zentrale die Operationen in Osteuropa geleitet hatte,<br />
vor lauter Gewissensqualen von seinem Posten zurück. Er riet Dulles<br />
und Wisner dringend, die CIA-Strategie der gegen den Kommunismus<br />
gerichteten Geheimaktionen durch die Ausspähung der Sowjets mit<br />
wissenschaftlichen und technischen Methoden zu ersetzen. Mit wirklichkeitsfremden<br />
paramilitärischen Missionen zur Unterstützung fiktiver<br />
Widerstandsbewegungen könne man die Russen nicht aus Europa<br />
verdrängen.“ Sein Rat traf auf taube Ohren.<br />
„Die verdeckten Operationen wurden zum wichtigsten Faktor der<br />
Agency <strong>–</strong> mit den meisten Leuten, dem meisten Geld, der meisten<br />
Macht <strong>–</strong> und blieben es mehr als zwanzig Jahre lang. Der gesetzlich<br />
festgelegte Auftrag der CIA lautete, sie habe den Präsidenten mit den<br />
für die nationale Sicherheit der USA unverzichtbaren geheimdienstlichen<br />
Erkenntnissen zu versorgen. Aber zur Spionage fehlte Wisner<br />
die Geduld, es fehlte ihm die Zeit, die man für das Sichten und Prüfen<br />
geheimer Botschaften braucht. Wie viel leichter, einen Staatsstreich zu<br />
planen oder einen Politiker zu bestechen, als das Politbüro zu unterwandern<br />
<strong>–</strong> und nach Wisners Ansicht: wie viel dringlicher.“ Bravo. So<br />
ging es ja auch unserem Markus Wolf, der von sich sagte: „Die Arbeit<br />
am Schreibtisch hat mir nie behagt.“ Witzig, Gehlen hatte in seinem<br />
Arbeitszimmer ein Bild von Canaris zur Mahnung an der Wand.<br />
131
<strong>1945</strong><br />
Der Aufbau der Parteien in West-<strong>Deutschland</strong><br />
Trotz der Wirren in diesen Monaten und trotz der existenziellen Nöte<br />
machten sich einige wackere Streiter unmittelbar nach dem Ende des<br />
Krieges stracks an den Aufbau einer neuen Parteienlandschaft. Wer ein<br />
öffentliches Amt bekleiden wollte, musste damals die Erlaubnis dafür<br />
von den Alliierten einholen, die dann Erkundigungen einzogen, welche<br />
Rolle die betreffende Person in der Nazi-Zeit gespielt hatte. Zumindest<br />
im Westen wurde auch in dieser Frage gern auf den Rat der Bekennenden<br />
Kirche gehört, was ihr einen gewissen Einfluss auf die weitere Entwicklung<br />
sicherte. Seit dem Frühjahr <strong>1945</strong> baute Dr. Kurt Schumacher<br />
in Hannover eine Ortsgruppe der SPD auf, „noch illegal, weil vorerst<br />
ohne Lizenz der Alliierten“. Für die folgenden zwanzig Jahre übernahm<br />
„die gemäßigte Linke in Gestalt der Sozialdemokratie unter Kurt<br />
Schumacher und Erich Ollenhauer den nationalen Part“ und versuchte<br />
„sich als Partei des Primats der deutschen Einheit zu profilieren“. Sind<br />
Sie wie ich eines jüngeren Baujahres, sollten Sie diesen Gedanken noch<br />
einmal lesen, denn dann haben Sie die SPD anders in Erinnerung. Am<br />
Rande: die SPD war ursprünglich 1869 in Eisenach im Großherzogtum<br />
Sachsen-Weimar gegründet worden.<br />
In diesen Monaten entstanden auch verschiedene Parteien, die später<br />
in der FDP aufgingen. Zu Pfingsten <strong>1945</strong> lud dann ein älterer Herr, ein<br />
gewisser Dr. Niemeyer, „ihm von früher her bekannte Liberale in seine<br />
Wohnung Wolfsbachweg 22 in Bredeney ein, um die Gründung einer<br />
liberalen Partei (Namensvorstellung »Liberaldemokratische Partei«)<br />
zu besprechen.“ In dieser ersten Runde saß auch Wolfgang Rubin, der<br />
dann 1967 den Startschuss zu einer Kampagne gab, die die FDP zur<br />
Avantgarde in der Frage der Anerkennung der DDR machte. Unter den<br />
Eingeladenen war auch der frisch gewählte Präses der Evangelischen<br />
Kirche in <strong>Deutschland</strong>, der Dr. Gustav Heinemann. „Da er während des<br />
Dritten Reiches im Bruderrat der Bekennenden Kirche aktiv gewesen<br />
war, wurde er nach <strong>1945</strong> Präses der Synode, sozusagen Parlamentspräsident<br />
der Evangelischen Kirche in <strong>Deutschland</strong> (EKD). [...] Die Kraft<br />
des Bekenntnisses und Engagements brachte in der Situation von <strong>1945</strong><br />
132
<strong>1945</strong><br />
zwangsläufig auch politische Aufgaben, hohe Ämter mit sich. Heinemann<br />
war Oberbürgermeister von Essen, Mitglied des Landtags von<br />
Nordrhein-Westfalen, Justizminister in Düsseldorf.“ Die FDP wurde am<br />
7. April 1946 dann mit einigen Bürgerinnen und Bürgern gegründet.<br />
Auffallend viele wichtige Persönlichkeiten auf der Lenkungsebene der<br />
späteren Bundesrepublik kamen aus östlicheren Regionen des Landes.<br />
Hans-Dietrich Genscher, der ja überraschend spät aus Sachsen-Anhalt<br />
dazustieß, versuchte das nach dem GAU von 1989 als Beleg dafür zu<br />
nutzen, dass zumindest der F.D.P.-Führung vielleicht die Einheit dieses<br />
Landes am Herzchen gelegen haben könnte. In seinem dicken Lebensrückblick<br />
schrieb er: „Der Wille zur deutschen Einheit war in der F.D.P.<br />
stets ein zentrales Anliegen. Bei keiner anderen Partei war eine so<br />
große Anzahl von Ost- und Mitteldeutschen in wichtigen Funktionen:<br />
Mende war Oberschlesier, Döring Leipziger, Schollwer Brandenburger,<br />
Hoppe kam aus Stralsund, Flach war Ostpreuße, Starke war Schlesier<br />
wie Mende, Mischnick war Dresdner.“<br />
„Genschman“ hätte allerdings viel Papier einsparen können, wenn er<br />
seine Hinweise darauf, wie er sich Nacht für Nacht den Kopf über die<br />
deutsche Einheit zerbrochen hat, auf zehn bis zwanzig Erwähnungen<br />
beschränkt hätte. Die lustigste Passage findet sich auf Seite 192 in den<br />
Erinnerungen. Dort schreibt er: „Die klare Sicherung der Option für die<br />
deutsche Einheit machte ich in einem Gespräch unter vier Augen mit<br />
Willy Brandt zur Voraussetzung meines Verbleibens im Amt.“ Und als<br />
ob das im Zusammenhang mit dem Einheitsromantiker Willy Brandt<br />
nicht schon zu viel des Guten gewesen wäre, steht dieser Satz Wort für<br />
Wort ganze acht Zeilen später auf Seite 193 noch einmal. So ist das mit<br />
diesen Computern. Ausschneiden. Einfügen. Weiterarbeiten. Einfügen.<br />
Oops. Und da ist es ihm wohl passiert. 1999, fünf Jahre nach der ersten<br />
Drucklegung, erschien die Jubiläumsausgabe der Erinnerungen erneut,<br />
und nun findet man auf diesen Zeilen bezogen auf Walter Scheel: „Dass<br />
der Brief zur deutschen Einheit seine Unterschrift trägt, ist für mich<br />
Anlass, stolz auf meinen Freund und Vorgänger als Außenminister und<br />
F.D.P.-Vorsitzender zu sein.“ Schwupp. Panne behoben.<br />
133
<strong>1945</strong><br />
Das klang bei den genannten Politikern allerdings auch schon einmal<br />
vollkommen anders. Im Oktober 1967 warb die FDP-Führung noch um<br />
die Gunst ihres (westdeutschen) Publikums mit dem Spruch: „Wir sind<br />
die »Anerkennungspartei«. Und wir wollen uns diese Auszeichnung<br />
reichlich verdienen, wir wollen die Plakette mit Stolz tragen.“ Dabei<br />
ging es selbstredend um eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zur<br />
juristischen Anerkennung eines zweiten Staates in <strong>Deutschland</strong>.<br />
