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1933 Das neue Jahr hat vor wenigen Wochen angefangen. Es ist ...

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<strong>1933</strong>Der Führer sagt: Jetzt kommt der letzte Winter, oh, jetzt nichtschlappgemacht, Ihr müsst marschier’n! Der Führer fährt <strong>vor</strong>an imZwölfzylinder – Marsch, Marsch, Marsch, Marsch, Ihr dürft die Fühlungnicht verlier’n! <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein langer Weg zum Dritten Reiche. Man soll’snicht glauben, wie sich das zieht. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein hoher Baum die deutscheEiche, von der aus man den Silberstreifen sieht.Der Führer sagt: Nur nicht in Lumpen laufen! Er <strong>hat</strong>’s ja schon gesagtder Industrie. Wir wollen <strong>neue</strong> Uniformen kaufen, der HauptmannRöhm liebt uns nicht ohne die. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein langer Weg zum DrittenReiche. Ein bisschen Liebe macht ihn halb so schwer. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein hoherBaum die deutsche Eiche, und kameradschaftlich sei der Verkehr.Der Führer <strong>hat</strong> gesagt, er lebt noch lange, und er wird älter als derHindenburch. Er kommt noch dran, da <strong>ist</strong> ihm gar nicht bange, esint’ressiert ihn gar nich. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein langer Weg zum Dritten Reiche.<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> unglaublich, wie sich das zieht. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein hoher Baumdie deutsche Eiche, von der aus man den Silberstreifen sieht. 4Ortswechsel. Schellingstraße in München. Franz Josef* kommt von derSchule nach Hause. Sein Vater spricht heute wieder über Hitler. EineZeit lang fand Vater Strauß ihn noch gut. „Hitler, meinte mein Vater,habe recht eigenartige Ideen. Er sei gegen den Versailler Vertrag, füreine bessere Behandlung der Deutschen – vielleicht sei doch etwas anihm dran. Diese Möglichkeit wurde bei uns zu Hause jedoch nur kurzeZeit erörtert, dann kam die nächste Phase, in der mein Vater endgültigden Stab über Hitler brach. »Was der über die Juden sagt, darf keinKatholik mitmachen. Der <strong>ist</strong> Judenfeind, und der <strong>ist</strong> Kirchenfeind.«Von da an war Hitler für meinen Vater nur noch der Verderber und Zerstörer,der Dämon.“ 5 Am Dienstagmorgen <strong>hat</strong> sein Vater aus dem NeuenMünchener Tagblatt erfahren, dass Hitler Reichskanzler geworden <strong>ist</strong>.Als sein sportlicher Sohn aus der Schule nach Hause kommt, sagt derVater zu ihm: „Bub, jetzt <strong>ist</strong> der Hitler Kanzler. <strong>Das</strong> bedeutet Krieg, unddieser Krieg bedeutet das Ende Deutschlands.“ 6 Franz Josefs Vater hältAdolf Hitler seit dem Putsch hier in München 1923 für eine Ausgeburt4 Von der Schellack-Platte „Der Marsch ins Dritte Reich“5 Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, S. 266 Ebd., S. 114


<strong>1933</strong>des Teufels, schon weil er so eine milde Strafe dafür bekam. Wenn derName Hitler fällt, schlägt Franz Josefs Vater das Kreuz, um den Dämonzu bannen. Da <strong>ist</strong> Franz siebzehn. Dieses Wort vom Ende Deutschlandsfällt in diesen Tagen zum Beispiel auch in Hannover. Dort spricht es derVater von Rudolf Augstein*. Da <strong>ist</strong> der kleine Rudolf <strong>ist</strong> erst neun. Wenner dann älter <strong>ist</strong>, wird er seinen Vater noch oft hören mit den Worten,das habe er von Anfang an kommen gesehen. Und Vater Augstein bleibtnicht der Einzige, dem die braunen Truppenteile Angst machen.Weil am 30. Januar Hitler jetzt bis zur Wahl im März kurz den Kanzlergibt, <strong>hat</strong> sich das Auswärtige Amt sofort gegen Überraschungen gefeit.Der Staatssekretär Bernhard von Bülow gibt einen Runderlass heraus, indem es heißt, Deutschland will auch künftig vermeiden, „seine Haltunggegenüber dem Ausland von jeweiligen Regierungsmaximen abhängigzu machen“ 7 . Denen im Amt <strong>ist</strong> das nicht so recht geheuer, den Kopf derbraun Uniformierten zum Kopf der Reichsregierung zu machen, und dasnoch nicht einmal <strong>vor</strong>übergehend für ein paar <strong>Wochen</strong>.Am Mittwoch löst Reichspräsident Paul von Hindenburg in Berlin denReichstag auf. Die Idee kam von Hitler. Jetzt <strong>hat</strong> auch Theodor Heuss*sehr viel Freizeit und muss nicht mehr über alles entscheiden. So gehendie Tage ins Land. Am Donnerstag tritt in Genf der Hauptausschuss desVölkerbundes zu einer Abrüstungskonferenz zusammen. Die Stadt Genfliegt an einem schönen See in der Schweiz und der Völkerbund war nachdem Weltkrieg gegründet worden, damit man über alles reden konnte.Perfekt lief das nicht, aber was <strong>ist</strong> schon perfekt. Auf Deutschland habensie sich eingeschossen und die Sowjetunion darf gar nicht erst rein. DerVölkerbund wird auch nicht aktiv, als Truppen oder einfach nur Bandenaus fremden Ländern über Deutschland herfallen, obwohl der Weltkrieg<strong>vor</strong>bei <strong>ist</strong>, und Adolf Hitler, 43, „nutzt die Erinnerungen der Deutschenan die »Einmärsche« der Polen, Belgier und Franzosen in den frühen20er <strong>Jahr</strong>en, um den Menschen im eigenen Lande Frieden, Verteidigungund Aufrüstung als Teile eines Ganzen darzustellen.“ 8 Der Kanzlerkann mit Fug und Recht darauf verweisen, dass sich viele Länder nichtan die festgelegten Begrenzungen für bestimmte Rüstungsgüter halten. 97 Valentin Falin, Zweite Front, S. 35f.8 Gerd Schultze-Rhonhof,Der Krieg, der viele Väter <strong>hat</strong>te, S. 3139 Ebd., S. 3125


<strong>1933</strong>mit verschwindenden Ausnahmen bei den jüngeren Offizieren vom »politischenSandkasten«, aus Nichtnationalsozial<strong>ist</strong>en. Besonders die Mitgliederdes Auswärtigen Amtes <strong>hat</strong>ten das Aufkommen dieser extremenPartei in Deutschland mit allerschwersten Bedenken verfolgt. Noch heutesehe ich die bedrückten Gesichter <strong>vor</strong> mir, wenn wir 1931 und 1932voller Spannung <strong>vor</strong> dem Lautsprecher des Hotelradios in Genf saßen,um die Wahlergebnisse aus Deutschland zu hören, und wenn dann jedesMal ein – unserer Ansicht nach – katastrophales Anwachsen der Hitlerparteigemeldet wurde.“ 12Jetzt haben es die Politiker aus dem Sandkasten an die Macht geschafftund benennen ihr Rezept für alle Probleme – es heißt Gleichschaltung.Ein Patentrezept für Wüsten und Seen, Berge und Täler, für Arme undReiche, für Alt und Jung. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft lässt sichnatürlich für enge Stirnen leicht begreifen, zumal, wenn solch eine engeStirn allen anderen anderen <strong>vor</strong>geben kann, was sie sehen, hören, lesenund denken dürfen. Doch was Deutschland zur Stabilität führen soll, <strong>ist</strong>eine schlechte Idee. Selbstverständlich <strong>ist</strong> es besser, wenn kontrolliertund korrigiert werden kann, was sich irgendein ein Hirn da ausgedacht<strong>hat</strong>. Winston Churchill bemerkte bei passender Gelegenheit, Demokratiesei die schlechteste Staatsform, wenn man von allen anderen absieht,die gelegentlich noch so ausprobiert werden. Hautnah erlebt Gisevius,wie bei uns der Gleichschritt als Fortbewegungsform Einzug hält: „Manmuss es der SA lassen, dass ihr an dieser Gleichschaltungsspontaneitätder Hauptanteil zufällt. Wo sich der Einzelne über seine Freiwilligkeitnicht ganz schlüssig <strong>ist</strong>, da beseitigt sie unzweideutig jedes Missverständnis.Ihre Mittel sind primitiv, dafür um so schlagkräftiger. Beispielsweiselernt sich auf den Straßen der neuartige Hitlergruß außerordentlichschnell, sobald neben jeder marschierenden SA-Kolonne – undwo wird in jenen Tagen nicht marschiert? - auf dem Bürgersteig ein paarhandfeste SA-Männer einhergehen und allen Passanten rechts und linkshinter das Ohr hauen, wenn sie nicht bereits drei Schritte im Voraus derSturmfahne den Gruß entbieten. Ähnlich verfahren diese Sturmleute aufsämtlichen anderen Gebieten. Ganz so spontan, wenn auch selbstverständlichfreiwillig, pflegt schließlich kein Vereins<strong>vor</strong>sitzender zu liquidieren.“1312 Paul Schmidt, Stat<strong>ist</strong> auf diplomatischer Bühne, S. 25513 Gisevius I, S. 128f.7


<strong>1933</strong>Dr. Schmidt, der berufsbedingt häufig im Ausland weilt, stellt dort fest,dass die Gleichschaltung in Deutschland und die dabei angewandtenMethoden „die Welt sehr beunruhigt“ 14 haben. Er denkt an die Worte,die Jules Sauerwein vom Pariser Matin schon drei <strong>Jahr</strong>e zu<strong>vor</strong> unterdem Eindruck der Aufmärsche der Nazis von sich gegeben <strong>hat</strong>te: „Wennbei Ihnen die Nationalsozial<strong>ist</strong>en an die Macht kommen sollten, danngibt es danach bestimmt Krieg.“ 15 Später schreibt er: „Wir konnten aufGrund unseres besseren Überblicks über die Verhältnisse außerhalb derReichsgrenzen nur allzu gut Befürchtungen verstehen, wie sie Sauerweinausgesprochen <strong>hat</strong>te. Einige Pessim<strong>ist</strong>en unter uns standen auf genaudemselben Standpunkt wie dieser Franzose und sollten ja auch leideruns jüngeren Optim<strong>ist</strong>en gegenüber, die wir mehr hofften als glaubten,»es werde alles nicht so schlimm werden«, Recht behalten.“ 16 <strong>Das</strong> wirdvon Franz Josef Strauß in München bestätigt. Er lebt seit jenem Orakelseines Vaters vom 31. Januar ebenfalls „in der Hoffnung, dass kein Kriegkommt, und in der Furcht, dass er kommt“ 17 .Aber zurück zu Dr. Schmidt: „<strong>Das</strong>s die Franzosen in ihrem durchaus begreiflichenGefühl der Unterlegenheit gegenüber dem nicht nur zahlenmäßigstärkeren Nachbarn im Osten unter der Schockwirkung der nationalsozial<strong>ist</strong>ischen»Machtergreifung« noch ängstlicher als <strong>vor</strong>her aufihre Sicherheit bedacht sein mussten, war jedem einigermaßen objektivDenkenden verständlich. Ebenso einleuchtend aber war es für alle Un<strong>vor</strong>eingenommenenauf der Genfer Konferenz, dass dem deutschen Volkauf die Dauer eine zweitrangige Stellung nicht zugemutet werden konnteund ihm letzten Endes nur mit Gewalt, also mit einem <strong>neue</strong>n Kriege,hätte aufgezwungen werden können. Besonders die angelsächsischenLänder waren sich als praktische Real<strong>ist</strong>en über diese Sachlage klar geworden.Die Lage auf der Abrüstungskonferenz wurde infolge dieses innerenWiderspruchs immer hoffnungsloser.“ 18Die ersten Gehversuche der diplomatischen Equipe des Kanzlers in Genfbleiben dem Dolmetscher in Erinnerung: „Zwar <strong>hat</strong>te Hitler im Reichs-14 Schmidt, S. 25515 Ebd., S. 25516 Ebd., S. 25517 Strauß, S. 1318 Schmidt, S. 255f.8


<strong>1933</strong>tag über die politische Lage und die Abrüstungskonferenz viel beachteteReden gehalten, die wegen ihrer Mäßigung damals besonders aufseitender Engländer anerkannt wurden, aber grundlegende Weisungen <strong>hat</strong>teer nicht erteilt. Dafür war der später berüchtigte SS-GruppenführerHeydrich als erster Nationalsozial<strong>ist</strong> zusammen mit einem SA- und einemStahlhelm-Führer eines Tages bei der Delegation erschienen. Diedrei sollten als »Sachverständige« für die nationalen Verbände in derKommission für die Landheere auftreten. Dort dolmetschte Jakob, undseinetwegen gab es gleich den ersten Krach mit Heydrich. Er beschwertesich bei Nadolny darüber, dass seine Ausführungen durch einen Judenübersetzt wurden. Auf diese Weise musste ich zu meinem Bedauern wiederzur »Infanterie« zurück, und ausgerechnet Heydrich wurde meinerster nationalsozial<strong>ist</strong>ischer »Kunde«. Er war schon damals eine nichtgerade Sympathie erregende Erscheinung mit seinem kleinen Kopf aufdem großen langen Körper und dem hämischen Lächeln, das seine Lippenbei fast allem, was er sagte, umspielte.“ 19In der Luftkommission fordert Berlins Vertreter, der Min<strong>ist</strong>erialdirektorBrandenburg, die Abschaffung der militärischen Luftfahrt, speziell derBombenflugzeuge. Er <strong>ist</strong> der Chef der Zivilluftfahrtabteilung des Reichsverkehrsmin<strong>ist</strong>eriums.Dagegen wird von englischer Seite eingewendet,man brauche die Bomber zu Polizeizwecken in Übersee. 20 Paul-Boncourerklärt für Paris, man sei „bereit, der Abschaffung der Luftbombardementszuzustimmen.“ 21 Zu einem völligen Verbot aller Luftwaffen jedochkönnen sich die Franzosen aber ebenfalls nicht durchringen. Sie forderndafür die Internationalisierung und strenge Überwachung der Zivilluftfahrt,„damit diese nicht zu einer unerhörten Bedrohung werde“. Damitkommen die Franzosen auf eine Sachverständigenfrage aus dem Vorjahrzurück, die lautete: „Kann man auch aus Verkehrsflugzeugen Bombenherauswerfen?“ Die älteren Teilnehmer, die den Weltkrieg noch erlebthaben, mögen, wie Herr Brandenburg, nicht über Aufrüstung sprechen.Die jüngeren jedoch meinen, wenn die Militärluftfahrt nicht vollständigabgeschafft werde, dann müsste sich natürlich auch Deutschland eineLuftwaffe zulegen können; die Gleichberechtigung sei ihm ja im Vorjahrwieder zuerkannt worden. „Um Gottes willen, nur keine Aufrüstung auf19 Schmidt, S. 261f.20 Ebd., S. 25921 Ebd., S. 2609


<strong>1933</strong>dieser Abrüstungskonferenz“, riefen Engländer, Franzosen und andere.Min<strong>ist</strong>erialdirektor Brandenburg konsultiert sich telefonisch mit Berlin.„<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> eine glatte Unverschämtheit“, schreit Hermann Göring in denHörer. „Wenn in der nächsten Sitzung die deutsche Gleichberechtigungwieder so beiseite geschoben wird, dann <strong>hat</strong> die deutsche Delegation inder Luftkommission sofort aufzustehen und den Saal zu verlassen, undzwar so, dass man die Tür auf der ganzen Konferenz zufallen hört.“Über das <strong>Wochen</strong>ende wird mehrfach mit Berlin telefoniert, um darüberzu verhandeln, ob die Tür nun laut oder leise zugemacht werden soll. Biszum 6. Februar bemühen sich die deutschen Diplomaten in Genf darum,die Luftkommission wenigstens ohne Türenknallen verlassen zu dürfen.Schmidt hört einen sagen: „Nur wer als Diplomat verloren <strong>hat</strong>, verlässteine Konferenz.“ 22 Letztlich war es im Vorjahr auf diplomatischem Wegauch gelungen, Gleichberechtigung für Deutschland zu erreichen, leise,wie es Außenmin<strong>ist</strong>er Konstantin von Neurath liebte. Fremde Truppenzogen ab, Reparationen wurden ausgesetzt und Deutschland war wieder„auf dem Wege zur Wiedergewinnung seiner Großmachtstellung“. Dabeiging es selbstverständlich um Gleichberechtigung „in einem System, dasallen Nationen Sicherheit gewährt“ 23 . Allerdings merkt der Freiherr vonNeurath an: „Noch <strong>ist</strong> der Kampf nicht gewonnen, es wird noch mancheSchwierigkeit zu überwinden geben.“ 24 Am Montag steht prompt einervon den Franzosen auf und bestreitet wieder die Gleichberechtigung. ImLaufe der Debatte wird der heikle Streit aber noch einmal beigelegt, sodass die Deutschen ohne einen Theaterabgang weiter an den Sitzungenteilnehmen können. 25In Genf geht es auch darum, die maximalen Truppenstärken neu festzulegen.Dabei taucht die Frage auf, inwiefern SA, SS oder Stahlhelm militärischeVereine sind, die eingerechnet werden müssten – und schon <strong>hat</strong>Dr. Schmidt ein Problem: „Bei diesen Verhandlungen stieß ich auch daserste Mal auf Übersetzungsschwierigkeiten bei dem Bemühen, die durchdas nationalsozial<strong>ist</strong>ische Regime geprägten <strong>neue</strong>n Begriffe dem Auslanddeutlich zu machen. »Wehrsport« war von der SA als Betätigung22 Schmidt, S. 26023 Ebd., S. 25324 Ebd., S. 250f.25 Ebd., S. 26010


<strong>1933</strong>angegeben wurde. »Military sport« durfte ich nicht sagen, denn dannwäre ja bereits in der Übersetzung der militärische Charakter der SAzum Ausdruck gekommen, und dieser wurde damals von deutscher Seitebestritten. Nach Rücksprache mit meinen englischen Kollegen einigtenwir und dann schließlich auf »defence sport«. »Was <strong>ist</strong> das für ein Unsinn«,fuhr mir der englische General Temperley dazwischen, als ich denAusdruck gebrauchte. »Ich vertrete das Land, von dem der AusdruckSport herstammt,« sagte er ärgerlich, »aber unter defence sport kannich mir gar nichts <strong>vor</strong>stellen.« Ich konnte mir ebenso wenig etwas unterWehrsport als einer nichtmilitärischen Sportart denken, trotzdem sichmehrere Sachverständige auf der deutschen Seite längere Zeit bemüht<strong>hat</strong>ten, mir klarzumachen, dass »Wehr« mit militärischen Dingen nichtszu tun habe.“ 26 Schade, dass Schmidt nicht auf die Frage kommt, wozues dann die Reichswehr gibt. „Außer dem Krach wegen Jacob provozierteHeydrich dann noch einen Flaggenzwischenfall. Als er in Genf ankam,war die Reichsflagge noch nicht offiziell geändert worden. So wehten dieFarben Schwarz-Rot-Gold immer noch über unserem Hotel und an unserenDelegationsautos. Anscheinend <strong>hat</strong>te Heydrich in seinem Gepäckeine Hakenkreuzfahne mitgebracht, die er eines Tages auf eigene Fauststatt der offiziellen Farben auf unserem Hotel aufzog. <strong>Das</strong> war natürlichein paar Stunden lang die Sensation von Genf. <strong>Das</strong> Publikum, und <strong>vor</strong>allem die Schweizer Arbeiter, <strong>hat</strong>ten ohnehin schon eine von Tag zu Tagfeindseligere Haltung gegenüber der deutschen Delegation eingenommen.Die Zeitungen waren voll von Nachrichten über die UnterdrückungAndersdenkender im Reich, über »Säuberung« und »Gleichschaltung«.Manchmal flogen schon Steine hinter unseren Autos her, und geschimpftwurde kräftig, wenn wir <strong>vor</strong>überfuhren. <strong>Das</strong> Hakenkreuz aufdem Carlton Hotel drohte zu noch unangenehmeren Zwischenfällen zuführen. Energisch griff Nadolny ein. Er brachte die Rekordle<strong>ist</strong>ung fertig,das Hakenkreuzbanner innerhalb weniger Stunden einholen und diealten Reichsfarben wieder an seine Stelle setzen zu lassen, obwohl Hitlerin Berlin längst »die Macht ergriffen« <strong>hat</strong>te. Heydrich sagte er so gründlichdie Meinung, dass diesem eine Zeit lang das maliziöse Lächeln verging,als er mit hochrotem, »gewaschenem« Kopf wieder aus NadolnysZimmer herauskam.“ 2726 Schmidt, S. 26227 Ebd., S. 262f.11


<strong>1933</strong>Vier Tage gibt es jetzt einen <strong>neue</strong>n Kanzler und am Freitag stellt er denSpitzengenerälen der Reichswehr sein Programm <strong>vor</strong>. Die dort in Berlin<strong>vor</strong> ihm sitzen, das <strong>ist</strong> ganz alte preußische Schule. Hoch gebildet, ihremVaterland treu ergeben. Soldat muss jeder werden. Offizier schon nichtmehr. Wer General wird, der <strong>ist</strong> gebildet und seinem Vaterland ergeben.Dort drüben sitzt Kurt von Hammerstein, alter Adel aus Hinrichshagenin Mecklenburg, 54. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> die Preislage, die <strong>vor</strong> dem Kanzler, 43, sitzt.Noch eine Woche zu<strong>vor</strong> war der General zu Kanzler Schleicher gegangenum ihn zu fragen, „was an den Gerüchten über einen Regierungswechselwahr sei. Schleicher bestätigte, dass ihm der Reichspräsident so gut wiesicher heute oder morgen sein Vertrauen entziehen und er zurücktretenwerde. Ich ging zu Staatssekretär Meißner,“ dem Leiter des Büros vonHindenburg, „frug ihn, was nach dem Rücktritt Schleichers werden sollte,und sagte klar und deutlich, die Nationalsozial<strong>ist</strong>en würden nie in einKabinett Papen-Hugenberg eintreten. Ein solches Kabinett würde aufder einen Seite die Nationalsozial<strong>ist</strong>en, auf der andern die Linke zuFeinden, und so eine verschwindend kleine Basis haben. Die Armeemüsse dann für diese 7prozentige Basis gegen 93 Prozent des deutschenVolkes auftreten. <strong>Das</strong> wäre im höchsten Maße bedenklich; ob es sichnicht noch vermeiden ließe? Meißner sah die Lage offenbar ähnlich undveranlasste mich, meine Sorgen sofort dem Herrn Reichspräsidenten<strong>vor</strong>zutragen. Ich habe das getan. Hindenburg verbat sich äußerst empfindlichjede politische Beeinflussung, sagte dann aber, anscheinend, ummich zu beruhigen, »er dächte gar nicht daran, den österreichischen Gefreitenzum Wehrmin<strong>ist</strong>er oder Reichskanzler zu machen«.“ 28Am 3. Februar weiß von Hammerstein, dass er gescheitert <strong>ist</strong>. Kurt vonHammerstein-Equord <strong>ist</strong> der Chef der Heeresleitung. Diese Aussicht aufdas Abendessen mit Hitler, das um 20 Uhr im Speisesaal seiner BerlinerDienstwohnung beginnen soll, dürfte seine Stimmung nicht verbesserthaben. <strong>Es</strong> geht um einen Antrittsbesuch, bei dem sich der <strong>neue</strong> Reichskanzlerden führenden Generälen des Deutschen Reichs <strong>vor</strong>stellen will.Jetzt sitzt von Hammerstein dort drüben und hört, was der böhmischeGefreite, wie der Reichspräsident von Hindenburg ihn zu nennen pflegt,zu sagen <strong>hat</strong>. Er will sich engagieren für eine Revision der Bedingungenvon Versailles. Damit findet auch er Zustimmung. Nimmt man nur die<strong>vor</strong>handenen Möglichkeiten der verschiedenen europäischen Länder im28 Hans Magnus Enzensberger, Hammerstein oder Der Eigensinn, S. 101f.12


<strong>1933</strong>nüchternen Vergleich, so <strong>ist</strong> Deutschland, bedingt durch die Regelungenvon Versailles nicht in der Lage, sich gegen <strong>neue</strong>rliche Übergriffe durchPolen oder zum Beispiel Frankreich erfolgreich zu verteidigen. 29Doch wie will es der <strong>neue</strong> Kanzler anstellen? Hitler spricht „die erstenWorte gesetzt, dann in immer größerer Ekstase, über den Tisch gelegt,gestikulierend. Nach der Meinung der Generale sehr logisch und gut,überzeugend betreffend der innenpolitischen Probleme. Außenpolitischwenig klar. Nach Art seiner Agitationsreden wiederholte er die markantenStellen bis zu 10 Mal.“ 30 Logisch entwickelt er weiter: Die Reichswehrsolle wieder aufgebaut werden. Die Reichswehr bauen sie ja jetztschon seit Versailles wieder auf, heimlich. Dabei helfen ihnen die Sowjets.Die deutsche Wirtschaft und der Außenhandel sollen gefördertwerden. Gut. Dann erwähnt er, wie er das machen will: dass „vielleicht<strong>neue</strong> Exportmöglichkeiten erkämpft werden müssten oder vielleicht –und das wäre wohl besser – <strong>neue</strong>r Lebensraum im Osten erobert undrücksichtslos germanisiert werden müsste.“ 31 <strong>Das</strong> alte Preußen schautihn an, hört seine Worte. So alt <strong>ist</strong> Preußen aber gar nicht. Preußen <strong>ist</strong> inseinen besten <strong>Jahr</strong>en. Mitte vierzig, fünfzig. Einige der Männer habensein Buch gelesen. Darin steht, was er mit germanisieren genau meint:„Unsere Aufgabe <strong>ist</strong> es, den Osten nicht im alten Sinne zu germanisieren,das heißt den dort wohnenden Menschen deutsche Sprache unddeutsche Gesetze beizubringen, sondern dafür zu sorgen, dass im Ostennur Menschen wirklich deutschen, germanischen Blutes wohnen.“ 32 Undwohin mit der Bevölkerung dort? <strong>Es</strong> wird sich schon eine Lösung finden.Der <strong>neue</strong> Kanzler möchte die Arbeitslosigkeit bekämpfen „durch großangelegte Siedlungspolitik, die eine Ausweitung des Lebensraumes desdeutschen Volkes zur Voraussetzung <strong>hat</strong>. Dieser letzte Weg wäre meinVorschlag. Man würde in einem Zeitraum von 50-60 <strong>Jahr</strong>en einen vollkommen<strong>neue</strong>n gesunden Staat haben. Doch die Verwirklichung dieserPläne kann erst in Angriff genommen werden, wenn die Voraussetzungendafür geschaffen sein werden. Diese Voraussetzung heißt Konsolidierungdes Staates. Man muss zurück zu den Anschauungen, in denender Staat gegründet wurde. Man darf nicht mehr Weltbürger sein. De-29 Vgl. Schultze-Rhonhof, S. 246-25330 Enzensberger, S. 11731 Schultze-Rhonhof, S. 43332 Der Nürnberger Prozess II, S. 54613


<strong>1933</strong>mokratie und Pazifismus sind unmöglich.“ Er redet weiter und weiter.„Um dieses Ziel zu erreichen, erstrebe ich die gesamte politische Macht.Ich setze mir die Fr<strong>ist</strong> von 6-8 <strong>Jahr</strong>en, um den Marxismus vollständig zuvernichten. Dann wird das Heer fähig sein, eine aktive Außenpolitik zuführen, und das Ziel der Ausweitung des Lebensraumes des deutschenVolkes wird auch mit bewaffneter Hand erreicht werden. <strong>Das</strong> Ziel würdewahrscheinlich der Osten sei. Doch eine Germanisierung der Bevölkerungdes annektierten bzw. eroberten Landes <strong>ist</strong> nicht möglich. Mankann nur Boden germanisieren. Man muss wie Polen und Frankreichnach dem Kriege rücksichtslos einige Millionen Menschen ausweisen.“ 33Der Kanzler spricht zweieinhalb Stunden zu den Gästen dieses Dinners.Adolf Hitler sagt später, er habe das Gefühl gehabt, „gegen eine Wand zureden“ 34 . Generalmajor von Brauchitsch kommentiert dann nach demVortrag: „Na, der wird sich noch wundern in seinem Leben“ 35 . OberstFromm, der Chef des Wehrmachtamts, sagt zu Generalleutnant Freiherrvon Fritsch, „dass die maßlosen Vorhaben an der Härte der Tatsachenscheitern und auf ein nüchternes Maß zurückgeführt“ 36 werden würden.Sein Wort in Gottes Ohr. General Ludwig Beck sagt später, er habe denInhalt dieser Rede „sofort wieder vergessen“ 37 .Die Männer möchten ihren Ohren nicht trauen. Der Gefreite <strong>hat</strong> gesagt,Exportmöglichkeiten müssten erkämpft werden. Neuer Lebensraum imOsten müsste erobert werden und rücksichtslos? <strong>Das</strong> Ziel würde wahrscheinlichder Osten sein. Oder auch der Westen? In den Gesichtern <strong>ist</strong>Ratlosigkeit. Der <strong>neue</strong> Kanzler <strong>hat</strong> lange geredet. Der große Krieg liegtnur fünfzehn <strong>Jahr</strong>e zurück. Vor kurzem erst wurden die Reparationenausgesetzt – Deutschland konnte sie ja nicht bezahlen. Und fast jedesandere Land rundherum in Europa <strong>ist</strong> besser gerüstet. Was geht in denKöpfen <strong>vor</strong> sich? Was will der Kleine? Weiß er, was er da sagt? Wenn erFehler macht, dann sind schließlich wir noch da! Oder denken auch sie:Lange macht er nicht, dann haben er und seine Leute abgewirtschaftet!Auf jeden Fall denken das viele Leute überall hier im Reich. Am Samstag33 Enzensberger, S. 120f.34 Ebd., S. 11435 Schultze-Rhonhof, S. 32036 Ebd., S. 320f.37 Enzensberger, S. 11414


<strong>1933</strong>liest der siebzehnjährige Paul aus dem thüringischen Oberweißbach imVölkischem Beobachter, den sein Vater mitgebracht <strong>hat</strong>te: „Die ArmeeSchulter an Schulter mit dem <strong>neue</strong>n Kanzler. Niemals war die Reichswehridentischer mit den Aufgaben des Staates als heute.“ 38Zumindest die Führung in Moskau weiß wenig später, was der Kanzlerzu den Generälen gesagt <strong>hat</strong> zum Thema Lebensraum im Osten. Wie dieInformationen das edle Haus Hammerstein-Equord verlassen konnten,verblasst im weißen Nebel der Geschichte. <strong>Es</strong> wird später nur bekannt,dass sie über den KPD-Geheimdienst weitergegeben wurden. Doch werstellt den Agenten die geheime Mitschrift zur Verfügung? HammersteinsSöhne? Man wird sie unter den Verschwörern des 20. Juli 1944 finden.Seine Töchter, die ja Verbindungen zum Geheimdienst der KPD unterhalten?39 Der Freiherr schon jetzt selbst über seine Töchter?War es doch nicht die richtige Entscheidung, Adolf Hitler zum Kanzlerzu machen? Aber wer soll denn sonst bis März die Amtsgeschäfte leiten?Sollen die Sozialdemokraten einen Kanzler stellen oder besser noch dieKommun<strong>ist</strong>en? Mit wem bekommen sie denn eine Mehrheit zusammen?Mit den Deutschnationalen? Oder mit dem Zentrum? Kaum jemand willbewaffnete Terror<strong>ist</strong>en mit dem Feindbild Staat an der Macht wissen.Max <strong>ist</strong> 37 und Sozialdemokrat in Reichmannsdorf in Thüringen. Wenner mit Emma über die Brüder von der KPD spricht, lächeln beide bitter.Die meinen ja, wenn sie die Fabrikanten aufhängen, dann haben sie denKommunismus. Als im November gewählt wurde, stand man <strong>vor</strong> derkrassen Wahl zwischen Teufel und Belzebub. Die Nazis, die 4,2 Prozentihrer Stimmen eingebüßt <strong>hat</strong>ten, waren immer noch auf 33,1 Prozent gekommen.Gesunken war auch die Wahlbeteiligung insgesamt auf etwa80 Prozent. Also <strong>hat</strong>te Hitlers Partei zwar nur ein Drittel aller Stimmendieser 80 Prozent erhalten, lag damit jedoch <strong>vor</strong> dem zweiten Sieger, derSPD, die auf 20,4 Prozent gesunken war. Einen Zuwachs um zweieinhalbProzent erlebte die KPD, die ungefähr 17 Prozent erreicht <strong>hat</strong>. <strong>Das</strong>Zentrum blieb bei etwa 12 und die DNVP steigerte sich auf über achtProzent. 40 Danach saß ganz Deutschland mit dem Blatt und einem Stift38 Enzensberger, S. 11439 Ebd., S. 116ff., S. 124; vgl. Peter Steinbach und Johannes Tuchel, Widerstand gegenden Nationalsozialismus, S. 19, 161,264, 29740 Internetquelle 115


