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1933 Das neue Jahr hat vor wenigen Wochen angefangen. Es ist ...

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<strong>1933</strong><strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>hat</strong> <strong>vor</strong> <strong>wenigen</strong> <strong>Wochen</strong> <strong>angefangen</strong>. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> Montag undschon wieder gibt es eine <strong>neue</strong> Regierung. Seit der Kaiser <strong>vor</strong> fünfzehn<strong>Jahr</strong>en abgedankt <strong>hat</strong>te, gab es schon so viele Regierungen. Unten aufder Straße bekämpfen sich schon seit <strong>Jahr</strong>en Gruppen von Männern ausverschiedenen Parteien und hin und wieder gibt es Tote. Streckenweise<strong>ist</strong> es nahe am Bürgerkrieg. Diesmal wird Adolf Hitler Kanzler. Kann ermehr im Lande ausrichten als seine Vorgänger?Die Debatten über Krieg und Frieden sowie die Zugehörigkeit einzelnerLandstriche zu dem einen oder anderen Staat bewegen die Gemüter. Mitder Zeit setzten sich in Deutschland und in Frankreich Politiker durch,die eine Aussöhnung der Erbfeinde anstreben. Großbritannien <strong>hat</strong> sichnach dem Weltkrieg verpflichtet, die Ostgrenze Frankreichs zu schützen,so dass es ohnehin aussichtslos <strong>ist</strong>, Gebiete westlich der Reichsgrenzenzurückzubekommen. Wenn sich jedoch die ökonomischen Beziehungenmit Frankreich normalisieren sollen, wird das nur über die Aussöhnungmöglich sein. Für diese Bemühungen bekommen die Außenmin<strong>ist</strong>er vonFrankreich und Deutschland, Ar<strong>ist</strong>ide Briand und Gustav Stresemann,1926 den Friedensnobelpreis. Anders liegt der Fall östlich des Reiches.Kein Land garantiert den Polen die Gebiete, die ihnen mit dem Vertragvon Versailles zugesprochen worden waren – und am allerwenigsten dieSowjetunion, der Polen gerade in einem Krieg sehr große Gebiete imWesten des Landes abgenommen <strong>hat</strong>te. Berlin hält sich zwar durchausan den Briand-Kellogg-Pakt, doch es lässt keinen Zweifel daran, dass esdie alten deutschen Gebiete in Polen bei Gelegenheit zurückhaben will.Jener Briand-Kellogg-Pakt wurde 1928 von Frankreich, dem DeutschenReich, der Tschechoslowakei, Großbritannien, Belgien, Japan, den USA,Polen und Italien unterzeichnet. <strong>Es</strong> ging darum, Kriege als Mittel derPolitik im Umgang zwischen diesen Staaten auszuschließen. Der Vertragbeendet auch die Übergriffe von Franzosen und Polen auf das DeutscheReich, das nach dem Weltkrieg und dem Vertrag von Versailles bereitsGebiete an Frankreich und Polen abgetreten <strong>hat</strong>. Später unterschreibenweitere Staaten diesen Vertrag, in dem es heißt: „Die Hohen VertragschließendenParteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sieden Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilenund auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungenverzichten.“ 11 Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vom 14. November 1945 –1


<strong>1933</strong>Diesmal wird also Hitler Kanzler. Auch er <strong>ist</strong> gegen Versailles, aber dasokkupierte Land will er den anderen lassen. Adolf Hitler <strong>ist</strong> unser ersterKanzler, der den anderen das Land lassen will. Weil es sonst Krieg gibt,und niemand will wieder Krieg. Auch Vater nicht. Vater war Soldat. Undwas machen diese Kommun<strong>ist</strong>en für einen Wirbel mit ihren Sprüchen!Wer Hitler wählt, wählt den Krieg. Vater weiß, wen er im März bestimmtnicht wählt. Wer <strong>ist</strong> denn bis an seine Zähne bewaffnet? SA, SS oder derRotfrontkämpferbund? Oder wie sieht es aus mit dieser Eisernen Frontder Sozialdemokraten? Im Ausland wussten viele ja gar nicht, wie das inDeutschland alles so war, aber bei einem Prozess 1946 in Nürnberg kamdann nochmal zur Sprache, warum der charmante junge Mann hier sobeliebt gewesen <strong>ist</strong>: „Hitler, dem man alles, aber nicht Unkenntnis derMassenpsychologie <strong>vor</strong>werfen kann, <strong>hat</strong> dementsprechend auch immerwieder – <strong>vor</strong> und nach <strong>1933</strong> betont, dass er Frieden, Frieden und nichtsals Frieden wolle. Er <strong>hat</strong> darauf hingewiesen, dass er die Schrecken desKrieges am eigenen Leibe gespürt habe, dass der Krieg immer eine Gegenauslesezu Lasten der wertvollsten Menschen eines jeden Volkes sei.Nur damit <strong>hat</strong> er immer größere Teile des deutschen Volkes für sich undseine Idee gewonnen. Mit Kriegspropaganda, und wäre sie noch so <strong>vor</strong>sichtiggeführt worden, hätte er das niemals erreicht.“ 2Doch ohne die braunen Kämpfer für Ruhe und Ordnung in diesem Landhätte er das ebenfalls nicht erreicht und sie stehen nun hinter Hitler wieein Mann. Bedrohlich, denn sie fordern die Einlösung ihrer Forderungnach sozialer Gerechtigkeit. Die soll so aussehen, dass er allen reichenKnöpfen ihren Reichtum abnimmt und an die braunen Kämpfer verteilt.Gerecht. Der Führer der SA heißt Ernst Röhm. „Während Hitler in derReichskanzlei Halt macht, marschiert Röhm weiter. Der Reichskanzlermuss hinfort Schwierigkeiten erwägen, die sich nicht von heute auf morgenüberwinden lassen. Er muss nach den verschiedensten Seiten hinObacht geben. Röhm dagegen fühlt sich frei von solchen staatspolitischenRücksichten. Er meint, man müsse sofort aufs Ganze gehen. Unddeshalb gestattet er seinen <strong>vor</strong>dringenden Kolonnen weder Rast nochRuh. Im Sturmschritt führt er sie in die Totalität, mit noch hastigeremTempo in die Revolution hinein. Kein Erfolg kommt ihm schnell genug;keine Vermehrung seiner SA scheint ihm ausreichend genug. Fanatisch1. Oktober 1946, Teil II, S. 5252 Der Nürnberger Prozess I, S. 6342


<strong>1933</strong>und siegestrunken stürmt er auf das Volksheer der Zukunft los. Röhm<strong>ist</strong> in diese Idee so verrannt, dass er weder nach rechts noch nach linksschaut. Ihn kümmert es nicht, ob Hitler ihm eine langsamere Marschweiseanrät. Solche »realpolitischen« Redensarten ärgern ihn nur. DieserLandsknechtsführer verfährt lieber nach dem Rezept, seine Gegnereinfach über den Haufen zu rennen.Deshalb hält er auch so große Stücke von dem Terror der SA. Röhm <strong>hat</strong>sich früher nie um die Vorstrafenreg<strong>ist</strong>er seiner SA-Leute gekümmert –übrigens <strong>hat</strong> sein Führer während der Kampfzeit gleichfalls nie danachgefragt. Warum soll er sich daher ausgerechnet jetzt an allen möglichenStraftaten stoßen, die ihm in verschwenderischer Fülle aus dem Reichgemeldet werden? Erst recht lässt ihn kalt, wer alles noch <strong>vor</strong> kurzemKommun<strong>ist</strong> oder sonst was war. Hauptsache <strong>ist</strong>, dass seine Truppe großund schlagkräftig wird. Röhm rechnet einfach und folgerichtig: je eherer sich im ersten Schwung der Machtergreifung einen Weg durch dasundurchdringliche Gestrüpp von Gesetzes<strong>vor</strong>schriften und außenpolitischenBindungen bahnt, desto schneller muss seine Revolutionsarmeezur Wehrmacht der Zukunft werden. Allen Ernstes bildet Röhm sich ein,seine SA werde die Armee schlucken. Anstelle der reaktionären Offizieresieht er bereits die Heines, Karl Ernst, Heydebreck, Hayn als kommandierendeGeneräle. Ganz offen vergibt er die wichtigsten Armeekorps,während diese präsumptiven Generäle unverzüglich die unteren Chargenan ihre nächststehenden Radaubrüder weiter verteilen. <strong>Es</strong> kommt<strong>vor</strong>, dass sich irgendein SA-Standartenführer bei dem 1a eines Korpsfreundschaftlich meldet, um sich im Voraus in seinen künftigen Aufgabenbereicheinarbeiten zu lassen. Ebenso freimütig bespricht Karl Ernstbei der Bierrunde, wie er den Generalstab zusammenzusetzen gedenkt.“ 3Bei den Kommun<strong>ist</strong>en lachen sie sich kaputt über Ernst Röhms SA. InDuisburg sitzt eine Runde von ihnen zusammen und lässt den Wirt eineSchellack-Platte mit Ernst Busch als Sänger auflegen.Der Führer sagt: Jetzt kommt der letzte Winter, oh, jetzt nichtschlappgemacht, Ihr müsst marschier’n! Der Führer fährt <strong>vor</strong>an imZwölfzylinder – Marsch, Marsch, Marsch, Marsch, Ihr dürft die Fühlungnicht verlier’n! <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein langer Weg zum Dritten Reiche. Man soll’snicht glauben, wie sich das zieht. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein hoher Baum die deutscheEiche, von der aus man den Silberstreifen sieht.3 Hans-Bernd Gisevius, Bis zum bittern Ende I, S. 144f.3