Der Brite Timothy Garton Ash war später heftig verwundert über die<br />
Rede, die der gebürtige Dresdener Wolfgang Mischnick am Abend des<br />
9. November 1989 im Bonner Bundestag hielt, als Bürger der „D.D.R.“<br />
erste Grenzübergangsstellen mit aller Konsequenz für sich zu Übergängen<br />
machten: „Noch am Abend der Öffnung der Berliner Mauer<br />
beendete der Freidemokrat Wolfgang Mischnick seine Begrüßungsrede<br />
im Bundestag mit dem flehentlichen Aufruf an die Ostdeutschen:<br />
»Bleibt daheim!« Und das von einem Mann, der vierzig Jahre zuvor<br />
selbst aus der DDR geflohen war und im Westen erfolgreich Karriere<br />
machen konnte.“<br />
Die Christlich-Demokratische Union, die gute CDU, wurde parallel in<br />
Hannover, Stuttgart, Würzburg, München, Köln sowie in der Reichshauptstadt<br />
Berlin gegründet. Die Idee für eine große christliche und<br />
diesmal interkonfessionelle Partei war noch vor dem Ende des Krieges<br />
in den ausschlaggebenden Widerstandszirkeln entstanden.<br />
Andreas Hermes aus dem Kreis um Stauffenberg wurde <strong>1945</strong> ihr erster<br />
Vorsitzender. Und sonst wäre es ein anderer Gegner des Faschismus<br />
geworden. Im Rückblick auf das politische Wirken von Bundeskanzler<br />
Dr. Helmut Kohl habe ich diesen Wink mit dem Zaunpfahl gefunden:<br />
„Es ist sicherlich kein Zufall, dass von den wenigen Überlebenden des<br />
Kreisauer Kreises <strong>–</strong> die meisten endeten ja auf dem Schafott Hitlers <strong>–</strong><br />
sehr viele ihren Weg zur Christlich Demokratischen Union gefunden<br />
haben.<br />
Von den zweiundfünfzig Unterzeichnern des Berliner Gründungsaufrufs<br />
waren fast alle, an ihrer Spitze Andreas Hermes, Verfolgte des<br />
134
<strong>1945</strong><br />
Nazi-Regimes. So ist denn auch die Berliner Gründungsurkunde der<br />
CDU <strong>–</strong> neben dem Kölner Dokument eines der beiden Gründungsdokumente<br />
meiner Partei <strong>–</strong> sehr stark von Gedankengut aus dem Kreisauer<br />
Kreis mitgeprägt worden. Für mich ist daher Kreisau nicht nur ein<br />
wichtiger Ort deutscher Geschichte, sondern auch eine Stätte des<br />
Ursprungs christlich-demokratischer Überzeugungen.“ Und nicht nur<br />
christlich-demokratischer Überzeugungen. Auch Carlo Mierendorff,<br />
ein schon vor <strong>1933</strong> aktives Mitglied der SPD, der im Krieg bei einem<br />
Fliegerangriff ums Leben kam, gehörte zum Kreisauer Kreis.<br />
Unter den Gründervätern der CDU war wieder Dr. Gustav Heinemann,<br />
der Präses der Evangelischen Kirche in <strong>Deutschland</strong>. „Im Gründungsaufruf<br />
der CDU heißt es u. a.: Wir geloben, alles bis zum letzten auszutilgen,<br />
was dieses ungeheure Blutopfer und dieses namenlose Elend<br />
verschuldet hat.“ Dass die CDU eigentlich ein ganz cooler Haufen ist,<br />
wird deutlich, wenn es im Internet heißt, dass es im Jahr <strong>1945</strong> „zu fast<br />
gleichzeitigen, spontanen, voneinander unabhängigen Gründungen<br />
der Christlich-Demokratischen sowie der Christlich-Sozialen Union“<br />
an verschiedenen Orten gekommen sei. Wie erklärt es sich eigentlich,<br />
dass die voneinander völlig unabhängigen Gruppen alle spontan auf<br />
denselben Namen für ihre spontane Partei kamen?<br />
In Bayern bereitete am 14. August eine Gruppe um Fritz Schäffer (bis<br />
zum Frühjahr im KZ Dachau) und Franz Josef Strauß (20. Juli 1944) die<br />
Gründung der Christlich-Sozialen Union (CSU) vor. Sie wurde dann am<br />
13. Oktober <strong>1945</strong> mit einigen Bürgerinnen und Bürgern gegründet.<br />
Dass Strauß nach dem Krieg zum Landrat für den Landkreis Schongau<br />
berufen wurde, hatte auch damit zu tun, dass er den amerikanischen<br />
Befreiern „durch das korrekte Englisch“ aufgefallen war. Er hatte in<br />
den dreißiger Jahren wohl nicht ausschließlich alte Sprachen studiert.<br />
„Erster Vorsitzender der CSU in Bayern wurde der Rechtsanwalt Dr.<br />
Josef Müller, der seit seiner Schulzeit auf dem erzbischöflichen Knabenseminar<br />
zu Bamberg wegen seiner kleinbäuerlichen Herkunft<br />
»Ochsensepp« genannt wurde. Dieser »Ochsensepp«, eine ungewöhnlich<br />
schillernde Persönlichkeit, war im Zweiten Weltkrieg der Verbin-<br />
135
<strong>1945</strong><br />
dungsmann zwischen der militärischen Abwehr und dem Vatikan<br />
gewesen, hatte aber auch gute Beziehungen zu hohen SS-Führern<br />
sowie zu alliierten Geheimdiensten unterhalten. Gegen Kriegsende war<br />
er von der Gestapo wegen seiner Kontakte zu den Verschwörern vom<br />
20. Juli 1944 verhaftet worden. Doch dank seiner glänzenden Verbindungen<br />
nach allen Seiten war er mit dem Leben davongekommen.“<br />
Wenn man die beruflichen Erinnerungen von Markus Wolf liest, stürzt<br />
man über eine ganze Reihe führender Bonner Volksvertreter aus den<br />
Nachkriegsjahrzehnten, darunter auch eben jenen Dr. Josef Müller.<br />
Was sie verband, war, dass sie Markus Wolf den Bären aufbanden, dass<br />
sie, wie zum Beispiel Konrad Adenauers Finanzminister Fritz Schäffer,<br />
„deutschlandpolitische Vorstellungen [hegten], die in krassem Widerspruch<br />
zur Politik“ des Bundeskanzlers standen. Bedenklich stimmt,<br />
dass der Spionagechef das den führenden Köpfen so auch abkaufte:<br />
„Viele hatten wie [Ernst] Lemmer schon im Widerstand Kontakt zu<br />
kommunistischen Kreisen gehabt. Sie sahen es als patriotische Pflicht<br />
an, gegen den deutschland- und innenpolitischen Kurs Adenauers zu<br />
wirken. Gute Kontakte hatten wir schon früh in die bayerische CSU,<br />
und sie sollten bis zur Wende nicht abreißen. Eine unserer Quellen<br />
gehörte zum Kreis um den Vorsitzenden Dr. Josef Müller, genannt<br />
»Ochsensepp«, der Adenauers Politik kritisch gegenüberstand. Durch<br />
sie erfuhren wir auch erstmals von einem Nachwuchstalent namens<br />
Franz Josef Strauß.“ Der seinerseits allerdings jetzt aber bitte wirklich<br />
nicht gegen den deutschland- und innenpolitischen Kurs von Kanzler<br />
Adenauer in Erscheinung trat.<br />
Dem britischen Historiker Timothy G. Ash fiel auf, dass im Westen<br />
<strong>Deutschland</strong>s, „anders als in Frankreich und, mehr noch, den Vereinigten<br />
Staaten <strong>–</strong> dieselben Personen über eine lange Zeit hinweg mit denselben<br />
Themen befasst waren“. Es ist unwahrscheinlich, dass die in der<br />
Frage der Außenpolitik relevanten Journalisten, Publizisten und die<br />
Politiker ihr Ziel mit jedem neuen Jahrzehnt geändert haben könnten,<br />
wie es denn nun mit <strong>Deutschland</strong> nach Hitler weitergehen sollte. Die<br />
Beibehaltung des Kurses war nur am Anfang der siebziger Jahre eine<br />
136
<strong>1945</strong><br />
delikate Angelegenheit, weil sie gegen den vom Publikum gewählten<br />
Kanzler Brandt erreicht werden musste. Ohne Personenschaden.<br />
Da ging es im Osten <strong>Deutschland</strong>s schon eher zur Sache. 1965 gab sich<br />
Erich Apel die Kugel, weil seine Wirtschaftsreformen nicht umgesetzt<br />