<strong>1933</strong>an Tischen und <strong>hat</strong> um die Wette gerechnet. Wissend darum, dass sichkeine dieser Parteien überhaupt mit einer anderen so richtig einlassenmöchte und dass relativ viele die Braunhemden gewählt <strong>hat</strong>ten, mussteirgendeine Kombination auf eine relative Mehrheit kommen. <strong>Das</strong> wurdeschwierig. So ziemlich niemand wünschte sich eine Volksfrontregierung,nicht einmal die Kommun<strong>ist</strong>en; sie halten die Sozialdemokraten schonseit <strong>Jahr</strong>en für Sozialfasch<strong>ist</strong>en, einen linken Ableger des Originals. Undselbst ihre theoretische Zusammenarbeit hätte es nur auf 37,3 Prozentgebracht. Damit <strong>ist</strong> kein Staat zu machen.Auch unter den jüngeren Offizieren des Generalstabs sind die Ansichtenüber die Entscheidung des Präsidenten, Adolf Hitler zum Reichskanzlerzu machen, geteilt. Hauptmann Hans Speidel*, 35, der im Moment eineGeneralstabsausbildung absolviert, sieht, dass die Oberbefehlshaber vonHeer und Kriegsmarine in ihren Überlegungen weder zu einem anderenEntschluss noch zu einem anderen Vorschlag für die Lösung der Krisekommen außer jenem, den Vorsitzenden der NSDAP bis zu den Wahlenam 5. März zum Kanzler zu machen. „Die Mehrheit des Volkes glaubte,durch die Bindung Hitlers und die Einbeziehung der NSDAP in die Verantwortungein Optimum erreicht zu haben.“ 41 In diesen Tagen geht dieFrage herum: „Wer <strong>ist</strong> das? Eine Zigeunerfrisur, ein französisches Bärtchen,eine englische Uniform und eine russische Idee?“ Die Antwort <strong>ist</strong>völlig eindeutig: Adolf Hitler. 42Nach dem <strong>Wochen</strong>ende soll der Preußische Landtag <strong>vor</strong>zeitig aufgelöstwerden, doch es hapert mit der Gleichschaltung der Deutschen. StaatsratspräsidentKonrad Adenauer widersetzt sich weiter dem Vorhaben imso genannten Drei-Männer-Gremium. Dr. Adenauer, der schon seit 1917Oberbürgerme<strong>ist</strong>er der Stadt Köln <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> nicht bereit, diesen Kanzler zuempfangen, der zu einer Wahlkampfrede aus Berlin angere<strong>ist</strong> <strong>ist</strong>, undlässt die Hakenkreuzfahnen von der Deutzer Brücke hier abnehmen. Somacht Konrad Adenauer* keinen guten Eindruck auf den <strong>neue</strong>n Kanzlerin Berlin. Er <strong>ist</strong> mit 57 auch nicht mehr so leicht für jede Revolution zugewinnen. Im Wahlkampf wird plakatiert: Adenauer, an die Mauer. 43 Erverlässt daraufhin am 13. März die Stadt Köln und wird von den <strong>neue</strong>n41 Speidel, S. 5242 Kurt Hirche, Der »braune« & der »rote« Witz, S. 9343 Internetquelle 216


<strong>1933</strong>Experten vom Amt suspendiert. Ein alter Schulfreund, der Abt IldefonsHerwegen, bietet ihm Obdach im katholischen Kloster Maria Laach. 44Ein paar Kilometer nördlich von Berlin liegt das Städtchen Oranienburg.Dort gab es früher mal eine Brauerei. 1925 <strong>hat</strong>te die Aktiengesellschaftfür Ost- und Überseehandel das Fabrikgelände erworben und begonnen,Radios herzustellen. Die Produktion hielt sich jedoch nicht lange, weil esnicht genug Absatz gab. Später fand sich kein Interessent mehr für dasGrundstück mit dem leer stehenden Fabrikgebäude, so wurde es dannim Februar <strong>1933</strong> der SA-Standarte 208 als ein Obdachlosenheim für SA-Männer zur Verfügung gestellt. 45In Berlin soll der polnische Gesandte Wysocki am 17. Februar über dieNachbesetzung für den polnischen Generalkonsul in der ostpreußischenStadt Königsberg sowie für den deutschen Militärattaché in Warschauverhandeln. Im Gespräch mit dem Abteilungsleiter Osteuropa des AuswärtigenAmtes fragt der Gesandte, „ob es denn überhaupt noch Zweckhabe, diese Posten zu besetzen, da wir ja doch am Vorabend eines Kriegeszwischen Deutschland und Polen“ stehen. 46Am Abend des 27. Februar sehen Passanten, dass der Reichstag brennt.Vorübergehende bleiben stehen und Feuerwehrautos nahen. Die Polizeinimmt Ermittlungen auf. Ein Mann läuft ihnen aus den Flammen direktin die Arme. Sie nehmen ihn sofort fest. Am nächsten Tag steht es in denZeitungen. „Allerdings bleiben diese polizeilichen Verlautbarungen trotzder vielen Worte im Grunde mager. Sie reden von einem verhaftetenholländischen Kommun<strong>ist</strong>en und von dem Vorsitzenden der kommun<strong>ist</strong>ischenReichstagsfraktion, der mit diesem Holländer im Komplott gewesensein soll. Später gesellen sich noch drei bulgarische Agenten derdritten Internationale dazu. Doch die Angaben erscheinen reichlich unbestimmt,so dass in der Öffentlichkeit bald Zweifel laut werden, ob beider Untersuchung alles mit rechten Dingen zugehe. Warum <strong>ist</strong> es nichtmöglich gewesen, die angeblich auf frischer Tat Ertappten zu einemüberzeugenden Geständnis zu bewegen? Wieso bleibt es noch nach Tagen,<strong>Wochen</strong> und Monaten unklar, was sich an dem Brandabend im44 Internetquelle 345 Internetquelle 446 ADAP, Serie C, Band I, Dokument 22, in: Schultze-Rhonhof, S. 40517


<strong>1933</strong>Reichstagsgebäude abgespielt <strong>hat</strong>? Dabei läuft die Sache zunächst wieein ganz gewöhnlicher Kriminalfall, zumal die Polizei einen der Brandstifteram Tatort verhaften konnte.“ 47Hans-Bernd Gisevius <strong>hat</strong>te <strong>vor</strong> einer Woche seinen 29. Geburtstag. Derjunge Mann <strong>hat</strong>te in Berlin und München studiert und in Marburg promoviert.Jetzt will er zur Polizei. Schon deshalb interessiert ihn der Fall.Ihm fällt <strong>vor</strong> allem auf, dass Hermann Göring am Abend des Brandes„keine Volksversammlung abhält“ 48 , sondern sofort zur Stelle <strong>ist</strong>. Sonst<strong>ist</strong> er immer im Land unterwegs; am 5. März soll der Reichstag ja neugewählt werden. Der Beamte in spe bemerkt ebenfalls, dass nur wenigeMinuten nach der Tat schon der <strong>neue</strong> Reichskanzler da <strong>ist</strong>. „Adolf Hitleraß gerade bei Joseph Goebbels zur Nacht, als die aufregende Nachrichtvon der Brandkatastrophe eintraf – wie gut, dass er heute Abend gleichfallskeine Wahlversammlung abhält, ebenso sein sonst so redelustigerPropagandachef. Unentwegt starrt der Führer, um ihn herum eine ScharMin<strong>ist</strong>er und Beamte, auf das brennende Gebäude. Augenscheinlich <strong>ist</strong>dieser Me<strong>ist</strong>er der Selbstsuggestion von dem Schauspiel außergewöhnlichgepackt. Von Minute zu Minute steigert sich seine Erregung. Mit leidenschaftlichenWorten erteilt er Göring alle polizeilichen Vollmachten.In dieser Nacht verkündet man die berühmten Notverordnungen vom28. Februar <strong>1933</strong>. Sie sind ausgesprochene Notstandsverordnungen undwerden »zum Schutze von Volk und Staat« gegen »kommun<strong>ist</strong>ische Anschläge«erlassen. Sie sind also dem Sinn und Wortlaut nach reine Kommun<strong>ist</strong>enverordnungen.“49 Und das, be<strong>vor</strong> man wirklich herausgefunden<strong>hat</strong>te, wer van der Lubbe eigentlich <strong>ist</strong>.Doch die <strong>neue</strong> Innenpolitik hier bekommen auch die Sozialdemokratenzu spüren. „Umgehend verbietet Göring auf Grund der <strong>neue</strong>n Paragraphenihre gesamte Presse. Sie mögen sich trösten: nicht lange müssensie allein bleiben. Sehr schnell werden sämtliche übrigen Parteien mitder gleichen Willkür Bekanntschaft machen. Aber während die Linkedamals noch die Möglichkeit <strong>hat</strong>, in ihren Wahlversammlungen zu protestieren,während es Blätter der demokratischen Mitte gibt, die dieseProteste abdrucken, während es einstweilen noch eine sehr gewichtige47 Gisevius I, S. 1348 Ebd., S. 1849 Ebd., S. 18f.18


<strong>1933</strong>Möglichkeit gibt, den öffentlichen Unwillen kundzutun, nämlich diekommende Reichstagswahl, wird es später höchstens noch schriftlicheBeschwerden geben, die in den Papierkorb wandern oder ihre Verfasserins Konzentrationslager bringen. Jedwede richterliche Nachprüfung derstaatlichen Eingriffe hört auf. Wer ahnt am Morgen nach diesem h<strong>ist</strong>orischenBrandabend beim Lesen der Notverordnungen, dass einzig mitdiesen <strong>wenigen</strong> Bestimmungen die Revolution legalisiert werden wird?Aber es <strong>ist</strong> so. Juden und Chr<strong>ist</strong>en, Stahlhelmer und Logenbrüder, Zentrumsleuteund Deutschnationale, Gesangsvereine und Konsumgenossenschaften,sie alle werden mit der Zeit jenes <strong>neue</strong> Polizeirecht kennenlernen, das aus dem verwirrenden Flammenmeer am Königsplatz denSchein der Berechtigung ableitet, ein ganzes Sechzig-Millionen-Volkdem Terror auszuliefern.“ 50 Erst im September beginnt der Strafprozessim Reichsgericht zu Leipzig.In dieser Atmosphäre läuft am 5. März die Wahl zum Reichstag an. <strong>Es</strong><strong>ist</strong> Sonntagmorgen in München. Am Abend geht der 18-jährige FranzJosef Strauß mit seinem Vater zur Versammlung der Bayerischen Volksparteiin den Mathäser-Bräu. Dort sagt der Vorsitzende der Partei, FritzSchäffer*, der die Versammlung leitet, jetzt gebe es keinen Zweifel mehr,Nationalsozial<strong>ist</strong>en und Deutschnationale hätten die Mehrheit. Danachsagt Schäffer einen Satz, den Franz nicht vergisst: „Meine lieben Parteifreunde,jetzt kommt eine furchtbare Zeit. Morgen beginnt die Karwochefür Deutschland. Diese Karwoche wird einen Karfreitag für Deutschlandbringen. Wir sind gläubige Chr<strong>ist</strong>en. Nach dem Karfreitag kommtdie Auferstehung, der Ostersonntag.“ Der Franz erlebt Fritz Schäffer alseindrucksvollen Redner mit sonorer Stimme, der plastisch formulierenkann und ein Me<strong>ist</strong>er der deutschen Sprache <strong>ist</strong>. Lähmende Stille breitetsich unter den drei- bis vierhundert Zuhörern aus und dann löst sich dieVersammlung auf. „Bedrückt, schweigend ging ich mit meinem Vaternach Hause, die Stimmung war unheimlich.“ 51Die erste außenpolitische Reaktion auf die deutschen Wahlergebnissefällt harsch aus. Gleich am Montag verstärkt Marschall Piłsudski PolensTruppen im Fre<strong>ist</strong>aat Danzig, den Polen sowieso gern für sich will. Nachdem relativen Wahlsieg der NSDAP wird in Warschau befürchtet, dass50 Gisevius I, S. 1951 Strauß, S. 2919


<strong>1933</strong>sich die Stadt jetzt wieder mit dem Deutschen Reich vereinigen könnte.Józef Piłsudski lässt ein Bataillon Marineinfanterie auf der Westerplattean der Zufahrt zum Hafen von Danzig stationieren. Dabei muss er keinerussischen Gegenmaßnahmen befürchten, da er sich, obwohl er so antirussischwie auch antisowjetisch eingestellt war, am 25. Juli 1932 durcheinem Nichtangriffspakt mit Moskau gegen ein Eingreifen sowjetischerTruppen abgesichert <strong>hat</strong>te. Der Völkerbund <strong>hat</strong>te Polen nur eine relativbescheidene Wachmannschaft für ein Munitionsdepot zugestanden undprotestiert scharf, so dass Piłsudskis Truppen wieder abgezogen werdenmüssen. 52 Unterdessen wird mit Paris verhandelt, ob nicht Frankreichzu einem Krieg gegen das Reich bereit sei, um Deutschland zur Einhaltungder Bestimmungen von Versailles zu zwingen. Paris fühlt sich jedochan das strikte Angriffsverbot aus dem Kellogg-Pakt gebunden undgeht auf die Anfrage aus Warschau nicht ein. 53Der Reichstag <strong>ist</strong> nun zwar gewählt, kann jedoch in der ausgebranntenRuine nicht tagen. Man schaut sich um in der Nähe und kommt auf dieKroll-Oper. Am Dienstag beginnt der Umbau. Die Deckengemälde sindzu heiter und müssen weichen. Im Parkett werden zu viele Sitze eingebaut.54 Vielleicht nahm sich der Architekt nicht die Zeit zum Lesen einerZeitung: elf Abgeordnete der SPD sitzen schon in Schutzhaft, wie dasjetzt heißt, ganz zu schweigen von denen der KPD. Ihre 81 Mandate sindinzwischen annulliert worden. Reichsinnenmin<strong>ist</strong>er Wilhelm Frick kommentiertdas volkstümlich: „Wenn der <strong>neue</strong> Reichstag zusammentritt,werden die Kommun<strong>ist</strong>en durch dringendere und nützlichere Arbeitenverhindert sein, an der Sitzung teilzunehmen. Diese Herrschaften müssenwieder an nutzbringende Arbeit gewöhnt werden. Dazu werden wirihnen in Konzentrationslagern Gelegenheit geben. Wenn Sie sich dannwieder zu nützlichen Mitgliedern der Nation erziehen ließen, sollen sieals vollwertige Volksgenossen willkommen sein. Aber nicht nur dieKommun<strong>ist</strong>en müssen verschwinden, sondern auch ihre roten Bundesgenossenvon der Sozialdemokratie, denn die Sozialdemokratie <strong>ist</strong> dieWurzel, die den Kommunismus her<strong>vor</strong>gebracht <strong>hat</strong>.“ 5552 Schultze-Rhonhof, S. 40453 Ebd., S. 405; Polnischer Generalstab, Band I, Teil I; Mackiewicz, S. 2254 Internetquelle 555 Zitiert nach: Johannes Tuchel, Konzentrationslager, S. 3720


<strong>1933</strong>Von nutzbringender und obendrein schöner Arbeit abgehalten wird amAbend dieses 7. März Fritz Busch, der gefeierte Dirigent der SächsischenStaatskapelle. Generalstabsanwärter Hans Speidel, der ebenso zu demFreundeskreis zählt wie der SPD-Chef Kurt Schumacher* und natürlichviele Künstler, <strong>ist</strong> entsetzt darüber, dass „Nationalsozial<strong>ist</strong>en Fritz Buschnach glanzvoller elfeinhalbjähriger Tätigkeit buchstäblich vom Pult derDresdner Staatsoper jagen, weil er nicht Mitglied der Partei werden“ willund sie offen ablehnt. Busch verzichtet daraufhin dankend auf Angebotein Deutschland und besteigt am 15. Juni ein Schiff nach Buenos Aires,um stattdessen am Theater Colón ein Orchester zu dirigieren. 56In Genf tagt weiter der Hauptausschuss der Abrüstungskonferenz. Dortsetzt sich der britische Premiermin<strong>ist</strong>er James Ramsay MacDonald mitLeidenschaft für seinen Abrüstungsplan ein, der letztlich zwar nicht abgelehnt,aber auch nicht von allen Staaten angenommen wird, weil sichEngland nicht bereit erklärt, Verpflichtungen zum militärischen Schutzanderer Staaten zu übernehmen. Der Premier spricht nur davon, dassman eine Konferenz einberufen solle, „falls wirklich eine Verletzung desPaktes festgestellt worden <strong>ist</strong>“ 57 . Die Deutschen haben aber ganz andereSorgen als der Londoner Premier. Sie fragen, wie es denn nun um ihreGleichberechtigung bestellt sei, wenn es hier nur um Abrüstung geht,und wünschen sich, dass auch „Deutschland in der Zwischenzeit wenigstensin gewissem Ausmaße Waffen besitzen dürfe, die ihm durch denVersailler Vertrag verboten worden waren.“ 58 Wissen die Vertreter derBerliner Interessen nicht oder sagen sie nicht, dass das Deutsche Reichden Vertrag von Versailles in Bezug auf die Rüstungsbegrenzung schonAnfang der zwanziger <strong>Jahr</strong>e verletzt <strong>hat</strong>? <strong>Das</strong> Ergebnis der Abrüstungskonferenz<strong>ist</strong> mager „und die Lage verschärfte sich von Tag zu Tag. <strong>Das</strong>war natürlich nicht nur eine Folge der Mangelhaftigkeit des englischenVorschlages, sondern es lag auch an der Schockwirkung, welche die Einsetzungeiner nationalsozial<strong>ist</strong>ischen Regierung in mehr oder wenigerstarkem Maße bei fast sämtlichen Delegationen in Genf auslöste.“ 5956 Speidel, S. 37f.57 Schmidt, S. 25458 Ebd., S. 25459 Schmidt, S. 25521


<strong>1933</strong>Nehmen wir den nächsten Zug, um rechtzeitig in München zu sein. Dortfindet am 9. März der festliche Aufmarsch von SA und SS zur Feier derMachtübernahme statt. Die bayerische Fahne wird eingeholt und dafürwird nun die Hakenkreuzfahne gehisst. Der Schüler Franz Josef Strauß*kommt von der Schule und radelt durch die Leopoldstraße, als sich dortSA- und SS-Verbände formieren. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> später Nachmittag und langsamfängt es an zu dämmern. Er begleitet den Zug durch die ganze Stadt; esgeht <strong>vor</strong>bei am Hauptpostamt, am Nationaltheater und am Gebäude derRegierung von Oberbayern. Überall, so weit er schauen kann, herrschtJubel. Der junge Mann selbst schwankt „zwischen Furcht und Hass“. 60Er sieht aber auch nur diejenigen, die auf der Straße sind. Er sieht nicht,wie viele zu Hause sind oder bei Freunden und Musik hören, um diesenJubel der anderen Hälfte der Bevölkerung nicht ertragen zu müssen.In den Hauptstädten Europas überlegt man in diesen Tagen, wie mit der<strong>neue</strong>n Regierung in Berlin gedeihlich auszukommen <strong>ist</strong>. Auf jeden Fallhoffen sie in London und Paris auf ein Ende des Alptraums von Rapallo.Der Kanzler <strong>ist</strong> ein scharfer Gegner des Bolschewismus und außer in dersowjetischen Hauptstadt hoffen alle, dass Deutschland die Beziehungenzu Moskau endlich auf Eis legt. Der römische Herrscher Mussolini bietetdem britischen Premier Ramsay MacDonald und dessen Außenmin<strong>ist</strong>erJohn Simon am 18. März <strong>1933</strong> einen „Viererpakt“ 61 an. Mussolini denktan so etwas wie ein Direktorium für Europa, das aus Großbritannien,Frankreich, Italien und Deutschland bestehen soll. Damit wäre Berlinaufgewertet und zugleich politisch eingebunden. Im Kern <strong>ist</strong> es dieselbeGrundidee wie in der innerdeutschen Diskussion. London findet das imPrinzip gut, Rom auch, von dort kam ja die Idee, Frankreich legt jedochWert darauf, dass sich der Text gegen niemanden richtet. Natürlich <strong>ist</strong>er gegen die kommun<strong>ist</strong>isch regierte Sowjetunion gerichtet und das <strong>hat</strong>gute Gründe. Unfassbar viele Emigranten haben das Land in den letztenanderthalb <strong>Jahr</strong>zehnten verlassen, sind geflohen <strong>vor</strong> den Arbeitern undBauern, die jetzt das Land dort beherrschen. Geflohen aus Angst um ihrLeben. Sie suchten und fanden auch Zuflucht in Asien, in Europa und inAmerika. In Berlin und Paris wohnen Tausende von ihnen. Viele zogenin Wohnungen in Charlottenburg ein, das die Berliner Schnauze seitdemrespektlos Charlottengrad nennt. Im <strong>neue</strong>n Russland selbst folgt seit der60 Strauß, S. 2961 Falin, S. 37; Marian Wojciechowski, Vortrag, S. 26022


<strong>1933</strong>Revolution <strong>vor</strong> fünfzehn <strong>Jahr</strong>en eine Hungersnot der nächsten und zehnoder elf Millionen 62 Arbeiter, Bauern und deren Kinder sind inzwischenan der Unterernährung gestorben. Aber all das soll der Text nicht sagen;man will Stalin in Moskau nicht noch unnötig provozieren. <strong>Es</strong> soll etwaswie ein Quartett des Friedens werden. Berlin, also Hitler, begrüßt diesesVorhaben. Zu seinem außenpolitischen Berater Joseph Goebbels sagt ernach der Unterbreitung des Angebotes, das wird ihm „Ruhe und Luft“ 63verschaffen. Er <strong>hat</strong> noch einiges <strong>vor</strong>. Und solange das im Osten passiert,<strong>hat</strong> ja auch fast niemand etwas dagegen. In diesen Tagen geht in Berlinein Brief ein, in dem eine Frau aus Riga ihre Hoffnung formuliert, dassder <strong>neue</strong> Kanzler in Berlin hoffentlich etwas gegen den Diktator in derSowjetunion ausrichten kann. Sie <strong>hat</strong> Angst, dass Stalin über kurz oderlang die baltischen Staaten wieder in den russischen Staat zurückholt. 64Am 20. März hört Paul im Radio, dass der Münchener Polizeipräsident,kommissarisch eingesetzt <strong>vor</strong>erst, Heinrich Himmler die Errichtung voneinem Konzentrationslager in der Nähe der Stadt Dachau bekannt gegeben<strong>hat</strong>. <strong>Das</strong> Wort <strong>ist</strong> Lagern entlehnt, die es Anfang des <strong>Jahr</strong>hundertsschon im Süden Afrikas gab und die vom Britischen und vom DeutschenReich in ihren dortigen Kolonien betrieben wurden. Die ersten Lager inMitteleuropa, in denen die Republik Polen zehntausende Deutsche gefangenhielt, gab es schon in den zwanziger <strong>Jahr</strong>en in Szczypiorno, BrestLitowsk und Bereza Kartuska. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> von Aachen bis Tilsit bekannt.Am 21. März liest Franz in den Münchener Neuesten Nachrichten: „AmMittwoch wird in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslagereröffnet. <strong>Es</strong> <strong>hat</strong> ein Fassungsvermögen von 5000 Menschen. Hier werdendie gesamten kommun<strong>ist</strong>ischen und – soweit notwendig – Reichsbanner,und marx<strong>ist</strong>ischen Funktionäre, die die Sicherheit Deutschlandsgefährden, zusammengezogen, da es auf die Dauer nicht möglich <strong>ist</strong>,wenn der Staatsapparat nicht so sehr belastet werden soll, die einzelnenkommun<strong>ist</strong>ischen Funktionäre in den Gerichtsgefängnissen zu lassen,während es andererseits nicht angängig <strong>ist</strong>, diese Funktionäre wieder indie Freiheit zu lassen. Bei einzelnen Versuchen, die gemacht wurden,war der Erfolg der, dass sie weiter hetzen und zu organisieren versu-62 Meyers Taschenlexikon Geschichte, Bd. 5, S. 28063 Joseph Goebbels, Die Tagebücher. Sämtliche Fragmente, Bd. II, S. 43064 Aus dem Privatarchiv des Autoren .23


<strong>1933</strong>chen.“ Reichsbanner waren die von den Sozialdemokraten organisiertenbewaffneten Kräfte zum Schutz der Republik. „Weiter versicherte PolizeipräsidentHimmler, dass die Schutzhaft in den einzelnen Fällen nichtlänger aufrechterhalten werde, als notwendig sei. <strong>Es</strong> sei aber selbstverständlich,dass das Material, das in ungeahnter Menge beschlagnahmtwurde, zur Sichtung längere Zeit benötigt. Die Polizei werde dabei nuraufgehalten, wenn dauernd angefragt werde, wann dieser oder jenerSchutzhäftling freigelassen werde. Wie unrichtig die vielfach verbreitetenGerüchte über die Behandlung von Schutzhäftlingen seien, gehe darausher<strong>vor</strong>, dass einigen Schutzhäftlingen, die es wünschten, wie z. B.Dr. Gerlich und Freiherrn v. Aretin, priesterlicher Zuspruch genehmigtworden sei.“ 65<strong>Es</strong> dauert gar nicht so lange, bis auf den Straßen Sprüche dieser Machartkursieren: <strong>Das</strong> Propagandamin<strong>ist</strong>erium <strong>hat</strong> die Zeitungen aufgefordert,für die Eintopf-Sonntage geeignete Kochrezepte zu veröffentlichen. Alswichtigstes Gericht soll empfohlen werden: gedämpfte Zunge. 66 Oder so:„Wenn jetzt <strong>neue</strong> Konzentrationslager eingerichtet werden, soll das aufBerggipfeln geschehen.“ – „Warum denn?“ – „Man erwartet, dass dieHäftlinge dort schneller braun werden.“ 67 Andere geben diesen Hinweisweiter: „Alter schützt <strong>vor</strong> Schutzhaft nicht.“ 68Der 49-jährige Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss wird sich spätererinnern, wie der staatliche Terror plättete: „Mein Vater <strong>hat</strong> mir eine Erziehungbürgerlicher Anständigkeit gegeben, in der das Verbrechen alsaktuelle Form des öffentlichen Lebens nicht <strong>vor</strong>kam. Unsere Phantasie,auch wenn wir einige Übersicht über Greuel als h<strong>ist</strong>orische Geschehenbesaßen, reichte nicht so weit, das Verbrechen als institutionelle Formstaatlichen Wirkens einzusetzen.“ 69 So bleibt bei vielen Leuten lange dieVorstellung erhalten, es handele sich um Arbeitslager für Querulanten,zumal Hitler sogar der ausländischen Presse Lager <strong>vor</strong>führen lässt. Aberzurück in das Obdachlosenheim der SA in Oranienburg bei Berlin. Hörtman dort von der Ankündigung des Münchener Polizeipräsidenten und65 Münchener Neueste Nachrichten, 21. März <strong>1933</strong>66 Hirche, S. 8467 Ebd., S. 11468 Ebd., S. 11469 Schultze-Rhonhof, S. 31024


<strong>1933</strong>treibt die Aufräumaktion auch in Brandenburg <strong>vor</strong>an? Oder geht die SA-Standarte 208 auf eigene Faust los und nimmt vierzig Kommun<strong>ist</strong>en ausden Gemeinden in der Umgebung der Stadt mit in ihr Heim? Die vierzigMänner werden die ersten Gefangenen auf dem Brauereigelände. 70 „Deruralte und ewig <strong>neue</strong> Reiz, der von dem Besitz der Macht ausgeht, zeigteinmal mehr seine Wirkung. Hat man nicht soeben die SA programmgemäß,wenn auch unbedacht, zur Hilfspolizei gemacht? Nun, dann willsie auch wirklich Polizei spielen. Zwar mag sich Göring diese Maßnahmeso denken, dass auf zwei schwer bewaffnete Polizeiwachtme<strong>ist</strong>er je einmit weißer Binde bestückter SA-Mann kommt, gewissermaßen ein braunerKonzessionsschulze; aber da verrechnet er sich gründlich in diesenHaudegen. Bald werden sie die Wachtme<strong>ist</strong>er als Protokollanten aufdem Revier zurücklassen und allein nach Staatsfeinden suchen. Die SAveranstaltet Großrazzien. Die SA macht Haussuchungen. Die SA beschlagnahmt.Die SA lädt zu Zeugenvernehmungen. Die SA sperrt ein.Kurzum, die SA erhebt sich zur Hilfspolizei in Permanenz und pfeift aufalle Rechts- und Verwaltungsgrundsätze aus der so genannten Systemzeit.<strong>Das</strong> Schlimmste für die ohnmächtigen Staatsbehörden <strong>ist</strong>, dass dieSA ihre Beute überhaupt nicht mehr herausrückt.Wehe, wenn sie jemanden in ihren Klauen <strong>hat</strong>! Damals entstehen die»Bunker«, jene furchtbaren Privatgefängnisse, von denen jeder gute SA-Sturm mindestens einen besitzen muss. Die »Abholung« wird SA-Gewohnheitsrecht. . . Der erste Gegner <strong>ist</strong> natürlich der Kommunismus.Aber er <strong>ist</strong> wirklich nur der erste Gegner. Nachdem einmal die Prügelheldenzur Hilfspolizei in eigener Sache gemacht worden sind, beginntein regelrechter Straßenterror, der nichts mehr mit dem Kampfe gegenden Bolschewismus zu tun <strong>hat</strong>. Was sich in diesen ersten Monaten währendund nach Erringung der Totalität in unsern Großstädten, zuweilenauch auf dem Lande, an Gewalttätigkeiten abspielt, <strong>ist</strong> unglaublich. DieBestie im Menschen tobt sich aus. Niedrigste Instinkte toben suchenihre Opfer. Blindlings schlagen alte, <strong>neue</strong> und <strong>neue</strong>ste Kämpfer auf ihrenFeind.“ 71In der Berliner Kroll-Oper sind Arbeiter mit dem Umbau beschäftigt, sowird der <strong>neue</strong> Reichstag am 21. März durch den Reichspräsidenten Paulvon Hindenburg, 85, in der Garnisonkirche in Potsdam eröffnet. Der 17-70 Internetquelle 471 Gisevius I, S. 13625