<strong>1933</strong>Der Führer sagt: Nur nicht in Lumpen laufen! Er <strong>hat</strong>’s ja schon gesagtder Industrie. Wir wollen <strong>neue</strong> Uniformen kaufen, der HauptmannRöhm liebt uns nicht ohne die. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein langer Weg zum DrittenReiche. Ein bisschen Liebe macht ihn halb so schwer. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein hoherBaum die deutsche Eiche, und kameradschaftlich sei der Verkehr.Der Führer <strong>hat</strong> gesagt, er lebt noch lange, und er wird älter als derHindenburch. Er kommt noch dran, da <strong>ist</strong> ihm gar nicht bange, esint’ressiert ihn gar nich. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein langer Weg zum Dritten Reiche.<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> unglaublich, wie sich das zieht. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> ein hoher Baumdie deutsche Eiche, von der aus man den Silberstreifen sieht. 4Ortswechsel. Schellingstraße in München. Franz Josef* kommt von derSchule nach Hause. Sein Vater spricht heute wieder über Hitler. EineZeit lang fand Vater Strauß ihn noch gut. „Hitler, meinte mein Vater,habe recht eigenartige Ideen. Er sei gegen den Versailler Vertrag, füreine bessere Behandlung der Deutschen – vielleicht sei doch etwas anihm dran. Diese Möglichkeit wurde bei uns zu Hause jedoch nur kurzeZeit erörtert, dann kam die nächste Phase, in der mein Vater endgültigden Stab über Hitler brach. »Was der über die Juden sagt, darf keinKatholik mitmachen. Der <strong>ist</strong> Judenfeind, und der <strong>ist</strong> Kirchenfeind.«Von da an war Hitler für meinen Vater nur noch der Verderber und Zerstörer,der Dämon.“ 5 Am Dienstagmorgen <strong>hat</strong> sein Vater aus dem NeuenMünchener Tagblatt erfahren, dass Hitler Reichskanzler geworden <strong>ist</strong>.Als sein sportlicher Sohn aus der Schule nach Hause kommt, sagt derVater zu ihm: „Bub, jetzt <strong>ist</strong> der Hitler Kanzler. <strong>Das</strong> bedeutet Krieg, unddieser Krieg bedeutet das Ende Deutschlands.“ 6 Franz Josefs Vater hältAdolf Hitler seit dem Putsch hier in München 1923 für eine Ausgeburtdes Teufels, schon weil er so eine milde Strafe dafür bekam. Wenn derName Hitler fällt, schlägt Franz Josefs Vater das Kreuz, um den Dämonzu bannen. Da <strong>ist</strong> Franz siebzehn. Dieses Wort vom Ende Deutschlandsfällt in diesen Tagen zum Beispiel auch in Hannover. Dort spricht es derVater von Rudolf Augstein*. Da <strong>ist</strong> der kleine Rudolf <strong>ist</strong> erst neun. Wenner dann älter <strong>ist</strong>, wird er seinen Vater noch oft hören mit den Worten,das habe er von Anfang an kommen gesehen.4 Von der Schellack-Platte „Der Marsch ins Dritte Reich“5 Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, S. 266 Ebd., S. 114


<strong>1933</strong>Weil am 30. Januar Hitler jetzt bis zur Wahl im März kurz den Kanzlergibt, <strong>hat</strong> sich das Auswärtige Amt sofort gegen Überraschungen gefeit.Der Staatssekretär Bernhard von Bülow gibt einen Runderlass heraus, indem es heißt, Deutschland will auch künftig vermeiden, „seine Haltunggegenüber dem Ausland von jeweiligen Regierungsmaximen abhängigzu machen“ 7 . Denen im Amt <strong>ist</strong> das nicht so recht geheuer, den Kopf derbraun Uniformierten zum Kopf der Reichsregierung zu machen, und dasnoch nicht einmal <strong>vor</strong>übergehend für ein paar <strong>Wochen</strong>. Einer im Amt <strong>ist</strong>Erich Kordt. Er weiß, wie im Hintergrund die Strippen gezogen wurden:„Da Hitler nur legal zur Macht <strong>hat</strong>te kommen können, sah er sich gezwungen,auch bei der Errichtung seiner Diktatur weiterhin die Formender Verfassung zu wahren. Ein Argument, mit dem dem Reichspräsidentendie Verabschiedung Schleichers mundgerecht gemacht worden war,bestand darin, dass dieser gezwungen sein würde, den Reichstag erneutaufzulösen. Ein <strong>neue</strong>r Wahlkampf sollte dem Lande erspart bleiben.Dem Reichspräsidenten war beigebracht worden, die <strong>neue</strong> »nationaleRegierung« Hitlers werde auch die Parteien der Mitte an sich ziehenund dadurch eine Mehrheit im Reichstag erringen können. Hitler lag jedochalles daran, den Reichstag so schnell wie möglich aufzulösen undeinen <strong>neue</strong>n Wahlkampf zu eröffnen, bei dem er im Besitz der Machtmitteldes Staates, <strong>vor</strong> allem der Polizei, war. Wie sich bald zeigte, war erentschlossen, diese rücksichtslos gegen seine Gegner einzusetzen. EineVerbindung mit der Mitte hätte ihn nur stören können.“ 8Am Mittwoch löst Reichspräsident von Hindenburg nun also doch denReichstag auf. Jetzt <strong>hat</strong> auch ein Reichstagsabgeordneter wie TheodorHeuss* sehr viel Freizeit und muss nicht mehr über alles entscheiden.So gehen die Tage ins Land. Am Donnerstag tritt in Genf der Hauptausschussdes Völkerbunds zu einer Abrüstungskonferenz zusammen. Genfliegt an einem schönen See in der Schweiz und der Völkerbund war nachdem Weltkrieg gegründet worden, damit man über alles reden konnte.Perfekt lief das nicht, aber was <strong>ist</strong> schon perfekt. Auf Deutschland habensie sich eingeschossen und die Sowjetunion darf gar nicht erst rein. DerVölkerbund wird auch nicht aktiv, als Truppen oder einfach nur Bandenaus fremden Ländern über Deutschland herfallen, obwohl der Weltkrieg<strong>vor</strong>bei <strong>ist</strong>, und Adolf Hitler, 43, „nutzt die Erinnerungen der Deutschen7 Valentin Falin, Zweite Front, S. 35f.8 Erich Kordt, S. 295