wurden. Den Genossen Walter Ulbricht ließ Erich Honecker 1971 durch<br />
Männer vom Personenschutz mit Maschinenpistolen zum Rücktritt bewegen,<br />
und Herrn Honeckers Rivale Werner Lambertz ist 1978 unter<br />
selbstredend ungeklärten Umständen über der Wüste Sahara mit dem<br />
Hubschrauber vom Himmel gefallen. Das alles blieb dem Volkstribun<br />
Willy Brandt erspart. Der Held von Warschau durfte sich nach seinem<br />
Abschied von der großen Politik auf Wunsch von Helmut Schmidt „um<br />
die Partei und deren Kindergärten“ kümmern.<br />
Ich vermute ernstlich, dass die Alliierten bei ihren deutschen Partnern<br />
zweimal auf das falsche Pferd setzten. Sie vertrauten den Leuten um<br />
Gehlen, weil man sie ja für unschädlich gemachte Antikommunisten<br />
hielt; und für den Aufbau einer Demokratie vertrauten sie den Leuten<br />
aus dem Widerstand, weil sie aus dem Widerstand gegen die Diktatur<br />
kamen. Um ehrlich zu sein <strong>–</strong> je mehr ich darüber nachdenke, desto<br />
mehr glaube ich, dass all die Ausländer auf diesen Bluff zwangsläufig<br />
hereinfallen mussten. Wer hätte diese Hinterhältigkeit mitbekommen<br />
sollen? Das Schaf hatte sich nach dem Krieg in den Wolfspelz früherer<br />
Regierungen gekleidet und versetzte Alt-Europa in der altbekannten<br />
Tracht weiter in Angst und Schrecken. Dafür waren die Grundmotive<br />
der Bonner Politik <strong>–</strong> die Forderung nach den Grenzen von 1914 oder<br />
auch von 1937 genauso wie die Wiederbewaffnung bis hin zur dauernd<br />
geforderten Verfügungsgewalt über Atomwaffen <strong>–</strong> exzellent geeignet.<br />
All das ergab die höchst explosive Mischung, die jeden vernünftigen<br />
Menschen von Vorschlägen für eine Wiedervereinigung nur abhalten<br />
konnte. Ich bin auch nur durch Literatur darauf gekommen, die erst<br />
nach <strong>1990</strong> publiziert wurde <strong>–</strong> angeregt durch die erschrockene erste<br />
Reaktion von Bundeskanzler Helmut Kohl auf die Grenzöffnung. Diese<br />
Entscheidung der Verschwörer von 1989 hatte er als „ungewöhnliche<br />
intellektuelle Fehlleistung“ eingestuft.<br />
137
<strong>1945</strong><br />
Die Vereinigung der Arbeiterparteien in Ost-<strong>Deutschland</strong><br />
Um einigermaßen sinnvoll zu erklären, warum Konrad Adenauer die<br />
wahlberechtigte Bevölkerung in Mitteldeutschland loswerden wollte,<br />
wird von manchen Historikern das Argument ins Feld geführt, er habe<br />
keine andere Chance gesehen, um einen Wahlsieg der SPD in <strong>Deutschland</strong><br />
zu verhindern. Dieses Argument dürfte aber beim späteren Chef<br />
der westdeutschen Sozialdemokraten, Dr. Kurt Schumacher, nicht gut<br />
greifen. Immerhin lagen Hochburgen der deutschen Sozialdemokratie<br />
in Thüringen, in Sachsen und in der Reichshauptstadt Berlin. Orte wie<br />
Eisenach, Gotha und Erfurt sind eng mit der Geschichte der SPD verbunden.<br />
Er gab damals auch vor, eine Verkleinerung dieses Landes um<br />
die Provinzen östlich der Oder nicht zu wollen. Aber genau das war ja<br />
der Punkt: ohne die Verkleinerung gab es eben keine Vereinigung.<br />
Über Adenauer wurde erst lange nach seinem Tode offen eingeräumt,<br />
dass es ihm tatsächlich darum ging, aus diesem Land zwei zu machen.<br />
Eine solche Offenlegung der Ziele Schumachers fand aber auch nachträglich<br />
nicht statt. Bis heute gilt die Wahrheit Heinrich A. Winklers,<br />
der schrieb, Schumacher habe „nationaler und nationalstaatlicher“ als<br />
Konrad Adenauer gedacht. Was brachte mich auf den Gedanken, dass<br />
Schumacher genau wie Adenauer, und wie er auch ein Opfer der Nazi-<br />
Schergen, bei der Verkündung politischer Absichten gelogen hat, dass<br />
sich die Balken bogen?<br />
Erstens bestand auch er auf den Grenzen des Deutschen Reiches vor<br />
dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, wohl wissend, dass sie nicht wieder<br />
hergestellt werden würden. Noch nicht einmal ansatzweise hat er<br />
versucht, seinen SPD-Anhängern nahezulegen, um einer Vereinigung<br />
willen die Grenzen des Jahres <strong>1945</strong> nicht mehr in Zweifel zu ziehen. Im<br />
Gegenteil. Mit markigen Sprüchen heizte er die Stimmung gegen die<br />
Alliierten an. Darin unterschied er sich also auch nicht wesentlich von<br />
Adenauer; und zweitens lehnte Schumacher wie auch Adenauer bei<br />
seinen öffentlichen Auftritten jede Zusammenarbeit mit der KPD ab,<br />
was dann über die Jahre zu einer emotionalen Frontstellung gegen die<br />
138
<strong>1945</strong><br />
politische Entwicklung in der sowjetischen Zone führte. Was aber bei<br />
Adenauer ob seiner sozialen und politischen Einordnung noch nachvollziehbar<br />
scheint, ist bei Schumacher unverständlich, denn mit der<br />
erneuten Pflege antikommunistischer Ressentiments hat er nach dem<br />
Ende dieser Diktatur im linken Spektrum nicht viel Beifall bekommen.<br />
Wie auch in den Kreisen des bürgerlichen Widerstandes verstand man<br />
in der Arbeiterschaft, dass nur die enge Kooperation aller Parteien<br />
<strong>1933</strong> in der Lage gewesen wäre, die Naziherrschaft und den Krieg zu<br />
verhindern. Lassen wir uns von einem Zeitzeugen aus dem Süden von<br />
der damaligen Stimmung berichten: „Der Rang Kurt Schumachers als<br />
eines strammen Nationalisten und Antikommunisten“, erinnerte sich<br />
der damals dreißigjährige Franz J. Strauß, „konnte uns nicht darüber<br />
hinwegtäuschen, dass es in der SPD damals viele Fäden zur KPD gab,<br />
und zwar durchaus kräftige Fäden. Die Sozialdemokraten als Protagonisten<br />
des Kampfes gegen den Kommunismus <strong>–</strong> das war nur ein Teil<br />
des Bildes. Zum Gesamtbild gehörte eine breite Strömung innerhalb<br />
der SPD, wonach man mit den Kommunisten zusammenarbeiten und<br />
mit ihnen die künftige Struktur <strong>Deutschland</strong>s bestimmen müsse.“<br />
Franz J. Strauß formulierte an anderer Stelle: „Man darf auch nicht<br />
übersehen, dass es noch allerlei Kungeleien und Kumpaneien mit der<br />
KPD gab, obwohl Schumacher dies absolut nicht wollte.“<br />
Welches Problem hatte Kurt Schumacher? Die SPD hatte einen Großteil<br />
ihrer Wähler im Osten dieses Landes. Um den Mitgliedern „seiner“<br />
Partei einzureden, dass sie nichts mit den Kommunisten im Osten zu<br />
tun haben wollten, musste er zuallererst einmal verhindern, dass sich<br />
die einen mit den anderen im Westen vereinigten. Von Strauß stammt<br />
auch diese Ansage: „Die Einschätzung, dass SPD und KPD immer und<br />
überall wie Feuer und Wasser zueinander standen, wurde zwar später<br />
weitgehend Allgemeingut, traf aber die politische Wirklichkeit von<br />
damals nur zum Teil.“ Von daher „wäre eine »Sozialistische Einheitspartei«<br />
aus Sozialdemokraten und Kommunisten im Westen nicht mit<br />
Sicherheit auszuschließen gewesen“. Was heißt denn da Allgemeingut?<br />
Etwas anderes kommt ja nicht in die unabhängigen Zeitungen.<br />
139
<strong>1945</strong><br />