<strong>1933</strong>jährige Paul hört die Festveranstaltung zu Hause im Radio. Feierlich ernenntder Reichspräsident jetzt auch ganz offiziell Adolf Hitler, 43, zumReichskanzler. Der 21. März wird zum „Tag der nationalen Er<strong>neue</strong>rung“und später zum „Tag von Potsdam“ ausgerufen. Im Windsc<strong>hat</strong>ten diesesFestaktes erlässt die Reichsregierung eine Verordnung über die Bildungvon Sondergerichten 72 , denn gewöhnliche Gerichte sind hier nicht genug.Dort arbeiten ja Richter nach alten demokratischen Spielregeln.Jetzt <strong>ist</strong> das nicht mehr modern. Die bisherige mündliche Verhandlungüber den Haftbefehl <strong>ist</strong> nicht <strong>vor</strong>gesehen, eine gerichtliche Voruntersuchungerübrigt sich, und eine Beweiserhebung kann abgelehnt werden,wenn das neuartige Sondergericht „die Überzeugung gewonnen <strong>hat</strong>,dass die Beweiserhebung für die Aufklärung der Sache nicht erforderlich<strong>ist</strong>“ 73 . So wird es möglich, jemanden für den Kauf einer kommun<strong>ist</strong>ischenZeitung wegen finanzieller Unterstützung einer staatsfeindlichenOrganisation zu verurteilen. 74 <strong>Das</strong> <strong>hat</strong> mit Meinungs- und Pressefreiheitaus den Zeiten der Weimarer Republik, die von den Kommun<strong>ist</strong>en nichtsehr geschätzt wurde, nur noch sehr wenig zu tun.Einen Tag später wird das Konzentrationslagers Dachau eröffnet, so 20Kilometer nordöstlich von München, dort, wo einmal eine Pulverfabrikgewesen war. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein Lager für Männer aller Couleur. Neben Männernaus der KPD, der SPD und den Gewerkschaften werden dort Liberaleund Konservative eingesperrt. Kann man sich nicht die Überraschungder letztgenannten Herren <strong>vor</strong>stellen, wenn im Nachbarbett nicht ihreFrau liegt, sondern ein Mann, den sie bis gestern sehr scharf angegriffenhaben? <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> wichtig, sich das <strong>vor</strong>zustellen, wenn man verstehen will,was in diesen <strong>wenigen</strong> <strong>Jahr</strong>en in Deutschland <strong>vor</strong> sich geht. Dabei <strong>ist</strong> esein Irrtum, dass es sich um tausend <strong>Jahr</strong>e handelt. <strong>Es</strong> sind nur zwölf.Erst <strong>ist</strong> man 22 und dann <strong>ist</strong> man 34. Doch diese zwölf <strong>Jahr</strong>e, die das soweitergeht, sind mehr als genug, um Deutschland für Generationen zuprägen. Was kann dann näher liegen als eine handfeste Verschwörunggegen die braune Meute?Als Paul am 23. März das Radio anmacht, hört er Worte aus der erstenRegierungserklärung des <strong>neue</strong>n Kanzlers. Den aufrichtigen Wunsch <strong>hat</strong>72 Felix Ecke, Die braunen Gesetze. Über das Recht im Unrechtsstaat, S. 2673 Ebd., S. 4574 Ebd., S. 4526


<strong>1933</strong>er, den Frieden zu erhalten und zu festigen, die Rüstungen will er beschränkenund zu der innenpolitischen Versöhnung 75 beitragen, die sichauch Pauls Eltern erhoffen. Vater sagt auch immer, wir brauchen nichtso viele Parteien, die sich ständig angiften. Man könne jedes Problem inden Griff bekommen, wenn es von allen gemeinsam angepackt wird,und letztlich sind wir ja alle Deutsche und wollen, dass es hier wiederbesser wird. Natürlich begrüßt er, dass jetzt ein Gesetz verabschiedetwird „zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Endlich machen dieda oben mal was für uns kleine Leute. Ermächtigungsgesetz heißt dasWunderwerk. Ausgerechnet die SPD, die noch nie was geregelt bekommen<strong>hat</strong>, stimmt dagegen. Typisch. Was helfen soll, <strong>ist</strong>, dass die Reichsregierungjetzt endlich Gesetze beschließen kann, ohne erst den Reichstagfragen zu müssen und, dass sich die Regierung jetzt nicht mehr unbedingtan die Verfassung des Reichs halten muss. 76 Wichtig <strong>ist</strong> ja auchnur, dass es besser wird. Dann macht er sich wieder an die Arbeit.Nachdem die me<strong>ist</strong>en Abgeordneten den Arm für das Gesetz gegen dieNot gehoben haben, hört man Reichskanzler Hitler: „Die Regierung dernationalen Revolution sieht es grundsätzlich als ihre Pflicht an, entsprechenddem Sinn des ihr gegebenen Vertrauensvotums des Volkes diejenigenElemente von der Einflussnahme auf die Gestaltung des Lebensder Nation fernzuhalten, die bewusst und mit Absicht diesen Weg negieren.“77 Er sagt an diesem Pult noch mehr, denn er spricht allgemein viel,und wenn, dann lange. Als er geschlossen <strong>hat</strong>, geht der Abgeordnete derSPD Otto Wels ans Rednerpult: „Aus einem Gewaltfrieden kommt keinSegen, im Innern erst recht nicht. Eine wirkliche Volksgemeinschaftlässt sich auf ihm nicht gründen. Ihre erste Voraussetzung <strong>ist</strong> gleichesRecht . . . Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei inder letzten Zeit erfahren <strong>hat</strong>, wird billigerweise niemand von ihr verlangenoder erwarten können, dass sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetzstimmt . . . Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstaggibt, <strong>ist</strong> die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewähltenVertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden wiedas jetzt geschieht, und wie es durch das <strong>neue</strong> Ermächtigungsgesetz75 Enzensberger, S. 11476 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 125f.77 Ebd., S. 12627


<strong>1933</strong>noch mehr geschehen soll.“ 78 Diese Worte machen den Kanzler wütend.Er tritt zum zweiten Mal ans Rednerpult und hält noch eine Rede. „Ichglaube nun einmal aus den eigenen politischen Erfahrungen, die ich mitIhnen gemacht habe, dass das Recht allein leider noch nicht genügt,man muss auch die Macht besitzen. Und verwechseln Sie uns nicht miteiner bürgerlichen Welt. Sie meinen, dass Ihr Stern wieder aufgehenkönnte. Meine Herren, der Stern Deutschlands wird aufgehen und Ihrerwird sinken.“ 79Jur<strong>ist</strong>en bezeichnen dieses Ermächtigungsgesetz als obersten völkischenWert und als Akt von säkularer Bedeutung 80 . Ulrich Scheuner schreibtbeispielsweise darüber: „Indem das Gesetz zur Behebung der Not vonVolk und Reich vom 24. März <strong>1933</strong> den Erlass des Gesetzes durch dieRegierung, also durch den Willen des Führers eingeführt <strong>hat</strong>, und dieserWeg praktisch die alleinige Form der Gesetzgebung in Deutschland geworden<strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> die gesamte auf die Beteiligung der Volksvertretung ander Gesetzgebung aufgebaute Gesetzeslehre des bisherigen Rechts überholtund ein <strong>neue</strong>r Gesetzesbegriff im deutschen Recht zur Geltung gebrachtworden, der auf der Eigenschaft des Gesetzes als einer unmittelbarvom Führer selbst erlassenen Anordnung beruht.“ 81 Der Mann vomFach gibt den Entscheidungen eines fremden Menschen verdammt vielVertrauen auf Vorschuss. Hier stellt sich jedoch auch die Frage, wer einGesetz hinterfragen wird, das von Jur<strong>ist</strong>en für korrekt befunden wird.Der Verfassungsrechtler Otto Koellreutter erläutert in Jura unbedarftenLeuten, warum das alles so seine Richtigkeit <strong>hat</strong>: „Vor allem schützt dienationalsozial<strong>ist</strong>ische Rechtsauffassung die richtig verstandene Freiheitder Persönlichkeit.“ 82 Otto <strong>ist</strong> der Meinung, dass man die Freiheit richtigverstanden <strong>hat</strong>, wenn sich der Einzelne auch wirklich „seiner Bindungenan die völkische Gemeinschaft voll bewusst <strong>ist</strong> und aus dieser Ge<strong>ist</strong>eshaltungam Aufbau und an der Gestaltung der völkischen Gemeinschaftteilnimmt“ 83 . Weitere Autoritäten stellen sich hinter das Gesetz, wie der78 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 12679 Ebd., S. 126f.80 Ecke, S. 2081 Ebd., S. 2082 Ebd., S. 2083 Ecke., S. 2028


<strong>1933</strong>Präsident des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Gustav Kruppvon Bohlen und Halbach. Er lässt verlautbaren, die deutsche Industriesei zur Mitwirkung bereit und werde alles tun, um der Reichsregierung„bei ihrem schweren Werke zu helfen“ 84 .Eine unerhörte Neuerung bringt das Gesetz über Verhängung und Vollzugder Todesstrafe am 29. März in das Rechtswesen Deutschlands. <strong>Es</strong>wird das erste Gesetz seit Menschengedenken, das rückwirkend gilt. Mitdiesem Gesetz können auch Straftaten geahndet werden, die zwischendem 31. Jänner, wie der Österreicher sagt, und dem 28. Februar 85 dieses<strong>Jahr</strong>es begangen worden sind. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> wichtig, weil man die Brandstiftervom Reichstag – wobei man an die verhafteten Kommun<strong>ist</strong>en denkt –einen Kopf kürzer machen möchte. <strong>Das</strong> wird zwar nicht gelingen, weil eskeine Beweise gegen sie gibt. Aber die psychologische Wirkung diesesGesetzes kann kaum überschätzt werden. Jetzt überlegt man sich nochreiflicher, was man tut oder besser lässt, wenn alles auch nachträglichnoch zu einer Straftat erklärt werden kann.Als Kanzler Hitler Anfang März sein Ansinnen für ein solches Gesetz derReichsregierung <strong>vor</strong>getragen <strong>hat</strong>te, ging es hoch her. Am 7. März wurdeein Gutachten der Strafrechtslehrer Friedrich Oetker, Walter Nagler undHellmuth von Weber* vom 4. März diskutiert. Sie waren der Auffassung,dass kritische Bedenken „sicherlich auch in der Öffentlichkeit erhobenwerden, wenn eine Notverordnung rückwirkende Strafverschärfungenenthalten würde“ 86 . Franz Schlegelberger, der Staatssekretär im Justizmin<strong>ist</strong>erium,ergänzte, dass er vom Erlass einer solchen Rückwirkungsverordnungabrate und auch überhaupt grundsätzliche Bedenken habe,den jur<strong>ist</strong>ischen Grundsatz zu verwerfen, dass es eine Strafe nur gebenkönne, wenn die Tat gesetzeswidrig war zu dem Zeitpunkt der Tat. DerGrundsatz „Nulla poena sine lege“ gelte „fast in der ganzen Kulturwelt“ 87Zusammenfassend kommt Schlegelberger zu dem Schluss, eine Preisgabedieses Grundsatzes müsse „zu einer Verwirrung des allgemeinenRechtsbewusstseins“ 88 führen.84 Ecke, S. 2185 Ebd., S. 4286 Ebd., S. 43f.87 Ebd., S. 4488 Ebd., S. 4429


<strong>1933</strong>Die großartigen Möglichkeiten, die das Ermächtigungsgesetz jetzt bietet,werden am 31. März auch auf die Länderregierungen ausgedehnt. Nunkönnen sie ebenfalls endlich beschließen, was sie wollen. Die Auflösungder Landesparlamente nach dem Gesetz zur Gleichschaltung der Ländermit dem Reich nimmt noch ein paar mehr Querköpfen die Chance, aufdie Entwicklung in Deutschland Einfluss zu nehmen. Als die Parlamenteneu aufgestellt werden, legt man einfach die relativ guten Ergebnisse derWahlen zum Preußischen Landtag vom 5. März zugrunde. 89 Leise heißtes schon bald: „Die Länder sind gleichgeschaltet. Wir haben jetzt keinePreußen, Sachsen, Bayern oder Badener mehr. <strong>Es</strong> gibt nur noch Braun-Schweiger.“ 90Geht man heute im Reich in einen Buchladen, findet man dort das BuchWie wir Deutschen uns selbst entdeckten von Heinrich Wolf aus demLeipziger Armanen-Verlag. Darin wird erläutert, wie hinderlich sich dieReligion der Juden seit langem auf die Entwicklung der Wissenschaftenauswirkte. Wir lesen: „Zu den gefährlichsten Wahn<strong>vor</strong>stellungen gehörtder Gedanke einer einheitlichen Menschheit, einer allgemeinen Gleichheit.Er <strong>ist</strong> ein Erbe des entarteten, semitisierten Orients, wo die Völkermischungschon früh fortgeschritten war. Er <strong>hat</strong> die Entwicklung derGeschichts- und Naturwissenschaften sehr gehemmt. Vor allem standdas Ansehen der biblischen Überlieferung der freien Forschung sehr imWege. Der Mosaische Bericht über die Abstammung aller Menschen voneinem Paar war seit Augustin Dogma der römisch-katholischen Kirche.Eine päpstliche Bulle des <strong>Jahr</strong>es 1512 erklärte auch die Bewohner der<strong>neue</strong>n Welt für Nachkommen Adams. Diese jüdische Lehre übte einenso großen Einfluss aus, dass sie sogar einen Gobineau zur Stimmenthaltungveranlasste. Und heute noch nennt Professor Adam den Universalismus,die »Katholizität«, d. h. die Alleinheit des Menschengeschlechtesunter den Wesensmerkmalen seiner Kirche »an erster Stelle«. Fr. A.Lange we<strong>ist</strong> mit Recht darauf hin, dass hinter den stellenweise erbittertenKämpfen um die Arteinheit des Menschengeschlechtes der Streit umdas Alte Testament stehe. Er sagt: »Diese Frage der Arteinheit <strong>ist</strong> einebloße Umbildung der Frage der Abstammung von einem Paar, wie CuviersTheorie der Erdrevolutionen eine Umbildung der Sage von denSchöpfungstagen war.« – Geologie und Wissenschaft des Spatens haben89 Ecke, S. 2190 Hirche, S. 8530


<strong>1933</strong>uns von den Ketten des 1. Buches Moses befreit. Die Erschaffung derErde und der Menschen <strong>ist</strong> nicht erst 3761 <strong>Jahr</strong>e v. Chr. erfolgt, sondernwir haben uns daran gewöhnt, mit <strong>Jahr</strong>millionen zu rechnen. Eine ebensoverhängnisvolle Irrlehre geht auf die alten Griechen und auf die »Aufklärung«des 18. <strong>Jahr</strong>hunderts zurück. Juden und Griechen gaben dieUngleichheit der Völker zu. Die einen bezeichneten den »Wirrwarr« alsStrafe Gottes für menschliche Überhebung, die Griechen als Wirkungder Umwelteinflüsse. Schemann nennt den großen Arzt und NaturforscherHippokrates (6. <strong>Jahr</strong>hundert v. Chr.) den »Entdecker der Rasse«und den großen Geschichtsschreiber Herodot (5. <strong>Jahr</strong>hundert v. Chr.)einen Rassenspürhund, als welchen sich unser E. M. Arndt selbst bezeichnet<strong>hat</strong>. Aber die recht erkannten Unterschiede erklärten sie durchdie Umwelteinflüsse. Hippokrates spricht über die Wirkungen von Luft,Wasser und Ortslage auf die menschlichen Bewohner; besonders ziehter das Klima in Betracht. Diese Erkenntnis von der Bedeutung der Umwelteinflüssewar an sich ein großer Fortschritt; aber Hippokrates wurdeder Vater der radikalen Milieutheorie.Und dann die sogenannte Aufklärung des 18. <strong>Jahr</strong>hunderts n. Chr.! Daflossen die Lehren von der Gleichheit aller Menschen und von der überragendenBedeutung der Umwelt zusammen. Vor 200 <strong>Jahr</strong>en lehrtendie Engländer Locke und Hume, dass »der menschliche Ge<strong>ist</strong> bei derGeburt ein leeres Blatt sei und nach jeder Art oder Richtung gestaltetwerden könne«. Später war für den bekannten Franzosen Rousseau, derdie Rückkehr zur Natur predigte, ein Fundamentalsatz: »Alles <strong>ist</strong> gut,wenn es aus den Händen des Schöpfers her<strong>vor</strong>geht; alles entartet unterden Händen der Menschen.« Sowohl in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung(1778) als auch in der französischen Erklärung der allgemeinenMenschenrechte (1789) wurde die Lehre von der natürlichenGleichheit aller Menschen betont. Und was konnte in dem folgendenZeitalter der »Humanität« für ernste, fromme Männer anziehender seinals der Gedanke, dass die Leiden der Menschheit nicht auf angeboreneMängel, sondern auf Mängel der Umgebung zurückzuführen seien unddass die zurückgebliebensten und tief stehenden Menschen gegebenenfallszu den höchsten Stufen emporsteigen könnten, wenn nur die Umweltgenügend gebessert würde?Auch die Lehre des französischen Naturforschers Lamarck von der Vererbungerworbener Eigenschaften beruht auf einer Überschätzung derUmwelteinflüsse. Und dann trat die material<strong>ist</strong>ische Geschichtsauffas-31


<strong>1933</strong>sung auf, die von den Sozialdemokraten ins Maßlose gesteigert wurde.Wir bedauern die außerordentliche Verherrlichung und Begünstigungder Soziologie, besonders in der Nachkriegszeit; denn auch für sie sindalle großen Männer Produkte ihrer Zeit und Umwelt.“ 91Die neu gewählte Reichsregierung in Berlin lässt es in dieser Frage nichtbei Worten und fordert ab Samstag, dem 1. April, zum Boykott jüdischerGeschäfte auf. 92 <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> kein Aprilscherz – das kommt offiziell von derRegierung. <strong>Das</strong> stößt viele Deutsche <strong>vor</strong> den Kopf. Einer von ihnen <strong>ist</strong>Karl Michael in Hettstedt am Südharz. Er will in der Stadt gerade einPaar Schuhe für seinen Sohn Waldemar kaufen, als er die Männer vonder SA sieht. Sie stehen <strong>vor</strong> dem Laden und erklären ihm, der Händlersei ein Jude und er solle doch woanders einkaufen gehen. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> Karl sogleichgültig wie die Ansage des Wetters von gestern. Er erwidert, dassdie Schuhe aber hier am billigsten seien, und geht mit seinem Sohn indas Geschäft. 93 So harmlos bleibt die Szene jedoch nicht überall.Der alltägliche Terror auf den Straßen bewirkt eine Reaktion, die sichernicht ungewöhnlich <strong>ist</strong>: viele haben banal Angst, dass sie selbst Schlägeabbekommen. Nur einzelne greifen zu und helfen. Wer von den Lesernjetzt den ersten Stein wirft, muss sich fragen lassen, wann er schon malmit den Fäusten eine Schlägerei beendet <strong>hat</strong>. Wenn nicht gerade einervon der SA in der Nähe <strong>ist</strong>, raunen sich die Leute zu: „Lieber Gott machmich blind, dass ich Goebbels arisch find!“ 94 Zumindest aus der Zeitungkennen sie Bilder vom Klumpfuß und fragen sich, ob er eigentlich selbstschon mal in einen Spiegel gesehen <strong>hat</strong>. Nein, das kann die Tendenz zurAusgrenzung der Juden in Deutschland nicht aufhalten, aber es zeigt,was manch einer im Land von der Entwicklung hier hält. Richtig <strong>ist</strong> imgleichen Moment, dass viele Leute nichts dabei finden, dass andere invielen Bereichen diskriminiert werden. Die eine Wahrheit macht jedochdie andere Wahrheit nicht unwahr. Entscheidend wird zwei <strong>Jahr</strong>zehntespäter nur sein, wer dann in Deutschland noch zu Wort kommen wird.91 Léon Poliakov und Joseph Wulf, <strong>Das</strong> Dritte Reich und seine Denker, S. 400f.92 Der Nürnberger Prozess II, S. 47793 Erinnerung seines Enkels Peter Karl Michael aus Nassenerfurt in Hessen.94 Hirche, S, 11332


<strong>1933</strong>Einer anderer, der diesen Tag aber in Berlin erlebt, <strong>ist</strong> Raimund Pretzel,25. Morgens um zehn erhält er ein Telegramm: „Komm bitte, wenn dukannst. Frank.“ 95 Der junge Deutsche setzt sich auf die Vorortbahn undfährt dorthin, wo Frank Landau wohnt. „Er war mein bester und ältesterFreund. Wir kannten uns seit der untersten Gymnasialklasse. Wir <strong>hat</strong>tenzusammen im »Rennbund Altpreußen« Rennen gelaufen und späterin »richtigen« Sportclubs. Wir <strong>hat</strong>ten zusammen studiert und warenjetzt Referendare. Wir <strong>hat</strong>ten so ziemlich jedes knabenhafte Hobby undjede knabenhafte Schwärmerei gemeinsam gehabt. Wir <strong>hat</strong>ten einanderunsere ersten literarischen Versuche <strong>vor</strong>gelesen, und wir taten dies mitunseren schon ernsthafteren literarischen Bemühungen – wir fühltenuns beide »eigentlich« mehr als Literaten denn als Referendare. Inmanchen <strong>Jahr</strong>en <strong>hat</strong>ten wir uns tagtäglich gesehen, und wir waren gewohnt,alles miteinander zu teilen – einschließlich sogar unserer Liebesgeschichten,die wir <strong>vor</strong>einander ohne das Gefühl der Indiskretion auszubreitenpflegten.“ 96Der Vater von Frank <strong>ist</strong> Arzt und zu boykottieren. Pretzel kommt in demMoment nicht der Gedanke, dass Franks Vater im Weltkrieg sicher auchfür sein Vaterland gekämpft <strong>hat</strong>. Der Jude. Für Deutschland. Die Situation<strong>ist</strong> derart absurd, dass dem jungen Mann die Gedanken vergehenund ganz andere kommen. Er will hier weg. „Die jüdischen Geschäfte –es gab ziemlich viele in den östlichen Straßen – standen offen, <strong>vor</strong> denLadentüren standen breitbeinig aufgepflanzt SA-Leute. An die Schaufensterwaren Unflätigkeiten geschmiert, und die Ladeninhaber <strong>hat</strong>tensich me<strong>ist</strong>ens unsichtbar gemacht.“ 97 Diese Szenen überall im Land spaltendieses Volk. Ein Teil begrüßt, was hier beginnt, und ein anderer Teilsteht hilflos einer gesetzlich sanktionierten Gesetzlosigkeit gegenüber.Wie groß sind die beiden Teile? Lässt sich die Linie ziehen, wo jemanddie NSDAP wählt? 44 Prozent nach dem Verbot der KPD und den Rundfunkredendes Friedenskanzlers? 37 Prozent im Juli 1932? Muss mandie 32 Prozent im November 1932 ansetzen? Oder <strong>ist</strong> das zu einfach?Hans-Bernd Gisevius, der in Nürnberg 1946 als Zeuge auftritt, meint,für körperliche Gewalt gegen die Juden hätte Hitler nicht einmal in derPartei eine Mehrheit gehabt. Gleichlautend wird sich in Nürnberg 194695 Sebastian Haffner, Zwischen den Kriegen, S. 5396 Ebd., S. 5397 Haffner., S. 5433


<strong>1933</strong>der Anwalt für die politischen Leiter äußern. 98 Raimund Pretzel erlebt erdie Szene an diesem Samstag jedenfalls als wüst, und <strong>ist</strong> entsetzt, dassso viele Leute gaffen und nicht eingreifen.Da schlägt direkt neben ihm ein Blitz ein und eine gewaltige Stimme ruftaus dem Off: „Schäme dich deiner Gedanken! Auch du stehst nur herumund machst nichts, Pretzel!“ Später geht Raimund Pretzel nach Englandund legt sich auf der Insel den Namen Sebastian Haffner* zu.Baronesse Maimi Celina von Mirbach geht nicht weg. Die 33 <strong>Jahr</strong>e jungeFrau wohnt in Potsdam. Sie hört das Gegröle „Juda verrecke“ der SA inihrer Stadt. Jetzt findet sie in der Potsdamer Zeitung einen Leserbrief,den sie kürzlich geschrieben <strong>hat</strong>. Darin nennt sie das Hissen von Hakenkreuzfahnenan jüdischen Kaufhäusern einen Terrorakt. 99 Nicht übel fürden Anfang. <strong>Das</strong>s das abgedruckt wird, kann niemanden erstaunen, sinddoch viele Journal<strong>ist</strong>en 100 kritisch eingestellt gegen die Männer von der„braunen Fakultät“ 101 , wie Franz Josef Strauß diese Truppenteile nennt.<strong>Es</strong> dauert auch nicht besonders lange, bis so was nicht mehr so einfachin eine Zeitung reinkommt. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> andererseits aber auch kein Zufall,dass Celina von Mirbach ernst nimmt, was sich im Lande tut. Sie gehörtzu den <strong>wenigen</strong> Leseratten, die das Buch Mein Kampf von Adolf Hitlerschon 1928 gelesen <strong>hat</strong>ten. Wer liest schon derartige politische Pamphleteoder auch nur Parteiprogramme? Man liest doch höchstens, wasin der Zeitung steht. Wenn man überhaupt irgendeine Zeitung mit Inhaltliest. Anzumerken bleibt, dass sich auch Baronesse von Mirbachnicht <strong>vor</strong> ein Schaufenster eines Juden stellt und die fliegenden Steineauffängt. Sie versucht es mit klaren Worten in einem Leserbrief.Zu spät reift bei anderen wie dem chr<strong>ist</strong>lichen Pfarrer Martin Niemöllerdie Erkenntnis, dass sie auch unter diesen Bürgerkriegsverhältnissen dieRechte der anderen hätten verteidigen müssen, als sie selbst noch nichtbetroffen waren. Nach der Entlassung aus einem Konzentrationslagerwird er dann 1945 sagen: „Als die Nazis die Kommun<strong>ist</strong>en holten, habe98 Der Nürnberger Prozess I, S. 516f.99 Herbert Straeten, Andere Deutsche unter Hitler. Zeitberichte über Retter <strong>vor</strong> demHolocaust, S. 104100Marion Gräfin Dönhoff, Menschen, die wissen, worum es geht, S. 25101Strauß, S. 3834


<strong>1933</strong>ich geschwiegen; ich war ja kein Kommun<strong>ist</strong>. Als sie die Sozialdemokrateneinsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja keinGewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich warja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestierenkonnte.“ 102 Niemöller* bleibt nicht der Einzige mit dieser Erkenntnis. Er<strong>ist</strong> jedoch schon über ein <strong>Jahr</strong>zehnt mit Else verheiratet und auch ausdiesem Grund <strong>vor</strong>sichtiger als andere. Außerdem <strong>hat</strong> er schon seit 1924die NSDAP gewählt und die Einführung des Führerstaates Anfang dieses<strong>Jahr</strong>es herzlich begrüßt, so dass er jetzt erst einmal in seinem Kopf allessortieren muss, was sich unter der <strong>neue</strong>n Regierung hier so abspielt. <strong>Es</strong>gibt jedoch eine Menge andere, die deutlich spontaner auf die Ereignissereagieren als der 41-jährige Pfarrer. Unter den jetzigen Bedingungen <strong>ist</strong>es jedoch nicht einfach zu schätzen, wie viele Leute den Terror der Irrenals unsäglich empfinden.Die dreiundzwanzigjährige Marion Gräfin Dönhoff, das vierte Kind ihrerEltern, die im Osten auf Schloss Friedrichstein in Ostpreußen wohnen,studiert seit einem <strong>Jahr</strong> Volkswirtschaftslehre in Frankfurt am Main. Siewill begreifen, wie es zu den wirtschaftlichen Problemen der zwanziger<strong>Jahr</strong>e kam. Momentan sieht sie jedoch <strong>vor</strong> allem in den randalierendenbraunen Männern auf der Straße ein Problem. „Sie versucht die Hakenkreuzfahnevom Dach der Universität zu entfernen und reißt Plakate, dieDozenten als Juden und Linke anprangern, von den Wänden. Sie verteiltFlugblätter gegen die Nationalsozial<strong>ist</strong>en und wird wegen ihrerSympathien für die Linken als die »rote Gräfin« bekannt.“ 103 Im Unterschiedzu dem Mut, den namenlose einfache Leute 104 in einer Zeit an denTag legen, in der jeder aus irgendeinem Grund Angst haben muss, Opferdieser Gewaltausbrüche zu werden, wird der Mut einer Marion GräfinDönhoff* später einmal mit ihrem Namen und ihrem Gesicht verbundenwerden. Woran das bloß liegt?Der jüdische Professor Hans Rothfels aus Kassel, den die Experten ein<strong>Jahr</strong> danach entlassen, weil er nicht der richtigen Rasse angehört, wird102Steinbach, S. 12103Internetquelle 6104Vgl. Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler; Steinbach, Widerstand;Herben Straeten, Andere Deutsche gegen Hitler35


<strong>1933</strong>1947 bestätigen, dass sich antijüdische Gesinnungen und Handlungen inDeutschland gerade nicht der allgemeinen Zustimmung erfreuten. 105 DieLeute wissen nur zu gut, dass es sich nicht um Greuelmärchen handelt,wenn ausländische Medien berichten, wie in Deutschland mit den Judenumgegangen wird. Seit dem Frühjahr ge<strong>ist</strong>ern Sprüche wie dieser durchdas Land: Isaak trifft Cohn, dessen Kopf dick verbunden <strong>ist</strong>. Außerdemträgt er einen Arm in der Binde und er hinkt. „Nu, was <strong>ist</strong>, Cohn“, ruftIsaak entsetzt, „was <strong>hat</strong> man mit dir gemacht?“ „Pst!“ flüstert Cohn ausseinem Verband heraus. „Sei still! Ich bin ein Greuelmärchen!“ 106Wer sind auf der anderen Seite eigentlich diejenigen, die in gebügeltenbraunen Uniformen an diesem Samstag über jüdische Läden herfallen?Kennen sie einen der nur 520.000 Juden in Deutschland 107 persönlich?Vielleicht sind es nicht die Schwächlichsten und auch nicht die Klügsten.<strong>Es</strong> sind Straßenjungs mit rohen Manieren. Welche Rolle sollen pro- oderantijüdische Gedanken bei den Schlägern spielen? Wenn keine Bildung<strong>vor</strong>handen <strong>ist</strong>, <strong>hat</strong> es Ideologie schwer. Vielleicht haben diese Leute zuallem eine Meinung. Aber wen überrascht es, dass die, die am wenigstenim Kopf haben, zu allem ihren Senf geben wollen? <strong>Es</strong> muss doch nachdenklichmachen, wenn jemand, der nach der achten Klasse die Schulebeendet und mit seinen Kumpels bei einer Bierrunde von Kommun<strong>ist</strong>enlandet, auf einmal nach zweieinhalb <strong>Jahr</strong>en in die SA wechselt.Welche Ideologie soll der denn haben? Ihm geht es um ein gemeinsamesBier, um einen Radau, der Spaß macht, eine Schlägerei, Action. <strong>Es</strong> gehtdarum, Arbeit zu bekommen, damit man nicht bei den Eltern um Knetebetteln muss. Wer das bietet, <strong>ist</strong> ein Freund. Von den anderen <strong>hat</strong> manja nichts. Noch <strong>vor</strong> ein paar <strong>Wochen</strong> kam immer noch ein Schutzmann,wenn man sich auf der Straße gekloppt <strong>hat</strong>, und jetzt werden auf einmalganze Gruppen von Leuten für vogelfrei erklärt. Klasse! <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> völlig egal,ob die Kommun<strong>ist</strong>en zum Abschuss freigegeben werden oder irgendweranders. Man darf mal die Sau rauslassen und keiner belangt einen dafür.Da wird nicht lange gefackelt; wer weiß, wie lange man das noch so darf.Und es <strong>ist</strong> ganz gewiss unwahrscheinlich, dass sich die Rassenideologenpersönlich an diesen Ausschreitungen beteiligen.105Rothfels, S. 36106Hirche, S. 35107Straeten, S. 1336


<strong>1933</strong><strong>Das</strong>s es diesen Straßenjungs gar nicht um Ideologie gehen kann, bewe<strong>ist</strong>sich in diesen Tagen in Berlin. <strong>Es</strong> gibt nun schon geraume Zeit Bunker,in denen man andere Männer Tag und Nacht einsperrt und foltert. <strong>Das</strong><strong>ist</strong> viel besser, als in der Systemzeit von Weimar. Nur laufen draußen aufder Straße Poliz<strong>ist</strong>en Streife, die in althergebrachten Kategorien denkenund eingreifen wollen. „Nur lässt sich die SA höchst ungern verhaften.Lieber verhaftet sie selber. Sobald die Polizei versucht, jemanden aus ihrenBunkern herauszuholen, gibt es schwere Schlägereien.“ Die Vorfällehäufen sich und Beschwerden gehen beim Innenmin<strong>ist</strong>er ein. HermannGöring <strong>ist</strong> in einer Zwickmühle. Er selbst <strong>hat</strong> ja Stil; er schätzt das feineLeben, zieht sich ausgewählt an. Aber wenn andere für den feinen Herrnjemanden umbringen, soll es ihm recht sein. Mit ihm als Innenmin<strong>ist</strong>er<strong>hat</strong>te man den Bock zum Gärtner gemacht. Doch jetzt hilft alles nichts –als Innenmin<strong>ist</strong>er muss er etwas unternehmen. „Da verfällt Göring aufeinen rettenden Gedanken. In Zivil verkleidet, lediglich von zwei bewaffnetenPolizeihauptleuten flankiert, geht er selber zur Hedemannstraße.Dort befindet sich einer der berüchtigsten Bunker. Furchtbare Dinge erzähltman sich von ihm. In der Min<strong>ist</strong>erpräsidentschaft stapeln sich dieAkten darüber. Nun muss man sich das Bild <strong>vor</strong>stellen, wie Göring ander nächsten Straßenecke halt macht und sich persönlich davon überzeugt,dass schauerliche Schreie noch Hunderte von Metern weit zu hörensind. Was wird er, Göring, jetzt tun? Hineingehen? Nein, das getrauter sich nicht. Aber er findet einen charakter<strong>ist</strong>ischen Ausweg.Er holt sich in den nächsten Tagen die gesamte SA-Belegschaft aus derHedemannstraße zuzüglich einer weiteren Kolonne aus der General-Pape-Straße. Damit <strong>hat</strong> er die verwegensten Totschläger der Berliner SAbeieinander. Diese Halunken ernennt er zu seiner »Feldpolizei«.Er dekoriert sie mit aufdringlichen Polize<strong>ist</strong>ernen und verleiht ihnen unbeschränktePolizeibefugnisse, besonders innerhalb der SA. Dann betrauter sie mit der ehrenvollen Aufgabe, nunmehr rücksichtslos auf ihresgleicheneinzudreschen. Diese Rechnung geht auf. Solchen Kerlen <strong>ist</strong>es völlig gleich, wen und weshalb sie zu Tode prügeln. Hauptsache <strong>ist</strong>,dass sich allabendlich ihre Bunker füllen. Deshalb sind die Feldjägerbald in der gesamten Bewegung gefürchtet. In ihrer Art schaffen sie tatsächlich»Ordnung«, mit der sich noch der ungewollte Vorzug verbindet,dass sie sich mit der Zeit selber eliminieren. Von denen, die bei derGründung dabei sind, bleibt kaum einer übrig. Was sich nicht in den37