<strong>1933</strong>an die »Einmärsche« der Polen, Belgier und Franzosen in den frühen20er <strong>Jahr</strong>en, um den Menschen im eigenen Lande Frieden, Verteidigungund Aufrüstung als Teile eines Ganzen darzustellen.“ 9 Der Kanzlerkann mit Fug und Recht darauf verweisen, dass sich viele Länder nichtan die festgelegten Begrenzungen für bestimmte Rüstungsgüter halten. 10<strong>Das</strong>s sich das Deutsche Reich ebenfalls nicht an diese Vorschriften hält,sagt Adolf Hitler natürlich ebenso wenig, wie seine Vorgänger im Amt.Einer, der Grund genug <strong>hat</strong>, die heimliche deutsche Aufrüstung seit dem<strong>Jahr</strong> 1919 zu würdigen, weil er daran unheimlich verdient <strong>hat</strong>, <strong>ist</strong> GustavKrupp von Bohlen. In seinen Unterlagen werden die Alliierten nach demKrieg die Vorlage für eine Rede finden, die der Stahlfabrikant im Januar1944 zu halten gedachte, vermutlich wegen der absehbaren Niederlagedann aber nicht mehr hält. Darin wollte der Stahlfabrikant sagen: „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong>ein einmaliges Verdienst der gesamten deutschen Wehrwirtschaft, dasssie in diesen bösen <strong>Jahr</strong>en nicht untätig gewesen <strong>ist</strong>, möchte ihre Wirksamkeitauch aus erklärlichen Gründen dem Lichte der Öffentlichkeitentzogen sein. In jahrelanger stiller Arbeit wurden die wissenschaftlichenund sachlichen Voraussetzungen geschaffen, um zu gegebenerStunde ohne Zeit- und Erfahrungsverlust wieder zur Arbeit für des ReichesWehrmacht bereitzustehen.“ Weiter schreibt Krupp: „Nur durchdiese verschwiegene Tätigkeit deutschen Unternehmertums, aber auchauf Grund der mit dem Friedensmaterial inzwischen gewonnenen Erfahrungenkonnte nach <strong>1933</strong> unmittelbar der Anschluss an die <strong>neue</strong>nAufgaben der Wiederwehrhaftmachung erreicht, konnten dann auch dieganz <strong>neue</strong>n vielfältigen Probleme geme<strong>ist</strong>ert werden.“ 11 Bei dem großenProzess 1946 in Nürnberg werden sich die Ankläger auch auf die Bücherder Marine-Geschichtsschreiber Kurt Aßmann und Walter Gladisch ausspäteren <strong>Jahr</strong>en berufen, die sehr stolz darauf waren, dass der VersaillerVertrag „nur wenige Monate nach seinem Inkrafttreten verletzt wurde,insbesondere durch den Bau einer <strong>neue</strong>n Unterseebootwaffe.“ 12In Genf war eine Abrüstungskonferenz zustande gekommen, weil sie inLondon wie in Paris um die Gefahr durch die Aufrüstung auf allen Seitenwissen. Jetzt soll endlich abgerüstet werden. Nach der Anerkennung9 Gerd Schultze-Rhonhof,Der Krieg, der viele Väter <strong>hat</strong>te, S. 31310 Ebd., S. 31211 Der Nürnberger Prozess II, S. 48112 Ebd., S. 4826


<strong>1933</strong>der Gleichberechtigung des Reiches am 11. Dezember 1932 nimmt aucheine Berliner Delegation unter dem Diplomaten Rudolf Nadolny teil. DieÜbersetzung für die deutschen Teilnehmer liefert Dr. Paul Schmidt. Der33-jährige <strong>ist</strong> jetzt seit zehn <strong>Jahr</strong>en Dolmetscher des Auswärtigen Amtesin seiner Heimatstadt Berlin. Der junge Mann war durch sein sehr gutesGedächtnis aufgefallen und avancierte so schnell zum Chefdolmetscher.Jetzt wird er hier in Genf eingesetzt. „Die deutsche Delegation bestand,mit verschwindenden Ausnahmen bei den jüngeren Offizieren vom »politischenSandkasten«, aus Nichtnationalsozial<strong>ist</strong>en. Besonders die Mitgliederdes Auswärtigen Amtes <strong>hat</strong>ten das Aufkommen dieser extremenPartei in Deutschland mit allerschwersten Bedenken verfolgt. Noch heutesehe ich die bedrückten Gesichter <strong>vor</strong> mir, wenn wir 1931 und 1932voller Spannung <strong>vor</strong> dem Lautsprecher des Hotelradios in Genf saßen,um die Wahlergebnisse aus Deutschland zu hören, und wenn dann jedesMal ein – unserer Ansicht nach – katastrophales Anwachsen der Hitlerparteigemeldet wurde.“ 13Jetzt haben es die Politiker aus dem Sandkasten an die Macht geschafftund benennen ihr Rezept für alle Probleme – es heißt Gleichschaltung.Ein Patentrezept für Wüsten und Seen, Berge und Täler, für Arme undReiche, für Alt und Jung. Eine gleichgeschaltete Gesellschaft lässt sichnatürlich für enge Stirnen leicht begreifen, zumal, wenn solch eine engeStirn allen anderen anderen <strong>vor</strong>geben kann, was sie sehen, hören, lesenund denken dürfen. Doch was Deutschland zur Stabilität führen soll, <strong>ist</strong>eine schlechte Idee. Selbstverständlich <strong>ist</strong> es besser, wenn kontrolliertund korrigiert werden kann, was sich irgendein ein Hirn da ausgedacht<strong>hat</strong>. Winston Churchill bemerkte bei passender Gelegenheit, Demokratiesei die schlechteste Staatsform, wenn man von allen anderen absieht,die gelegentlich noch so ausprobiert werden. Hautnah erlebt Gisevius,wie bei uns der Gleichschritt als Fortbewegungsform Einzug hält: „Manmuss es der SA lassen, dass ihr an dieser Gleichschaltungsspontaneitätder Hauptanteil zufällt. Wo sich der Einzelne über seine Freiwilligkeitnicht ganz schlüssig <strong>ist</strong>, da beseitigt sie unzweideutig jedes Missverständnis.Ihre Mittel sind primitiv, dafür um so schlagkräftiger. Beispielsweiselernt sich auf den Straßen der neuartige Hitlergruß außerordentlichschnell, sobald neben jeder marschierenden SA-Kolonne – undwo wird in jenen Tagen nicht marschiert? - auf dem Bürgersteig ein paar13 Paul Schmidt, Stat<strong>ist</strong> auf diplomatischer Bühne, S. 2557


<strong>1933</strong>handfeste SA-Männer einhergehen und allen Passanten rechts und linkshinter das Ohr hauen, wenn sie nicht bereits drei Schritte im Voraus derSturmfahne den Gruß entbieten. Ähnlich verfahren diese Sturmleute aufsämtlichen anderen Gebieten. Ganz so spontan, wenn auch selbstverständlichfreiwillig, pflegt schließlich kein Vereins<strong>vor</strong>sitzender zu liquidieren.“14Dr. Schmidt, der berufsbedingt häufig im Ausland weilt, stellt dort fest,dass die Gleichschaltung in Deutschland und die dabei angewandtenMethoden „die Welt sehr beunruhigt“ 15 haben. Er denkt an die Worte,die Jules Sauerwein vom Pariser Matin schon drei <strong>Jahr</strong>e zu<strong>vor</strong> unterdem Eindruck der Aufmärsche der Nazis von sich gegeben <strong>hat</strong>te: „Wennbei Ihnen die Nationalsozial<strong>ist</strong>en an die Macht kommen sollten, danngibt es danach bestimmt Krieg.“ 16 Später schreibt er: „Wir konnten aufGrund unseres besseren Überblicks über die Verhältnisse außerhalb derReichsgrenzen nur allzu gut Befürchtungen verstehen, wie sie Sauerweinausgesprochen <strong>hat</strong>te. Einige Pessim<strong>ist</strong>en unter uns standen auf genaudemselben Standpunkt wie dieser Franzose und sollten ja auch leideruns jüngeren Optim<strong>ist</strong>en gegenüber, die wir mehr hofften als glaubten,»es werde alles nicht so schlimm werden«, Recht behalten.“ 17 <strong>Das</strong> wirdvon Franz Josef Strauß in München bestätigt. Er lebt seit jenem Orakelseines Vaters vom 31. Januar ebenfalls „in der Hoffnung, dass kein Kriegkommt, und in der Furcht, dass er kommt“ 18 . Paul Schmidt konstatierteinerseits, dass die Amtseinführung Hitlers einen Schock in Frankreichauslöste, und andererseits: „Ebenso einleuchtend aber war es für alleUn<strong>vor</strong>eingenommenen auf der Genfer Konferenz, dass dem deutschenVolk auf die Dauer eine zweitrangige Stellung nicht zugemutet werdenkonnte und ihm letzten Endes nur mit Gewalt, also mit einem <strong>neue</strong>nKriege, hätte aufgezwungen werden können. Besonders die angelsächsischenLänder waren sich als praktische Real<strong>ist</strong>en über diese Sachlageklar geworden. Die Lage auf der Abrüstungskonferenz wurde infolgedieses inneren Widerspruchs immer hoffnungsloser.“ 1914 Gisevius I, S. 128f.15 Schmidt, S. 25516 Ebd., S. 25517 Ebd., S. 25518 Strauß, S. 1319 Schmidt, S. 255f.8