Kurt Schumacher schob jetzt „seine“ Partei schrittweise nach rechts<br />
bis an den Punkt, an dem „seinen“ Mitgliedern im Westen, die wie er<br />
selbst aus einem KZ gekommen waren, verboten wurde, zugleich auch<br />
im VVN, dem Verein der Verfolgten des Naziregimes, Mitglied zu sein.<br />
Das lässt sich freilich eher mit den von mir angenommenen taktischen<br />
Absprachen erklären als mit Kurt Schumachers politischen Lehren aus<br />
den vergangenen eintausend Jahren. Ein wenig nachvollziehbar muss<br />
Geschichtsschreibung schon bleiben. Wühlen Sie sich einmal durch die<br />
intellektuellen Kopfstände hindurch, die Historiker anstellen, um Kurt<br />
Schumachers feindselige Einstellung zu den Kommunisten zu erklären.<br />
Der Widerspruch, der auf der Hand liegt, bleibt dort auch ungeklärt<br />
liegen. Abgesehen davon ging es <strong>1945</strong> um <strong>Deutschland</strong> und nicht um<br />
die Kommunisten in der Sowjetunion.<br />
Über die Geschichte der Sowjetunion wissen die Kinder in der Bundesrepublik<br />
ohnehin mehr als über die deutsche Geschichte. Die lernen ja<br />
schon in der Kita Morgenstern, dass dort unter Stalin im Jahr 1937 sehr<br />
viele vermeintliche Gegner der Arbeiter- und Bauernmacht hingerichtet<br />
wurden. Das hatte Nikita Chruschtschow 1956 publik gemacht und<br />
angeprangert. Leider wurde nie dazugesagt, dass dieses Blutvergießen<br />
begann, nachdem Stalins Angst, seine Elite könnte etwas Böses gegen<br />
ihn planen, durch gefälschte Infos, die ihm aus der deutschen Hauptstadt<br />
Berlin zugespielt worden waren, ihre Bestätigung gefunden hatte.<br />
Verfallen Sie mir um Gottes Willen auch jetzt nicht auf den Gedanken,<br />
ich wollte die Verbrechen des Stalinismus hier irgendwie schönreden.<br />
Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Meine Überlegungen machen<br />
die Verbrechen, die im Sowjetreich im Namen eines Sozialismus verübt<br />
wurden, gewiss keinen Deut besser als sie waren. Unsere Familie<br />
hatte mit dem System genug Ärger, sodass ich nicht zum Relativieren<br />
dessen tendiere, was sich unter den Bezeichnungen Sozialismus oder<br />
Kommunismus in verschiedenen Ländern dieser Welt zutrug.<br />
Es ist andererseits sicher berechtigt, Abstufungen in diesen Ländern zu<br />
sehen, was dann aber wiederum nicht dazu führen darf, die Tragik bei<br />
jedem einzelnen Schicksal damit schönzureden. Ich für meinen Teil<br />
140
<strong>1945</strong><br />
war zu Recht in erster Linie auf Gott und die Welt in der DDR wütend.<br />
Seit ich mich jedoch mit dem Bonner Anteil an der jahrzehntelangen<br />
pseudosozialistischen Entwicklung im Osten Europas beschäftigt habe,<br />
stellen sich mir da noch ganz andere Fragen. Sehr bemerkenswert fand<br />
ich, wie sich der langjährige Boss der DDR dazu äußerte. Auf die Frage,<br />
woher Erich Honeckers Meinung nach „diese Menschenverachtung“ in<br />
der Sowjetunion unter Stalin gekommen sei, grübelte er: „Ich weiß es<br />
nicht <strong>–</strong> vielleicht aus ihrer Mentalität. Bei uns wollten sie das auch tun,<br />
aber wir haben das verhindert. Auch mich wollten sie einspannen für<br />
ihren Nachrichtendienst. Das habe ich abgelehnt. Das muss mit der<br />
Mentalität dieses Landes zusammenhängen. Woher kommt denn auf<br />
einmal die SS in Moskau. Erklären Sie mir das.“ Der Journalist meinte,<br />
es könnte vielleicht mit dem feudalen Hintergrund des alten Russland<br />
zusammengehangen haben, woraufhin Honecker entgegnete: „Wahrscheinlich.<br />
Wo kommen die Progomsachen dort plötzlich wieder her.<br />
Die Juden sind doch Menschen wie alle anderen.“ Ich will hier jedoch<br />
ganz klar unterscheiden zwischen der fragwürdigen Innenpolitik des<br />
Großen Führers in Moskau und der Außenpolitik Stalins. Wenn Sie das<br />
Gesicht des Mannes zum Beispiel am Rande der Konferenz in Potsdam<br />
sehen, dann sehen Sie seinen Stolz darüber, mit seinem großen Land<br />
unter den Großen dieser Welt angekommen zu sein. Sie sehen jedoch<br />
keine Verschlagenheit, aus der man entnehmen könnte, jetzt sei man<br />
hier ein bisschen am Schwatzen, aber hinterher wolle er sein Reich bis<br />
zur Wartburg oder gleich bis zum Atlantik ausdehnen.<br />
Es ist sicher wissenwert, dass die Führung in Berlin 1937 versuchte, das<br />
sowjetische Militär vor ihrem geplanten Überfall auf die Sowjetunion<br />
mit unlauteren Mitteln zu schwächen und so zu den Gewaltexzessen<br />
dort zumindest beitrug. In Oscar Reiles Der deutsche Geheimdienst im II.<br />
Weltkrieg <strong>–</strong> Ostfront erfährt man ab Seite 253 dazu interessante Details.<br />
Man kam auf den Gedanken, über „die Geheime Staatspolizei [Gestapo]<br />
dem sowjetrussischen Geheimdienst <strong>–</strong> OGPU <strong>–</strong> auf dem Wege über den<br />
tschechischen Nachrichtendienst gefälschte Schriftstücke über angebliche<br />
Verratshandlungen Tuchatschewskis und anderer russischer Militärs<br />
in die Hände“ zu spielen.<br />
141
<strong>1945</strong><br />
Als Beitrag zur Völkerverständigung war dieses unmännliche Kratzen<br />
und Beißen ganz sicher nicht gedacht gewesen. „Anfang 1937 wandte<br />
sich Heydrich eines Tages persönlich an Admiral Canaris und bat ihn<br />
um Überlassung schriftlicher Unterlagen aus der Zeit der militärischen<br />
Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Besonders läge ihm daran,<br />
Handschriftproben der deutschen Generale von Seeckt und von Hammerstein<br />
sowie vom sowjetrussischen Marschall Tuchatschewski zu<br />
erhalten. Außerdem wäre es ihm sehr erwünscht, wenn die Abwehr<br />
ihm einen Spezialisten zur Verfügung stellen könnte, der in der Nachahmung<br />
von Handschriften erfahren sei. Canaris, der ahnen mochte,<br />
was Heydrich vorhatte, lehnte das Ansinnen rundweg ab.“ Sehr nobel,<br />
doch Heydrich fragte noch andere große Jungs. „Nach etwa zwei Monaten<br />
erkannte der Admiral, welches infame Spiel Heydrich getrieben<br />
hatte, als in Moskau eine große Reinigungsaktion gegen die Spitzen<br />
der Roten Armee begann, in deren Verlauf Tuchatschewski und eine<br />
Reihe weiterer führender Offiziere der sowjetrussischen Wehrmacht<br />
zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.“<br />
Aber wir waren ja eben noch knapp neun Jahre danach in <strong>Deutschland</strong>.<br />
<strong>1945</strong> störte nur noch der Teil der SPD, der in der östlichen Besatzungszone<br />
zwischen den Trümmern umherlief. Günstig wäre wohl gewesen,<br />
hätten die Sowjets eine Neugründung der SPD in ihrer Zone seinerzeit<br />
gar nicht erst genehmigt. Man war jedoch nicht beim sonntäglichen<br />
Wunschkonzert. Doch dann kam die Rettung auf anderem Wege. Was<br />
Dr. Kurt Schumacher im Westen mit großer Mühe verhindern konnte,<br />
wurde im Osten zum Rettungsanker, und das Problem mit seinen SPD-<br />
Genossen dort löste sich freundlicherweise in Wohlgefallen auf.<br />
Der Historiker Andreas Malycha überraschte nach der Durchsicht nun<br />