<strong>1933</strong>ersten zwei <strong>Jahr</strong>en gegenseitig totschlägt, wird späterhin, als die Zeitenruhiger werden, wegen krimineller Delikte eingesperrt.Als letzter der ursprünglichen Mannschaft geht ihr Chef über Bord. DemStandartenführer Fritsch gelingt es noch, richtiggehender Polizeioberstzu werden. In dieser Würde hascht ihn sein Schicksal. Er, der so vielehinter Schloss und Riegel gesetzt <strong>hat</strong>, wird Mitte 1935 selber abgeholt.“Lachen Sie nicht, Dr. Gisevius <strong>ist</strong> froh, dass der Innenmin<strong>ist</strong>er jetzt denSchutzhafterlass herausgibt. „Zehntausende sitzen in den Gefängnissen,Bunkern oder Lagern, ohne zu ahnen warum, ja ohne dass ihre eigenenLagerkommandanten wissen, weshalb sie eingeliefert wurden. Immerhinbringt der Erlass eine gewisse Übersichtlichkeit in dieses heimtückischeSystem neuzeitlicher Freiheitsberaubung, bei dem die Häftlinge <strong>vor</strong>sich selber in Schutz genommen werden.“ 108In diesen <strong>Wochen</strong> nach den Gewaltakten gegen viele jüdische Geschäfte,für die an <strong>vor</strong>derster Front Hitlers Berater bei der Volksaufklärung undPropaganda Dr. Joseph Goebbels schon seit <strong>Jahr</strong>en Stimmung gemacht<strong>hat</strong>te, entsteht folgender Liedtext, den man nur wenige <strong>Wochen</strong> späterauf Platte mit den Vier Nachrichtern in Goebbels’ rheinischem Dialektgenießen kann: Gehirnschwund, Kalk, Arteriosklerose. Rasch tritt dieGicht den Menschen an. Und seufzend stehst du <strong>vor</strong> der Diagnose: Beidir <strong>ist</strong> irgendwas nicht richtig, Mann. Se müssten mal zum Dokter jeh’n,Herr Dokter. Dat kann doch nich so weiterjehn, Herr Dokter. Sicher <strong>hat</strong>Professor Freud auch für Sie a Kleinichkeit, die Sie von den Leiden, dieSie leiden, janz befreit. Dat is ja nich mehr anzusehn, Herr Dokter. Siesollten wirklich mal, ja, ja, Sie müssten wirklich mal, also, er muss dochwirklich mal zum Onkel Dokter jeh’n. 109Goebbels <strong>hat</strong> wahrhaft riesige Opfer für die Umgestaltung Deutschlandsauf sich genommen. Joseph oder Jupp, wie man ihn nennen soll, machtman auf der Straße hinter <strong>vor</strong>gehaltener Hand zu Bumsbeen, Ma<strong>hat</strong>maPropagandhi, Reichslügenmaul, Reichsspruchbeutel, nachgedunkelterSchrumpfgermane oder gelegentlich auch zu Wotans Mickymaus. Nichtalle dieser Namen <strong>hat</strong> er von Anfang an – aber er <strong>hat</strong> sie in Aussicht. Alser auf Schwanenwerder im Westen von Berlin einzieht, nennen ihn dieLeute in feinster Respektlosigkeit den Edlen Bock von Schwanenwerder.108Gisevius I, S. 139f.109Von der Schellack-Platte „Sie müssen mal zum Doktor geh'n, Herr Doktor.“38


<strong>1933</strong>Dabei <strong>ist</strong> wichtig, dass das auch nicht der Falsche hört, sonst geht es abnach Dachau. Dort <strong>ist</strong> noch Platz. Und wenn Letzterer nicht reicht, dannwird ausgebaut. <strong>Es</strong> muss ja auch nicht in Bayern sein. Die Verlogenheitseiner Propaganda wird als das System Klumpfuß tituliert, das Radio alsGoebbelsschnauze oder Klumpfüßchens Zeitvertreib und seine Sendung„Stunde der Nation“ findet sich wieder als Josephs Märchenstunde. Naja, und dann kursieren Witze wie der hier: Goebbels <strong>ist</strong> Ehrenbürger vonLeipzig, oder wo man gerade wohnt, geworden. Warum? Weil Goebbelsder einzige Deutsche <strong>ist</strong>, der den Spargel quer essen kann. 110Während der Kanzler überall seine Reden für den inneren und äußerenFrieden hält, sind die führenden Männer in den Kirchen im Clinch überihre Haltung zur avisierten nationalen Er<strong>neue</strong>rung Deutschlands. Schonam Montag nach dem Beginn des Boykotts jüdischer Geschäfte trifft sichdie Führung der Deutschen Chr<strong>ist</strong>en zu ihrer ersten Reichstagung. Siekönnen sich nicht für das Altonaer Bekenntnis vom Januar erwärmen.Wenn Deutschland im revolutionären Aufbruch <strong>ist</strong>, können sie nicht analten Sprüchen hängen. Am 4. April <strong>1933</strong> bringen Sie das Ergebnis ihrerZusammenkunft an die Öffentlichkeit: „Gott <strong>hat</strong> mich als Deutschen geschaffen,Deutschsein <strong>ist</strong> Geschenk Gottes. Gott will, dass ich für meinDeutschland kämpfe. Kriegsdienst <strong>ist</strong> in keinem Fall Vergewaltigung deschr<strong>ist</strong>lichen Gewissens, sondern Gehorsam gegen Gott . . . Der StaatAdolf Hitlers ruft nach der Kirche, die Kirche <strong>hat</strong> den Ruf zu hören . . .Chr<strong>ist</strong>us <strong>ist</strong> zu uns gekommen durch Adolf Hitler!“ 111In den innerkirchlichen Auseinandersetzungen vertreten die DeutschenChr<strong>ist</strong>en Auffassungen der Nazis, so wollen sie ihre Landeskirchen untereinem Reichsbischof zu einer Evangelischen Reichskirche vereinigen.Ihr Wahlkampf war stark politisiert geführt worden, was ihre Gegner aufden Plan ruft. Deren Wortführer wird der Berliner Pfarrer und bisherigeWähler von Hitlers NSDAP Martin Niemöller, der mit Gleichgesinnteneinen Pfarrernotbund aus der Taufe hebt. Sie möchten die Freiheit ihreschr<strong>ist</strong>lichen Bekenntnisses <strong>vor</strong> einer braunen Vereinnahmung schützenund halten an der Einheit von Altem und Neuem Testament fest. 112110Hirche, S. 98f.111Internetquelle 7112Steinbach, S. 16639


<strong>1933</strong>Der politische Katholizismus und die Katholische Arbeiterbewegung aufder anderen Seite waren bereits <strong>vor</strong> dem <strong>Jahr</strong>eswechsel auf D<strong>ist</strong>anz zudiesen braun Uniformierten gegangen. Viele Bischöfe verurteilten dasBuch Mythos des 20. <strong>Jahr</strong>hunderts des Rassenfanatikers Alfred Rosenberg.Was die Nazis als Weltanschauung verkauften, bezeichneten sie alseine Irrlehre. Mit dem artgemäßen Chr<strong>ist</strong>entum in der EvangelischenKirche können sie nichts anfangen. Anders als bei den Protestanten gibtes in der Katholischen Kirche eine lange Tradition des Widerstandsdenkensund des Märtyrertums. So sind viele bereit, auch Verfolgung, Haftund Folter wegen ihrer Überzeugungen auf sich zu nehmen, 113 wobeisich das in der Theorie feierlicher liest, als es in Wirklichkeit <strong>ist</strong>. Unterder Hand macht bald dieser Spruch die Runde: Auch die Pfarrer grüßenjetzt mit „Heil Hitler!“ Aber der katholische grüßt anders als der evangelische.Der evangelische Pfarrer ruft: „Im Namen Gottes, Heil Hitler!“Der katholische Pfarrer grüßt: „In Gottes Namen, Heil Hitler.“ 114 <strong>Das</strong> <strong>hat</strong>nicht denselben Klang und das <strong>hat</strong> nicht denselben Inhalt.Um die Gleichschaltung der Länder noch weiter zu verbessern, wird am7. April ein zweites Gesetz dazu erlassen. Jetzt können Reichsstatthalterernannt werden. Der Kanzler muss nur geeignete Jungs für diese Postenfinden und sie <strong>vor</strong>schlagen. In der Regel findet er sie in den Gauleiternder NSDAP. Der Statthalter darf mehr als andere Leute. Er kann denVorsitzenden der Landesregierung entlassen, wenn der nicht macht, waser soll, und er kann einen geeigneten Kandidaten ernennen. Im Bedarfsfallkann er gleich den ganzen Landtag an die frische Luft befördern. EinMisstrauensbeschluss des Landtages <strong>ist</strong> nicht mehr zulässig. 115 Eigentlich<strong>ist</strong> niemand richtig überrascht, dass man immer seltener Gegenstimmenzur Linie der Reichsregierung zu hören bekommt. Weil sie geradedabei <strong>ist</strong>, erlässt sie gleich noch ein Gesetz zur Wiederherstellungdes Berufsbeamtentums. Damit werden „Nichtarier“ endgültig aus vielenBerufen ausgeschlossen. Einer von ihnen <strong>ist</strong> Robert Kempner. Er <strong>ist</strong>Justiziar im Preußischen Innenmin<strong>ist</strong>erium. Zumindest bis dieses Gesetzgreift. Er wird sein Heimatland verlassen und in Nürnberg einer derwichtigsten Ankläger gegen das Ancien Regime werden. Dieses Gesetzvom 7. April <strong>ist</strong> zwar gar nicht für die Wirtschaft gedacht, doch mancher113Steinbach, S. 166f.114Hirche, S. 84115Ecke, S. 2240


<strong>1933</strong>wittert auch hier Morgenluft. Ob in den Aufsichtsräten, Vorständen oderWirtschaftsverbänden – überall <strong>ist</strong> man schnell bei der Sache und nutztdie Gelegenheit für seinen eigenen Vorteil, 116 setzt die Juden <strong>vor</strong> die Türund holt dafür gute Bekannte herein. Bei dem Gesetz ging es nur darum,Nazis in entscheidende Posten der Verwaltung zu manövrieren. Ergänztwird das Paket von einem Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft.Darin heißt es, dass die Zulassung von Anwälten bis zum Herbstzurückgenommen werden kann. 117Wer an den Gesetzen schon nichts ändern kann, übertreibt sie durch dieÜbertragung der zynischen Gesetzestexte in astreinem Beamtendeutschauf das berufliche Feld der leichten Mädchen: „Auch das Dirnenwesensoll gemäß dem Reichsbeamten- und Anwaltsgesetz von nichtarischenElementen gereinigt werden. Danach dürfen beruflich nur noch Dirnentätig sein: 1. solche, die rein arisch sind; 2. solche, die ihr Gewerbe schon<strong>vor</strong> 1914 ausgeübt haben; 3. solche, deren Mütter im Kriege gefallensind.“ Oder auch so: Was <strong>ist</strong> es? <strong>Es</strong> liegt <strong>vor</strong> der Tür und lügt. – Der VB.<strong>1933</strong> muss man niemandem erklären, dass der VB das Nazi-Blatt <strong>ist</strong>, derVölkische Beobachter. Oder, wie wäre es damit? Wie geht es Ihnen? –Danke, jetzt geht es mir einigermaßen erträglich: Ich habe den Rundfunkabbestellt. 118Mitte April sondiert Warschau erneut in Paris die Bereitschaft für einenPräventivkrieg gegen das Reich. In Polen sind im Moment gerade mehrantideutsche Stimmungen am Wogen; die polnischen Aversionen gegendie Ukrainer, Kaschuben, Juden, Weißrussen und Tschechen im Landespielen jetzt eher so eine untergeordnete Rolle. Man muss auf jeden FallPrioritäten setzen. Piłsudski lässt Truppen aufmarschieren; auf Befehldes Marschalls hin wird Kavallerie in Pomerellen, <strong>vor</strong> Danzig und an derGrenze zu Ostpreußen konzentriert, Elitetruppen werden von der Ostgrenzeabgezogen und auch an die deutschen Grenzen verlegt. In diesenTagen informiert der deutsche Botschafter von Moltke das AuswärtigeAmt über die Warschauer Versuche, Frankreich zum Präventivkrieg zubewegen. 119 Erneut wehrt Paris dieses Ansinnen ab.116Ecke, S. 95117Ebd., S. 97118Hirche, S. 88 und 120119Schultze-Rhonhof, S. 40541


<strong>1933</strong>Der 1. Mai <strong>ist</strong> traditionell der große Kampftag der Arbeiter. Dieses <strong>Jahr</strong>wird er besonders feierlich, denn diesmal spricht nicht irgendwer von soeiner Gewerkschaft sondern der Kanzler des Reiches persönlich. Allesströmt zum Tempelhofer Feld in Berlin. Wahrscheinlich kommen Leuteaus dem ganzen Berliner Umland, denn in der Stadt <strong>ist</strong> man bekanntlichnicht so von ihm angetan. In den noblen Gegenden am Grunewald blicktman auf den Volksredner herab und in den Arbeiterbezirken wählteman die SPD oder die KPD. Vor über einer Million Teilnehmern erklärtder Kanzler den Tag zum „Feiertag der nationalen Arbeit“. 120 Gab es daswirklich schon einmal, dass ein Kanzler zum 1. Mai sprach? Er <strong>hat</strong> demPublikum auch eine ganz besondere Überraschung mitgebracht. Derjunge Kanzler glänzt mit einem Autobahnprogramm für Deutschland.Den Deutschen wird ein Volkswagen in Aussicht gestellt, wenn sie jedenMonat 5 Mark auf die hohe Kante legen. <strong>Es</strong> dürfen gern auch mehr sein.Nach drei <strong>Jahr</strong>en <strong>hat</strong> man dann mindestens ein Sparguthaben von 780Reichsmark. Dann wird man den Wagen bekommen, der eigentlich 990Mark kosten soll. Den Wagen gibt es zwar noch nicht, aber Vorfreude <strong>ist</strong>immer noch die schönste Freude. So wird man bei den kleinen Leutenganz schnell der Größte. Bis 1939 werden 336.668 Sparer 236 MillionenMark eingezahlt haben. Da keiner von ihnen ein Hellseher <strong>ist</strong>, wissen sieauf dem Tempelhofer Feld natürlich nicht, dass kaum einer von ihnen soein Auto kaufen wird, weil das VW-Werk bei strenger Geheimhaltungfast ausschließlich Militärfahrzeuge herstellen wird. 121Nur zehn Tage danach findet eine weitere feierliche Großveranstaltungstatt und große Feuer lodern in den deutschen Universitätsstädten, dort,wo Schiller, Goethe und wer sonst noch denken konnte, <strong>vor</strong> Studenteneinst sein Wissen ausgebreitet <strong>hat</strong>te. In Berlin findet die Veranstaltunggegenüber der Wilhelms-Universität und neben der Bibliothek statt. <strong>Das</strong><strong>ist</strong> praktisch, denn man will ja die falschen Bücher auf einem loderndenScheiterhaufen verbrennen. Theodor Heuss <strong>ist</strong> nun weniger überrascht,dass seine Broschüre Hitlers Weg aus dem Vorjahr genannt und in dieFlammen geworfen wird, als darüber, dass bei dieser feierlichen Bücherverbrennungauch gleich alles andere falsch gewesen sein soll, was er inseinem bisherigen Leben gelesen <strong>hat</strong>. Er kann sich auch nicht <strong>vor</strong>stellen,dass die uniform gekleideten Männer, die jetzt einen Bücherstapel nach120<strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 106121Ecke, S. 5342


<strong>1933</strong>dem anderen nehmen und in die Glut werfen, wirklich die Qualifikationhaben, um zu entscheiden, in welchen Büchern die absolute Wahrheit zufinden <strong>ist</strong> und in welchen völliger Unfug steht.Gehen jetzt all die Leseratten zu ihren Bücherregalen und entfernen ihreBücher von den falschen Autoren? Doch warum hält niemand die braunUniformierten von ihrem Tun ab? Steht es an den Veranstaltungsortennicht hundert zu null? Warum protestiert niemand? Heinrich Heine <strong>ist</strong>zum Protest nicht mehr in der Lage. Er <strong>ist</strong> nun bereits geraume Zeit tot.Doch Theodor Heuss <strong>ist</strong> quicklebendig. Hat er sich zwischen das Feuerund die Muskelmänner gestellt? Kann man also formulieren, dass dieseAktion von den Autoren und Leseratten in Deutschland begrüßt wurde?Doch etwas kann man sagen: dass diese wüste Szene, die sich in vielenUniversitätsstädten abspielt, ohne Zweifel beiträgt zur Meinungsbildungin der Bevölkerung, so oder so. Manch einer kauft sich zum Beispiel die<strong>neue</strong> Platte von Weiß-Ferdl. 122 Hören wir ein bisschen hinein.Früher gab’s so viel Parteien,deshalb auch viel Reibereienbis dann kam ein Ingenieur,und sprach: nein, so geht’s nicht mehr.Weg mit diesen Wechselströmen,woll’n wer lieber Gleichstrom nehmen.Er <strong>hat</strong> aus- und umgeschaltet:gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Hat man Zeitungen gelesen,früher <strong>ist</strong> man blöd gewesen.Die schrieb: Bravo! Richtig! Heil!Die and’re: Pfui – grad ’s Gegenteil!Doch das Geld kannst dir jetzt sparen.Liest du eine, b<strong>ist</strong> im Klaren:Gleichlautend sind all’ gestaltet,Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.122Von der Schelleck-Platte „Gleichgeschaltet“43


<strong>1933</strong>Arbeitsdienst wurd’ eingeführet,mancher freudig mitmarschieret,endlich schaffen, Gott sei Dank,And’re aber macht das bang.Statt beim Fünf-Uhr-Tee beim Schwofensoll er jetzt im Gleichschritt loofen,handgepflegt den Spaten halten.Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Man hört nicht mehr Saxophone,tanzt nicht Rumba, Tscharlestone,Fort mit Jazz und Niggertanz,sind nicht mehr meschugge ganz.Alte Weisen hört man wieder,stramme Märsche, deutsche Lieder,die man gern im Ohr behaltet,gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Bei den Abrüstungskonf’renzen,die Franzosen immer penzen,Deutschland, ach, bedroht uns sehr,doch die Welt glaubt’s längst nicht mehr.Unser Kanzler sprach es offen:Friede <strong>hat</strong> nur der zu hoffen,der abrüstet. Da Wort haltet!Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Uns’re Frauen gern mithalten,ganz bege<strong>ist</strong>ert sie gleichschalten,Geht der Mann am Abend aus,macht sie’s auch, die bleibt nicht zu Haus.Kriegt die Nachb’rin Hut und Kleider,Rennt sie auch sofort zum Schneider,Glaubst, dass die das Alt’ behaltet?Oh, gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Will der Mann e’ Freundin haltenund nich treu blei’m seiner Alten,44


geht im Saft die deutsche Frau,droht dem Gatten mit DacháuZwanzig <strong>Jahr</strong>’ hast du verdrossen,meine Reize du genossen?Dabei bleibt’s, du bis auch veraltet.Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Ganz vereint sind Bayern-Preißen,nicht mehr ausanand zu reißen,Statt, dass in die Berg’ wir ziehenmach mer Weekend in Berlin.Nun im Lunapark dort droben,die Preußen lernen dafür Jodeln.Mensch, wie det zusammenhaltet,Gleichjeschaltet, gleichjeschaltet.<strong>1933</strong>Wenn wir fest zusammen stehen,muss’s doch wieder aufwärts gehen!Baue Arbeitsmann und Knechtalle Bürger gleiches Recht!Für das Land, das wir gestritten,und viel <strong>Jahr</strong>e Not gelitten,woll’n wir leben ungespaltetgleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Auch im Ausland tragen die Veränderungen der letzten Monate auf derpolitischen Bühne in Deutschland zu einem Meinungswandel bei. Wennder sowjetische Botschafter in Berlin nach dem Frühstück die Zeitungenliest, wird jetzt noch öfter vom nötigen Kampf gegen den Bolschewismusgeschrieben. Darüber macht er sich so seine Gedanken. Im Moment <strong>ist</strong>das für sein Land natürlich keine Gefahr, dafür <strong>ist</strong> die eigene Armee zugroß und die deutsche dagegen verschwindend klein. Aber er macht sicheben seine Gedanken. Moskauer Diplomaten und Politiker <strong>hat</strong>ten schonseit <strong>Jahr</strong>en da<strong>vor</strong> gewarnt, die Reichswehr zu sehr zu unterstützen. DieMilitärs <strong>hat</strong>ten sich aber immer durchgesetzt. Im Mai <strong>1933</strong> <strong>ist</strong> das Maßvoll, und die Militärs selbst werden losgeschickt, um die Deutschen daswissen zu lassen. Kliment Woroschilow, Alexander Jegorow und MichailTuc<strong>hat</strong>schewski treffen General von Bockelberg und erklären ihm, dass45


<strong>1933</strong>die Beziehungen zwischen den Streitkräften doch nicht so ganz von der„großen Politik der Regierungen“ 123 abgekoppelt werden können. UnserGeneral kann das schon verstehen, aber übertrieben findet er es doch.Welche Regierung <strong>hat</strong> denn hier anderthalb <strong>Jahr</strong>e Bestand gehabt? Unddie Amateure jetzt sind noch schneller weg als jede Regierung zu<strong>vor</strong>. Diehaben doch nun gleich gar nicht die Voraussetzungen zum Wirtschaften.Doch die Russen bleiben steinhart. Als „doppelzüngig“ 124 bezeichnen siedie deutsche Außenpolitik.Vor dem Berliner Reichstag wandelt der <strong>neue</strong> Reichskanzler Hitler am17. Mai Worte ab, die er so ähnlich bei dem Dinner im Februar <strong>vor</strong> denGenerälen ausgesprochen <strong>hat</strong>te. Doch wie klingen seine Gedanken jetzt?„Indem wir in grenzenloser Liebe und Treue an unserem eigenen Volkstumhängen, respektieren wir die nationalen Rechte auch der anderenVölker.“ Ist das derselbe Redner? Er weiß sich einig mit dem Publikum,wenn er dort formuliert, wir „möchten aus tiefinnerstem Herzen mit ihnenin Frieden und Freundschaft leben. Wir kennen daher auch nichtden Begriff des Germanisierens. Die ge<strong>ist</strong>ige Mentalität des vergangenen<strong>Jahr</strong>hunderts, aus der heraus man glaubte, vielleicht aus Polen undFranzosen Deutsche machen zu können, <strong>ist</strong> uns genauso fremd, wie wiruns leidenschaftlich gegen jeden umgekehrten Versuch wenden.“ Undob das die Leute gerne hören. „<strong>Es</strong> wäre ein Glück für die Welt gewesen,wenn im Vertrag von Versailles diese Realitäten auch im Bezug aufDeutschland gewürdigt worden wären . . . Eine überlegte Behandlungder Probleme hätte damals im Osten ohne Weiteres eine Lösung findenkönnen, die den verständlichen Ansprüchen Polens genauso wie den natürlichenRechten Deutschlands entgegengekommen wäre.“ 125Zur Abstimmung steht heute eine Resolution, die Hitlers Friedenspolitikbilligen soll. Wie wird die Partei dastehen, die den Frieden ablehnt? Alsoehrlich. Jene SPD-Leute, die nicht in ein Konzentrationslager verbrachtworden waren und nicht ins Ausland geflohen sind, sitzen in der Patscheund stimmen dieser Resolution zu. Sie meinen, dass Herr Kanzler baldabgewirtschaftet haben wird und so lange versuchen sie zu überwintern.Ihre Partei taumelt jetzt ebenfalls am Rande des Abgrundes. Seit einigen123Falin, S. 36124Ebd., S. 36125Schultze-Rhonhof, S. 313, Fußnote 846


<strong>1933</strong>Monaten <strong>ist</strong> die Partei in sich gespalten – ein Teil der Führungsspitze <strong>ist</strong>aus Angst <strong>vor</strong> dem Zugriff durch die Schlägertrupps nach Prag geflohen.Vom Ausland aus rufen sie ihren Genossen, die in der Reichshauptstadtgeblieben sind, zu: „Ihr täuscht euch; Hitler wird lange dauern; und erwird euch nicht überwintern lassen.“ 126 Die Zustimmung der Rest-SPDzu dieser Resolution führt zum Bruch zwischen den Ängstlichen und denRatlosen in der Führung der Partei. Die Ängstlichen formulieren in Pragein Manifest, das zum Sturz Hitlers aufruft. Hitler nutzt die Gelegenheitund macht die Berliner SPD-Führung dafür verantwortlich; der Aufrufwird zum Anlass, um den Terror gegen die Ratlosen zu verschärfen.<strong>Das</strong>s sie entrüstet ihre Unschuld beteuern macht dieses Trauerspiel nurnoch peinlicher, zumal gerade viele junge Männer in der Eisernen Frontgegen die Braunen kämpfen wollen. Jetzt <strong>ist</strong> der Moment der Wahrheit.Diese Eiserne Front war am 16. Dezember 1931 von SPD, AllgemeinemDeutschem Gewerkschaftsbund, vom sozialdemokratischen KampfbundReichsbanner Schwarz-Rot-Gold und den Arbeitersportverbänden überhauptnur gegründet worden, um der zunehmenden Gewalttätigkeit derNazis etwas entgegensetzen zu können, wenn nicht jeder auf der Straßeeinzeln verprügelt werden wollte. Oberstes Ziel war die Verteidigung derWeimarer Republik gegen Nationalsozial<strong>ist</strong>en, Kommun<strong>ist</strong>en und gegendie von ihnen so genannte Adelskamarilla. 127In den Hauptstädten Europas geht unterdessen die Debatte weiter, wiesich Abrüstung organisieren lässt, ohne Überfälle durch andere Staatenzu riskieren. Jetzt wäre es nützlich gewesen, hätte Großbritannien eineSchutzgarantie für den Kontinent übernommen. Doch dazu <strong>ist</strong> Londonnicht bereit. John Simon erklärt <strong>vor</strong> dem britischen Unterhaus: „UnsereFreunde auf dem Kontinent müssen Verständnis dafür haben – und jeklarer sie die Sachlage erkennen, um so besser <strong>ist</strong> es –, dass Großbritanniennicht die Absicht <strong>hat</strong>, irgendwelche Verpflichtungen zu übernehmen,die über das hinausgehen, was wir im Locarno-Pakt (Garantie derdeutsch-französischen Grenze) und als Mitglied des Völkerbundes bereitsübernommen haben.“ 128 Auf die kontinentaleuropäischen Abgeordnetenauf der Abrüstungskonferenz in Genf, besonders die Franzosen,126Haffner, S. 65127Internetquelle 8128Schmidt, S. 25847


<strong>1933</strong>wirkt das „wie eine kalte Dusche“. Eine weitere Frage spielt in Genf eineenorme Rolle: „Um die Sicherheitsmaschinerie in Bewegung zu setzen,musste <strong>vor</strong> allen Dingen eine klare Definition des Angreifers aufgestelltwerden.“ Nur in mühseligen Debatten finden die Teilnehmerländer hierzu einer gemeinsamen Formel. Sie lautet schließlich: „Wer zuerst einemanderen Land den Krieg erklärt, wer mit seiner Wehrmacht auch ohneKriegserklärung in das Gebiet eines anderen Landes einmarschiert, wermit seinen Land-, See- oder Luftstreitkräften auch ohne Kriegserklärung. . . angreift, wer eine Blockade gegen ein anderes Land durchführt undschließlich, wer bewaffneten Banden auf seinem eigenen Staatsgebietzum Angriff auf das Gebiet eines anderen Landes Unterstützung gewährt,der <strong>ist</strong> der Angreifer.“ 129 Uff, eine schwere Geburt.Am 26. Mai <strong>ist</strong> das Wetter recht schön in Paris. François sitzt <strong>vor</strong> einemCafé und liest die Temps, die mehr oder weniger ein Regierungsblatt <strong>ist</strong>.Gestern hieß es da, die Engländer meinten, man könne nicht „mit vollerSicherheit die Verantwortung in einem bewaffneten Konflikt festlegen“.Heute schreiben sie: „Man kann nicht an der Tatsache <strong>vor</strong>beigehen, dassdie englische Haltung in dieser Frage außerordentlich enttäuschend <strong>ist</strong>.“Er nimmt noch einen Schluck Kaffee und liest weiter: „Noch immer sinddie Engländer nicht zu der Überzeugung gelangt, dass sie, genau so wiedie anderen Völker, rückhaltlos Verpflichtungen übernehmen müssen,um die Sicherheit der zivilisierten Welt zu garantieren. Diese Haltunggeht von der Idee aus, die zur Zeit der »splendid isolation« ihre Gültigkeit<strong>hat</strong>te, dass nämlich Großbritannien sich nur bei Konflikten festlegt,die seine Interessen berühren, und dass es sich in allen anderen Fällendie Möglichkeit <strong>vor</strong>behalten muss, im Zeitpunkt der Bereinigung desKonfliktes die Rolle des Schiedsrichters zu spielen.“ 130Kommen wir zurück zur innenpolitischen Entwicklung in Deutschland.Anfang April <strong>hat</strong>ten sich ja schon die Deutschen Chr<strong>ist</strong>en getroffen undgeklärt, was sie in der nächsten Zeit sonntags von der Kanzel verkündenwollen. Am Dienstag, dem 30. Mai, treffen sich jetzt die evangelischenPastoren, die sich Bekennende Kirche nennen, in Barmen. Am Mittwochpublizieren sie ihre Barmer Erklärung, in der sie sich gegen naz<strong>ist</strong>ischeAktualisierungen des althergebrachten Glaubens aussprechen. Damit <strong>ist</strong>129Schmidt, S. 258130Ebd., S. 25948