<strong>1933</strong>Die ersten Gehversuche der diplomatischen Equipe des Kanzlers in Genfbleiben dem Dolmetscher in Erinnerung: „Zwar <strong>hat</strong>te Hitler im Reichstagüber die politische Lage und die Abrüstungskonferenz viel beachteteReden gehalten, die wegen ihrer Mäßigung damals besonders aufseitender Engländer anerkannt wurden, aber grundlegende Weisungen <strong>hat</strong>teer nicht erteilt. Dafür war der später berüchtigte SS-GruppenführerHeydrich als erster Nationalsozial<strong>ist</strong> zusammen mit einem SA- und einemStahlhelm-Führer eines Tages bei der Delegation erschienen. Diedrei sollten als »Sachverständige« für die nationalen Verbände in derKommission für die Landheere auftreten. Dort dolmetschte Jakob, undseinetwegen gab es gleich den ersten Krach mit Heydrich. Er beschwertesich bei Nadolny darüber, dass seine Ausführungen durch einen Judenübersetzt wurden. Auf diese Weise musste ich zu meinem Bedauern wiederzur »Infanterie« zurück, und ausgerechnet Heydrich wurde meinerster nationalsozial<strong>ist</strong>ischer »Kunde«. Er war schon damals eine nichtgerade Sympathie erregende Erscheinung mit seinem kleinen Kopf aufdem großen langen Körper und dem hämischen Lächeln, das seine Lippenbei fast allem, was er sagte, umspielte.“ 20In der Luftkommission fordert Berlins Vertreter, der Min<strong>ist</strong>erialdirektorBrandenburg, die Abschaffung der militärischen Luftfahrt, speziell derBombenflugzeuge. Er <strong>ist</strong> der Chef der Zivilluftfahrtabteilung des Reichsverkehrsmin<strong>ist</strong>eriums.Dagegen wird von englischer Seite eingewendet,man brauche die Bomber zu Polizeizwecken in Übersee. 21 Paul-Boncourerklärt für Paris, man sei „bereit, der Abschaffung der Luftbombardementszuzustimmen.“ 22 Zu einem völligen Verbot aller Luftwaffen jedochkönnen sich die Franzosen aber ebenfalls nicht durchringen. Siefordern dafür die Internationalisierung und strenge Überwachung derZivilluftfahrt, „damit diese nicht zu einer unerhörten Bedrohung werde“.Damit kommen die Franzosen auf eine Sachverständigenfrage aus demVorjahr zurück, die lautete: „Kann man auch aus VerkehrsflugzeugenBomben herauswerfen?“ Die älteren Teilnehmer, die den Weltkriegnoch erlebt haben, mögen, wie Herr Brandenburg, nicht über Aufrüstungsprechen. Die jüngeren jedoch meinen, wenn die Militärluftfahrtnicht vollständig abgeschafft werde, dann müsste sich natürlich auch20 Schmidt, S. 261f.21 Ebd., S. 25922 Ebd., S. 2609


<strong>1933</strong>Deutschland eine Luftwaffe zulegen können; die Gleichberechtigung seiihm ja im Vorjahr wieder zuerkannt worden. „Um Gottes willen, nur keineAufrüstung auf dieser Abrüstungskonferenz“, riefen Engländer, Franzosenund andere. Min<strong>ist</strong>erialdirektor Brandenburg konsultiert sich telefonischmit Berlin. „<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> eine glatte Unverschämtheit“, schreit HermannGöring in den Hörer. „Wenn in der nächsten Sitzung die deutscheGleichberechtigung wieder so beiseite geschoben wird, dann <strong>hat</strong> diedeutsche Delegation in der Luftkommission sofort aufzustehen und denSaal zu verlassen, und zwar so, dass man die Tür auf der ganzen Konferenzzufallen hört.“Über das <strong>Wochen</strong>ende wird mehrfach mit Berlin telefoniert, um darüberzu verhandeln, ob die Tür nun laut oder leise zugemacht werden soll. Biszum 6. Februar bemühen sich die deutschen Diplomaten in Genf darum,die Luftkommission wenigstens ohne Türenknallen verlassen zu dürfen.Schmidt hört einen sagen: „Nur wer als Diplomat verloren <strong>hat</strong>, verlässteine Konferenz.“ 23 Letztlich war es im Vorjahr auf diplomatischem Wegauch gelungen, Gleichberechtigung für Deutschland zu erreichen, leise,wie es Außenmin<strong>ist</strong>er Konstantin von Neurath liebte. Fremde Truppenzogen ab, Reparationen wurden ausgesetzt und Deutschland war wieder„auf dem Wege zur Wiedergewinnung seiner Großmachtstellung“. Dabeiging es selbstverständlich um Gleichberechtigung „in einem System, dasallen Nationen Sicherheit gewährt“ 24 . Allerdings merkt der Freiherr vonNeurath an: „Noch <strong>ist</strong> der Kampf nicht gewonnen, es wird noch mancheSchwierigkeit zu überwinden geben.“ 25 Am Montag steht prompt einervon den Franzosen auf und bestreitet wieder die Gleichberechtigung. ImLaufe der Debatte wird der heikle Streit jedoch noch einmal beigelegt, sodass die Deutschen ohne einen Theaterabgang weiter an den Sitzungenteilnehmen können. 26In Genf geht es auch darum, die maximalen Truppenstärken neu festzulegen.Dabei taucht die Frage auf, inwiefern SA, SS oder Stahlhelm militärischeVereine sind, die eingerechnet werden müssten – und schon <strong>hat</strong>Dr. Schmidt ein Problem: „Bei diesen Verhandlungen stieß ich auch das23 Schmidt, S. 26024 Ebd., S. 25325 Ebd., S. 250f.26 Ebd., S. 26010


<strong>1933</strong>erste Mal auf Übersetzungsschwierigkeiten bei dem Bemühen, die durchdas nationalsozial<strong>ist</strong>ische Regime geprägten <strong>neue</strong>n Begriffe dem Auslanddeutlich zu machen. »Wehrsport« war von der SA als Betätigungangegeben wurde. »Military sport« durfte ich nicht sagen, denn dannwäre ja bereits in der Übersetzung der militärische Charakter der SAzum Ausdruck gekommen, und dieser wurde damals von deutscher Seitebestritten. Nach Rücksprache mit meinen englischen Kollegen einigtenwir und dann schließlich auf »defence sport«. »Was <strong>ist</strong> das für ein Unsinn«,fuhr mir der englische General Temperley dazwischen, als ich denAusdruck gebrauchte. »Ich vertrete das Land, von dem der AusdruckSport herstammt,« sagte er ärgerlich, »aber unter defence sport kannich mir gar nichts <strong>vor</strong>stellen.« Ich konnte mir ebenso wenig etwas unterWehrsport als einer nichtmilitärischen Sportart denken, trotzdem sichmehrere Sachverständige auf der deutschen Seite längere Zeit bemüht<strong>hat</strong>ten, mir klarzumachen, dass »Wehr« mit militärischen Dingen nichtszu tun habe.“ 27 Schade, dass Schmidt nicht auf die Frage kommt, wozues dann die Reichswehr gibt. „Außer dem Krach wegen Jacob provozierteHeydrich dann noch einen Flaggenzwischenfall. Als er in Genf ankam,war die Reichsflagge noch nicht offiziell geändert worden. So wehten dieFarben Schwarz-Rot-Gold immer noch über unserem Hotel und an unserenDelegationsautos. Anscheinend <strong>hat</strong>te Heydrich in seinem Gepäckeine Hakenkreuzfahne mitgebracht, die er eines Tages auf eigene Fauststatt der offiziellen Farben auf unserem Hotel aufzog. <strong>Das</strong> war natürlichein paar Stunden lang die Sensation von Genf. <strong>Das</strong> Publikum, und <strong>vor</strong>allem die Schweizer Arbeiter, <strong>hat</strong>ten ohnehin schon eine von Tag zu Tagfeindseligere Haltung gegenüber der deutschen Delegation eingenommen.Die Zeitungen waren voll von Nachrichten über die UnterdrückungAndersdenkender im Reich, über »Säuberung« und »Gleichschaltung«.Manchmal flogen schon Steine hinter unseren Autos her, und geschimpftwurde kräftig, wenn wir <strong>vor</strong>überfuhren. <strong>Das</strong> Hakenkreuz aufdem Carlton Hotel drohte zu noch unangenehmeren Zwischenfällen zuführen. Energisch griff Nadolny ein. Er brachte die Rekordle<strong>ist</strong>ung fertig,das Hakenkreuzbanner innerhalb weniger Stunden einholen und diealten Reichsfarben wieder an seine Stelle setzen zu lassen, obwohl Hitlerin Berlin längst »die Macht ergriffen« <strong>hat</strong>te. Heydrich sagte er so gründlichdie Meinung, dass diesem eine Zeit lang das maliziöse Lächeln ver-27 Schmidt, S. 26211