zugänglicher Archive im Osten in seinem Buch Auf dem Weg zur SED <strong>–</strong><br />
Die Sozialdemokatie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der<br />
SBZ [der Sowjetischen Besatzungszone] 1996 mit der Feststellung, dass die<br />
Enttäuschung früherer Parteigänger der SPD über die Politik ihrer<br />
Chefetage Anfang der dreißiger Jahre in einigen Städten so weit ging,<br />
dass sie auf eine Neugründung dieser Partei ganz verzichten wollten.<br />
142
<strong>1945</strong><br />
„Die vorgenommene Auswahl der Dokumente belegt, dass es nicht<br />
wenige Sozialdemokraten gab, die eine Sozialdemokratische Partei<br />
nicht wieder gründen wollten. Ein quantitativ nicht messbarer Teil<br />
ehemaliger sozialdemokratischer Mitglieder und Funktionäre schloss<br />
sich vor und unmittelbar nach der Zulassung der Parteien im Mai/Juni<br />
<strong>1945</strong> der KPD an oder war <strong>–</strong> wie Köthen <strong>–</strong> an der Gründung von lokalen<br />
Einheitsparteien beteiligt.<br />
Bei den Gründungen der Einheitsparteien im Mai/Juni <strong>1945</strong> handelte<br />
es sich in den meisten Fällen um Übertritte von Sozialdemokraten, die<br />
vor <strong>1933</strong> der parteioffiziellen Politik kritisch gegenübergestanden hatten,<br />
zur KPD. Oft gehörten Mitglieder der ehemaligen SAP, des ISK<br />
oder der KPD(O) zu den Initiatoren von Einheitsparteigründungen.<br />
Enttäuscht von der Haltung der damaligen Führungen von KPD und<br />
SPD, suchten sie eine neue politische Heimat. In vielen Fällen firmierte<br />
die Ortsgruppe der KPD als Einheitspartei, so beispielsweise in Riesa.<br />
Hinweise auf organisierte Übertritte von Sozialdemokraten zur KPD<br />
zum Zwecke der Bildung einer Einheitspartei existieren in allen Ländern<br />
der sowjetischen Zone, doch mit Sicherheit ist anzunehmen, dass<br />
die Bereitschaft zur sofortigen organisatorischen Vereinigung nur bei<br />
einer Minderheit der Sozialdemokraten ausgeprägt war. In den Orten,<br />
wo eine Einheitspartei entstand, hielt sich der größte Teil der Sozialdemokraten<br />
zurück und verhielt sich abwartend. In Potsdam machte<br />
beispielsweise der Gründerkreis um Georg Spiegel zwar den Kommunisten<br />
das Angebot zur Bildung einer Einheitspartei, traf aber gleichzeitig<br />
Vorbereitungen zur Wiedergründung der SPD.“<br />
Wieso aber? Sollte es nicht eigentlich heißen: und traf gleichzeitig Vorbereitungen<br />
zur Wiedergründung der SPD? Der Widerspruch will mir<br />
nicht einleuchten. Wie hätte man zwei Parteien vereinigen wollen,<br />
wenn eine davon noch nicht einmal gegründet worden war? Was wäre<br />
sonst auch der Grund gewesen, warum der Gründerkreis um Georg<br />
Spiegel den Kommunisten dieses Angebot zur Bildung einer Einheitspartei<br />
gemacht hat?<br />
143
<strong>1945</strong><br />
Davon abgesehen greift Andreas Malycha in diesem Zusammenhang<br />
erstaunlicherweise auch nicht das von ihm an anderer Stelle erwähnte<br />
Papier der KPD vom Juni <strong>1945</strong> als Erklärung für separate Gründungen<br />
von Ortsvereinen der SPD auf. In diesem Papier stand, dass die KPD-<br />
Führung an einer schnellen Fusion der beiden Parteien zu dieser Zeit<br />
noch kein Interesse hatte. Einige Seiten weiter steht dann: „Nach der<br />
Absage der KPD an eine Einheitspartei und dem Bekanntwerden der<br />
Legalisierungmodalitäten begann der systematische Aufbau der Ortsvereine<br />
der SPD Ende Juni, Anfang Juli in den Kreisstädten, wie z. B. in<br />
Brandenburg (Havel), Cottbus, Eberswalde, Frankfurt (Oder), Luckau,<br />
Potsdam und Spremberg.“ Und es wundert mich anderereits auch gar<br />
nicht, dass die KPD bis zum Herbst <strong>1945</strong> keinen Wert auf eine schnelle<br />
Vereinigung der beiden Parteien legte, da sie befürchten musste, dass<br />
ihre eigenen ideologischen Standpunkte durch die hinzukommenden<br />
Sozialdemokraten aufgeweicht werden könnten. Die KPD hatte ja auch<br />
viel weniger Mitglieder <strong>–</strong> allein schon durch die Kollateralschäden der<br />
Nazi-Herrschaft über unser Land. John Scheer war schneller tot, als er<br />
sich umdrehen konnte. Der hat es noch nicht mal bis ins KZ geschafft.<br />
Es muss sicher nicht gesondert betont werden, dass es damals auch im<br />
Osten dieses Landes SPD-Mitglieder gab, die aus alten oder aus neuen<br />
Motiven trotz alledem zum Zusammengehen mit Genossen Ulbrichts<br />
Kommunisten nicht bereit waren, denn diese Überlieferung wird ja<br />
schon von den großen Medien dieser Republik an das Publikum gebracht.<br />
Malycha schreibt aber auch: „Ein völliges und grundsätzliches<br />
Fehlen einer Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten,<br />
wie in Leipzig, bildete für Sozialdemokraten in der Anfangsphase die<br />
Ausnahme.“ Das steht dann aber nicht mehr in den großen Zeitungen.<br />
Erlauben Sie mir hier bitte eine persönliche Anmerkung, die vielleicht<br />
illustrieren kann, warum manche Leute nichts mit den Kommunisten<br />
zu tun haben wollten. Der Vater meines Vaters trat wegen der bevorstehenden<br />
Vereinigung aus der SPD aus. Ihm erschien es intellektuell<br />
unterbelichtet, dass die Kommunisten in seinem Dorf in Thüringen in<br />
den zwanziger Jahren meinten, wenn sie die Fabrikanten in dem Dorf<br />
144
<strong>1945</strong><br />
aufhängten, dann hätten sie den Kommunismus. Vielleicht war es ein<br />
Akt pubertärer Rebellion, dass mein Vater dann, im Jahr 1946, in die<br />
taufrische Sozialistische Einheitspartei <strong>Deutschland</strong>s (SED) eintrat. Ich<br />
bin dann da wieder nicht eingetreten, weil die Dummen meinen Papa<br />
geärgert haben. Den Herrn Doktor. Ein paar Worte darüber später.<br />
In der detailreichen Analyse der Monate zwischen dem Kriegsende im<br />
Mai <strong>1945</strong> und der Vereinigung von SPD und KPD zur SED im April 1946<br />
von Andreas Malycha heißt es auch: „Mitte der achtziger Jahre wurde<br />
in der Bundesrepublik der Begriff der Zwangsvereinigung einerseits<br />
kritisch hinterfragt und andererseits zunehmend inhaltlich differenziert.<br />
Für Dietrich Staritz reichte der Zwang als Erklärungsmuster für<br />
die damaligen Vorgänge nicht mehr aus. Er fragte nach den Faktoren<br />
des Meinungsklimas und der Meinungsbeeinflussung sowie nach den<br />
handlungsleitenden Motiven der Sozialdemokraten in der sowjetischen<br />
Zone.“ Vermutlich haben sich die handlungsleitenden Motive<br />
der Sozialdemokraten in der amerikanischen, in der französischen und<br />
in der britischen Zone nicht gravierend von denen in der sowjetischen<br />
Zone unterschieden. Wir sind ja ein Volk, grins.<br />
Am 30. August <strong>1945</strong> lud der so national orientierte Kurt Schumacher<br />
die westdeutschen Ortsverbände der SPD zu einer Parteikonferenz ein.<br />
Ein Kurier wurde auch in die westlichen Sektoren der Stadt Berlin<br />
geschickt. Dabei passierte dort ein Übermittlungsfehler, so dass in der<br />
Hauptstadt der Eindruck entstanden war, es handele sich hier um eine<br />