<strong>1933</strong>auch bei ihnen geklärt, was in Zukunft am Sonntag von den Kanzeln ausverkündet werden wird. Die Barmer Erklärung war auch nicht das ersteWort aus der Kirche gegen die Versuche, die Autorität der Kirche für dieeine oder die andere Ideologie auszunutzen. Schon Anfang Januar lief inHamburg das „Altonaer Bekenntnis“ durch die Druckmaschinen im Verlagshausvon Hinrich Springer, dem Vater eines Axel Springer*, 20. <strong>Es</strong>waren Worte von 21 evangelischen Pastoren aus dem Hamburger Stadtteil,die zum ersten Dokument der Bekennenden Kirche, wie sie sichbald nennt, werden. Am 11. Januar war dieses Bekenntnis dann verlesenworden in der Hauptkirche zu Altona, die klein Axels Taufkirche war. 131Der 1. Juni bringt hier eine h<strong>ist</strong>orische Neuerung. Zum ersten Mal wirdein Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit verabschiedet. Am 21.September folgt das zweite Gesetz mit demselben Ziel. Damit wird die sogenannte Arbeitsschlacht eröffnet 132 . Man kann sich <strong>vor</strong>stellen, welcheWirkung solche sozialpolitischen Maßnahmen auf Millionen von Leutenhaben, deren Familien seit <strong>Jahr</strong>en unter der Wirtschaftskrise und derverbreiteten Arbeitslosigkeit leiden. <strong>Das</strong> dürfte neben der Angst <strong>vor</strong> demTerror der SA ein anderer Grund sein, warum sich jetzt viele Mitgliederder KPD und der SPD dazu entschließen, der NSDAP oder einer ihrerUntergliederungen beizutreten, nachdem der Reichstag am 28. Mai dasVermögen der KPD beschlagnahmen ließ mit der Begründung, dass diePartei „als in der Gesamtheit dem Hochverrat dienend“ anzusehen sei,und am 22. Juni auch das Verbot der SPD beschloss. So ein Gesetz <strong>hat</strong>teweder die eine noch die andere Partei durchgesetzt. Auch die Mandateder SPD gelten als erloschen und die Propaganda für diese Partei wirdverboten. 133 Und was <strong>ist</strong> mit dem Rest der Bevölkerung? Gisevius sieht,wie leicht die bürgerlichen Gemüter in seiner Umgebung zu beruhigensind, indem Hitler von „bedauerlichen Missgriffen“ 134 redet, die eben im„Übereifer für die nationalsozial<strong>ist</strong>ische Revolution“ passieren. Er hörtauch, wie immer wieder „eine alsbaldige Kaltstellung des Radikalismusangekündigt“ wird. Gisevius meint, Hitlers Le<strong>ist</strong>ung im Sommer <strong>1933</strong> <strong>ist</strong>es <strong>vor</strong> allem, zu verzögern, bis er irgendwann Erfolge <strong>vor</strong>weisen kann, sodass sich „die Schockwirkung der Revolution . . . eine beachtliche Zeit“131Axel Springer, Von Berlin aus gesehen. Zeugnisse eines engagierten Deutschen, S. 231132<strong>Das</strong> Deutsche Reich I, S. 106133Ebd., S. 106134Gisevius I, S. 14849


<strong>1933</strong>verschiebt. „Noch etwas paradoxer ausgedrückt, die Schrecksekunde desBürgertums dauert fast ein ganzes <strong>Jahr</strong>. Sie endet erst mit dem Frühjahr1934.“ Am 1. Juli spricht der Kanzler endlich ein Machtwort. Er erklärtdie nationalsozial<strong>ist</strong>ische Revolution für beendet. 135Vielleicht <strong>ist</strong> es nicht leicht nachvollziehbar, vielleicht <strong>ist</strong> es nur damit zuerklären, dass die Hoffnung immer zuletzt stirbt, aber die Ankündigung,dass die Revolution jetzt <strong>vor</strong>bei sei, muss bei manchem gewirkt haben.<strong>Es</strong> zeichnet die Hoffnung ja aus, dass sie gerade dann am nötigsten <strong>ist</strong>,wenn alles am aussichtslosesten scheint. Der kritische Zeitgenosse siehtim Sommer <strong>1933</strong> hingegen den ersten Höhepunkt der Anwendung vonGewalt im öffentlichen Leben in Deutschland: „Wie leicht lernt und übtsich die nackte Gewalt! Besser noch als bei Hitler können wir diesenVorgang an seinen Unterführern beobachten. Wir haben gesehen, wiesie binnen weniger <strong>Wochen</strong> als Führer oder Unterführer in ungeahnteMachtpositionen hineingeraten, wie ihnen im Grunde mehr zufällt, alssie zunächst selber ahnen. Was soll eigentlich diese Art von Menschen,die so plötzlich aus den Tiefen wirtschaftlicher Verschuldung oder kleinbürgerlichsterLebenshaltung zu Min<strong>ist</strong>ern, Staatssekretären, Reichsstatthaltern,Oberpräsidenten, Staatsräten, Oberbürgerme<strong>ist</strong>ern, Landeshauptleuten,Polizeipräsidenten, kurzum zu bislang un<strong>vor</strong>stellbarenHöhen emporklettern, mit aller dieser Macht anfangen? Berufliche Vorbildunghaben sie nicht. Gesetzliche Vorschriften kennen sie nicht. EingearbeitetenBeamten trauen sie nicht. Was bleibt ihnen anderes übrig,als zu extemporieren? Sie diktieren einfach, fest darauf vertrauend, dassdie anderen schon gehorchen werden. Hierbei machen sie eine völligunverhoffte Entdeckung: sie merken, dass ihre unbeholfene Methode<strong>vor</strong>züglich funktioniert, weil fleißige Aktuare und nimmermüde Dezernentengrundsätzlich nicht aussterben. Was spätabends beim Umtrunkdekretiert wird, liegt mittags fix und fertig in der Unterschriftenmappe.Rauhe Befehle wandeln sich in geschniegelte Erlasse. Derbe Flüche lesensich wie eine abgeklärte Erläuterung zum bürgerlichen Gesetzbuch.Diese <strong>neue</strong>n Größen werden sich bis zuletzt ihre souveräne Verachtung<strong>vor</strong> Zuständigkeitsfragen oder Gesetzestexten bewahren. Nur insoweitpassen sie sich allmählich den <strong>neue</strong>n Amtsgewohnheiten an, als sie aufdie Findigkeit ihrer Beamten vertrauen lernen. Da diese nun einmal dieerstaunliche Fähigkeit besitzen, selbst noch die verwegensten Maßnah-135<strong>Das</strong> Deutsche Reich I, S. 10650


<strong>1933</strong>men in ein reich besticktes Paragraphenmäntelchen zu hüllen, einigtman sich mit der Zeit auf Arbeitsteilung: die <strong>neue</strong>n Behördenchefs praktizierendie Gesetzlosigkeit, und die pflichtgetreuen Beamten legalisierendie Gewalt.“ 136Die Zentrumspartei, die Deutsche Volkspartei, der Jungdeutsche Ordenund die Bayerische Volkspartei lösen sich am 5. Juli selbst auf, be<strong>vor</strong> derReichstag am 14. Juli ein Gesetz gegen die Neubildung von Parteien beschließt.Die Min<strong>ist</strong>er, die nicht der richtigen Partei angehören, stehenplötzlich ohne ihr Parteibuch und obendrein ohne Parteimitglieder da.Jetzt können sie gerne wollen wollen, was sie wollen – keiner wird siedabei unterstützen können. Doch zum Verlassen der Regierung könnensie sich nicht entschließen. Was soll denn werden, wenn Hitlers Männerabsolut allein regieren dürfen? Einen Tag später folgt ein Gesetz, das derReichsregierung die Möglichkeit gibt, das deutsche Volk zu befragen, obes einer beabsichtigten Maßnahme zustimmt oder nicht. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> sicherlichauch ein feines Abstimmen, wenn viele der Mitdenkenden das Land ausdem einen oder dem anderen Grund bereits verlassen haben, wenn dieanderen eingesperrt sind, und wenn dem Rest der Mund verboten wird.Wie geht die freiwillige Auflösung der großen und kleinen Parteien undder Vereine ganz praktisch <strong>vor</strong> sich? „Man braucht die SA nicht einmalaufzusuchen, sie kommt ganz von selber und handelt nach der Regel,dass der Abschied von altvertrauten Büroräumen leichter fällt, wenn dieSchemel zerbrochen an der Wand liegen und aus den Akten ein Freudenfeuerangezündet wird, während der Hauswirt die Schadenersatzrechnungpräsentiert. Selbst hartgesottene Individual<strong>ist</strong>en halten es daherfür besser, beizeiten nachzugeben. Wenn sie dann einander begegnen,schimpfen sie wohl auf die Gesinnungslumpen um sich herum, siezwinkern sich auch gegenseitig zu, sie selber brächten dergleichen Opferselbstverständlich nur zur Tarnung. Aber was tut’s? Mit der Zeit gewöhnensich bewährteste Reaktionäre ebenso wie Rotfront<strong>ist</strong>en an die brauneFarbe, und keinerlei noch so verbräunte reservatio mentalis ändertetwas am äußeren Sieg der Bewegung. Was gegnerisch <strong>ist</strong>, verschwindetvon der Bildfläche. Die großen Parteien fallen, Gewerkschaften und Unternehmerverbändewerden beseitigt, sämtliche Logen, die me<strong>ist</strong>en Vereineund Bünde hören auf zu bestehen, kurzum, auf der ganzen Liniewird tabula rasa gemacht. Wir dürfen hinter diesem gewaltmäßigen136Gisevius I, S. 13251


<strong>1933</strong>Vorgang keine systematische Planung vermuten. Im Gegenteil, es gehtwirr und planlos zu. Wiederum <strong>ist</strong> es ein und dieselbe unaufhaltsame,innere Dynamik, die die siegreiche Bewegung zu ihren unersättlichenVorstößen treibt. Der ihr innewohnende, unbestimmbare Drang lässtsich einfach nicht mehr abbremsen, be<strong>vor</strong> nicht die restlose Nivellierungunseres gesamten völkischen Lebens erreicht <strong>ist</strong>.“ 137„Nachdem die breite Masse derart aus ihrer Gleichgewichtslage geraten<strong>ist</strong>, kommt alles, wie es gar nicht anders kommen kann. Da keiner gernder dumme Letzte sein möchte, überstürzen sie sich samt und sonders,tunlichst zu den neunmalklugen Ersten zu gehören . . . Doch sie alle begreifen,dass Verstocktheit keinesfalls mehr am Platze <strong>ist</strong>. Und damitihre Aufgeschlossenheit sich recht vernehmbar kundtue, sprechen sievon jetzt an monatelang in denselben revolutionären Vokabeln. Sie prägensich die Namen ihres Gauleiters ein, sie merken sich die Rangabzeichenaller nächstwohnenden SA-Führer, und mit besonderem Eifer beteiligensie sich an dem atemberaubenden Wettrennen um die niederenMitgliedsnummern. Diese sind nicht einmal billig. Die Partei lässt sichihre Wahlschulden gleich doppelt und dreifach zurückerstatten . . . Alleüberschlagen im stillen Herzenskämmerlein, ob sie ohne derartige spendenfreudigeRückversicherung ihres lieben Nächsten sicher sind. Hatnicht jeder einmal mit seiner Portierfrau Streit gehabt oder dem Kohlenhändlertüchtig die Meinung gesagt? Hand aufs Herz, wer <strong>hat</strong> noch niemalseinen unbotmäßigen Dienstboten herausgeworfen oder seinemabermals Vorschuss begehrenden Handlungsgehilfen barsch die Tür gewiesen?Wie, wenn . . . ? Sorgenvoll schlägt das volksgenössische Gewissen.Denn eine Revolution präsentiert mit unheimlicher Gedächtnisschärfelängst vergilbte Rechnungen, nicht nur die h<strong>ist</strong>orischen, sondernauch die allerpersönlichsten. Ein Alpdruck quält darum nächtens solcheUnglückseligen, über deren politische Zuverlässigkeit noch das Testatihres Hauswartes oder des Betriebszellenobmanns aussteht. Deshalbhaben sie es alle so eilig.Wohl treibt viele unter ihnen die Bege<strong>ist</strong>erung. Aber mindestens ebensoviele Schlauberger fliehen in die NSDAP. Schlauere tun ein wenig mehrund laufen überdies zur SA. Noch Klügere tippen auf die SS, währenddie Gerissensten sich einen Amtswalterposten bei irgendeinem der neugegründeten Verbände verleihen lassen, etwa beim Luftschutz oder der137Gisevius I, S. 12952


<strong>1933</strong>Winterhilfe. Schlaue, Kluge und Gerissene sind sich jedoch in einem völligeinig: ein sichtbares Abzeichen <strong>ist</strong> gut, indessen weit besser nochzieht man sich hurtig eine Uniform an. In diesen erregten <strong>Wochen</strong> <strong>hat</strong>man lieber seinen unverbindlich-verbindlichen braunen Schutzheiligenzu Hause als irgendeinen verjährten Konflikt mit dem SA-Mann in derNachbarschaft. Bald sind Zivil<strong>ist</strong>en eine seltene Ausnahme in dem gebräuntenStraßenbild der Städte. Sie werden entweder als Ausländer angeglotztoder gelten als suspekt. Ein ganzes geschlagenes <strong>Jahr</strong> wird esdauern, bis diese braune Pracht – dann allerdings über Nacht und nahezuvollständig wieder verschwindet.“ 138„Hieraus erklärt sich ohne Umschweife, warum die schwarz-weiß-rotenKoalitionsgenossen jetzt so schnell ausfallen. Sie kommen bei diesemStimmaufwand und Marschtempo nicht mehr mit. Ihre schönge<strong>ist</strong>igen<strong>Es</strong>says, erst recht ihre gutherzigen Beteuerungen, an dem viel gefeiertenErfolge nicht ganz unbeteiligt zu sein, werden von den Braunhemdenüberschrien und von der faszinierten Menge inmitten allen Siegeslärmsüberhört. Fast über Nacht werden sie zu »Auchnationalen« und könnenfroh sein, wenn sie schnell noch als »Märzgefallene« Unterschlupf beider Partei oder SA finden. Liegt das bloß an dem schnöden Undank dernationalsozial<strong>ist</strong>ischen Parteiführer? Nein, das Volk will selber in diesenbewegten <strong>Wochen</strong> eines einzigartigen Taumels keine Koalitionseifersüchteleien.<strong>Es</strong> verlangt nach ungestörten Freudenfesten. Wen schiertjetzt, da der Sieg gefeiert wird, noch die Abwägung von braunen oderschwarz-weiß-roten Erfolgsanteilen? Feiert nicht ganz Deutschland dieNeubegründung seiner Volksgemeinschaft? Statt zu dem nüchternenTriumvirat Hugenberg-Papen-Seldte strömt das Volk lieber zu den»überparteilichen« Siegeskundgebungen der NSDAP.Diese ihrerseits leitet aus solchen gerissen aufgemachten Parteiveranstaltungenihre künftige und ausschließliche <strong>Das</strong>einsberechtigung ab . . .Die Ausgehöhltheit der bestehenden Ordnungen, die Überfälligkeit derDutzende von Parteien, die Brüchigkeit der Gruppen und Verbände offenbartsich am besten dadurch, dass kaum einer da <strong>ist</strong>, sich ernstlich zuverteidigen. Wer kämpft noch? <strong>Das</strong> so genannte Bürgertum nimmt <strong>vor</strong>dem Terror Reißaus, nicht minder mutlos zeigen sich die Restbeständedes Marxismus. Wo immer der braune Vorstoß hinzielt, findet er keinenernsten, geschlossenen Widerstand. Er stößt ins Leere. Ein riesenhaftes138Gisevius I, S. 126-12853


<strong>1933</strong>Vakuum tut sich plötzlich <strong>vor</strong> der siegreichen Bewegung auf. Wie wirdsie es ausfüllen? Sie weiß es noch nicht – kann es gar nicht so schnellwissen. Einstweilen verhängt sie es mit braunem Tuch und pocht aufihre Totalität.“ 139Ein Mann, der mit seinen schönge<strong>ist</strong>igen <strong>Es</strong>says für eine WiedergeburtDeutschlands unter segensreicheren Vorzeichen eingetreten war, <strong>ist</strong> dervierunddreißigjährige Hans Zehrer*, der Herausgeber der konservativenMonatsschrift Die Tat. <strong>Das</strong> <strong>neue</strong> Regime setzt ihn ganz banal ab, geradeeben weil er konservativ und nicht revolutionär <strong>ist</strong>. Michael in Dresden<strong>ist</strong> einer der treuesten Leser der Tat und das auch nicht zuletzt wegender Artikel von Zehrer. Er bleibt auch nicht der Einzige, der den klugenund moderaten Gedanken Hans Zehrers nachtrauert.Einer derjenigen, die hier ihre subjektive Wahrnehmung der Ereignissedarstellen dürfen, <strong>ist</strong> der junge Hans-Bernd Gisevius. Er absolviert imJuli <strong>1933</strong> sein jur<strong>ist</strong>isches Assessorexamen und meldet sich zum Dienstin der preußischen Verwaltung. Wie üblich beginnt er bei der politischenPolizei. Der Preußische Min<strong>ist</strong>erpräsident Hermann Göring <strong>hat</strong>te sieEnde April aus dem Polizeiapparat ausgegliedert und daraus das GeheimeStaatspolizeiamt gebildet. 140 Noch im selben <strong>Jahr</strong> wird Gisevius demRegierungs- und Kriminalrat Nebe zugeteilt. Da es hier nicht um denGestapo-Beamten Nebe und ebenso wenig um das Gestapo-Opfer Nebegeht, liegt das Augenmerk auf der Wahrnehmung von Hans-Bernd, 29.Er bricht eine Lanze für viele andere, von denen er manche mit den <strong>Jahr</strong>enpersönlich kennen lernen wird: „Jener Arthur Nebe war noch gläubig.Warum soll ich das nicht offen aussprechen? Erstens glaubten zu jenerZeit die me<strong>ist</strong>en Deutschen an die Makellosigkeit Hitlers und an dieSauberkeit seiner Ziele. Zweitens entsprang die bege<strong>ist</strong>erte Hingabe andie <strong>neue</strong>n Ideale keineswegs allenthalben einer Psychose. Und drittens<strong>ist</strong> gerade der Fall Nebe hierfür ein brauchbarer Beleg, weil dieser frühereKriminalkommissar am Berliner Polizeipräsidium seine guten Gründe<strong>hat</strong>te, sich von zweifelhaften Vorgesetzten in die Opposition gedrängtzu fühlen.“ 141139Gisevius I, S. 125-130140Ebd., S. 49141Gisevius I, S. 5754


<strong>1933</strong>Der junge Mann findet in dem älteren weniger einen Vorstreiter gegenlegalisierte Verbrechen in einer staatlichen Behörde als vielmehr einenwachen Beobachter, der sich sein kritisches Bewusstsein auch unter denneuartigen Zuständen erhält. Sein Bericht über den Vorgesetzten kannganz gewiss als exemplarisch für viele Menschen in Berlin und anderswoin Deutschland gelten: „Just in jenen Tagen, da ich Nebe traf, erlebte erseine ersten Enttäuschungen. Wenige Zeit zu<strong>vor</strong> war er in die Gestapoversetzt worden. Beileibe sollte er nicht die <strong>neue</strong> Behörde mit Fachverstandorganisieren. Erst recht sollte er sich nicht in die höheren politischenEntscheidungen einmischen. Was man von ihm verlangte, war diereibungslose Abwicklung der von Diels an die Exekutive weitergeleitetenBefehle. Dürfen wir uns wundern, wenn der alsbald zum Oberregierungsratbeförderte Kriminalkommissar sich in dieser <strong>neue</strong>n Umgebungnicht zurechtfand? Nebes Ernüchterung wurde ärger und ärger, je mehrer am gestap<strong>ist</strong>ischen Tatort erleben musste, wie sich die braunen Vorkämpferfür Sauberkeit und Recht ihre <strong>neue</strong> Polizeipraxis <strong>vor</strong>stellten.Eine kleine Weile mochte er sich über mancherlei Ungereimtheiten hinwegtrösten.Doch allmählich wusste er <strong>vor</strong> lauter Staunen und Kopfschüttelnnicht mehr, was er noch für möglich oder unmöglich haltensollte.“ 142Aus dem Kopfschütteln kam auch Hans-Bernd nicht heraus: „Da gab esmanche, die wirklich Gläubige waren, Menschen, die aus heißem Herzenund edler Leidenschaft an die <strong>neue</strong> Form des Sozialismus glaubten, dienun in Deutschland verwirklicht werden sollte, an die Überwindung desKlassenstaates, an die Beseitigung der Vorherrschaft von Junkern undIndustriemagnaten, an eine gerechte Verteilung der Güter. Gerade, weilich niemals an die braunen Heilsversprechungen geglaubt habe, liegtmir daran, dieses auszusprechen. Nebe <strong>hat</strong> seinen Irrglauben teuer bezahlt,zunächst mit herben Enttäuschungen und entsetzlichen Gewissensqualen,dann mit den nervenaufreibenden Ängsten der Illegalitätund schließlich mit grausamsten Folterungen und dem Tod am Galgen:ich denke, es geziemt jedermann, Achtung <strong>vor</strong> einem solchen Schicksalzu haben.“ 143 <strong>Es</strong> wäre ja zu schön, wenn alles im richtigen Leben einfachzu verstehen wäre.142Gisevius I, S. 58143Ebd., S. 6055


<strong>1933</strong>Eine Vorstellung von den Umständen des <strong>Jahr</strong>es <strong>1933</strong> vermitteln auchdiese Überlegungen von Gisevius: „Mein Kampf um Nebe war hart undentschlossen. Als erstes wich ich ihm nicht aus, sondern umgekehrt, ichhängte mich so fest an ihn, bis er mich einfach nicht mehr los wurde.Auf diese vielleicht etwas taktlos erscheinende Weise sorgte ich dafür,dass die menschliche Bindung mit der Zeit stärker wurde als jede politischeÜberlegung. Und da es der Zufall wollte, dass unsere Wohnungennahe beieinander lagen, zwang ich mich dem Gutmütigen noch insoweitauf, als er mich morgens und abends mit seinem Polizeiauto mitnahm.<strong>Das</strong> war wichtiger, als es heute scheinen möchte. Autos sind im DrittenReich oft meine Schutzengel gewesen. Die einzige Me<strong>ist</strong>erschaft, die ichim vergangenen <strong>Jahr</strong>tausend entwickelt habe, war die Organisierungvon Autos, wobei es mehrfach <strong>vor</strong>gekommen sein soll, dass auf Grundmeines planmäßigen Übereifers zwei, ja drei <strong>vor</strong> meiner Haustür warteten.Ich bin fest überzeugt, dass dieser Trick mir einige Mal das Lebengerettet <strong>hat</strong>. Wenn beispielsweise zu besonders heiklen Zeitpunktennacheinander die Dienstwagen des Berliner Polizeipräsidenten, einesMin<strong>ist</strong>ers, des Reichsbankpräsidenten oder irgendeines hohen Offiziersoder in jenen Anfängen <strong>1933</strong> ein Wagen der Gestapo bei mir <strong>vor</strong>fuhren,so <strong>hat</strong>te ich eine Zeit lang die Spitzel von der nächsten Straßeneckemundtot gemacht. Nach ihrer primitiven Erkenntnisgabe konnte einMensch, der auf so bedeutungsvollem Räderwerk daher rollte, unmöglichein Staatsfeind sein, soviel auch sein sonstiges Gehaben zu schwerwiegendenBedenken Anlass geben mochte. Aber noch in einer andernWeise begann ich um und mit Nebe zu kämpfen. Ich sagte ihm alle jeneDinge auf den Kopf zu, von denen ich fühlte, dass er sich täglich innerlichmit ihnen abquälte. Nebe war viel zu verschlossen, als dass er miteinem Fremden über seine Zweifel gesprochen hätte, ob es mit dieser<strong>neue</strong>n gestap<strong>ist</strong>ischen Praxis nicht ein böses Ende nehmen müsse. Nochschwankte er. Noch hoffte er. Noch weigerte er sich, an das zu glauben,was ihm sein Verstand und sein Rechtsempfinden eingaben.“ 144Beim Lesen manch eines Textes drängt sich die Frage auf, warum Hans-Bernd zum Beispiel bei seinem Auftreten nicht ein Konzentrationslagervon innen kennen lernen musste. Seine Erklärung <strong>ist</strong> so ermutigend wiebanal: „Wenn ich diese Bemerkung einflechten darf, so gab es übrigensall die <strong>Jahr</strong>e entsetzte Zeitgenossen, die sich die Art meiner Meinungs-144Gisevius I, S. 60f.56


<strong>1933</strong>äußerung nicht anders zu erklären wussten, als dass ich ein bezahlterGestapospitzel sei. Demgegenüber möchte ich feststellen, dass unter gewissenUmständen nichts so sehr verblüffen kann wie eine unerwarteteOffenheit. Heydrich <strong>hat</strong>te mich beispielsweise so sehr in sein Gedächtniseingeschlossen, dass ich mir oftmals die Frage <strong>vor</strong>gelegt habe, warumdieser Mordbube nicht energischer und treffsicherer auf eine Abkürzungmeines Erdendaseins bedacht war. Vielleicht gelang es mir hier und da,seine freundlichen Absichten zu vereiteln. Aber die entscheidende Rolledürfte der Umstand gespielt haben, dass dieser schwarze Mann michaus dem Auge verlor, weil er – zu viel von mir wusste.“ 145Am 15. Juli <strong>hat</strong> Rom endlich Erfolg mit seinem Vorstoß für ein Quartettunter Einschluss Deutschlands. Und die Deutschen sind stolz auf ihrenFriedenskanzler. Na ja, auf jeden Fall staunen die Deutschen, wie AdolfHitler mit den Großen dieser Welt an einen Tisch kommt. Davon habendie Demokraten <strong>vor</strong> ihm in lauen Nächten mal geträumt. Deutschlandgehört wieder zu den Großmächten. Ein „Pakt des Einvernehmens undder Zusammenarbeit“ 146 wird von den Regierungsvertretern aus London,Rom, Paris und Berlin unterzeichnet. Und das in der ewigen Stadt Rom.<strong>Das</strong> bedeutet endgültig Frieden. Einvernehmen und Zusammenarbeit.Nur in Moskau verstärkt sich das Gefühl von Bedrohung, zumal sich derStaat durch Japan im Osten ebenfalls bedroht sieht. Der totale Krieg,der mit unfassbarer Grausamkeit und mit Massenvernichtungswaffen inChina geführt wird, bedroht auch asiatische Gebiete der Sowjetunion. 147Anders <strong>ist</strong> die Lage in Europa westlich des kommun<strong>ist</strong>ischen Landes. Invielen Hauptstädten kleinerer Länder wird dieses Übereinkommen derGroßen Vier begrüßt. So sieht man in Warschau beispielsweise diesemWandel in der deutschen Außenpolitik mit großer Hoffnung entgegen.Der Plan für einen Präventivkrieg gegen Deutschland tritt nunmehr inden Hintergrund. Die Neuorientierung weckt dort die Hoffnung, dassder gerade gewählte Kanzler Adolf Hitler in Berlin pragmatischer an dieAußenpolitik herangeht als seine antipolnischen Vorgänger.145Gisevius I, S. 61146Falin, S. 37147Ebd., S. 3757


<strong>1933</strong>Was die Polen selbst angeht, handelte es sich ja sogar um Innenpolitik,denn Polen war in den vergangenen zwei <strong>Jahr</strong>hunderten dreimal durchPreußen, Österreich und Russland aufgeteilt worden, bis Polen von derLandkarte verschwunden war. Seit das Deutsche Reich im Januar 1871gegründet worden war, dominierten dort ausgerechnet die preußischenJunker die Innen- und Außenpolitik, die es unter Kanzler Bismarck undseinen Nachfolgern mit den Polen im Reich gar nicht gut meinten. Sogab es Polen ja auch überhaupt erst wieder seit dem 5. November 1916,als Berlin und Wien einen polnischen Staat proklamierten, um treueSoldaten für ihren Feldzug gegen Russland zu gewinnen. Befriedigendwar die Lösung noch nicht, da dem Staat kein Staatsgebiet zugesprochenwurde. Die Republik Polen gibt es im eigentlichen Sinne erst seit dem 11.November 1918 und somit nach dem Ende des Weltkriegs wieder. Unddann im <strong>Jahr</strong> 1920 <strong>hat</strong>te Warschau, das erst seit zwei <strong>Jahr</strong>en wieder dieHauptstadt Polens war, nichts Besseres zu tun, als Zehntausende vonDeutschen in Konzentrationslager einzusperren und mit Truppen in dievom Bürgerkrieg geschwächte Sowjetunion einzufallen, um Gebiete imWesten des Landes zu erobern. Deshalb sind die Beziehungen zu Berlinund Moskau unterkühlt. Im Sommer des <strong>Jahr</strong>es ’33 gewinnt WarschauBerlin positive Seiten ab. Mit dem dortigen Machtwechsel sind die entscheidendenMänner in der politischen Führung endlich keine Preußenmehr. Hermann Göring zum Beispiel <strong>ist</strong> ein gemütlicher Bayer, JosephGoebbels ein fröhlicher Rheinländer und der <strong>neue</strong> Kanzler <strong>ist</strong> sogar einÖsterreicher. 148 Wien <strong>hat</strong>te sich bei den Polen längst nicht so unbeliebtgemacht wie Berlin; dort <strong>hat</strong>ten sie allerdings auch seit <strong>Jahr</strong>hundertenErfahrung bei der Verwaltung eines Vielvölkerreiches.Paule <strong>ist</strong> von der Aufnahme des Reiches in den Kreis der großen Länderbege<strong>ist</strong>ert und seine Freunde sind es ebenfalls. So wird das später imGeschichtsbuch stehen. Oder auch nicht. Was den siebzehnjährigen PaulConradi aus dem thüringischen Oberweißbach mit dem fünfundachtzigjährigenPaul von Hindenburg aus der Stadt Posen in dieser Sache verbindet,<strong>ist</strong> der Wunsch, dass ihr Deutschland wieder die geachtete Großmachtwird, auf die sie stolz sein können wie die Briten auf ihr Land. InFrankreich gehen aber sehr viele gegen den Viererpakt auf die Straßen.Paul und seine Freunde sind schrecklich enttäuscht. Sie fragen sich, obdie Franzosen etwa nochmal einen Krieg in Europa wollen. Wegen der148Wojciechowski, S. 26558


<strong>1933</strong>Ablehnung in der Bevölkerung traut sich die Pariser Regierung daraufhinnicht mehr, den Vertrag mit London, Rom und Berlin zur Ratifizierungin die Französische Nationalversammlung zu bringen. So bleibt dasUnterfangen auf halber Strecke liegen und das Deutsche Reich <strong>ist</strong> baldwieder da, wo es 1919 einmal <strong>angefangen</strong> <strong>hat</strong>te. <strong>Es</strong> dauert gar nicht sehrlange, da <strong>hat</strong> der Volksmund den Pakt, den es nun doch nicht geben soll,aufgegriffen: Zwei Sachsen gehen über den KuDamm. Die Zeitungsverkäuferrufen die Gazetten aus: „Der Viererpakt! Der Viererpakt!“ Dereine Sachse <strong>ist</strong> ganz erstaunt: „Was? Der Fiehrer packt . . . ? Schon?“ 149Krieg und Frieden und beide eigentlich in der umgekehrten Reihenfolgegehören zum Ressort jedes höheren Offiziers. Er wiederum unterliegt indieser Frage den Entscheidungen der großen Politik. So <strong>ist</strong> interessant,wie sich die Tagespolitik des <strong>Jahr</strong>es <strong>1933</strong> auf den Alltag eines höherenSoldaten auswirkt, der zu politischer Zurückhaltung aufgerufen <strong>ist</strong>. Der35-jährige Hauptmann Hans Speidel, der <strong>vor</strong> acht <strong>Jahr</strong>en seinen Doktorin Tübingen mit magna cum laude, mit großem Lob abgeschlossen <strong>hat</strong>,bemerkt bald eine unangenehme Veränderung in der Armee: „Währenddes Manövers des V. Armeekorps im September <strong>1933</strong> in Oberschwabennahm mich der <strong>neue</strong> Chef des Stabes des Reichskriegsmin<strong>ist</strong>ers, Obersti. G. von Reichenau, der mir vom Skilauf in Oberjoch als her<strong>vor</strong>ragenderSportsmann und allzeit fröhlicher Kamerad wohl bekannt war, zur Seiteund verwarnte mich: <strong>Es</strong> sei ihm zu Ohren gekommen, dass ich der Regierunggegenüber kritisch eingestellt sei und das nationalsozial<strong>ist</strong>ischeGedankengut in der Öffentlichkeit nicht verträte. Er erwarte eine grundlegendeÄnderung meiner Auffassungen, nicht zuletzt im Hinblick aufmeine be<strong>vor</strong>zugte Verwendung. Ein Teilnehmer unserer Diskussionsabende<strong>hat</strong>te mich also gemeldet! Diese Tatsache wirkte wie ein Schock:Konnte man unter Kameraden, unter Freunden nicht mehr offen sein?Ein innerer Zwiespalt bahnte sich an.“ 150Gehen wir nach Berlin in das zweigeschossige Gebäude des AuswärtigenAmtes in der Wilhelmstraße. Dort <strong>ist</strong> Paul Schmidt Dolmetscher. Wieschätzt Schmidt die Lage ein? „Im Auswärtigen Amt in Berlin <strong>hat</strong>te sichnichts geändert. An ihm war die <strong>neue</strong> Zeit spurlos <strong>vor</strong>übergegangen.“ 151149Hirche, S. 95150Speidel, S. 53f.151Schmidt, S. 27759