<strong>1933</strong>ging, als er mit hochrotem, »gewaschenem« Kopf wieder aus NadolnysZimmer herauskam.“ 28Vier Tage gibt es jetzt einen <strong>neue</strong>n Kanzler und am Freitag stellt er denSpitzengenerälen der Reichswehr sein Programm <strong>vor</strong>. Die dort in Berlin<strong>vor</strong> ihm sitzen, das <strong>ist</strong> ganz alte preußische Schule. Hoch gebildet, ihremVaterland treu ergeben. Soldat muss jeder werden. Offizier schon nichtmehr. Wer General wird, der <strong>ist</strong> gebildet und seinem Vaterland ergeben.Dort drüben sitzt Kurt von Hammerstein, alter Adel aus Hinrichshagenin Mecklenburg, 54. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> die Preislage, die <strong>vor</strong> dem Kanzler, 43, sitzt.Noch eine Woche zu<strong>vor</strong> war der General zu Kanzler Schleicher gegangenum ihn zu fragen, „was an den Gerüchten über einen Regierungswechselwahr sei. Schleicher bestätigte, dass ihm der Reichspräsident so gut wiesicher heute oder morgen sein Vertrauen entziehen und er zurücktretenwerde. Ich ging zu Staatssekretär Meißner,“ dem Leiter des Büros vonHindenburg, „frug ihn, was nach dem Rücktritt Schleichers werden sollte,und sagte klar und deutlich, die Nationalsozial<strong>ist</strong>en würden nie in einKabinett Papen-Hugenberg eintreten. Ein solches Kabinett würde aufder einen Seite die Nationalsozial<strong>ist</strong>en, auf der andern die Linke zuFeinden, und so eine verschwindend kleine Basis haben. Die Armeemüsse dann für diese 7prozentige Basis gegen 93 Prozent des deutschenVolkes auftreten. <strong>Das</strong> wäre im höchsten Maße bedenklich; ob es sichnicht noch vermeiden ließe? Meißner sah die Lage offenbar ähnlich undveranlasste mich, meine Sorgen sofort dem Herrn Reichspräsidenten<strong>vor</strong>zutragen. Ich habe das getan. Hindenburg verbat sich äußerst empfindlichjede politische Beeinflussung, sagte dann aber, anscheinend, ummich zu beruhigen, »er dächte gar nicht daran, den österreichischen Gefreitenzum Wehrmin<strong>ist</strong>er oder Reichskanzler zu machen«.“ 29Am 3. Februar weiß von Hammerstein, dass er gescheitert <strong>ist</strong>. Kurt vonHammerstein-Equord <strong>ist</strong> der Chef der Heeresleitung. Diese Aussicht aufdas Abendessen mit Hitler, das um 20 Uhr im Speisesaal seiner BerlinerDienstwohnung beginnen soll, dürfte seine Stimmung nicht verbesserthaben. <strong>Es</strong> geht um einen Antrittsbesuch, bei dem sich der <strong>neue</strong> Reichskanzlerden führenden Generälen des Deutschen Reichs <strong>vor</strong>stellen will.Jetzt sitzt von Hammerstein dort drüben und hört, was der böhmische28 Ebd., S. 262f.29 Hans Magnus Enzensberger, Hammerstein oder Der Eigensinn, S. 101f.12


<strong>1933</strong>Gefreite, wie der Reichspräsident von Hindenburg ihn zu nennen pflegt,zu sagen <strong>hat</strong>. Er will sich engagieren für eine Revision der Bedingungenvon Versailles. Damit findet auch er Zustimmung. Nimmt man nur die<strong>vor</strong>handenen Möglichkeiten der verschiedenen europäischen Länder imnüchternen Vergleich, so <strong>ist</strong> Deutschland, bedingt durch die Regelungenvon Versailles, nicht in der Lage, sich gegen <strong>neue</strong>rliche Übergriffe durchPolen oder zum Beispiel durch Frankreich erfolgreich zu verteidigen. 30Doch wie will es der <strong>neue</strong> Kanzler anstellen? Hitler spricht „die erstenWorte gesetzt, dann in immer größerer Ekstase, über den Tisch gelegt,gestikulierend. Nach der Meinung der Generale sehr logisch und gut,überzeugend betreffend der innenpolitischen Probleme. Außenpolitischwenig klar. Nach Art seiner Agitationsreden wiederholte er die markantenStellen bis zu 10 Mal.“ 31 Logisch entwickelt er weiter: Die Reichswehrsolle wieder aufgebaut werden. Aber die Reichswehr bauen sie jajetzt schon seit Versailles wieder auf, heimlich. Dabei helfen ihnen dieSowjets. Die deutsche Wirtschaft und der Außenhandel sollen gefördertwerden. Gut. Dann erwähnt er, wie er das machen will: dass „vielleicht<strong>neue</strong> Exportmöglichkeiten erkämpft werden müssten oder vielleicht –und das wäre wohl besser – <strong>neue</strong>r Lebensraum im Osten erobert undrücksichtslos germanisiert werden müsste.“ 32 Der Kanzler möchte dieArbeitslosigkeit bekämpfen „durch groß angelegte Siedlungspolitik, dieeine Ausweitung des Lebensraumes des deutschen Volkes zur Voraussetzung<strong>hat</strong>. Dieser letzte Weg wäre mein Vorschlag. Man würde in einemZeitraum von 50-60 <strong>Jahr</strong>en einen vollkommen <strong>neue</strong>n gesundenStaat haben. Doch die Verwirklichung dieser Pläne kann erst in Angriffgenommen werden, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen seinwerden. Diese Voraussetzung heißt Konsolidierung des Staates. Manmuss zurück zu den Anschauungen, in denen der Staat gegründet wurde.Man darf nicht mehr Weltbürger sein. Demokratie und Pazifismussind unmöglich.“ Er redet weiter. „Um dieses Ziel zu erreichen, erstrebeich die gesamte politische Macht. Ich setze mir die Fr<strong>ist</strong> von 6-8 <strong>Jahr</strong>en,um den Marxismus vollständig zu vernichten. Dann wird das Heer fähigsein, eine aktive Außenpolitik zu führen, und das Ziel der Ausweitungdes Lebensraumes des deutschen Volkes wird auch mit bewaffneterHand erreicht werden. <strong>Das</strong> Ziel würde wahrscheinlich der Osten sei.30 Vgl. Schultze-Rhonhof, S. 246-25331 Enzensberger, S. 11732 Schultze-Rhonhof, S. 43313


<strong>1933</strong>Doch eine Germanisierung der Bevölkerung des annektierten bzw. erobertenLandes <strong>ist</strong> nicht möglich. Man kann nur Boden germanisieren.Man muss wie Polen und Frankreich nach dem Kriege rücksichtslos einigeMillionen Menschen ausweisen.“ 33 <strong>Das</strong> alte Preußen schaut ihn an,hört seine Worte. So alt <strong>ist</strong> Preußen aber gar nicht. Preußen <strong>ist</strong> in seinenbesten <strong>Jahr</strong>en. Mitte vierzig, fünfzig, und die hier anwesenden Männerkennen die Folgen des großen Krieges. Die sind ihnen sehr gegenwärtig.Der Kanzler spricht zweieinhalb Stunden zu den Gästen dieses Dinners.Adolf Hitler sagt später, er habe das Gefühl gehabt, „gegen eine Wand zureden“ 34 . Generalmajor von Brauchitsch kommentiert dann nach demVortrag: „Na, der wird sich noch wundern in seinem Leben.“ 35 OberstFromm, der Chef des Wehrmachtamts, sagt zu Generalleutnant Freiherrvon Fritsch, „dass die maßlosen Vorhaben an der Härte der Tatsachenscheitern und auf ein nüchternes Maß zurückgeführt“ 36 werden würden.Sein Wort in Gottes Ohr. Generalleutnant Ludwig Beck sagt später, erhabe den Inhalt dieser Rede „sofort wieder vergessen“ 37 .Die Männer möchten ihren Ohren nicht trauen. Der Gefreite <strong>hat</strong> gesagt,Exportmöglichkeiten müssten erkämpft werden. Neuer Lebensraum imOsten müsste erobert werden und rücksichtslos? <strong>Das</strong> Ziel würde wahrscheinlichder Osten sein. Oder auch der Westen? In den Gesichtern <strong>ist</strong>Ratlosigkeit. Der <strong>neue</strong> Kanzler <strong>hat</strong> lange geredet. Der große Krieg liegtnur fünfzehn <strong>Jahr</strong>e zurück. Vor kurzem erst wurden die Reparationenausgesetzt – Deutschland konnte sie ja nicht bezahlen. Und fast jedesandere Land rundherum in Europa <strong>ist</strong> besser gerüstet. Was geht in denKöpfen <strong>vor</strong> sich? Was will der Kleine? Weiß er, was er da sagt? Wenn erFehler macht, dann sind schließlich wir noch da! Oder denken auch sie:Lange macht er nicht, dann haben er und seine Leute abgewirtschaftet!Auf jeden Fall denken das viele Leute überall hier im Reich. Am Samstagliest der siebzehnjährige Paul aus dem thüringischen Oberweißbach imVölkischen Beobachter, den sein Vater mitgebracht <strong>hat</strong>te: „Die ArmeeSchulter an Schulter mit dem <strong>neue</strong>n Kanzler. Niemals war die Reichs-33 Enzensberger, S. 120f.34 Enzensberger, S. 11435 Schultze-Rhonhof, S. 32036 Ebd., S. 320f.37 Enzensberger, S. 11414