Reichskonferenz. So ist es zu erklären, dass überhaupt Vertreter aus<br />
der sowjetischen Zone dieses Landes teilgenommen haben. Die SPD-<br />
Konferenz fand vom 5. bis zum 7. Oktober in Wennigsen bei Hannover<br />
statt. Im Gespräch zwischen Otto Grotewohl und Kurt Schumacher<br />
wurde dann festgelegt, dass Kurt Schumacher der Beauftragte für die<br />
westlichen Besatzungszonen und Otto Grotewohl der Zuständige für<br />
die östliche Zone werden sollte.<br />
„[Peter] Merseburger schließt aus alledem, dass Schumacher »die Freiheit<br />
über die Einheit gestellt« habe.“ Ich schließe aus alledem, dass<br />
145
<strong>1945</strong><br />
Kurt Schumacher nach seiner Absage an Vereinigungsabsichten seiner<br />
Genossen im Westen und nach der Ausschaltung der östlichen SPD-<br />
Verbände in Wennigsen auch in der SPD-West Voraussetzungen für<br />
eine konträre Entwicklung in West- und in Ostdeutschland schuf. Fortan<br />
war im Westen von einer Zwangsvereinigung der beiden Parteien<br />
im Osten die Rede, was in der Einseitigkeit, wie das hier in den Medien<br />
vorgetragen wird, offenbar zumindest bis zum Herbst <strong>1945</strong> nicht dem<br />
tatsächlichen Hergang der damaligen Ereignisse entspricht. Da drängt<br />
sich eine Anfrage an Radio Jerewan auf: Wo sind denn eigentlich die<br />
differenzierten Wertungen aus den achtziger Jahren geblieben?<br />
Im Herbst <strong>1945</strong> kam es schließlich zu gegenläufigen Entwicklungen in<br />
den beiden Arbeiterparteien im Osten. Eine Anzahl von Mitgliedern<br />
der SPD wollte bei einer fortbestehenden grundsätzlichen Bereitschaft<br />
zur Kooperation mit der KPD die Vereinigung nunmehr hinauszögern,<br />
um mehr von ihren eigenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen in<br />
der neuen Partei umsetzen zu können und um personell stärker in den<br />
neuen Führungsgremien vertreten zu sein.<br />
Diese Haltung, die ab dem Herbst <strong>1945</strong> nachweisbar ist, wurde später<br />
im Westen als Beleg dafür herangezogen, dass es sich doch um eine<br />
Zwangsvereinigung handelte. Da das in der medialen Darstellung ohne<br />
Gegenargumente angeboten wird, darf das sicherlich als Propaganda<br />
gelten, zumal die Öffentlichkeit auch nicht daran erinnert wird, dass<br />
Dr. Kurt Schumacher in seinem Reich über die gesellschaftspolitischen<br />
Vorstellungen vereinigungswilliger Sozialdemokraten einfach hinwegmarschiert<br />
ist. Folgerichtig müsste dort von der Zwangsisolierung der<br />
SPD von der KPD gesprochen werden. Auf der anderen Seite änderte<br />
die KPD-Führung offenbar unter dem Eindruck der ersten Nachkriegswahlen<br />
in Ungarn am 11. November und Österreich am 25. November,<br />
bei denen die Kommunisten sehr schwach abgeschnitten hatten, ihre<br />
Linie und ging auf die Anfragen aus der SPD ein. Letztlich gründeten<br />
die Spitzen dieser beiden Parteien im April 1946 hier die Sozialistische<br />
Einheitspartei <strong>Deutschland</strong>s.<br />
146
<strong>1945</strong><br />
Verrenkungen unternahm der Historiker Heinrich A. Winkler, um zu<br />
erklären, warum sich Kurt Schumacher damals so positionierte: „Da<br />
»Asien« jetzt bis zur Elbe vorgerückt war, musste sich der westliche<br />
Teil <strong>Deutschland</strong>s fest mit dem Westen Europas verbinden. Aus dieser<br />
Haltung heraus konnte Adenauer im Sommer und Herbst <strong>1945</strong> wiederholt<br />
ohne erkennbare Gefühlsbewegung aussprechen, was für ihn eine<br />
Tatsache, für Schumacher aber unerträglich war: »Der von Russland<br />
besetzte Teil sei für eine nicht zu schätzende Zeit für <strong>Deutschland</strong> verloren.«“<br />
Und auch hier gab es kein Wort über die Grenzen.<br />
Unerträglicher als die Teilung des Landes dürfte für Kurt Schumacher<br />
aber die Folter durch fanatische deutsche Männer gewesen sein. Herrn<br />
Prof. Dr. Winkler fiel als Begründung für seine These nun auch durchaus<br />
nur die ostdeutsche Herkunft Dr. Schumachers ein. Wenn Sie sich<br />
aber die Herkunft der anderen Akteure anschauen, von denen hier die<br />
Rede ist, dann stammten die meisten von ihnen aus Mittel- und Ost-<br />
<strong>Deutschland</strong>. Der Einheitsromantiker Willy kam allerdings aus Lübeck.<br />
Eine Episode bei Timothy Garton Ash scheint darauf hinzuweisen, dass<br />
auch Dr. Helmut Kohl aus Ludwigshafen bis 1970 die Vereinigung noch<br />
wollte. Die Herkunft der Akteure ist also kein brauchbares Argument.<br />
147
<strong>1945</strong><br />
Kirchenmänner für und gegen Hitler<br />
Welche Rolle spielten nun die beiden großen christlichen Kirchen in<br />
der jüngeren deutschen Geschichte? Um eine Vorstellung davon zu<br />
vermitteln, was schon kurz nach der Machtergreifung durch Hitler aus<br />
dem Mund von staatsloyalen Christen kam, sei hier exemplarisch aus<br />
der Erklärung der Deutschen Christen auf ihrer ersten Reichstagung am<br />
3. und 4. April <strong>1933</strong> zitiert: „Gott hat mich als Deutschen geschaffen,<br />
Deutschsein ist Geschenk Gottes. Gott will, dass ich für mein <strong>Deutschland</strong><br />
kämpfe. Kriegsdienst ist in keinem Fall Vergewaltigung des<br />
christlichen Gewissens, sondern Gehorsam gegen Gott. [...] Der Staat<br />
Adolf Hitlers ruft nach der Kirche, die Kirche hat den Ruf zu hören. [...]<br />
Christus ist zu uns gekommen durch Adolf Hitler!“ Im April <strong>1933</strong>.<br />
Aber es gab auch die bekennenden Christen, die als Bischof, als kleine<br />
Pfarrer oder als einfache Menschen versucht haben, den Entgleisungen,<br />
mit denen sie in ihrem täglichen Leben konfrontiert waren, Zivilcourage<br />
entgegenzusetzen. Viele von ihnen bezahlten hart für ihren<br />
Mut. So vergeblich das Bemühen und das Leiden dieser bekennenden<br />
Christen bis zum Frühjahr <strong>1945</strong> auch gewesen sein mag, so nachhaltig<br />
war ihr Wirken danach. An der Basis hatten sie nun Gelegenheit, Sonntag<br />
für Sonntag dem breiten Publikum nahezubringen, welche Werte<br />
für einen Menschen zählen müssen; und in den oberen Rängen der Gesellschaft<br />
hatten sie dann entscheidenden Einfluss auf die Politik des<br />
Landes. Der Bekennenden Kirche entstammte unter anderem auch der<br />
Leiter des Bundes der Evangelischen Kirchen in Unserer DDR, Bischof<br />
Albrecht Schönherr, unter dessen Leitung es im Frühjahr 1978 zu dem<br />
Spitzentreffen der DDR-Bischöfe mit Erich Honecker kam, und Gustav<br />
Heinemann, der <strong>1945</strong> Präses der Synode der Evangelischen Kirche in<br />
<strong>Deutschland</strong> wurde und im Westen sowohl die FDP als auch die CDU<br />
mitbegründet hat und später in die SPD wechselte.<br />
Warum es zu dem besagten Spitzentreffen erst 1978 und nicht schon<br />
Jahrzehnte zuvor kam, beantwortete Erich Honecker später in einem<br />
durchaus recht ausführlichen Interview: „Unser Verhältnis zur Kirche.<br />
148
<strong>1945</strong><br />