<strong>1933</strong><strong>Das</strong> glaube ich kaum, sagt der ungläubige Thomas. Doch Hans Rothfels*bestätigt das: „Für das Auswärtige Amt etwa lässt sich durch die <strong>Jahr</strong>ehin, ohne dass in jedem einzelnen Falle genaue Datierungen <strong>vor</strong>lägen,eine Reihe von Persönlichkeiten der frühen Opposition zurechnen. Nebendenen, die schon erwähnt wurden oder noch besondere Erwähnungfinden werden, seien Namen genannt wie die von Dr. Robert A. Ulrich*,E. v. Selzam, Dr. Siegfried von der Heyden-Rynsch, Dr. Georg vonBruns, Dr. Ad. Velhagen, Herbert Blankenhorn*, Eduard Brücklmeier,Gottfried von N<strong>ist</strong>iz, Dr. von Twardowski* und Dr. Aschmann.Die Gegenarbeit des Amtes wurde durch Weitergabe von Informationenan die oppositionellen Kreise ergänzt. In diesem Betracht war Dr. PaulSchmidt eine nicht unwichtige Figur, da er als Dolmetscher an allen internationalenBesprechungen Hitlers teilnahm.“ 152Soll Dr. Schmidt berichten: „Aber die Besorgnis über die internationalenFolgen der Umstellung war groß, denn die Berichte, die aus Europa undaus Übersee eintrafen, zeigten, dass innerhalb weniger Monate Deutschlandwieder in eine fast völlige Isolierung geraten war. Die von Stresemannund seinen Nachfolgern mit so unendlicher Mühe erzielten Gewinneauf moralischem Gebiet waren so gut wie verloren gegangen. Nurdie politischen Ergebnisse, die Rheinlandräumung und die Streichungder Reparationen, waren erhalten geblieben. Würde sich auch die imVorjahre zuerkannte Gleichberechtigung des Reiches auf militärischemGebiet jetzt noch verwirklichen lassen? <strong>Das</strong> war die große Frage, die alleGemüter im Auswärtigen Amt beherrschte, als ich mit der Völkerbundsdelegationam 20. September <strong>1933</strong> nach Genf abre<strong>ist</strong>e. Viel stärker nochals <strong>vor</strong> einem Monat in London trat hier die Ablehnung des Auslandesgegenüber dem nationalsozial<strong>ist</strong>ischen Deutschland zutage.“ 153Sehr bemerkenswert findet Dr. Schmidt das Auftreten von Propagandamin<strong>ist</strong>erGoebbels: „Er bewegte sich in dem Genfer Milieu, das er immerso heftig geschmäht <strong>hat</strong>te, völlig ungezwungen, als sei er schon jahrelangDelegierter beim Völkerbund gewesen. Rein äußerlich machte »derwilde Mann aus Deutschland«, wie er in der »Bavaria« hieß, einen gepflegtenund ruhigen Eindruck, wenn er mit Herrn von Neurath odermit anderen deutschen Delegierten in den Wandelgängen oder in unse-152Rothfels, S. 60153Schmidt, S. 277f.60


<strong>1933</strong>rer Hotelhalle saß und dabei zwanglos mit Ausländern ins Gesprächkam. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich als Dolmetscher – soweit essich um nichtdeutschsprechende Delegierte handelte – feststellen, dasssich Goebbels sehr schnell den Genfer Jargon angewöhnt <strong>hat</strong>te. Hätteman nicht gewusst, wer er war, hätte man tatsächlich glauben können,er sei der friedliebendste und verständigungsbereiteste Mensch auf derWelt. Auf diese Weise <strong>hat</strong>te er bald außerhalb der Völkerbundsitzungenund bei einigen Abendveranstaltungen, zu denen er mit der deutschenDelegation eingeladen war, fast mit allen prominenten Ausländern mindestensein paar Worte gewechselt. Ich <strong>hat</strong>te den Eindruck, dass sie fastalle genau so überrascht waren wie ich, anstatt des tobenden Volkstribuneneinen völlig normalen, von Zeit zu Zeit liebenswürdig lächelndenTyp eines Völkerbunddelegierten <strong>vor</strong> sich zu finden, wie er zu Dutzendenauf den Septembertagungen auftrat. Während viele der Ausländerihm deswegen mit einem amüsierten, durchaus nicht immer kritischenInteresse begegneten, erregten sein glattes Wesen und seine scheinbareVerständigungsbereitschaft bei anderen, <strong>vor</strong> allem aber bei der Presse,um so größeres Ärgernis, weil das Verhalten des Propagandamin<strong>ist</strong>ersnicht zu Unrecht für eine gefährliche, täuschende Maske gehalten wurde.Auch bei der Genfer Bevölkerung muss wohl instinktiv dieser Eindruckbestanden haben. <strong>Das</strong> erlebte ich persönlich in den Kinos, als eine<strong>Wochen</strong>schau gezeigt wurde, in der ich mit Goebbels am Tisch saß, ähnlichwie bei dem Groener-Interview über die Gleichberechtigung, undseine Friedensschalmeien auf Französisch wiedergab. <strong>Das</strong> Erscheinenvon Goebbels löste keine Demonstrationen aus, auch so lange er deutschsprach, verhielt sich das Publikum ruhig. Erst als es durch meine Übersetzungerfuhr, was er gesagt <strong>hat</strong>te, ging ein vielstimmiges Pfeifkonzertlos.“ 154Im Foyer des Hotels Carlton hält Goebbels am 28. September eine Rede,in der er unter anderem sagt: „Mit Schmerz und Enttäuschung <strong>hat</strong> dasdeutsche Volk in den vergangenen Monaten die Beobachtung gemacht,dass das Werden des nationalsozial<strong>ist</strong>ischen Staates und seine positivenRückwirkungen . . . in der Welt vielfach Verständnislosigkeit, Misstrauenoder gar Ablehnung gefunden haben.“ 155 Vor der vollen Halle erklärter die <strong>neue</strong> Ordnung in Deutschland zu einer „veredelten Art von Demo-154Schmidt, S. 278155Ebd., S. 27961


<strong>1933</strong>kratie, in der kraft Mandat das Volk autoritär regiert wird“. Dr. Schmidtschaut sich um und sieht „ungläubige Skepsis“ und „manches ironischeLächeln“. Auf Zustimmung treffen hingegen seine Worte gegen denKommunismus: „Wem die Methoden, mit denen wir dem bolschew<strong>ist</strong>ischenAnsturm begegneten, zu hart erscheinen, der möge sich <strong>vor</strong> Augenhalten, was geschehen wäre, wenn es umgekehrt gekommen wäre.“ 156Auch hier steht nicht der herumwütende Zwerg, wie man ihn von derLeinwand kennt, sondern ein Herr im Anzug mit einer ruhigen Stimme.Schmidt konstatiert, wie ihn die Pressevertreter nachdenklich anblickenund dass einige Engländer und Amerikaner auch zustimmend nicken.Dr. Goebbels kommt auch auf Behandlung der Juden zu sprechen: „Ichstehe nicht an, offen zuzugeben, dass im Verlauf der nationalen Revolutiongelegentlich Übergriffe seitens unkontrollierbarer Elemente geschehensind.“ 157 Schmidt merkt süffisant an, wie eifrig die Worte des großenMe<strong>ist</strong>ers notiert werden, und dass natürlich diese Worte „am nächstenTage in vielen Auslandszeitungen in großer Aufmachung“ 158 erscheinen,dass jedoch der nächste Satz, den er in dieser Angelegenheit sagt, „überalletwas verschämt weggelassen“ wird. Darin formuliert der Me<strong>ist</strong>er derAufklärung: „Unverständlich aber scheint es uns, dass sich das Auslandweigert, den von Deutschland abwandernden jüdischen Überschuss aufzunehmen.“159Dr. Schmidt steht neben dem Herrn Min<strong>ist</strong>er, übersetzt und beobachtetdie Zuhörerschaft in der feinen Halle. Goebbels redet und Schmidt übersetztnoch eine ganze Weile weiter. Wie der Kanzler spricht der Min<strong>ist</strong>ervon der Sehnsucht des deutschen Volkes nach Frieden. Wohl oder übelräumt der Dolmetscher ein, dass die Art und Weise, wie der Min<strong>ist</strong>er Dr.Goebbels formuliert und wie er sich gibt an diesem Nachmittag hier inGenf, die Vertreter der Presse aus aller Welt trotz aller Vorbehalte gegendas Regime, das er vertritt, sehr beeindruckt. „Genau so wie die Politikerwaren auch sie wohl überrascht, dass der maßlose Demagoge, als den sieGoebbels aus seinen Äußerungen kannten, nun in einer so zivilisierten156Schmidt, S. 279157Ebd., S. 279f.158Ebd., S. 280159Ebd., S. 28062


<strong>1933</strong>und verbindlichen Gestalt <strong>vor</strong> ihnen stand.“ 160 Dr. Schmidt fällt auf, dasssich speziell die Journal<strong>ist</strong>innen herandrängen. Ein Sicherheitsbeamtersagt danach zu ihm: „Mir war oft nicht ganz behaglich zumute, wenn ichDamen mit Handtaschen dicht <strong>vor</strong> dem Min<strong>ist</strong>er stehen sah. Man weißnie, was plötzlich aus so einer Tasche herausgezogen wird.“ 161Im Reichsgericht zu Leipzig beginnt unterdessen am 21. September derProzess gegen die Brandstifter vom Berliner Reichstag. Dr. Hans-BerndGisevius nimmt daran als Beobachter teil und berichtet für uns aus demSaale: „Zunächst erwe<strong>ist</strong> sich freilich lange Zeit als die einzige Sensationdieses Leipziger Sensationsprozesses, dass er überhaupt keine Sensationbringt. So etwas <strong>ist</strong> nach großspurigen Ankündigungen immer peinlich.Diesmal wirkt es besonders übel. Denn alles verzeihen die Neugierigender Welt, nur nicht, dass man die von ihnen erwarteten Enthüllungennicht bietet. Wohl sitzen die Zuschauer gespannt auf ihren Plätzen, unddie aus aller Welt zusammengeströmten Presseleute harren unentwegtder Dinge, die da kommen sollen. Allein, es gibt weder Zwischenfällenoch enthüllt sich das Geheimnis. Langsam, wie eine dicke zähflüssigeMasse, fließt der Strom der Zeugen und der Sachverständigen <strong>vor</strong>über.Jeder sagt ein längst bekanntes Sprüchlein herunter; keiner hinterlässteinen nachhaltigen Eindruck. Ungeahnt langweilig <strong>ist</strong> die Verhandlung,die sich geschlagene drei Monate hinschleppt. Jedes Mal, wenn sich einedramatische Verwicklung anzuspinnen beginnt, wiegelt der temperamentloseVorsitzende ab, und die sowieso schon halb entschlummerteZuhörerschaft versinkt erneut in Apathie.“ 162Wechseln wir an einen Ort, an dem zu der Zeit wirklich etwas geschieht.Die breite Öffentlichkeit im Land erfährt nur, was die gleichgeschaltetenMedien anbieten; der Prozessbeobachter Hans-Bernd Gisevius erlebt inLeipzig eine Veranstaltung, die wenig Licht in dieses Kapitalverbrechenbringen kann; doch der Gestapo-Beamte Dr. Gisevius erfährt, was sichrund um den Brand in Berlin wirklich abgespielt <strong>hat</strong>. Gisevius bekommtbei der Gestapo einen <strong>neue</strong>n Kollegen, den Herrn Reineking, der zu<strong>vor</strong>als Justizangestellter beschäftigt war. „Eines Tages, er war gerade beimProtokollieren, sein Amtsgerichtsrat verhörte einen Zeugen nach dem160Schmidt, S. 280161Ebd., S. 280162Gisevius I, S. 3963


<strong>1933</strong>andern – langweiligstes aller richterlichen Geschäfte –, da gab es plötzlicheine wohltuende Abwechslung in dieser jur<strong>ist</strong>ischen Einöde.Jemand nahte sich, der nicht über Mietstreitigkeiten, Fälligkeitstermineoder Kaufabreden vernommen werden sollte. Nicht nur das, schon dasäußere Gehabe <strong>hat</strong>te einen völlig neuartigen Anstrich. Dieser Zeuge, dersich so gewichtig am Vernehmungstisch niederließ, kam von selber, abernicht aus der Freiheit, er meldete sich aus der Untersuchungshaft, undnur unter scharfer Bewachung durfte er ins Zimmer treten. Der UntersuchungsgefangeneRall, der jetzt so redselig seine Memoiren – oderwar es nicht sein Todesurteil? – in die Schreibmaschine diktierte, warein mehrfach <strong>vor</strong>bestrafter Gewohnheitsverbrecher, frisch ertappt beieinem schweren Einbruchsdiebstahl. Was dieser Rall dem erstauntenAmtsgerichtsrat zu berichten wusste, werde ich im Einzelnen gleich erzählen.So viel aber kann sofort gesagt werden: das war mal wirklich etwasganz anderes, noch dazu etwas Hochdramatisches. Der Mann redetefreiweg über den Reichstagsbrand, und zwar nicht bloß vom Hörensagen.Nein, er war keiner von jenen vielen Märchenerzählern aus denGefangenenanstalten, die sich eine <strong>vor</strong>übergehende Unterbrechung ihreralltäglichen Langeweile zu verschaffen suchten. Offensichtlich war ereiner der Mittäter, der bis in die kleinsten Einzelheiten den Hergang derTat zu beschreiben wusste. Dafür, dass er nicht log, zeugten die näherenBegleitumstände, die er schilderte, die Namen, die er nannte, die Legitimation,auf die er sich berief, nämlich, dass er bis <strong>vor</strong> <strong>wenigen</strong> MonatenAngehöriger der Stabswache des Gruppenführers Karl Ernst gewesenwar, nicht zuletzt die Erwägung, dass im damaligen Stadium des braunenTerrors niemand grundlos Goebbels und Göring bezichtigt hätte.“ 163Aus den Verhören geht her<strong>vor</strong>, dass er die Flüssigkeit kennt, die letztlichals Brandbeschleuniger verwendet wurde. Sein SA-Rollkommando <strong>hat</strong>tesie bereits im Vorjahr benutzt, als der braune Boom in der Bevölkerungabzuflauen drohte. Damals <strong>hat</strong>ten sie Litfaßsäulen angezündet, die dannromantisch in die Berliner Nacht loderten. Die Polizei musste kommenund Feuerwehrautos, und schon <strong>hat</strong>ten sie für Aufsehen gesorgt. WelcheBedeutung das bekommen würde, wurde Rall nach eigenem Bekundenerst im Nachhinein klar. Er und seine Kameraden hätten anfangs nichtsanderes beabsichtigt, als auf diese ausgefallene Weise etwas mehr Abwechslungin den nächtlichen Radau zu bringen. „Von da an blieb seine163Gisevius I, S. 7964


<strong>1933</strong>Aussage im Fluss. Der Zuchthäusler wusste anschaulich zu berichten,wie sie eines Abends Ende Februar, mittlerweile war das Dritte Reichausgebrochen, zu dem Brigadeführer Karl Ernst befohlen worden waren.Dieser war damals noch Untergebener des Grafen Helldorf, der die BerlinerSA-Gruppe leitete. Indessen <strong>hat</strong>te man zu solch heikler Mission,wie sie jetzt durchgeführt werden sollte, Karl Ernst geeigneter befunden.Nicht zu Unrecht übrigens, da dieser typische Berliner Straßenjungeüber eine ungleich volkstümlichere Sprache verfügte und eine derbereGeschicklichkeit mitbrachte als der revoltierende SA-Graf, der gernewieder gesellschaftsfähig werden und zu den feudalen Gepflogenheitenseiner Vorfahren zurückkehren wollte. Nur zehn Mann hoch – wir sehen,welch ein bewährter brauner Kämpe unser Rall gewesen sein muss– waren sie von Karl Ernst empfangen worden, und dieser <strong>hat</strong>te sie <strong>vor</strong>ersteinmal tüchtig angebrüllt. <strong>Das</strong> war so üblich in der braunen Soldateska.Wer den Brülljargon gut beherrschte, galt »ganz groß«. Von seinerStimmgewalt ließ sich, wenn nicht auf überragenden Ge<strong>ist</strong>, so dochmindestens auf eine gewisse, lebensgefährliche Durchschlagskraft in derpraktischen Argumentation schließen. Dann aber war der Brigadeführerplötzlich nett geworden, sehr menschlich, mit seinen dreißig <strong>Jahr</strong>en beinaheväterlich.“ Nach dieser Schilderung soll Karl Ernst gesagt haben:Wir werden jetzt ein „Ding drehen“, wirklich mal eine Sache, die hinhauensoll, und Ihr seid dazu ausersehen, da mitzumachen. In dennächsten Tagen soll zum vernichtenden Schlag gegen die Marx<strong>ist</strong>en ausgeholtwerden. Alles <strong>ist</strong> <strong>vor</strong>bereitet. Was jetzt fehlt, <strong>ist</strong> nur der Anlass.Den müsst Ihr jetzt schaffen. Ihr wisst ja, dass die Kommun<strong>ist</strong>en ganzDeutschland in Schutt und Asche legen wollen. Ihr zündet bloß denReichstag an, diese elende Quasselbude. Und danach sagen wir einfach,die Kommune hätte das Feuer gelegt. Polizei? Darum braucht Ihr Euchkeine Sorgen machen. Wenn möglich verkaufen wir auch die für dumm.Notfalls wird die Untersuchung in die richtige Bahn gelenkt. In dieserHinsicht <strong>hat</strong> „der Doktor“ bereits alles mit Göring durchgesprochen. Mitdem Doktor war Dr. Joseph Goebbels gemeint. „Die Sitzung, treffenderder Befehlsempfang, <strong>hat</strong>te damit geendet, dass sie so etwas wie einenRäuberhauptmann erhielten. Karl Ernst wollte nur das Oberkommandoführen, den Stoßtrupp sollte ein anderer befehligen: dafür fühlte sichder Brigadeführer denn doch zu prominent. Und so wurde dem SturmbannführerHeini Gewehr, einem Taugenichts von fünfundzwanzig Jah-65


<strong>1933</strong>ren, die hohe Ehre zuteil, in h<strong>ist</strong>orischer Stunde seine Gefolgschaftstreueund seine pyrotechnischen Fähigkeiten zu beweisen.“ 164Gisevius gibt dann wieder, wie sich die jungen Männer auf ihren großenEinsatz <strong>vor</strong>bereiteten. „So viel hörte Rall bereits damals, dass es zu ihrerGastrolle im Innern des Gebäudes noch ein Gegenstück gab, irgend etwasganz anderes, womit sie nichts zu tun <strong>hat</strong>ten. Was aber damit gemeintwar, wie sich zwei verschiedene Aktionen ergänzen sollten, welchein »Ding« Karl Ernst oder der Doktor nebenher »drehen« wollten, daserzählte man ihm und seinesgleichen nicht. Diese Nachricht lasen sieerst später in der Zeitung. Und als sie sich daraufhin schüchtern zu erkundigenwagten, da wurden sie, die sich doch wahrlich als die Heldendes Tages empfanden, höchst unfreundlich angefahren.Karl Ernst fluchte sein vielsagendes: »Schnauze halten!«, worauf siesich ihr Teil dachten und auf alle weitere Kriminal<strong>ist</strong>ik verzichteten. AmBrandtage <strong>hat</strong>ten sie sich spätnachmittags in Bewegung gesetzt. ErstesZiel war eine Drogerie im Norden der Stadt. Der Drog<strong>ist</strong> war ein alterParteigenosse, ein hingebungsvoller SA-Mann, das sagt in diesem Fallealles. Zugleich verstand er sich auf sein Geschäft, auf das technische wieauf das kassenmäßige. Diesen Abend war auch er »ganz groß«.Hinwiederum war die Mixtur, die sie abholten, gar nicht so viel, wie siesich ausgemalt <strong>hat</strong>ten. Für jeden gab es von dieser kostbaren Flüssigkeitnicht mehr als ein würfelförmiges Gefäß, das sie gut in großen Rucksäcken,wie sie zum Tragen von Zeitungen gebraucht wurden, verstauenkonnten. Sie staunten ein wenig, dass das genügen sollte, aber der Drog<strong>ist</strong>musste es wissen.Gegen sechs Uhr fuhren sie <strong>vor</strong> dem Palais des Reichstagspräsidenten<strong>vor</strong>, das gegenüber dem Hauptgebäude lag und durch einen unterirdischenGang mit diesem verbunden war. <strong>Es</strong> standen dort so viele Autosherum, dass ihre Ankunft überhaupt nicht auffiel, ebenfalls nicht die komischenAkten, die sie in das Gebäude hinein trugen. Ob der Pförtnermit im Spiel war, ob er zu jenem Zeitpunkt in seiner Loge saß, ob er gerade»dienstlich« abberufen war, konnte Rall nicht sagen, er <strong>hat</strong>te nichtdarauf geachtet. Sofort gingen sie in den Keller hinunter. Dort musstensie eine ziemliche Weile warten. Irgendein verabredetes Zeichen fehltenoch. Vielleicht, dass jemand drüben nachsehen musste, ob die Luft reinwar. Vielleicht, dass es die Meldung über das »Ding« von draußen war,164Gisevius I, S. 88f.66


<strong>1933</strong>die noch ausstand. Aber plötzlich kam mit lautem Gepolter Karl Ernstherunter. Heini Gewehr – schon den Namen finde ich köstlich, ich beneideGoebbels um seine Improvisation – meldete, alles sei in Ordnung,und der Brigadeführer entließ sie mit ein paar Flüchen.Von da an ging alles wie der Wind. Sie jagten durch den viel beredetenunterirdischen Gang. »Jagten« <strong>ist</strong> ein wenig zu grob ausgedrückt; dennnatürlich vermieden sie es, unnötigen Lärm zu machen. Andererseits<strong>hat</strong>ten sie weder ihre klobigen SA-Schuhe ausgezogen, noch liefen sieauf Gummisohlen, noch <strong>hat</strong>ten sie irgendwelche sonstigen Vorkehrungengetroffen, etwa ihre SA-Kluft mit unkenntlichem Räuberzivil vertauschtoder wenigstens ihre Ausweise weggesteckt. Dies <strong>hat</strong>te seinenguten Grund. Sie waren nämlich beim Befehlsempfang so verblieben,dass sie menschlichem Ermessen nach – man <strong>hat</strong>te die Tage zu<strong>vor</strong> gutAusschau gehalten – niemanden in dem ausgestorbenen Gebäude antreffenwürden. Sollten sie trotzdem bemerkt werden – sie splittertensich in drei verschiedene Gruppen auf, eine zu viert für den Sitzungssaal,zweimal zu zweit für das Restaurant und die Wandelhallen – solltealso die eine oder die andere Gruppe wider Erwarten von jemandem gestelltwerden, so waren sie harmlose Botenläufer, die hinauf ins nationalsozial<strong>ist</strong>ischeFraktionszimmer wollten. Kam es aber zu einem unangenehmenWortwechsel, dann <strong>hat</strong>ten sie scharf zu schießen. Dies warbesser, als entdeckt zu werden. Und hinterher, nachdem die bösen Kommun<strong>ist</strong>enden Reichstag angesteckt <strong>hat</strong>ten, erhöhte es womöglich diebraune Dramatik oder die rote Ruchlosigkeit, wenn Unschuldige ihreLeben lassen mussten.“ 165Bedeutend langweiliger geht es derweil im Leipziger Reichsgericht zu.Marinus van der Lubbe, der 24 <strong>Jahr</strong>e alte Hauptangeklagte aus Holland,hinter dem die Flammen hochgeschlagen waren, als er beim Verlassendes Reichstages gestellt und verhaftet wurde, klebt wie „ein erloschenerLichtstumpf“ 166 auf der Anklagebank und schweigt. Politisch ausgedient<strong>hat</strong>te er freilich schon, als einen Tag danach die Kommun<strong>ist</strong>ische Parteiin Deutschland ausgeschaltet worden war. Von einem Kommun<strong>ist</strong>en <strong>hat</strong>der gerade fünf <strong>Jahr</strong>e ältere Hans-Bernd allerdings eine Vorstellung, diesich mit der Erscheinung dieses Wirrkopfes nicht deckt. <strong>Es</strong> bleibt auchfraglich, ob dieser jugendliche Held Kontakt mit einer kommun<strong>ist</strong>ischen165Gisevius I, S. 89f.166Ebd., S. 4067


<strong>1933</strong>Gruppe <strong>hat</strong>te. Van der Lubbe führte nach Hans-Bernds persönlichemEindruck ein genormtes Vagabundendasein und ergänzt: „Wer je dieseszusammengeschrumpfte Etwas betrachtet <strong>hat</strong>, wird dieses Jammerbildnie mehr vergessen.“ 167 Während sich der jugendliche Held völlig sicher<strong>ist</strong>, dass er das große Gebäude ganz allein in Brand gesetzt <strong>hat</strong>, <strong>ist</strong> sichder Rest der Welt sicher, dass das gar nicht möglich <strong>ist</strong>. „Gegen LubbesBehauptung, er sei der Alleintäter, steht die vereinte Front der Sachverständigen.Brandpolizei wie Gerichtschemiker stimmen darin überein,dass eine Mehrzahl von Tätern am Werke gewesen sein muss.Die Vielzahl der festgestellten Brandherde, besonders die schnelle Ausbreitungdes Feuers <strong>ist</strong> anders überhaupt nicht verständlich. Die Gutachterlachen, wenn Lubbe ihnen weismachen will, seine paar Kohlenzünderhätten den Reichstag in Brand gesteckt. Eine ganze Gruppe musssich betätigt haben, und diese Kolonne <strong>hat</strong> sich augenscheinlich einerbestimmten, leicht entzündbaren Flüssigkeit bedient.“ 168Als peinlich empfindet der Berufseinsteiger auch den Auftritt von ErnstTorgler: „Man muss sich immerhin <strong>vor</strong>stellen, dass er kein x-beliebiger,irgendwo aufgegriffener Kommun<strong>ist</strong> <strong>ist</strong>. Außer Thälmann <strong>ist</strong> er wohl derbekannteste Führer der deutschen kommun<strong>ist</strong>ischen Partei, auf derenStufenleiter er es bis zum Vorsitzenden der Reichstagsfraktion gebracht<strong>hat</strong>.“ Weiter schreibt der Beobachter: „Nein, dieser Mann <strong>ist</strong> kein Held.An seiner traurigen Haltung erwe<strong>ist</strong> sich überzeugend <strong>vor</strong> dem Tribunalder Geschichte, warum trotz 1918, trotz der großen Wirtschaftskrise von1930 bis <strong>1933</strong> die Roten nicht zum Zuge kamen. Wenn man bedenkt,welch ungeheure Machtquelle in der marx<strong>ist</strong>isch organisierten Arbeitermasseihrer politischen Auswertung harrte, und sich daran erinnert,dass sich aus dieser Menschenfülle nur eine Gruppe von sicherlich achtbaren,aber me<strong>ist</strong> unzulänglichen Funktionären herauslöste, dann erstversteht man das Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung. DieserTorgler hockt auf der Anklagebank und meint, er müsse sich von demVorwurf der Brandstiftung reinwaschen. Ein blöder Zufall – oder war esdie Teufelei seiner politischen Gegner? - <strong>hat</strong> ihn noch einmal ins helleRampenlicht gestellt. Wenigen Desperados wurde solch ein Abgang vonder politischen Bühne geboten. Doch kein Volkstribun schmettert die167Gisevius I, S. 40168Ebd., S. 36f.68


<strong>1933</strong>letzte Fanfare. Statt dessen bittet da jemand um einen Freispruch fürseine kleinbürgerliche Ex<strong>ist</strong>enz.“ 169Als Glanzpunkt des Prozesses <strong>vor</strong> dem Reichsgericht feiert Hans-BerndGisevius den Auftritt des bulgarischen Kommun<strong>ist</strong>en Georgi Dimitroff:„Ein Raunen geht durch den Saal, sobald er sich erhebt.“ 170 Als Anarch<strong>ist</strong>war Dimitroff in Bulgarien zu insgesamt 32 <strong>Jahr</strong>en schwerer Kerkerhaftverurteilt worden und <strong>ist</strong> über die Sowjetunion nach Deutschland geflüchtet.Zufällig gerät er in die Verhaftungswelle, die durch Berlin geht.Am 27. Februar hielt er sich aber in München auf und kann sich somitsicher sein, dass er nicht schuldig gesprochen werden kann. Grinsendkommentiert Gisevius, es sei „zwar keiner im ganzen Saal, der Dimitroffnicht einen Angriff gegen die bürgerliche Ordnung zutrauen würde, aberhinsichtlich des Reichstagsbrands <strong>ist</strong> ihm wirklich nichts anzuhaben.“Dr. Gisevius merkt an: „Nicht einen Augenblick vergisst Dimitroff, dasser politischer Angeklagter <strong>ist</strong>. Die Anklage der Brandstiftung als solchelässt ihn völlig kalt, wie ihn auch seine Vorstrafen nicht beschweren.»Ich habe gehört, dass ich in Bulgarien zum Tode verurteilt bin; nähereErkundigungen habe ich darüber nicht eingezogen, denn das interessiertmich nicht«, meint er mit lässiger Handbewegung.“ 171 Die Äußerung, ersei hier nicht nur Angeklagter, sondern auch Verteidiger für Dimitroff,wird quittiert, indem er bis auf Weiteres von der Sitzung ausgeschlossenwird. „<strong>Es</strong> wird auch höchste Zeit“, kommentiert Hans-Bernd Gisevius,„denn er tastet sich gefährlich an den Kern der Dinge heran. »Ist esmöglich, dass die Brandstifter durch den unterirdischen Gang in denReichstag gekommen sind?« fragt er neugierig und bohrt immer wiederin dieser peinlichen Geschichte herum.“ 172Dann kommt Hermann Göring in den Saal und möchte hier auch etwassagen. Doch er <strong>ist</strong> ganz schlecht: „Eigens für diesen Auftritt <strong>hat</strong> sich derInnenmin<strong>ist</strong>er ein Kostüm bauen lassen. Nie <strong>vor</strong>her, nie hinterher wirder darin abgebildet werden. Aber für diesen Tag passt es <strong>vor</strong>züglich. Eingreller, brauner Jagdanzug aus Leinen, Kniehosen, hohe braune Stiefel,so wirkt er schon rein äußerlich als Provokation des höchsten deutschen169Gisevius I, S. 44ff.170Ebd., S. 42171Ebd., S. 42172Gisevius I, S. 42f.69


<strong>1933</strong>Gerichtshofes. Und dann legt Göring los. Er brüllt. Er überschreit sich.Mit der einen Hand fuchtelt er wild in der Gegend herum. Mit demwohlparfümierten Taschentuch in der anderen Hand wischt er sich denperlenden Schweiß von der Stirn. Erst höhnt er: »In großen Zügen wirdim Braunbuch behauptet, dass mein Freund Goebbels mir diesen Planbeigebracht hätte, den Reichstag anzuzünden, und dass ich ihn dannfreudig ausgeführt hätte. <strong>Es</strong> wird weiter behauptet, dass ich diesemBrande zugesehen hätte, ich glaube, in eine blauseidene Toga gehüllt. <strong>Es</strong>fehlt nur noch, dass man behauptet, ich hätte, wie Nero beim BrandeRoms, Laute gespielt.« Dann wettert er: »<strong>Das</strong> Braunbuch <strong>ist</strong> eine Hetzschrift,die ich vernichten lasse, wo ich sie finde. Mit dieser idiotischenUntersuchung dürften wir uns überhaupt nicht befassen, denn damitverkümmern wir unsere eigenen Rechtsbegriffe.« Dann tobt der Innenmin<strong>ist</strong>er,er habe die Polizei wieder das Schießen gelehrt: »Ich übernehmedie Verantwortung. Wenn dort einer erschossen liegt, so habe ichihn erschossen.«“ 173Im Volke amüsiert man sich über Görings Uniformenfimmel wie Bolle.<strong>Es</strong> dauert gar nicht lange, da <strong>hat</strong> der Volksmund schon diesen Spruchausgeheckt: Die Trommler-Zigarettenfabrik <strong>hat</strong> eine Bilderserie unterdem Titel Göring in seinen Uniformen herausgebracht. Die Serie umfasst175 Stück – in Anspielung auf den Paragraphen für Homosexuelle.Denselben Einschlag <strong>hat</strong> der hier: Göring lässt jetzt seine Haare langwachsen. Warum? Damit er die BDM-Uniform tragen kann. Da könntewohl einer fragen, was BDM denn sei; das fragt jedoch keiner, weil jederden Bund Deutscher Mädel kennt. Und dieser <strong>ist</strong> auch schön: Hermannbestellt eine <strong>neue</strong> Uniform. „Aber diesmal ganz schlicht. Oben nur einschmaler Kragen mit drei silbernen Streifen. Und alles Übrige dannganz einfach in Gold.“ Gut, diesen einen hier hab ich noch: <strong>Es</strong> <strong>hat</strong> sichjetzt herausgestellt, dass der Göring wirklich so dick <strong>ist</strong> und nicht fünfUniformen übereinander trägt. 174Als Dimitroff sprechen darf, kommt er der Lösung noch ein gutes Stücknäher: „Ich frage, was <strong>hat</strong> der Herr Innenmin<strong>ist</strong>er am 28. Februar undin den nächsten Tagen getan, damit durch die polizeiliche Untersuchungder Weg Lubbes von Berlin nach Henningsdorf, sein Aufenthalt im dor-173Gisevius I, S. 43174Hirche, S. 78 und 8070