<strong>1933</strong>wehr identischer mit den Aufgaben des Staates als heute.“ 38 Zumindestdie Führung im roten Moskau weiß wenige Tage später, was der Kanzlerzu den Generälen gesagt <strong>hat</strong> zum Thema Lebensraum im Osten. Wie dieInformationen das edle Haus Hammerstein-Equord verlassen konnten,verblasst im weißen Nebel der Geschichte. <strong>Es</strong> wird später nur bekannt,dass sie über den KPD-Geheimdienst weitergegeben werden. Doch werstellt den Agenten die geheime Mitschrift zur Verfügung? HammersteinsSöhne? Man wird sie unter den Verschwörern des 20. Juli 1944 finden.Seine Töchter, die ja Verbindungen zum Geheimdienst der KPD unterhalten?39 Der Freiherr schon jetzt selbst über seine Töchter? Zwei <strong>Jahr</strong>espäter wird er Verbindungen zur illegalen KPD unterhalten. 40War es doch nicht die richtige Entscheidung, Adolf Hitler zum Kanzlerzu machen? Aber wer soll denn sonst bis März die Amtsgeschäfte leiten?Sollen die Sozialdemokraten einen Kanzler stellen oder besser noch dieKommun<strong>ist</strong>en? Mit wem bekommen sie denn eine Mehrheit zusammen?Mit den Deutschnationalen? Oder mit dem Zentrum? Kaum jemand willbewaffnete Terror<strong>ist</strong>en mit dem Feindbild Staat an der Macht wissen.Max <strong>ist</strong> 37 und Sozialdemokrat in Reichmannsdorf in Thüringen. Wenner mit Emma über die Brüder von der KPD spricht, lächeln beide bitter.Die meinen ja, wenn sie die Fabrikanten aufhängen, dann haben sie denKommunismus. 41 Als im November gewählt wurde, stand man <strong>vor</strong> derkrassen Wahl zwischen Teufel und Belzebub. Die Nazis, die 4,2 Prozentihrer Stimmen eingebüßt <strong>hat</strong>ten, waren immer noch auf 33,1 Prozent gekommen.Gesunken war auch die Wahlbeteiligung insgesamt auf etwa80 Prozent. Also <strong>hat</strong>te Hitlers Partei zwar nur ein Drittel aller Stimmendieser 80 Prozent erhalten, lag damit jedoch <strong>vor</strong> dem zweiten Sieger, derSPD, die auf 20,4 Prozent gesunken war. Einen Zuwachs um zweieinhalbProzent erlebte die KPD, die ungefähr 17 Prozent erreicht <strong>hat</strong>. <strong>Das</strong>Zentrum blieb bei etwa 12 und die DNVP steigerte sich auf über achtProzent. 42 Danach saß ganz Deutschland mit dem Blatt und einem Stiftan Tischen und <strong>hat</strong> um die Wette gerechnet. Wissend darum, dass sich38 Ebd., S. 11439 Enzensberger, S. 116ff., S. 124; vgl. Peter Steinbach und Johannes Tuchel,Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 19, 161,264, 29740 Steinbach, S. 16141 Aus Berichten meines Vaters über seinen Vater.42 Internetquelle 115


<strong>1933</strong>keine dieser Parteien überhaupt mit einer anderen so richtig einlassenmöchte und dass relativ viele die Braunhemden gewählt <strong>hat</strong>ten, mussteirgendeine Kombination auf eine relative Mehrheit kommen. <strong>Das</strong> wurdeschwierig. So ziemlich niemand wünschte sich eine Volksfrontregierung,nicht einmal die Kommun<strong>ist</strong>en; sie halten die Sozialdemokraten schonseit <strong>Jahr</strong>en für Sozialfasch<strong>ist</strong>en, einen linken Ableger des Originals. Undselbst ihre theoretische Zusammenarbeit hätte es nur auf 37,3 Prozentgebracht. Damit <strong>ist</strong> bei aller Liebe kein Staat zu machen.Der Diplomat Erich Kordt* <strong>ist</strong> trotzdem enttäuscht: „Wohl selten <strong>hat</strong> einStaatsmann seine Wähler so verraten wie Reichspräsident von Hindenburgdie 20 Millionen Deutschen, die seine zweite Amtsperiode möglichgemacht <strong>hat</strong>ten. Aber es sollte sich bald zeigen, dass die Hintermännerdieses Tricks betrogene Betrüger waren. Zwar glaubten sowohl Hindenburgals auch die Persönlichkeiten, die Hitler nach dem Rückschlag vomNovember 1932 <strong>vor</strong> einer wohl noch schwereren Niederlage in einer<strong>neue</strong>n Reichstagswahl retteten und ihm die Macht ohne Kampf übergaben,dass sie ihn im Zaume zu halten vermöchten. Gehorchte nicht dieReichswehr den Befehlen des Reichspräsidenten? Hatte nicht Papen dieSchlüsselstellung Preußen inne? Als Vizekanzler sollte er nach Möglichkeitbei jedem Vortrage Hitlers beim Reichspräsidenten zugegen sein.Der deutschnationale Parteiführer Hugenberg vereinigte die wirtschaftlichenMin<strong>ist</strong>erien in Preußen und im Reich in seiner Hand und glaubtals Fachmin<strong>ist</strong>er in dieser starken Stellung alle desperaten Machenschaftenverhindern zu können. Viele Industrielle hofften, mit Hilfe derNSDAP und der <strong>neue</strong>n Regierung den Einfluss der Gewerkschaften brechen,und Kreise des Großgrundbesitzes glaubten, alle Siedlungspläneim Bereich der Latifundien zunichte machen zu können. Hitler begnügtesich damit, neben dem Kanzlerposten nur das Min<strong>ist</strong>erium, dem die Polizeiunterstand, in die Hand zu bekommen. Außer ihm waren zunächstan Nationalsozial<strong>ist</strong>en im Kabinett nur Göring als Reichsmin<strong>ist</strong>er ohnePortefeuille und Reichskommissar für den Luftverkehr, sowie Frick alsInnenmin<strong>ist</strong>er vertreten.“ 43Und nicht nur Erich Kordt <strong>hat</strong> da Vorbehalte. Auch unter den jüngerenOffizieren des Generalstabs sind die Ansichten über die Entscheidungdes Präsidenten, Hitler zum Reichskanzler zu machen, geteilt. Haupt-43 Erich Kordt, Wahn und Wirklichkeit, S. 28f.16