Ich möchte sagen, dazu gehörten selbstverständlich immer zwei. Unsererseits<br />
haben wir in der Vergangenheit von 40 Jahren verschiedene<br />
Dummheiten gemacht, von der anderen Seite kann man das gleiche<br />
nicht abstreiten. Aber wir waren mit den Ergebnissen vom 6. März<br />
1978 doch zu einer Grundlage des Zusammenwirkens von Kirche, Staat<br />
und Gesellschaft gekommen, die gute Ansatzpunkte enthielt für die<br />
gesamte weitere Entwicklung.“<br />
Als in den fünfziger Jahren die offene Unterstützung für die DDR noch<br />
nicht so recht zum Kalten Krieg passen wollte, waren es Einrichtungen<br />
der Kirchen, die die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsleistungen<br />
für den deutschen Staat der Arbeiter und Bauern abwickelten, um die<br />
Embargomaßnahmen der Amerikaner abzumildern, die immer alles zu<br />
ernsthaft betreiben. Dabei kam den beiden Kirchen zugute, dass ihre<br />
Aktivitäten keiner Kontrolle durch demokratische Gremien unterlagen.<br />
Prof. Heinrich August Winkler wird schon Recht gehabt haben,<br />
als er nebulös orakelte: „Und vielleicht stand auch Luther Pate bei den<br />
Bemühungen, die Erfahrung von Schuld auf die Ebene einer säkularisierten<br />
Geschichtstheologie zu heben.“ Und denken Sie mir nur nicht,<br />
ich hätte das etwa aus dem Kontext gerissen. Die Zeilen zuvor lauten:<br />
„Zu akzeptieren, dass die Teilung <strong>Deutschland</strong>s in letzter Instanz<br />
selbstverschuldet war und insoweit in der »Logik der Geschichte« lag,<br />
hieß für mich, dieser Geschichte einen Sinn abgewinnen und das<br />
Leben mit ihr zu erleichtern. Aber woher wusste ich, der ich 1986 die<br />
»Logik der Geschichte« beschwor, dass sie die unbegrenzte Fortdauer<br />
der Teilung verlangte? Und wenn auch meine ostdeutschen Freunde,<br />
die alle zu den Gegnern des Regimes gehörten, ebenso dachten wie ich:<br />
War es nicht unendlich viel leichter, vom Westen aus die Teilung<br />
<strong>Deutschland</strong>s historisch zu »erklären«, als dort, wo man auf eine ganz<br />
andere, nämlich existenzielle Weise unter den Folgen der Teilung litt?<br />
Nietzsches Diktum, wir Deutschen wären Hegelianer, auch wenn es nie<br />
einen Hegel gegeben hätte, hat wohl einen richtigen Kern. Jedenfalls<br />
gibt es bei deutschen Intellektuellen eine ausgeprägte Neigung, frei<br />
nach Hegel das Wirkliche als vernünftig zu begreifen. Und vielleicht<br />
stand auch Luther Pate . . . “ Theologie von und für Lieschen Müller.<br />
149
<strong>1945</strong><br />
Die leise Auswertung des Versagens der großen Kirchen<br />
Vom 21. bis zum 23. August <strong>1945</strong> trafen sich die katholischen Bischöfe<br />
in Fulda. Die Auswertung des Wirkens der Bischöfe in diesen „Tausend<br />
Jahren“ fiel zu Recht hart aus: „Furchtbares ist schon vor dem Kriege<br />
in <strong>Deutschland</strong> und während des Krieges in den besetzten Ländern<br />
geschehen. Wir beklagen es zutiefst. [...] Schwere Verantwortung trifft<br />
jene, die auf Grund ihrer Stellung wissen konnten, was bei uns vorging.“<br />
„Da die Kirche als Institution des öffentlichen Lebens in ihrer Struktur<br />
und ihrem Selbstverständnis nahezu intakt geblieben war, waren die<br />
Bischöfe aufgerufen, wieder, wie 100 Jahre zuvor, den neuen Staat mit<br />
aufzubauen. Dabei ging es um die Umsetzung der Prinzipien der katholischen<br />
Soziallehre in praktische Politik und um ein Staats-Kirche-<br />
Verhältnis, das die Rechte und das Selbstbestimmungsrecht der Kirche<br />
wahrte <strong>–</strong> und zwar auf der Basis der Trennung von Kirche und Staat,<br />
aber in einem partnerschaftlichen Zusammenwirken. Immer öfter<br />
meldeten sich die deutschen »am Grabe des Hl. Bonifatius in Fulda versammelten«<br />
Bischöfe kritisch in gemeinsamen Hirtenbriefen zu Wort.“<br />
Und die Hirtenbriefe wurden fein auf deutsch abgefasst, damit die Botschaften<br />
beim Publikum dann auch ganz sicher ankamen. Wohl mit<br />
demselben Ziel bemühte man sich in der katholischen Kirche „um die<br />
schrittweise Einführung der Muttersprache beim Gottesdienst“, was<br />
vorerst am Vatikan scheiterte.<br />
Josef Kardinal Frings war einer jener katholischen Würdenträger, die<br />
<strong>Deutschland</strong> nach der Wende von <strong>1945</strong> die Entwicklung vorgaben. „Das<br />
Amt des Erzbischofs von Köln, in das er am 1. Mai 1942 überraschend<br />
berufen wurde, bekleidete er von 1942 bis 1969. Seine Bischofsweihe<br />
nahm am 21. Juni 1942 der apostolische Nuntius in <strong>Deutschland</strong>, Erzbischof<br />
Cesare Orsenigo, im Kölner Dom vor.<br />
Der Presse in <strong>Deutschland</strong> hatte das nationalsozialistische Regime verboten,<br />
über die Weihe des neuen Erzbischofs von Köln zu berichten; so<br />
behalfen sich die Kölner Katholiken, indem sie private Kleinanzeigen<br />
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<strong>1945</strong><br />
aufgaben. Die internationale Presse war bei den Weihefeierlichkeiten<br />
im Kölner Dom jedoch vertreten, so dass außerhalb von <strong>Deutschland</strong><br />
mancherorts über die Weihe berichtet wurde. Die Judenverfolgung<br />
bezeichnete Frings öffentlich als »himmelschreiendes Unrecht«, seine<br />
Popularität bewahrte ihn vor Repressalien. Allerdings wurde er von<br />
der Gestapo mit Hilfe einer Anzahl von V-Leuten, von denen mindestens<br />
einige Kleriker waren, anhaltend intensiv beobachtet.“ Von <strong>1945</strong><br />
bis 1965 war er Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz. In den<br />
sechziger Jahren führte er dann den späteren Papst Benedikt XVI. im<br />
Vatikan ein. Deutsche Geschichte ist spannender, als man denkt.<br />
Die Kirche organisierte sich bereits im Jahr <strong>1945</strong>, als noch gar nichts<br />
klar war, in „auctoritas territorialis“, also in Gebietskörperschaften, so<br />
dass die Teilung des Landes hier bereits vorbereitet wurde. Und so<br />
hört sich der einschlägige Text mit der Begründung im Original an:<br />
„Um die Liturgie überall einheitlich ordnen zu können <strong>–</strong> es ging u. a.<br />
um die schrittweise Einführung der Muttersprache beim Gottesdienst<br />
und bei liturgischen Handlungen und die dazu erforderlichen authentischen<br />
Texte <strong>–</strong> konstituierten sich die deutschen Bischöfe in Rom als<br />
»auctoritas territorialis« gem. Art. 22 § 2 der Liturgiekonstitution, wie<br />
sie jeweils eigens bei diesen Sitzungen betonten (im Vorgriff auf die<br />
später generell notwendig werdende rechtliche Neuregelung).“ Mit<br />
der gut verständlichen Begründung, dass sie die Liturgie überall einheitlich<br />
regeln wollten. So war das. Ganz harmlos. Im Vorgriff. Also<br />
bevor die Alliierten von der Teilung dieses Landes wussten. Sie hatten<br />
<strong>Deutschland</strong> bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages besetzt.<br />
Der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg lag am 28. Juni 1919<br />
im Schloss zu Versailles unterschriftsreif vor. Damit revanchierte sich<br />