<strong>1933</strong>tigen Asyl, seine Bekanntschaft mit zwei anderen Leuten dort festgestelltund so die Komplizen ausfindig gemacht werden konnten?“ 175 <strong>Das</strong> warenwohl zwei Nazis, denen van der Lubbe von den Zündelabsichten erzählteund die ihn in den nächsten Tagen nicht aus den Augen ließen. Wie wäresonst auch die Abstimmung für die gleichzeitige Aktion der SA zustandegekommen? Jedenfalls fiel dem Herrn Min<strong>ist</strong>er auf Dimitroffs Frage nurein Psalm ein, der im Licht der Täterschaft dann schon wieder eine sehrinteressante Note erhält: „Ich selbst bin nicht Kriminalbeamter, sondernverantwortlicher Min<strong>ist</strong>er. Für mich war es deshalb nicht so wichtig, deneinzelnen kleinen Strolch festzustellen, sondern die Partei, die verbrecherischeWeltanschauung, die dafür verantwortlich war.“ 176„Die endlose Zeugenvernehmung klärt nichts auf, eigentlich macht sieden Kriminalfall von Tag zu Tag verworrener. Übergehen wir die berufsmäßigenLügner, ich meine die SS-Gruppenführer und <strong>neue</strong>n Polizeipräsidenten,dann <strong>ist</strong> das Merkwürdige, dass man keineswegs von lautergedungenen Zeugen reden kann. Dazu sind ihre Aussagen viel zu auseinanderliegendund ungekünstelt. Diese Leute sind me<strong>ist</strong>ens echt. Siesind typische Zeugen, wie man sie allenthalben finden kann. Keiner vondiesen Angestellten, Ehefrauen, Kellnern, Kneipwirten, Chauffeurenund Fahrstuhlführern wird ohne Weiteres seine Hand zum Meineid erheben.Sie bilden sich fest ein, mit ihren eigenen Augen gesehen zu haben,was sie jetzt so weitschweifig bezeugen. Sie wollen nicht der Verschleierungdienen, sie wollen aufklären. Sie wollen die Schuldigen dergerechten Strafe zuführen – aber gerade dadurch verwirren sie und helfensie den wahren Tätern, aus dem Blickfeld zu verschwinden.“ 177 Wersoll auch ahnen, dass mit Rall einer von ihnen plötzlich aus dem Dunkelwieder auftaucht?Was <strong>hat</strong>te Rall bewogen, der Justiz sein Herz auszuschütten? Nachdemder Auftrag erledigt war, gingen sie zu ihrem SA-Gruppenführer KarlErnst. „Als sie sich in strammer Haltung bei Karl Ernst zurückmeldeten,bekamen sie diesmal keine Flüche, sondern Worte wärmster Anerkennungzu hören. Nochmals wurden sie zur Verschwiegenheit ermahntund – das war für unseren Strolch die Hauptsache – eine beachtliche175Hirche, S. 43176Gisevius I, S. 44177Ebd., S. 4071


<strong>1933</strong>Belohnung wurde ihnen in Aussicht gestellt. Aber gerade damit fingRalls Elend an! Dieser Narr glaubte tatsächlich, man würde ihnen dieBelohnung auszahlen. Als man ihn statt dessen einige Monate später ausder SA ausschloss (wie er behauptet, weil seine Chefs zu »<strong>vor</strong>nehm« gewordenwären, in Wirklichkeit wohl, weil seine Vorstrafen selbst füreinen Angehörigen der Stabswache zu hoch erschienen), da meinte er, ermüsse auf anderem Wege zu seinem sauer verdienten Lohn kommen.Rall spekulierte auf die Schwerfälligkeit der Justiz, die sich nicht vonheute auf morgen gleichschalten ließ. Und in der Tat gab es noch Richter,die ihn allzu bereitwillig angehört hätten . . . Nur gab es auch schonReinekings, die ihn zum Teufel wünschten, ja, die gerne zur Verfügungstanden, um seiner Höllenfahrt ein wenig nachzuhelfen.“ 178 Dieser angebräunteProtokollführer Reineking „lauschte mit gemischten Gefühlen.Mächtig schlug ihm sein frisch angebräuntes Gewissen. Eine ganz primitiveReaktion trieb den SA-Mann zu immer kühneren Überlegungen.Stand nicht täglich in der gleichgeschalteten Presse zu lesen, draußen imAuslande hetzten Juden oder Emigranten, und das niederträchtigste ihrerGreuelmärchen sei die Behauptung, nicht die Kommun<strong>ist</strong>en, sonderndie Nazis hätten den Reichstag angezündet? Und jetzt sollte erschweigend mit ansehen, wie ein angeblicher Mittäter genau dasselbebehauptete und das ganze Geheimnis enthüllte? Just ihm, dem bisherunbekannten SA-Mann wurde hier ein Protokoll in die Schreibmaschinediktiert, auf das vielleicht schon in den nächsten Tagen die Augen derganzen Welt gerichtet waren. Reineking konnte es gar nicht abwarten,bis die Vernehmung beendet war. Kaum dass sich der Richter entfernt<strong>hat</strong>te, machte er sich gleichfalls auf den Weg.“ 179 Plastisch malt Giseviusaus, wie dieser Reineking zu Herrn Staatsrat, Reichstagsabgeordnetenund Gruppenführer Karl Ernst in dessen palastartiges SA-Hauptquartiergeht. Ihn amüsiert, wie groß sich der kleine Mann <strong>vor</strong>kommt, weil er diePlanung hören darf, „auf welche unauffällige Weise man des Rall habhaftwerden könne. Schließlich gestatteten sie ihm, mit dabei zu sein, alssie den geschwätzigen Kronzeugen zu sich ins Gewahrsam des BerlinerPolizeipräsidiums holten.Nun erst die nächsten Tage! Da wirbelten die Ereignisse noch toller indes kleinen Justizangestellten Kopf herum. Er wurde nicht etwa zurückgeschickt,um weiter bei seinem Amtsgerichtsrat gleichgültige Protokol-178Gisevius I, S. 91179Ebd., S. 8072


<strong>1933</strong>le zu schreiben. O nein, jetzt durfte er selber Vernehmungen diktieren,er selber durfte den Untersuchungsrichter spielen, wenigstens durfte ersich in das Verhör einmischen, wenn der Kriminalrat Geißel seine Fragenstellte. Er bekam einen Gestapoausweis, ein leibhaftiger Kriminalratnannte ihn seinen Mitarbeiter, Geld drückten sie ihm gleichfalls in dieHand, und dann schrieben sie seiner heimischen Behörde einen wohlklingendenBrief, der SA-Mann Reineking sei zu einem Schulungskursnach Berlin befohlen, bis auf Weiteres sei er aus der Justizverwaltung zubeurlauben. Auch versteht sich, dass man einen so verdienten Nationalsozial<strong>ist</strong>enunmöglich in der Uniform eines einfachen SA-Mannes herumlaufenlassen konnte. Nach <strong>wenigen</strong> Tagen zierten ihn die Abzeicheneines Sturmführers. Als dieses nicht genügte, wurde er Standartenführerim Stabe von Karl Ernst. Weiter ging es so im Text. Nach der Abholungdes Rall, dessen Vernehmung. Dann wurde der Leipziger Brief abgefangen.Danach eine Haussuchung bei der Geliebten des Rall. Fahndungdaselbst nach einer Niederschrift, die der gewiegte Verbrecher <strong>vor</strong>sorglichhinterlegt <strong>hat</strong>te.Dramatisches Zwischenspiel, weil die Geliebte schneller war als die Polizeiund das Schriftstück zerriss: das waren jene vielen kleinen Schnitzel,bei deren Zusammenkleben ich Geißel und Reineking beobachtet <strong>hat</strong>te.Sie wollten überprüfen, ob Rall bei seiner Vernehmung etwas hinzugesetztoder verschwiegen habe. Dazwischen fortlaufende Besprechungenbei Diels, ausführliche Berichterstattungen bei Karl Ernst, eingehendeBesprechungen mit den kriminal<strong>ist</strong>ischen Bearbeitern des LeipzigerProzesses. Endlich die bedeutsame Mitteilung, der Reichspropagandamin<strong>ist</strong>erGoebbels sei außerordentlich dankbar. Die Andeutung, Göring,jawohl Göring, werde diese mutige Hilfele<strong>ist</strong>ung nicht vergessen. DieZusage, Stabschef Röhm wolle anlässlich seines nächsten Besuches demStandartenführer persönlich die Hand drücken. Und zu guter Letzt einganz dickes, ein allerwichtigstes Geheimnis, in das die Großen ihn, derdoch mühselig erst dabei war, sich selber wichtig zu nehmen, einweihten:ach, dieser Reineking <strong>hat</strong>te bereits alle Maßstäbe verloren, was indieser <strong>neue</strong>n, unheimlichen Herrlichkeit noch möglich oder unmöglichwar, als sie ihn am Abschluss dieses binnen weniger Tage durchlebtenKriminalromans <strong>vor</strong> die dürre Tatsache stellten, nunmehr bliebe leidernichts anderes übrig, als diesen Rall, diesen Lumpen, diesen Verräter zubeseitigen. Selbstverständlich war Reineking mit dabei. <strong>Es</strong> ergab sichganz einfach aus dem Ablauf der Dinge; denn er <strong>hat</strong>te ja alles einge-73


<strong>1933</strong>rührt. War er nicht der erste gewesen, der sich über diesen gemeingefährlichenRall entrüstet <strong>hat</strong>te? War er es nicht gewesen, der ein sowachsames Empfinden für die Notwendigkeiten der braunen Staatsraisonaufgebracht <strong>hat</strong>te, dass er deshalb seine Amtsverschwiegenheit gebrochenund den SA-Dienststellen von dem Vorfall Meldung erstattet<strong>hat</strong>te? Nun, dann musste er logischerweise auch mitwirken, wenn sie ihrenFememord vollstreckten. Fememord? Vielleicht <strong>ist</strong> das nicht einmalder richtige Ausdruck, jedenfalls was Reineking betrifft. Ich halte es fürdenkbar, dass dieser Justizangestellte unter anderen Umständen selbstin diesem Stadium noch die Kraft aufgebracht hätte, die Betonung aufdie Endsilbe zu legen. Aber war das, was jetzt geschehen sollte, was jetztgeschehen musste, überhaupt Mord zu nennen? Nein, es ging um dieWahrung eines Staatsgeheimnisses! Der Staatsnotstand trat ein, weil einSkandal ohnegleichen vertuscht werden musste! Sämtliche Beweisstückemussten vernichtet, alle leiblichen Spuren zum Verschwinden gebrachtwerde, die irgendwie hätten Zeugnis ablegen können vom wahrenHergang der Dinge und von Lubbes wahren Komplicen. Sonst fiel alleWelt über die Partei der Reichstagsbrandstifter her, sonst waren die innen-wie außenpolitischen Konsequenzen unausdenkbar. Reineking sahein, niemals wieder durfte Rall seinen Mund aufmachen. Mehr als dies.Rall musste so das Zeitliche segnen, dass es niemand merkte. Weder dieAngehörigen noch die Polizei noch das Gericht durften jemals in Erfahrungbringen, wo er abgeblieben war, vielmehr mussten sie jahrelangvergeblich nach ihm forschen, bis sie sich letztlich allesamt mit dem Untersuchungsergebnisder Gestapo begnügten, wonach dieser mit allenSchlichen vertraute Verbrecher des Nachts ausgebrochen und auf Nimmerwiedersehenverschwunden war.“ 180 Allerdings ging diese Rechnungnicht auf.„In der Tat war besagter Rall auf Geheiß der Gestapo nach Berlin beordertund eingehend verhört worden. Diese Vernehmungen <strong>hat</strong>ten sich inGeißels Zimmer abgespielt. Nach ihrer Beendigung wurde der Häftlingeines Nachts aus dem Polizeipräsidium geholt. Angeblich sollte es sichum eine kurze Gegenüberstellung handeln. In Wirklichkeit musste ersich in der Prinz-Albrecht-Straße [Hauptquartier der Gestapo] bis aufsHemd ausziehen. Dann fuhren sie zu viert, den <strong>vor</strong> Kälte und Todesangstzitternden Rall unten ins Auto gepfercht, zur Stadt hinaus.180Gisevius I, S. 81f.74


<strong>1933</strong>Dort, wo die Gelegenheit günstig schien, machten sie halt, und was sichdann ereignete, wusste jener unbekannte SA-Mann, er hieß Reineking,scheußlich plastisch zu berichten. Sie sahen an einem Waldesrande einfreies Feld liegen, und in der Nähe erspähten sie eine Aussichtsbank.Auf diese musste sich Rall setzen, worauf sie ihn gemeinsam erwürgten.Nach Reinekings Schilderung soll es eine endlose Zeit gedauert haben,bis ihr Opfer tot war: zumindest scheinen den Mördern bei diesem üblenGeschäft die Minuten zu Stunden geworden zu sein.Darauf ließen sie die Leiche auf der Bank lehnen und machten sich daran,im nahen Acker ein Grab zu schaufeln. Doch wer beschrieb ihrenSchrecken, als sie plötzlich ein Geräusch hörten, sich umdrehten undvon weitem die Leiche weglaufen sahen. Der Anblick des im hellenMondschein und mit dem flatternden Hemde davonspringenden Totenwar selbst für die abgebrühten Totschläger der SA grauenerregend.Noch größer war indessen die Angst der Mordbuben, alles könne entdecktwerden. Eilig rannten sie hinter der Leiche her, und jetzt würgtensie sie so gründlich, bis ihr wirklich das Atmen verging. Hastig wurde sieverscharrt. Man konnte es Reineking glauben, dass ihm und seinenKumpanen sehr unbehaglich wurde, als die bereits am nächsten Mittagauf diesen peinlichen Zwischenfall angesprochen wurden.<strong>Es</strong> gibt Jugendeindrücke, die man niemals vergisst. Ähnlich geht es mirmit dieser Schilderung der Ermordung des Rall. Wenngleich ich späterhintausenderlei schlimmere Sachen gehört habe, so steht dieses gespenstischeBild immer wieder <strong>vor</strong> meinen Augen. Die sausende Autofahrt,die Mondscheinnacht, der Mann im Hemd, die Würgerei, der Toteauf der Bank, die Leiche, die fort läuft – ich gebrauche diese Ausdrucksweise,weil sich Reineking ihrer bediente –, nicht zu vergessen dieseshastige, unzulängliche Verbuddeln, so dass das Verbrechen nach <strong>wenigen</strong>Stunden offenkundig <strong>ist</strong>: ich finde dieses trostlose Gemälde in seinerPlastik so eindringlich, dass ich es aus Chron<strong>ist</strong>enpflicht festhaltenmuss, wenn ich über die Geschichte des Reichstagsbrandes schreibe.“ 181„Warum gewährten sie diesem Rall, einige deftige Schläge ausgenommen,keinen Freitod unter SA-Ass<strong>ist</strong>enz, den der Polizeiarzt zu beglaubigen<strong>hat</strong>te? Nun, weil beim Totschlagen oder bei der polizeilichen Abwicklungein paar Zeugen zu viel hätten dabei sein können. Womöglichhätte dieser indiskrete Bursche schnell noch einige Mitwisser schaffen181Gisevius I, S. 77f.75


<strong>1933</strong>können, oder sie hätten im Leichenschauhaus nach seinem Namen geforscht.Darum fuhren sie lieber heimlich hinaus, ein paar Täter nur, insDunkel der Nacht. Darum wählten sie jene unbedachte, übereilte Formdes Mordes, durch die sie die Entdeckung unfreiwillig beschleunigten.Sie meinten, besonders schlau zu sein, wenn sie ihr Opfer nicht erschossen,sondern <strong>vor</strong>sichtshalber, allen unnötigen Lärm vermeidend, erwürgten.Sie wähnten, besonders gerissen zu handeln, wenn sie eineLeiche verscharrten, die nichts weiter als ein Hemd an<strong>hat</strong>te, so dassman aus der Bekleidung oder aus den Insignien keinerlei Rückschlüsseauf den Träger ziehen konnte. Aber sie vergaßen, dass es jene <strong>Jahr</strong>eszeitwar, wo die Äcker nur eine kleine Weile brach liegen, bis der Landmannkommt, sie zu bestellen. Sie bedachten nicht, dass man Leichen tiefervergraben muss als bloße zwanzig Zentimeter, deren dünne Erdschichtder Sturmwind verweht oder der Pflug umwühlt. Erst recht ahnten sienichts von der Findigkeit ihrer eigenen Polizei, der sie sich selbstvermessenzugehörig fühlten und von der sie sich trotzdem nicht <strong>vor</strong>zustellenvermochten, diese gelernten Kriminal<strong>ist</strong>en könnten so schnell undgründlich zur Stelle sein – ja, hätten diese »Hilfspoliz<strong>ist</strong>en« nur wenigeStunden an einem kriminal<strong>ist</strong>ischen Anfängerkurs teilgenommen, siehätten sich schon darauf eingerichtet, dass man auch von Toten Fingerabdrückenehmen kann.Was aber wurde aus Reineking, als alles <strong>vor</strong>über war? Der Standartenführerfeierte alsbald Hochzeit. Er heiratete eine reiche Bauerntochter,für seine Verhältnisse machte er eine gute Partie. Auch seiner jungenFrau muss es zunächst so geschienen haben, als neige sich der Himmelauf die Erde. Niemals sah man auf ihrem schlichten Dorf eine prächtigereVermählungsfeier. Die gesamte SA der Umgebung paradierte, die örtlichenWürdenträger waren vollzählig anwesend, und für die Dorfbevölkerunggab es ein noch glänzenderes Schauspiel. Man denke sich, derStaatsrat Karl Ernst, dieser so oft in den Zeitungen abgebildete hohe SA-Führer, fuhr mit seinem Gruppenstabe persönlich <strong>vor</strong>. Eine prunkvollereKolonne von Luxusautomobilen <strong>hat</strong>te man bis dahin <strong>vor</strong> dem kleinenDorfkirchlein nicht gesehen. Hinterher floss der Alkohol in Strömen.Eine Zeit lang soll es dann im Haushalte des Standartenführers hochhergegangen sein. Wie hätte dieser Glückspilz, der sich noch <strong>vor</strong> <strong>wenigen</strong>Monaten auf dem Protokollantenschemel langweilte und mit demdas Schicksal augenscheinlich so hoch hinaus wollte, auch Maß haltenkönnen! Er passte sich dem <strong>neue</strong>n Lebensstil in aller Unbekümmertheit76


<strong>1933</strong>an. <strong>Es</strong> dauerte aber nur ein paar Monate, dann war die stattliche Geldsumme,die Reineking zur Belohnung erhalten <strong>hat</strong>te, verjubelt. Raschsank er in die Vergessenheit zurück. Nach dem 30. Juni 1934, anlässlichder großen Auskämmaktion innerhalb der SA entkleideten sie ihn seinerhohen Charge. Er wurde wieder einfacher SA-Mann und trug fortan seinschäbiges Zivil von ehedem . . . Ende 1934 hörten wir, man habe Reinekingwegen staatsgefährlicher Äußerungen ins KonzentrationslagerDachau eingeliefert. Danach brauchten wir nicht mehr lange zu warten.Einige Monate später stand sein Name in der großen Verlustl<strong>ist</strong>e. LautPolizeibericht – und Polizeiberichte sind immer richtig – <strong>hat</strong>te er sich inder Lagerzelle an seinem Hosenträger erhängt.“ 182<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> die Nachbetrachtung, die Hans-Bernd Gisevius anstellte, der imSommer so froh war, dass er jetzt eine Stelle bei der politischen Polizei<strong>hat</strong>te und von erfahrenen Kriminal<strong>ist</strong>en sein Handwerk von der Piekeauf lernen kann: „Log Rall? Nein, er log nicht. Alles, was er sagte, <strong>ist</strong> insich glaubwürdig. Und selbst wenn uns hier und da ein Zweifel käme:den besten Beweis für den Wahrheitsgehalt seiner Schilderung liefertenseine früheren SA-Führer mit der für ihn so fatalen Schlussfolgerung,dass sie ihn umbrachten. Lassen wir einen Augenblick den KomplexLubbe beiseite und begnügen wir uns mit der Brandlegung als solcher.Nichts spricht dann gegen den geschilderten Hergang der Tat. Im Gegenteil,sämtliche Sachverständigen bezeugten <strong>vor</strong> Gericht aus eigenenÜberlegungen, so und nicht anders müsse die Tat begangen wordensein. Rall enthüllte daher nicht, er lüftete kein Geheimnis, im Grundebestätigte er bloß, was sich alle dachten, höchstens, dass er an Stelle derimaginären Kommun<strong>ist</strong>en die konkreten Nazis bei ihren wahren Namennannte. Insofern müssen wir uns einzig vergewissern, ob er etwa dieFalschen bezichtigte, besonders, ob er nicht diesen oder jenen Richtigenverschwieg. Wir vermissen [den Berliner SA-Chef] Helldorf, der so oftgenannt wurde, oder [den Min<strong>ist</strong>erialdirektor in der Polizeiabteilung]Daluege, der doch eigentlich hätte mit dabei sein müssen. Goebbelswurde verdächtig kurz gestreift, während Göring überhaupt kaum erwähntwurde. Ohne Göring gab es jedoch zwölf <strong>Jahr</strong>e lang in der Weltmeinungkeinen Reichstagsbrand. Indessen gerade diese Sparsamkeit inder Erzählung erhärtet Ralls Bericht.182Gisevius I, S. 83-8577


<strong>1933</strong>Der Doktor sei im Bilde gewesen, wegen der Polizei sei mit Göring gesprochenworden; diese zwei Andeutungen flocht er ein – und mehrwerden ihm weder Karl Ernst noch Heini Gewehr, Goebbels und Göringschon ganz bestimmt nicht, auf die Nase gebunden haben. Auch diesesBubenstück können wir uns gar nicht primitiv genug <strong>vor</strong>stellen. <strong>Es</strong> warenkeine ideal gesinnten Männer, die etwa beratend zusammen saßenund sich den Kopf zerbrachen, wie man für die entscheidende Reichstagswahlletztmals gut Kulissen schieben könne. Nein, da heckte derReichspropagandaleiter einen üblen Wahlschlager aus, da regelte er dasWeitere mit seinem Kollegen Göring und dann wurde die ganze schmierigeGeschichte zuständigkeitshalber den unteren Funktionären übergeben.Die mochten zusehen, wie sie die geeigneten Verbrecher fanden,die dummdre<strong>ist</strong> und skrupellos genug waren, sich zu solch einer Schurkereiherzugeben. Rall tat nur, was ihm befohlen war, mehr nicht. Rallwusste nur so viel, wie er unbedingt wissen musste, mehr nicht. Erkonnte also nur ausplaudern, woran er selber mitgewirkt <strong>hat</strong>te. Allenfallskonnte er noch die zehn Namen seiner Kumpane angeben; er tat esauch, doch habe ich sie nicht sämtlich erfahren. Übrigens, was könntenwir schon viel damit anfangen? Karl Ernst, Heini Gewehr, Rall, meinesWissens war auch Schweinebacke darunter: die restlichen Burschendürfen wir uns mit einiger Phantasie getrost hinzudenken. »Abholen«wird sie sowieso keine Polizei mehr, weil sie inzwischen alle tot sind. Dieme<strong>ist</strong>en überlebten nicht den 30. Juni [1934]. Der Letzte, der über Bordging, war Heini Gewehr. Er fiel im Osten – als Polizeioffizier.Andererseits genügten Ralls spärliche Angaben vollauf, um sozusagendas Gespräch in Gang zu bringen. Denn weder Karl Ernst noch Kielsnoch Reineking noch Geißel, um nur diese vier zu nennen, <strong>hat</strong>ten bloßmit den Augen gezwinkert und stumm des Verräters Liquidierung beschlossen.Im Gegenteil <strong>hat</strong>ten sie, sobald sie einträchtig beim Umtrunkbeieinander saßen, nochmals ihre Memoiren von der Brandnacht rekapituliert.Und darum erhielten Nebe und ich genug Anhaltspunkte, umuns auf dem Wege über Reineking eine einigermaßen genaue Vorstellungvon den tieferen Zusammenhängen der Tat zu machen. Diese oderjene harmlosen Rückfragen bei anderen Beteiligten rundeten das Bildab. <strong>Das</strong> für uns Sensationellste – nur zögernd ließen wir uns überzeugen– war, dass nicht Göring, sondern Goebbels der eigentliche Reichstagsbrandstifterwar. Goebbels <strong>hat</strong>te den ersten Gedanken gehabt. Goebbels<strong>hat</strong>te die Vorbesprechungen mit Karl Ernst geführt. Goebbels <strong>hat</strong>te die78


<strong>1933</strong>Auslese der Kolonne überwacht. Goebbels <strong>hat</strong>te die Räume bezeichnet,wo es am schnellsten brennen würde. Goebbels <strong>hat</strong>te die Durchführungder Tat »vereinfacht«, indem er darauf bestand, etwaige Tatzeugen solltenkurzerhand niedergeknallt werden. Goebbels <strong>hat</strong>te sich verbürgt, imGruppenhauptquartier oder im Reichstagspräsidentenpalais werde niemandHaussuchung halten. Goebbels <strong>hat</strong>te sich stark gemacht, jedesVorgehen gegen die eigenen Leute würde als verleumderischer Anschlaggegen die Bewegung gebrandmarkt werden. Goebbels <strong>hat</strong>te folgerichtigdie Idee vertreten, bei dieser »Rechtslage« brauche man nicht bloß dieKommun<strong>ist</strong>en zu beschuldigen, ebenso großmütig könne man die Aufklärungdes Verbrechens der Polizei übergeben.Goebbels <strong>hat</strong>te klar erkannt, was in diesem Zusammenhang die Mundtotmachungder gesamten Linkspresse bedeutete. Goebbels <strong>hat</strong>te deshalbschroff auf diese scharfen Notverordnungen gedrungen. Goebbels<strong>hat</strong>te hierüber eingehend mit Göring verhandelt. Goebbels <strong>hat</strong>te dabeigeheimnisvoll angedeutet, der Führer sehe ein, es müsse irgend etwasDurchschlagendes geschehen, vielleicht ein Attentatsversuch, vielleichtein Brand, doch Hitler wünsche überrascht zu werden.Und Goebbels <strong>hat</strong>te es alsdann übernommen, seinen Führer für diesePosse »fertig zu machen«, ihn für seinen Tobsuchtsanfall in der Brandnachtgut zu präparieren. Erinnern wir uns, dass man gerade bei Goebbelszum Abendessen saß, als die Nachricht von dem Brande denReichskanzler überraschte? Göring <strong>hat</strong>te zu alledem lediglich sein Plazetgegeben. Der Vorschlag des Reichspropagandaleiters <strong>hat</strong>te ihm eingeleuchtet.Am me<strong>ist</strong>en <strong>hat</strong>te ihm gefallen, dass von ihm so gut wie keineMitwirkung erwartet wurde. <strong>Das</strong> Palais samt dem Durchgang wollte ergerne zur Verfügung stellen, aber wenn im Übrigen Goebbels und KarlErnst das Ding allein drehen wollten, um so angenehmer für ihn. Aufdiese Weise konnte er Hitlers oder Hindenburgs Reaktion abwarten.Und dass er ohne Wimpernzucken jeden, auch den verlogensten, Anlassbenutzen würde, um auf die Marx<strong>ist</strong>en loszuprügeln, nun darauf konntesich Goebbels ohnehin verlassen. Gewiss, Göring ging auf das ihm angetrageneSpiel ein; er besprach sich <strong>vor</strong>sorglich mit Diels, ein paar Andeutungenmachte er Daluege. Im großen Ganzen aber ließ er die Dingeauf sich zukommen. Helldorf war überhaupt nicht beteiligt. DieserGruppenführer saß gerade in einem Luxuslokal bei Sekt und Kaviar, alsdie Sirenen heulten und es plötzlich hieß, der Reichstag brenne. Zusammenmit seinem SA-Kameraden von Arnim, dem Rektor der Techni-79


<strong>1933</strong>schen Hochschule, ging er neugierig auf die Straße und überzeugte sich,dass der Himmel blutrot gefärbt war. Daraufhin zogen die beiden immerhinin Erwägung, ob sie nicht besser zum Schauplatz der Sensationfahren sollten. Aber als der ausgesandte Adjutant meldete, die Feuerwehrsei bereits da, der Führer, Goebbels, Göring und Papen ebenfalls,es sei nichts weiter zu veranlassen, da zog Helldorf es <strong>vor</strong>, schleunigstwieder zu seinem Liebesmahl zurückzukehren. Helldorf <strong>hat</strong> mir zu verschiedenenMalen, als ich ihn später unauffällig abhörte, immer dieselbeSchilderung gegeben. Die Meinung, er müsse führend mit dabei gewesensein, <strong>ist</strong> hauptsächlich entstanden, als Lubbe während der Verhandlungdurch einen scharfen Anruf Helldorfs zu einer momentanen Reaktionveranlasst wurde. Hart angelassen, nahm Lubbe »den Kopf hoch«.Indessen glaube ich, hier wird ein forensischer Vorgang überbewertet.Helldorf unterschied sich von den andern <strong>vor</strong> dem Leipziger Senat verhörtenSA-Führern in dem einen, dass er sich mit einer gewissen gesellschaftlichenUnbefangenheit zu bewegen wusste. Jene Nonchalance, mitder er auf die Frage, ob er Lubbe bereits früher gesehen habe, zu diesemhinüberkommandierte: »Nehmen Sie den Kopf hoch!« hätten Leute wieHeines gar nicht aufgebracht. Diesen Naturburschen, die so unverfrorenin der Gegend herummordeten, war jegliches Auftreten <strong>vor</strong> Gericht undWeltpresse peinlich. Sie zeigten sich arg beklommen und schnattertenihre Meineide in strammer Halter herunter. Lubbe grob anzufahren,hätten sie <strong>vor</strong> Gericht nicht gewagt. Göring dagegen, der zweifellos nochlauter brüllen konnte als Helldorf, konzentrierte seine Stimmgewalt lieberauf Dimitroff.Bleibt die brennende Frage, wie geriet Lubbe in das teuflische Spiel?<strong>Das</strong>s dieser halbblinde Tollpatsch nicht zur Brandlegung benötigt wurde,das wissen wir längst. Hierüber brauchte uns Rall keineswegs aufzuklären.Andererseits kann dieser Lubbe nicht die ganze Zeit verlegen inder Ecke herumgestanden haben, bis die Flammen hochzüngelten. Hierklafft in der Tat eine Lücke, eine Lücke wenigstens in dem, was Rall miterlebte.Aber ganz so mager war dessen Aussage doch nicht, auch wenner über die Entdeckung Lubbes sowie über die Form seiner Mitwirkungnichts Authentischeres als Karl Ernsts unmissverständliches »Schnauzehalten!« zu berichten wusste. <strong>Es</strong> ergaben sich immerhin Anhaltspunkte.<strong>Das</strong> erste, was wir einwandfrei klärten, war die wichtige Tatsache, dassder Film auch ohne Lubbe abgelaufen wäre. Datum, Brandstifter, dieTinktur, alles war bis ins Letzte <strong>vor</strong>bereitet; da erst meldete sich dieser80