<strong>1933</strong>mann Hans Speidel*, 35, der im Moment eine Generalstabsausbildungabsolviert, sieht, dass die Oberbefehlshaber von Heer und Kriegsmarinebei ihren Überlegungen zu keinem besseren Entschluss und zu keinemanderen Vorschlag für die Lösung der Krise kommen außer jenem, denVorsitzenden der NSDAP bis zu den Wahlen am 5. März zum Kanzler zumachen. „Die Mehrheit des Volkes glaubte, durch die Bindung Hitlersund die Einbeziehung der NSDAP in die Verantwortung ein Optimumerreicht zu haben.“ 44Nach dem <strong>Wochen</strong>ende soll der Preußische Landtag <strong>vor</strong>zeitig aufgelöstwerden, doch es hapert mit der Gleichschaltung der Deutschen. StaatsratspräsidentKonrad Adenauer widersetzt sich weiter dem Vorhaben imso genannten Drei-Männer-Gremium. Dr. Adenauer, der schon seit 1917Oberbürgerme<strong>ist</strong>er der Stadt Köln <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> nicht bereit, diesen Kanzler zuempfangen, der zu einer Wahlkampfrede aus Berlin angere<strong>ist</strong> <strong>ist</strong>, undlässt die Hakenkreuzfahnen von der Deutzer Brücke hier abnehmen. Somacht Konrad Adenauer* keinen guten Eindruck auf den <strong>neue</strong>n Kanzlerin Berlin. Er <strong>ist</strong> mit 57 auch nicht mehr so leicht für jede Revolution zugewinnen. Im Wahlkampf wird plakatiert: Adenauer, an die Mauer. 45 Erverlässt daraufhin am 13. März die Stadt Köln und wird von den <strong>neue</strong>nExperten vom Amt suspendiert. Ein alter Schulfreund, der Abt IldefonsHerwegen, bietet ihm Obdach im katholischen Kloster Maria Laach. 46Ein paar Kilometer nördlich von Berlin liegt das Städtchen Oranienburg.Dort gab es früher mal eine Brauerei. 1925 <strong>hat</strong>te die Aktiengesellschaftfür Ost- und Überseehandel das Fabrikgelände erworben und begonnen,Radios herzustellen. Die Produktion hielt sich jedoch nicht lange, weil esnicht genug Absatz gab. Später fand sich kein Interessent mehr für dasGrundstück mit dem leer stehenden Fabrikgebäude, so wurde es dannim Februar <strong>1933</strong> der SA-Standarte 208 als ein Obdachlosenheim für SA-Männer zur Verfügung gestellt. 47In Berlin soll der polnische Gesandte Wysocki am 17. Februar über dieNachbesetzung für den polnischen Generalkonsul in der ostpreußischen44 Hans Speidel, S. 5245 Internetquelle 246 Internetquelle 347 Internetquelle 417


<strong>1933</strong>Stadt Königsberg sowie für den deutschen Militärattaché in Warschauverhandeln. Im Gespräch mit dem Abteilungsleiter Osteuropa des AuswärtigenAmtes fragt der Gesandte, „ob es denn überhaupt noch Zweckhabe, diese Posten zu besetzen, da wir ja doch am Vorabend eines Kriegeszwischen Deutschland und Polen“ 48 stehen.Am Abend des 27. Februar sehen Passanten, dass der Reichstag brennt.Vorübergehende bleiben stehen und Feuerwehrautos nahen. Die Polizeinimmt Ermittlungen auf. Ein Mann läuft ihnen aus den Flammen direktin die Arme. Sie nehmen ihn sofort fest. Am nächsten Tag steht es in denZeitungen. „Allerdings bleiben diese polizeilichen Verlautbarungen trotzder vielen Worte im Grunde mager. Sie reden von einem verhaftetenholländischen Kommun<strong>ist</strong>en und von dem Vorsitzenden der kommun<strong>ist</strong>ischenReichstagsfraktion, der mit diesem Holländer im Komplott gewesensein soll. Später gesellen sich noch drei bulgarische Agenten derdritten Internationale dazu. Doch die Angaben erscheinen reichlich unbestimmt,so dass in der Öffentlichkeit bald Zweifel laut werden, ob beider Untersuchung alles mit rechten Dingen zugehe. Warum <strong>ist</strong> es nichtmöglich gewesen, die angeblich auf frischer Tat Ertappten zu einemüberzeugenden Geständnis zu bewegen? Wieso bleibt es noch nach Tagen,<strong>Wochen</strong> und Monaten unklar, was sich an dem Brandabend imReichstagsgebäude abgespielt <strong>hat</strong>? Dabei läuft die Sache zunächst wieein ganz gewöhnlicher Kriminalfall, zumal die Polizei einen der Brandstifteram Tatort verhaften konnte.“ 49Hans-Bernd Gisevius <strong>hat</strong>te <strong>vor</strong> einer Woche seinen 29. Geburtstag. Derjunge Mann <strong>hat</strong>te in Berlin und München studiert und dann in Marburgpromoviert. Jetzt will er zur Polizei. Der Fall interessiert ihn schon ausdiesem Grund. Ihm fällt <strong>vor</strong> allem auf, dass Hermann Göring am Abenddes Brandes „keine Volksversammlung abhält“ 50 , sondern sofort zurStelle <strong>ist</strong>. Sonst <strong>ist</strong> er immer im Land unterwegs; am 5. März soll derReichstag ja nun doch neu gewählt werden. Der Beamte in spe bemerktebenfalls, dass nur wenige Minuten nach der Tat schon der <strong>neue</strong> Reichskanzlerda <strong>ist</strong>. „Adolf Hitler aß gerade bei Joseph Goebbels zur Nacht,als die aufregende Nachricht von der Brandkatastrophe eintraf – wie48 ADAP, Serie C, Band I, Dokument 22, in: Schultze-Rhonhof, S. 40549 Gisevius I, S. 1350 Gisevius I, S. 1818


<strong>1933</strong>gut, dass er heute Abend gleichfalls keine Wahlversammlung abhält,ebenso sein sonst so redelustiger Propagandachef. Unentwegt starrt derFührer, um ihn herum eine Schar Min<strong>ist</strong>er und Beamte, auf das brennendeGebäude. Augenscheinlich <strong>ist</strong> dieser Me<strong>ist</strong>er der Selbstsuggestionvon dem Schauspiel außergewöhnlich gepackt. Von Minute zu Minutesteigert sich seine Erregung. Mit leidenschaftlichen Worten erteilt erGöring alle polizeilichen Vollmachten. In dieser Nacht verkündet mandie berühmten Notverordnungen vom 28. Februar <strong>1933</strong>. Sie sind ausgesprocheneNotstandsverordnungen und werden »zum Schutze von Volkund Staat« gegen »kommun<strong>ist</strong>ische Anschläge« erlassen. Sie sind alsodem Sinn und Wortlaut nach reine Kommun<strong>ist</strong>enverordnungen.“ 51 Unddas, be<strong>vor</strong> man herausfindet, wer dieser van der Lubbe genau <strong>ist</strong>. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong>jetzt auch gar nicht mehr entscheidend, ob der Holländer ein Einzeltäterwar oder ob die Nazis da mitgemischt haben. Wichtig <strong>ist</strong> die Ausnutzungder sich bietenden Chance für Gesetze, die auf demokratischem Wege ineine Diktatur führen.Bald schon bekommen die Sozialdemokraten die <strong>neue</strong> Innenpolitik hierzu spüren. „Umgehend verbietet Göring auf Grund der <strong>neue</strong>n Paragraphenihre gesamte Presse. Sie mögen sich trösten: nicht lange müssensie allein bleiben. Sehr schnell werden sämtliche übrigen Parteien mitder gleichen Willkür Bekanntschaft machen. Aber während die Linkedamals noch die Möglichkeit <strong>hat</strong>, in ihren Wahlversammlungen zu protestieren,während es Blätter der demokratischen Mitte gibt, die dieseProteste abdrucken, während es einstweilen noch eine sehr gewichtigeMöglichkeit gibt, den öffentlichen Unwillen kundzutun, nämlich diekommende Reichstagswahl, wird es später höchstens noch schriftlicheBeschwerden geben, die in den Papierkorb wandern oder ihre Verfasserins Konzentrationslager bringen. Jedwede richterliche Nachprüfung derstaatlichen Eingriffe hört auf. Wer ahnt am Morgen nach diesem h<strong>ist</strong>orischenBrandabend beim Lesen der Notverordnungen, dass einzig mitdiesen <strong>wenigen</strong> Bestimmungen die Revolution legalisiert werden wird?Aber es <strong>ist</strong> so. Juden und Chr<strong>ist</strong>en, Stahlhelmer und Logenbrüder, Zentrumsleuteund Deutschnationale, Gesangsvereine und Konsumgenossenschaften,sie alle werden mit der Zeit jenes <strong>neue</strong> Polizeirecht kennenlernen, das aus dem verwirrenden Flammenmeer am Königsplatz den51 Ebd., S. 18f.19