Frankreich damals für die Kaiserkrönung Wilhelm I. auf französischer<br />
Erde, den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und für den Weltkrieg.<br />
Dieser Schuss ging aber ins Knie, denn nun waren die Deutschen<br />
wütend und sannen auf Rache.<br />
Ende August trafen sich in Treysa dann auch auf der evangelischen<br />
Seite „die Vertreter des Einigungswerkes, des Reichsbruderrates und<br />
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<strong>1945</strong><br />
der inzwischen größtenteils umgebildeten Kirchenleitungen der Landeskirchen“.<br />
Klingt auch völlig harmlos. Der inzwischen größtenteils<br />
umgebildeten Kirchenleitungen. An die frische Luft gesetzt haben sie<br />
die Nazi-Bischöfe. Die Eröffnungsrede hielt der Bischof Wurm. Er hatte<br />
wie auch die katholischen Bischöfe Faulhaber und Preysing Kontakte<br />
zum Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke unterhalten.<br />
Und auch diese Männer gaben unserem Land nach dem Krieg die neue<br />
Richtung. Zu Wort kam in Treysa als Sprecher des Reichsbruderrates<br />
unter anderem der ein Vierteljahr zuvor von den Amerikanern aus<br />
dem Konzentrationslager Dachau befreite Pastor Martin Niemöller:<br />
„Gewiss, wir stehen vor großen drückenden Nöten überall, wir stehen<br />
vor dem Chaos und vielfach schon mitten drin. Und wir haben zu<br />
fragen, was uns dahin gebracht hat. Die Not geht nicht zurück auf die<br />
Tatsache, dass wir den Krieg verloren haben; wer von uns möchte<br />
denn wünschen, wir hätten ihn gewonnen; wo würden wir erst stehen,<br />
wenn Hitler gesiegt hätte! Es ist ja gar nicht auszudenken, was das erst<br />
für eine Katastrophe und für ein Chaos geworden wäre. Unsere heutige<br />
Situation ist aber auch nicht in erster Linie die Schuld unseres Volkes<br />
und der Nazis; wie hätten sie den Weg gehen sollen, den sie nicht<br />
kannten; sie haben doch einfach geglaubt, auf dem rechten Weg zu<br />
sein! Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche; denn sie allein<br />
wusste, dass der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat<br />
unser Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt<br />
oder erst, wenn es zu spät war. [...] Wir aber, die Kirche, haben<br />
an unsere Brust zu schlagen und zu bekennen: meine Schuld, meine<br />
Schuld, meine übergroße Schuld! [...] Wir haben jetzt nicht die Nazis<br />
anzuklagen, die finden schon ihre Kläger und Richter, wir haben allein<br />
uns selber anzuklagen und daraus die Folgen zu ziehen.“<br />
Beim Umbilden der Kirchenleitungen wurden also deutsch-christliche<br />
Personen durch solche aus den Bruderräten der Bekenntnissynoden<br />
ersetzt. Das konnte aber eine heikle Prozedur sein. So war zum Beispiel<br />
Walter Koch bis 1946 Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche<br />
im Rheinland, und sein Nachfolger Joachim Beckmann trat dieses Amt<br />
bereits im Jahr <strong>1945</strong> an. Im Osten wurde genauso vorgegangen, wie in<br />
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<strong>1945</strong><br />
einer jüngeren Studie herausgearbeitet wurde: „Die Leitung der Kirche<br />
Berlin-Brandenburg übernahmen nach dem Krieg Pfarrer aus der antifaschistisch<br />
orientierten Bekennenden Kirche. Sie entfernten zwar NSbelastete<br />
Kollegen aus dem Dienst, taten dies jedoch eher im Verborgenen,<br />
um die Unabhängigkeit der Kirche zu wahren, so die These<br />
Halbrocks.“ Nach dem in Gütersloh herausgegebenen Kirchlichen Jahrbuch<br />
von <strong>1945</strong> bis 1948 ging es in jenen Jahren darum, „einer kirchlichen<br />
Restauration zu wehren und auch weiterhin den Erkenntnissen der<br />
Bekennenden Kirche bei den weitreichenden Entscheidungen über die<br />
aktuellen kirchlichen Fragen Geltung zu verschaffen“.<br />
Wie in der Politik hat man auch in den Kirchen nicht laut gesagt, auf<br />
welcher Seite der Barrikade die neuen Leute an der Spitze denn nun<br />
vor <strong>1945</strong> gestanden hatten. Stattdessen nahmen die Hitler-Gegner die<br />
später aufkommende Kritik an den Bischöfen, die sich mit den Nazis<br />
eingelassen hatten, auf sich. Ich gehe davon aus, dass es ohne dieses<br />
Versteckspiel der Nachkriegselite in allen Bereichen der Gesellschaft<br />
nicht zu dieser permanenten Revolution der achtundsechziger Jugend<br />
gegen das vermeintlich unbelehrbare, alte deutsche Establishment mit<br />
Kaufhausbränden und Morden gekommen wäre, die ein Jahrzehnt lang<br />
den Westen unseres Landes in Angst und Schrecken hielt.<br />
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<strong>1945</strong><br />
Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Kirche<br />
Am 19. Oktober <strong>1945</strong> brachte die Evangelische Kirche die Stuttgarter<br />
Schulderklärung unter das Volk. Darin konnte der geneigte Teil des<br />
Publikums lesen: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches<br />
Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir<br />
unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im<br />
Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch<br />
im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen<br />
Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden<br />
hat: aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht<br />
treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt<br />
haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.<br />
Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf<br />
den alleinigen Herrn der Kirche, gehen sie daran, sich von glaubensfremden<br />
Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen<br />
zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass Er unsere Kirchen als<br />
Sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, Sein Wort<br />
zu verkündigen und Seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns<br />
selbst und bei unserem ganzen Volk. Dass wir uns bei diesem neuen<br />
Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft<br />
herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude. Wir<br />
hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem<br />
Geist der Macht und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig<br />
werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens<br />
und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte<br />
Menschheit Genesung finden kann. So bitten wir in einer Stunde, in<br />
der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni creator spiritus!“<br />
Albrecht Schönherr, der sich 1943 der Bekennenden Kirche angeschlossen<br />
hatte und der dann im Jahr 1946 in der sowjetischen Zone<br />
Superintendent wurde, schrieb über die Stuttgarter Schulderklärung:<br />
„Ich erinnere mich noch sehr deutlich, wie schwer es mir als Lagerpfarrer<br />
geworden ist, es den hohen Offizieren, die eine Zeit lang meine<br />
»Gemeinde« waren, klarzumachen.“<br />
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