<strong>1933</strong>Zaungast des Weltgeschehens. Natürlich war er zunächst hochwillkommen.Aber ob nicht Goebbels hinterher sein Erscheinen verwünscht <strong>hat</strong>,diese Frage möchte ich offen lassen. Denn an sich war nichts anderes geplantals ein derber, faustdicker Wahlschwindel. Was sollte im Grundeanderes geschehen, als dass man ein missliebiges Gebäude niederbrannte?Ein absurder (und zunächst verblüffender) Einfall und ein hemmungsloser(dafür jeden Zweifel abwürgender) Terror: das war seit jedie braune Logik. Dieser derb-primitive Plan wurde gröblich gestört, indemder Feuerwerker Lubbe seinen Herostratenanspruch anmeldete.Gewiss, Goebbels hätte nicht Goebbels sein müssen, sollte sich nicht seineperversierte Phantasie unverzüglich in dieses unglückselige Geschöpfverkrallt haben. Prachtvoller Reklametrick! Man beschuldigt nicht nurdie deutschen Kommun<strong>ist</strong>en, nein, man lässt überdies einen leibhaftigenausländischen Bolschewiken aus dem Flammenmeer auftauchen.Und sobald man das Galgengesicht plastisch an allen Litfaßsäulen plakatiert<strong>hat</strong>, hängt man den Kerl im Volkszorn auf. Lynchjustiz nennendies die Amerikaner. Was kann dabei schon passieren?Nun, es ereignete sich zweierlei, was der verschlagene Goebbels nicht<strong>vor</strong>hergesehen <strong>hat</strong>te. Erstens gewann der durch Lubbes Verhaftung inetwa aufgeklärte Reichstagsbrand, so paradox es klingt, ein ganz anderesAussehen, als es einer Brandkatastrophe zugekommen wäre, bei derdie Polizei keine Täter gefunden hätte. Jetzt musste der Form genügtwerden, es musste zu Vernehmungen, Untersuchungsberichten undschließlich zum Prozess kommen. Je mehr aber die Öffentlichkeit beteiligtwurde, desto deutlicher wurde der Schwindel. Und jetzt arbeitete –das <strong>ist</strong> das Zweite – nicht nur Goebbels’ Phantasie weiter. Der Funkesprang prompt auf ein anderes Hirn über: auch Hitler bemächtigte sichjenes hergelaufenen Strolches, der eine so unverhoffte Plastik für dasangekündigte Volkstribunal abgab. Gleichgültig, was Hitler <strong>vor</strong>her geahntoder gewusst <strong>hat</strong>, aber in dem Augenblick, da die Flammen loderten,die Menschen zusammenströmten und plötzlich aus dem GetümmelLubbes Jammerbild auftauchte, da war er nicht mehr der Hitler von einerhalben Stunde <strong>vor</strong>her, da war er selber verzaubert, da steigerte ersich, wie in allen dramatischen Augenblicken, in seine Selbsthypnosehinein. Von dieser Sekunde an sah er einzig den großen Schauprozesssamt allem, was er, der Mann der großen Enthüllungen, der verblüfftenWelt bei dieser Gelegenheit zu sagen gedachte. Freilich, wenn auch dieursprüngliche Planung durch den holländischen Störenfried grundle-81


<strong>1933</strong>gend verändert wurde, so bleibt die Synchronisierung der Brandstiftungmit den Kletterkünsten Lubbes eine Me<strong>ist</strong>erle<strong>ist</strong>ung. Wie kam diese zustande?Aus Rall war bekanntlich nur herauszukriegen, dass eine zweiteAktion »nebenher« lief. Mehr konnte er auch nicht hinzufügen.Denn einzig Heini Gewehr wusste aus seiner Kolonne näher Bescheid,sonst keiner. Die einheitliche Lenkung erfolgte durch Karl Ernst. Diesersteuerte die richtige wie die angebliche Brandlegung. Erst als Lubbe amBrandort eingetroffen war, als der Holländer den Reichstag lüstern umschlich,als somit die grandiose Irreführung kaum noch scheitern konnte,da löste er die Forschungsexpedition der wahren Feuerge<strong>ist</strong>er aus.Die besondere Verwegenheit des Tricks bestand darin, dass man Lubbein jeder Hinsicht ahnungslos ließ, welche eilfertigen Helfershelfer umdie gleiche Stunde am Werke waren. Aber wie, wenn Lubbe im letztenAugenblick zögerte? Dies musste bedacht werden. War dann das Spielverloren?Durchaus nicht. Dann musste der Reichstag eben ohne die Ass<strong>ist</strong>enz desFremdlings brennen. Den Lubbe konnten sie gleichwohl »ertappen«,wenn nicht auf frischer Tat, dann eben auf der Flucht: so, wie sie ihnpräpariert <strong>hat</strong>ten, würde er den einen wie den andern Roman willfährighinnehmen. <strong>Es</strong> erschien daher überflüssig, sich erst umständlich in ge<strong>ist</strong>igeUnkosten zu stürzen und den Holländer mit der Enthüllung zu enttäuschen,warum er so pünktlich zur Stelle sein musste oder warum seineläppischen Kohlenzünder, allen seinen Kletterkünsten zum Trotz,keinen welth<strong>ist</strong>orischen Reichstagsbrand her<strong>vor</strong>zaubern konnten. Nochweniger schien es natürlich ratsam, jene Handlanger von der Stabswachedarüber aufzuklären, dass sie nur Kulissenschieber sein sollten.“ 183Wie Marinus van der Lubbe in diese Geschichte hineingeriet, wurde denKriminal<strong>ist</strong>en Nebe und Gisevius nicht mit Sicherheit klar. Dr. Giseviusvermutet, dass sich eine paar Nazis ihm an die Fersen geheftet <strong>hat</strong>tenund sich als kommun<strong>ist</strong>ische Kameraden ausgaben. Feuer gelegt <strong>hat</strong>teer <strong>vor</strong>her schon – „erst das Arbeitsamt, dann das Schloss“ – und dannhätten sie seine letzte Aktion noch um Tage hinausgezögert, damit derReichstag wirklich erst kurz <strong>vor</strong> der Wahl brennt und Ermittlungennicht mehr weit führen konnten. <strong>Das</strong> Gerichtsurteil <strong>ist</strong> am <strong>Jahr</strong>esendezu erwarten.183Gisevius I, S. 92-9782


<strong>1933</strong>Während Dr. Gisevius auf den Landstraßen zwischen der Reichshauptstadtund der alten Messestadt Leipzig hin- und herfährt, geschieht nocheiniges mehr in Deutschland. So macht der Kanzler am 29. Septemberden feierlichen ersten Spatenstich für ein großangelegtes Infrastrukturprojekt,die Reichsautobahn. 184 An ihren Baustellen werden viele LeuteArbeit finden und bald wird es auch eine Autobahn nach Leipzig geben.Im Dezember des <strong>Jahr</strong>es 1932 war Hauptmann Hans Speidel informiertworden, dass nach einer internationalen Entscheidung die Posten vonMilitärattachés an den Botschaften in den Hauptstädten der Welt wie<strong>vor</strong> dem Krieg wieder eingerichtet werden sollten und er als Gehilfe desMilitärattachés an der deutschen Botschaft in Paris <strong>vor</strong>gesehen war. ImOktober <strong>1933</strong> <strong>ist</strong> es soweit. So lernt Hans Speidel* die Sicht deutscherDiplomaten auf die Wahlsieger vom Januar des <strong>Jahr</strong>es <strong>1933</strong> kennen.„Mit den höheren Beamten der Botschaft entwickelte sich ein bleibendesFreundschaftsverhältnis. Den ersten Weltkrieg <strong>hat</strong>ten alle als Offizieremitgemacht: An der Spitze der Botschafter, der das Flugzeugführerabzeichenund das Eiserne Kreuz erster Klasse bei allen Einladungen aufdem Frack trug, weiter der kultivierte Botschaftsrat Dr. Dirk Forster, einprofunder Kenner der politischen Materie, der gewandte, über her<strong>vor</strong>ragendeinternationale Beziehungen verfügende Gesandtschaftsrat Dr.Dumont, die Legationssekretäre Freiherr von Maltzan, Freiherr von derHeyden-Rynsch, von Holleben und Peter Pfeiffer, der 1934 aus Moskaukam. Mit Ausnahme des Freiherrn von der Heyden <strong>hat</strong>ten alle der nationalsozial<strong>ist</strong>ischenRegierung gegenüber starke Reserven. Forster undFreiherr von Maltzan mussten später den Dienst quittieren. Dem treuenFreund Voit von Maltzan* blieben wir verbunden.“ 185 Auf jeden Fall.Die Reichsregierung sorgt sich verstärkt um Leib und Leben der Amtswalterder NSDAP sowie der Angehörigen der SA und der ihr weiterhinunterstellten SS. Am 13. Oktober erlässt sie deshalb ein Gesetz zur Gewährle<strong>ist</strong>ungdes Rechtsfriedens. Wer den besonderen Deutschen nachdem Leben trachtet, soll hingerichtet werden. 186 Erlaubt bleibt natürlich,dass die besseren Deutschen wie gehabt den anderen Leuten nach demLeben trachten dürfen.184<strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 177185Speidel, S. 56186Ecke, S. 25f.83


<strong>1933</strong>Am 14. Oktober <strong>1933</strong> werden der Reichstag und die Landtage aufgelöst.Auch außerhalb des Reiches sind die Ansichten über die Entwicklung inDeutschland gespalten. Nach der Publikation des Brown Books, in demder Londoner jüdische Verleger Victor Golancz bekannt gewordene Fällekörperlicher Misshandlungen im Reich benennt, sagt der Ex-Botschafterder USA in Berlin James W. Gerard im Rahmen einer Buchbesprechungin der New York Times am 15. Oktober: „Hitler tut viel für Deutschland,seine Einigung der Deutschen, seine Schaffung eines spartanischenStaats, der durch Patriotismus belebt <strong>ist</strong>, seine Einschränkung der parlamentarischenRegierungsweise, die für den deutschen Charakter soungeeignet <strong>ist</strong>, sein Schutz der Rechte des Privateigentums – all dieses<strong>ist</strong> gut.“ 187 Berichten Deutsche, die den Horror eines Lagers erlebt habenund nach der Entlassung aus der Heimat geflohen sind, aber ihren ausländischenFreunden davon, treffen sie „oft genug auf ein leichtes Kopfschütteln.Und die Ungläubigkeit verstärkte sich, wenn es sich um dieZahl der Betroffenen oder um die angewandten Methoden handelte.“ 188Der 42 <strong>Jahr</strong>e alte Hans Rothfels <strong>ist</strong> mit dieser Haltung nicht glücklich.Er erlebt, wie die Verfolgungswelle über unser Land rollt und er merktdazu an: „Aber solange die Insassen von Konzentrationslagern lediglichDeutsche waren, wurde den dort begangenen Greueln im Ausland wenigBeachtung geschenkt.“ 189 Diese Fehleinschätzung wird sich böse rächen,denn im Reich werden die Köpfe aus Politik und Gewerkschaften in dieZuchtanstalten geschickt. Wer soll denn jetzt noch die Massen gegen diebraune Revolution organisieren?Kurt steht an einer Bushaltestelle und wartet. <strong>Es</strong> dauert gar nicht lange,und Peter kommt dazu. Nach ein paar allgemeinen Worten grinst Petergrimmig und fragt, ob Kurt diesen Spruch schon kennt: In der Schulefragt der Herr Lehrer, welche Bilder großer Führer der Bewegung sie zuHause hängen haben. Natürlich werden Hitler, Göring und Goebbels amme<strong>ist</strong>en genannt, bis der Arbeiterjunge Michael sagt: „Wir haben nochkeinen; aber meine Mutter <strong>hat</strong> gesagt, warte nur, bis Vater aus dem KZzurückkommt, dann hängen wir alle drei auf!“ 190187Rothfels, S. 22188Ebd., S. 22189Ebd., S. 21190Hirche, S. 11384


<strong>1933</strong>Der Herbst <strong>ist</strong> voller Überraschungen. Am 19. Oktober wird der Austrittdes Reiches aus dem Völkerbund erklärt. Die USA wollten damit gleichnichts zu tun haben, die Sowjetunion durfte nicht rein, Japan <strong>ist</strong> schondraußen, da es lieber Krieg gegen das große China führen will, so kannHitler damit rechnen, dass mit seinem Schritt der Völkerbund nunmehrendgültig scheitert. Joseph Goebbels begründet den Schritt in einem Interviewdann so: „Wir fordern gleiche Berechtigung, und wir weigernuns von <strong>vor</strong>nherein, uns mit dem Makel der Ehrlosigkeit behaften zulassen. Da uns weder im Völkerbund noch auf der Abrüstungskonferenzdiese gleiche Berechtigung zugestanden worden <strong>ist</strong>, mussten wir sowohlden Völkerbund als auch die Abrüstungskonferenz aus Gründen derEhre verlassen.“ 191 Freilich: erstens kommt es anders, zweitens als mandenkt. Die übriggebliebenen Staaten kommen binnen eines <strong>Jahr</strong>es überein,ihren Bund zu retten, indem sie die Sowjetunion – kommun<strong>ist</strong>ischoder nicht – in den Club aufnehmen. 192 Hitler <strong>hat</strong> damit zwar verloren,aber er <strong>hat</strong> in den Köpfen vieler Leute gewonnen, da sich so seine Redevon der jüdisch-bolschew<strong>ist</strong>ischen Weltverschwörung bestätigt. Hier inDeutschland gibt es ja bekanntlich nur 520.000 Juden. Alle anderen elfMillionen in Europa sind im feindlichen Ausland zu Hause.Am 12. November wird der Reichstag neu gewählt. Da sollen die Bürgernur noch die aufgestellten Kandidaten der NSDAP bestätigen. Zugleichwird eine Volksabstimmung über Hitlers Außenpolitik durchgeführt. Inerster Linie geht es hierbei um die Bestätigung des Austritts aus demVölkerbund. Die Wahlbeteiligung liegt unter gewissem Druck bei 96,3Prozent. Dabei stimmen nur 4,8 Prozent gegen diese <strong>neue</strong> Außenpolitik.In Warschau gewinnt man den Nicht-Preußen weiterhin positive Seitenab; man betrachtet sie als „unbelastet vom traditionellen antipolnischenKomplex“ 193 . Am 15. November lässt Marschall Piłsudski den Botschafterin Berlin Józef Lipski bei der Reichsregierung anfragen, ob sie eine Möglichkeitsieht, Polen nach dem Austritt des Reiches aus dem Völkerbundeine Rückversicherung für die eigene Sicherheit zu geben. 194 Hitler bietetJózef Pilsudski „einen Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag an. Am24. November legt der deutsche Botschafter von Moltke den Vertrags-191<strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 271192Ebd., S. 270193<strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 265194Schultze-Rhonhof; S. 40685


<strong>1933</strong>entwurf dazu im polnischen Außenmin<strong>ist</strong>erium <strong>vor</strong>. Dann herrscht fürsechs <strong>Wochen</strong> Funkstille zwischen Warschau und Berlin. Piłsudski versuchtin dieser Zeit ein drittes Mal, Paris zu animieren, einer zukünftigenWiederaufrüstung Deutschlands durch einen Präventivkrieg zu<strong>vor</strong>zukommen.Als Frankreich ihm erneut die kalte Schulter zeigt, entschließtsich der polnische Staatschef, seine Außenpolitik zu ändern.“ 195Warschau hegt jetzt die Hoffnung, dieses <strong>neue</strong> Deutschland könne zumVerbündeten gegen die Sowjetunion werden. Die antikommun<strong>ist</strong>ischeund antijüdische Einstellung macht Hitler für Warschau als denkbarenPartner viel attraktiver als die Vorgänger, die sich mit der Sowjetunionverbündet <strong>hat</strong>ten, um die Isolation Deutschlands durch die Verträge vonVersailles und Saint-Germain zu durchbrechen.Auch der französische Kriegsmin<strong>ist</strong>er Daladier sucht den Ausgleich mitHitler. Zweimal schickt er den Grafen Fernand de Brinon nach Berlin.Der Journal<strong>ist</strong> mit exzellenten Beziehungen zu Finanzkreisen soll sehen,wie Frankreich weiter mit Deutschland zusammenarbeiten kann. Hitlergewährt ihm ein Interview, das am 23. November im Pariser Matin undim Berliner Völkischen Beobachter zu lesen <strong>ist</strong>. Hitler sagt darin, dass esjetzt darum geht, die Zugehörigkeit des Saarlandes zu Deutschland oderzu Frankreich zu klären, damit es keine Streitfragen in den Beziehungenmehr gibt, die Kriege rechtfertigen. Wörtlich sagt Hitler: „Man beleidigtmich, wenn man weiterhin erklärt, dass ich den Krieg will.“ 196 De Brinonfragt nach, ob später wirklich keine <strong>neue</strong>n Schwierigkeiten zwischen denbeiden Ländern auftreten werden, und Hitler antwortet ihm: „Wenn ichmein Wort gebe, so bin ich gewohnt, es zu halten.“ Der Journal<strong>ist</strong> möchteaußerdem wissen, ob Deutschland in den Völkerbund zurückkehrenwird, worauf Hitler sagt: „Wir werden nicht nach Genf zurückkehren.Ich bin aber stets bereit, Verhandlungen mit einer Regierung aufzunehmen,die mit mir sprechen will.“ 197 Hitler strebt hier solche zweiseitigenVerträge wie in den Verhandlungen mit Warschau an.Doch nirgendwo <strong>ist</strong> man so unmittelbar mit den <strong>neue</strong>n Herren in Berlinkonfrontiert wie in Deutschland selbst und jeder sucht seinen Weg, ummit den ungewohnten Umständen klarzukommen. Dabei sind sich viele195Schultze-Rhonhof, S. 406196<strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 273197Ebd., S. 27386


<strong>1933</strong>Leute nicht sicher, wie viel Reichskanzler Hitler von den Zuständen imLand weiß. Vielleicht glaubt der Kanzler ja, Kundgebungen wie eine am13. November im Berliner Sportpalast widerspiegelten die Meinungender me<strong>ist</strong>en Chr<strong>ist</strong>en in der evangelischen Kirche. So setzt sich GustavHeinemann* am 29. November aufgewühlt an seinen Schreibtisch undrichtet einen scharfen Brief an ihn: „Sehr verehrter Herr Reichskanzler!Wieder einmal versucht die »Glaubensbewegung Deutscher Chr<strong>ist</strong>en«,hohe Regierungsstellen durch falsche Berichte über den wahren Zustandder evangelischen Kirche irrezuführen (vgl. heutige Telegramme über<strong>Es</strong>sener Vorgänge).“ 198 Sicher brodelt es überall im Reich, aber in <strong>Es</strong>senkennt er sich aus, da <strong>ist</strong> er seit <strong>Jahr</strong>en zu Hause, da <strong>ist</strong> er Justiziar undProkur<strong>ist</strong> bei den Rheinischen Stahlwerken sowie Kirchen<strong>vor</strong>steher derEvangelischen Gemeinde <strong>Es</strong>sen-Altstadt. In seinem Brief nimmt er auchStellung zu den jüngsten Einlassungen von Studienrat Dr. Krause imBerliner Sportpalast, der dort zum Aufbau einer Volkskirche aufrief,wozu erst einmal die „Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienstund im Bekenntnismäßigen“ 199 gehört. Weiter sagte er: „Die Juden sindnicht Gottes Volk. Wenn wir Nationalsozial<strong>ist</strong>en uns schämen, eine Krawattevom Juden zu kaufen, dann müssten wir uns erst recht schämen,irgendetwas, das zu unserer Seele spricht, das innerste Religiöse vomJuden anzunehmen. Hierher gehört auch, dass unsere Kirche keineMenschen judenblütiger Art mehr in ihre Reihen aufnehmen darf.“ 200In seinem Brief an den Reichskanzler setzt sich Dr. Heinemann damitauseinander: „Die ungeheuerlichen Angriffe des Berliner GauobmannesDr. Krause auf die Grundlagen des Chr<strong>ist</strong>entums und der evangelischenKirche haben eine gewaltige Erregung in den hiesigen Gemeinden her<strong>vor</strong>gerufen.Diese Erregung steigert sich täglich, nicht zuletzt deshalb,weil eine plötzlich eintretende Nachrichtensperre für die hiesige Presseden Gerüchten Tür und Tor öffnet.“ 201 Obwohl Gustav schon 34 <strong>Jahr</strong>e alt<strong>ist</strong>, oder vielleicht gerade weil er erst 34 <strong>ist</strong>, <strong>hat</strong> er den Drang, seinemKanzler die Wahrheit über die Stimmung in seinem Reich zu vermitteln;wie soll es der Kanzler in Berlin sonst auch erfahren, wenn es ihm keinersagt? „17 Pfarrer des Kirchenkreises <strong>Es</strong>sen haben heute ihren Austritt198Werner Koch, Ein Chr<strong>ist</strong> lebt für morgen. Heinemann im Dritten Reich, S. 47199Koch, S. 46200Koch, S. 46201Ebd., S. 4787


<strong>1933</strong>aus der Glaubensbewegung Deutscher Chr<strong>ist</strong>en erklärt, weil sie nach derWeimarer Tagung überzeugt sind, dass diese Bewegung mit dieser Führungnicht mehr auf den rechten Weg zu bringen <strong>ist</strong>. Von den 54 Pfarrerndes hiesigen Kirchenkreises verbleiben damit nur noch etwa 5 beiden »Deutschen Chr<strong>ist</strong>en«. Immer deutlicher wird es weiten Kreisen derGemeinden mit ihren Pfarrern, dass die Kirchenpolitik der Reichsleitungder »Deutschen Chr<strong>ist</strong>en« und der von ihr einseitig beherrschtenpreußischen Kirchenbehörden ein Verderb für Staat und Kirche <strong>ist</strong>.“ 202Gustav erhält keine Antwort auf seinen Brief.Am 1. Dezember erlässt die Reichsregierung ein Gesetz zur Sicherungder Einheit von Partei und Staat, damit Querulanten mit Einfluss nochweniger Möglichkeiten haben, um Unruhe zu stiften. 203 Vor Weihnachtenwird ein Deutsches Memorandum zur Rüstungsfrage <strong>vor</strong>gestellt. <strong>Es</strong>enthält den Vorschlag, die Reichswehr in ein kurz dienendes Heer von300.000 Mann umzuwandeln. Damit wird die in Versailles <strong>vor</strong>geseheneStärke auf das Dreifache erhöht, bleibt damit jedoch immer noch weitunter den Truppenstärken anderer Länder wie Polens oder Frankreichs.Auf der anderen Seite vergrößert ein kurz dienendes Heer die potentielleHeeresstärke für den Fall des Einsatzes.Einen Tag <strong>vor</strong> Heiligabend wird das Urteil im Reichstagsbrandprozessgesprochen: „Torgler erwe<strong>ist</strong> sich als so harmlos, dass ihn das Gerichteinfach laufen lässt. Selbst die braunen Schergen, denen es, weiß derHimmel, auf ein paar Tote mehr oder weniger nicht ankommt, verzichtendarauf, ihn einen Kopf kleiner zu machen. Eine kurze Weile sperrensie ihn in irgendein Konzentrationslager. Dann lassen sie ihn heraus,und hurtig taucht er in der Weltstadt Berlin unter.“ 204 Die drei BulgarenDimitroff, Popoff und Taneff werden freigesprochen. 205 Und was wirdmit Marinus van der Lubbe? „Die Richter erklären den geständigen undüberführten Holländer für einen von mehreren Brandstiftern. Indessenvermögen sie über seine Helfershelfer nichts mitzuteilen. Sie bekennenoffen, dass dieses eigentliche Rätsel der Brandnacht auch für sie unge-202Koch , S. 47203Ecke, S. 27204Gisevius I, S. 46205<strong>Das</strong> Deutsche Reich I, S. 10688


<strong>1933</strong>löst bleibe.“ 206 Der jugendliche Held, der den Reichstag unbedingt alleinangezündet haben wollte, wird wenig später hingerichtet.Urteil hin oder her, im Volk mag man nicht so recht glauben, dass es derHolländer gewesen sein soll. Dort tauchen schnell Sprüche dieser Güteauf: Vater und Sohn sitzen beim <strong>Es</strong>sen. „Papa, wer <strong>hat</strong> den Reichstagangezündet?“ – „Junge, das weiß ich nicht.“ – „Ach, Papa, sag es mirdoch!“ – „Ich weiß es doch nicht!“ – „Doch, du wirst es schon wissen!“ –„Halt den Mund. ESS, ESS!“ Mit diesem Tipp liegt man zwar nicht ganzrichtig, aber andererseits auch nicht völlig falsch. Anderswo heißt es:„Wer <strong>hat</strong> den Reichstag angezündet?“ – „Die Gebrüder SASS.“ Schön <strong>ist</strong>auch der: Ein SA-Mann flüstert seinem Freunde zu: „Der Reichstagbrennt!“ Der Freund schaut sich um, legt den Finger auf den Mund undsagt: „Pst! Erst morgen!“ 207Ich weiß schon – Sie lesen das doch nur wegen der Witze. Na ja, warumauch nicht. So kommen die Leute von der Straße auch mal zu Wort. Na,was erzählt man sich <strong>1933</strong> noch so? Ein kleiner Landbürgerme<strong>ist</strong>er wirdaufgefordert, die Kommun<strong>ist</strong>en seines Ortes festzustellen. Da er nichtweiß, wie er sie erkennen soll, ruft er in der Stadt an. Da erklärt ihm einMann, der es ja nun eigentlich wissen sollte: „Kommun<strong>ist</strong>en? <strong>Das</strong> sindLeute, die nichts tun und viel verdienen wollen.“ Der Landbürgerme<strong>ist</strong>er<strong>hat</strong> verstanden und meint: „Ach, da haben wir nur zwei: den Pfarrer undden Lehrer.“ 208In Königsberg erzählen sie sich den Witz: Hitler, Göring und Goebbelsberatschlagen, was sie tun sollten, falls sie angesichts der großen Unzufriedenheitgezwungen würden, abzudanken. Sagt Hitler: „Für mich <strong>ist</strong>das einfach. Ich werde als lästiger Ausländer ausgewiesen.“ Auch Göringgibt sich sehr zuversichtlich: „Ich ziehe mir Zivil an, da erkennt michniemand.“ Und Goebbels meint: „Bei mir <strong>ist</strong> es noch leichter. Ich fordereals Jude Entschädigung für erlittene Unbill!“ 209206Gisevius I, S. 47207Hirche, S. 124208Ebd., S. 69209Ebd., S. 9189


<strong>1933</strong>Der Jude an sich <strong>ist</strong> ohnehin Thema. Kommt einer zu einem Bauern undwill ein Schwein kaufen, es müsse aber ein arisches sein. Fragt der Bauerden Fremden: „Arisch? Woran erkennt man das?“ Bereitwillig erläutertihm der Fremde: „Nun, es muss Borsten haben wie Hitler, ein Maul wieGoebbels und einen Bauch wie Göring.“ 210 Mit dem Propagandafeldzug,der mit solchen Redeweisen auf die Schippe genommen wird, wollen dieBraunen die Juden im Reich zum Verlassen desselben drängen. Etwasanderes steht hier nicht zur Debatte – insofern man im Reich überhauptnoch etwas diskutieren kann.Der Abschluss des Prozesses in Leipzig bleibt nicht ohne Folgen für denbisherigen Prozessbeobachter aus Berlin. Behördenchef Diels hätte ihngern an ein Landratsamt in die ostpreußische Provinz versetzt, doch erkann Staatssekretär Grauert, der wider Erwarten nicht im Weihnachtsurlaub<strong>ist</strong>, erreichen. Der findet schließlich eine andere Verwendung fürden jungen Mann in der Reichshauptstadt. Hier <strong>ist</strong> die Stelle einer Hilfskraftim Innenmin<strong>ist</strong>erium zu besetzen, die Gisevius eine Menge Einblickverschafft in die Vorgänge im Land. Er <strong>hat</strong> nun „all die Irrläufer,die seit der Ende Oktober erfolgten Abtrennung der Geheimen Staatspolizeiaus dem Bereich des Innenmin<strong>ist</strong>eriums fälschlicherweise immernoch dorthin gerichtet wurden, zuständigkeitshalber an Görings Staatsmin<strong>ist</strong>eriumweiterzuleiten. Dies war eine Beschäftigung, für die er michgeeignet hielt, blieb ich doch sozusagen in meiner Branche. Damit ichaber nicht auf eigene Faust Politik machte, unterstellte er mich einembesonders wachsamen Min<strong>ist</strong>erialdirektor. Überdies schärfte er mir ein,ich solle mich für diesen Akt des Wohlwollens dadurch erkenntlich zeigen,dass ich mich in Zukunft peinlichst zurückhielte und <strong>vor</strong> allem aufmeine lästerlichen Redensarten verzichtete. Natürlich stimmte ich zu.Grauert konnte mir zwar die Bearbeitung der einlaufenden Schriftstückeverbieten, aber dass ich alle diese Anzeigen, Beschwerden oder Petitioneneifrig las, be<strong>vor</strong> ich sie an die Geheime Staatspolizei weiterleitete,das konnte er beim besten Willen nicht verhindern. <strong>Das</strong> konnte mandrüben im Palais Göring nicht einmal kontrollieren, zumal dann nicht,wenn ich die Originale unberührt ließ und allenfalls ein paar Abschriftenzurückbehielt. Was jedoch damals alles an Notschreien an die – falsche– Adresse des machtlosen Innenmin<strong>ist</strong>eriums kam, kann sich nur derjenigeausmalen, der noch in Erinnerung <strong>hat</strong>, wie viele entrüstete Staats-210Hirche, S. 11690


<strong>1933</strong>bürger sich im ersten Revolutionsjahre dem Wahne hingaben, es gäbe soetwas wie eine rechtsbeflissene Polizei, und »wenn der Führer das wüsste«oder »wenn das Göring erführe«, dann griffen diese bestimmtein.“ 211 Sicher <strong>hat</strong> nicht jeder in Deutschland solch einen spannendenArbeitsplatz gehabt wie Dr. Gisevius, aber mit der gleichen Sicherheitdarf man davon ausgehen, dass auch nicht jeder diesen Tanz auf demVulkan über längere Zeit unbeschadet durchgestanden hätte.Den <strong>Jahr</strong>eswechsel verbringt jeder auf seine Weise. Pauls Mutter stehtam Herd und bereitet die traditionelle Linsensuppe zu. Die Linsen symbolisierenTaler und die Hoffnung auf genug Geld im Neuen <strong>Jahr</strong>. ZumAbendessen sammelt sich die Familie in der Küche des Häuschens obenim Thüringer Wald. Der Vater <strong>hat</strong>te im Herbst endlich Arbeit gefundendurch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Dr. Leys Arbeitsfront. <strong>Das</strong><strong>ist</strong> noch nicht großartig aber es <strong>ist</strong> immerhin besser als in der Zeit da<strong>vor</strong>.Wovon sollte der Vater die Familie denn ernähren wenn nicht von seinerHände Arbeit? Geschenkt wird keinem etwas. Die Bege<strong>ist</strong>erung hält sichsonst im Land in Grenzen, denn der versprochene Aufschwung lässt aufsich warten. Vorige Woche erst <strong>hat</strong>te Paul diesen Spruch aufgeschnappt:„Komm, lieber Hitler, und sei unser Gast und beschere uns, was du unsversprochen hast. Bei den verfluchten Sozialdemokraten gab es ab undzu noch Kartoffeln und Braten, doch bei Goebbels und Hermann Göringgibt’s nur noch Pellkartoffeln und Hering.“ 212 Nein, eine gute Stimmungin der Bevölkerung sieht anders aus. Einer der Witze, die im Umlaufsind, geht so: Der Lehrer lässt die Abc-Schützen Gedichtchen aufsagen,die sie schon kennen. Besonders lobt er Fritzchen, der folgenden Vers<strong>vor</strong>trägt: „Unsere Katz <strong>hat</strong> Junge, sieben an der Zahl. Eins davon <strong>ist</strong>Sozi, sechs sind national!“ Als wenig später der Schulrat kommt, ruft erFritzchen auf, das Gedicht zu wiederholen. Fritz rezitiert: „Unsere Katz<strong>hat</strong> Junge, sieben an der Zahl. Sechs davon sind Sozis, eins <strong>ist</strong> national!“Verlegen und ärgerlich sagt der Lehrer: „Aber Fritz, das letzte Mal warendoch sechs national und eines nur Sozi!“ Darauf meint Fritzchen: „Ja,Herr Lehrer, damals waren sie ja auch noch blind. Inzwischen sind ihnendie Augen aufgegangen.“ 213211Gisevius I, S. 182f.212Hirche, S. 90213Ebd., S. 114f.91

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