<strong>1933</strong>Schein der Berechtigung ableitet, ein ganzes Sechzig-Millionen-Volkdem Terror auszuliefern.“ 52 Erst im September beginnt der Prozess.In dieser Atmosphäre läuft am 5. März die Wahl zum Reichstag an. <strong>Es</strong><strong>ist</strong> Sonntagmorgen in München. Am Abend geht der 18-jährige FranzJosef Strauß mit seinem Vater zur Versammlung der Bayerischen Volksparteiin den Mathäser-Bräu. Dort sagt der Vorsitzende der Partei, FritzSchäffer*, der die Versammlung leitet, jetzt gebe es keinen Zweifel mehr,Nationalsozial<strong>ist</strong>en und Deutschnationale hätten die Mehrheit. Danachsagt Schäffer einen Satz, den Franz nicht vergisst: „Meine lieben Parteifreunde,jetzt kommt eine furchtbare Zeit. Morgen beginnt die Karwochefür Deutschland. Diese Karwoche wird einen Karfreitag für Deutschlandbringen. Wir sind gläubige Chr<strong>ist</strong>en. Nach dem Karfreitag kommtdie Auferstehung, der Ostersonntag.“ Der Franz erlebt Fritz Schäffer alseindrucksvollen Redner mit sonorer Stimme, der plastisch formulierenkann und ein Me<strong>ist</strong>er der deutschen Sprache <strong>ist</strong>. Lähmende Stille breitetsich unter den drei- bis vierhundert Zuhörern aus und dann löst sich dieVersammlung auf. „Bedrückt, schweigend ging ich mit meinem Vaternach Hause, die Stimmung war unheimlich.“ 53Die erste außenpolitische Reaktion auf die deutschen Wahlergebnissefällt harsch aus. Gleich am Montag verstärkt Marschall Piłsudski PolensTruppen im Fre<strong>ist</strong>aat Danzig, den Polen sowieso gern für sich will. Nachdem relativen Wahlsieg der NSDAP wird in Warschau befürchtet, dasssich die Stadt jetzt wieder mit dem Deutschen Reich vereinigen könnte.Józef Piłsudski lässt ein Bataillon Marineinfanterie auf der Westerplattean der Zufahrt zum Hafen von Danzig stationieren. Dabei muss er keinerussischen Gegenmaßnahmen befürchten, da er sich, obwohl er so antirussischwie auch antisowjetisch eingestellt <strong>ist</strong>, am 25. Juli 1932 durcheinen Nichtangriffspakt mit Moskau gegen ein Eingreifen sowjetischerTruppen abgesichert <strong>hat</strong>te. Der Völkerbund <strong>hat</strong>te Polen nur eine relativbescheidene Wachmannschaft für ein Munitionsdepot zugestanden undprotestiert scharf, so dass Piłsudskis Truppen wieder abgezogen werdenmüssen. 54 Unterdessen wird mit Paris verhandelt, ob nicht Frankreichzu einem Krieg gegen das Reich bereit sei, um Deutschland zur Einhal-52 Gisevius I, S. 1953 Strauß, S. 2954 Schultze-Rhonhof, S. 40420


<strong>1933</strong>tung der Bestimmungen von Versailles zu zwingen. Paris fühlt sich jedochan das strikte Angriffsverbot aus dem Kellogg-Pakt gebunden undgeht auf die Anfrage aus Warschau nicht ein. 55Der Reichstag <strong>ist</strong> nun zwar gewählt, kann jedoch in der ausgebranntenRuine nicht tagen. Man schaut sich um in der Nähe und kommt auf dieKroll-Oper. Am Dienstag beginnt der Umbau. Die Deckengemälde sindzu heiter und müssen weichen. Im Parkett werden zu viele Sitze eingebaut.56 Vielleicht nahm sich der Architekt nicht die Zeit zum Lesen einerZeitung: elf Abgeordnete der SPD sitzen schon in Schutzhaft, wie dasjetzt heißt, ganz zu schweigen von denen der KPD. Ihre 81 Mandate sindinzwischen annulliert worden. Reichsinnenmin<strong>ist</strong>er Wilhelm Frick kommentiertdas volkstümlich: „Wenn der <strong>neue</strong> Reichstag zusammentritt,werden die Kommun<strong>ist</strong>en durch dringendere und nützlichere Arbeitenverhindert sein, an der Sitzung teilzunehmen. Diese Herrschaften müssenwieder an nutzbringende Arbeit gewöhnt werden. Dazu werden wirihnen in Konzentrationslagern Gelegenheit geben. Wenn Sie sich dannwieder zu nützlichen Mitgliedern der Nation erziehen ließen, sollen sieals vollwertige Volksgenossen willkommen sein. Aber nicht nur dieKommun<strong>ist</strong>en müssen verschwinden, sondern auch ihre roten Bundesgenossenvon der Sozialdemokratie, denn die Sozialdemokratie <strong>ist</strong> dieWurzel, die den Kommunismus her<strong>vor</strong>gebracht <strong>hat</strong>.“ 57Von nutzbringender und obendrein schöner Arbeit abgehalten wird amAbend dieses 7. März Fritz Busch, der gefeierte Dirigent der SächsischenStaatskapelle. Generalstabsanwärter Hans Speidel, der ebenso zu demFreundeskreis zählt wie der SPD-Chef Kurt Schumacher* und natürlichviele Künstler, <strong>ist</strong> entsetzt darüber, dass „Nationalsozial<strong>ist</strong>en Fritz Buschnach glanzvoller elfeinhalbjähriger Tätigkeit buchstäblich vom Pult derDresdner Staatsoper jagen, weil er nicht Mitglied der Partei werden“ willund sie offen ablehnt. Busch verzichtet daraufhin dankend auf Angebotein Deutschland und besteigt am 15. Juni ein Schiff nach Buenos Aires,um stattdessen am Theater Colón ein Orchester zu dirigieren. 5855 Ebd., S. 40556 Internetquelle 557 Zitiert nach: Johannes Tuchel, Konzentrationslager, S. 3758 Speidel, S. 37f.21


<strong>1933</strong>In Genf tagt weiter der Hauptausschuss der Abrüstungskonferenz. Dortsetzt sich der britische Premiermin<strong>ist</strong>er James Ramsay MacDonald mitLeidenschaft für seinen Abrüstungsplan ein, der letztlich zwar nicht abgelehnt,aber auch nicht von allen Staaten angenommen wird, weil sichEngland nicht bereit erklärt, Verpflichtungen zum militärischen Schutzanderer Staaten zu übernehmen. Der Premier spricht nur davon, dassman eine Konferenz einberufen solle, „falls wirklich eine Verletzung desPaktes festgestellt worden <strong>ist</strong>“ 59 . Die Deutschen haben aber ganz andereSorgen als der Londoner Premier. Sie fragen, wie es denn nun um ihreGleichberechtigung bestellt sei, wenn es hier nur um Abrüstung geht,und wünschen sich, dass auch „Deutschland in der Zwischenzeit wenigstensin gewissem Ausmaße Waffen besitzen dürfe, die ihm durch denVersailler Vertrag verboten worden waren.“ 60 Wissen die Vertreter derBerliner Interessen nicht oder sagen sie nicht, dass das Deutsche Reichden Vertrag von Versailles in Bezug auf die Rüstungsbegrenzung schonAnfang der zwanziger <strong>Jahr</strong>e verletzt <strong>hat</strong>? <strong>Das</strong> Ergebnis der Abrüstungskonferenz<strong>ist</strong> mager „und die Lage verschärfte sich von Tag zu Tag. <strong>Das</strong>war natürlich nicht nur eine Folge der Mangelhaftigkeit des englischenVorschlages, sondern es lag auch an der Schockwirkung, welche die Einsetzungeiner nationalsozial<strong>ist</strong>ischen Regierung in mehr oder wenigerstarkem Maße bei fast sämtlichen Delegationen in Genf auslöste.“ 61Nehmen wir den nächsten Zug, um rechtzeitig in München zu sein. Dortfindet am 9. März der festliche Aufmarsch von SA und SS zur Feier derMachtübernahme statt. Die bayerische Fahne wird eingeholt und dafürwird nun die Hakenkreuzfahne gehisst. Der Schüler Franz Josef Strauß*kommt von der Schule und radelt durch die Leopoldstraße, als sich dortSA- und SS-Verbände formieren. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> später Nachmittag und langsamfängt es an zu dämmern. Er begleitet den Zug durch die ganze Stadt; esgeht <strong>vor</strong>bei am Hauptpostamt, am Nationaltheater und am Gebäude derRegierung von Oberbayern. Überall, so weit er schauen kann, herrschtJubel. Der junge Mann selbst schwankt „zwischen Furcht und Hass“. 62Er sieht aber auch nur diejenigen, die auf der Straße sind. Er sieht nicht,59 Schmidt, S. 25460 Ebd., S. 25461 Ebd., S. 25562 Strauß, S. 2922


<strong>1933</strong>wie viele zu Hause sind oder bei Freunden und Musik hören, um diesenJubel eines Drittels der Bevölkerung nicht ertragen zu müssen.In den Hauptstädten Europas überlegt man in diesen Tagen, wie mit der<strong>neue</strong>n Regierung in Berlin gedeihlich auszukommen <strong>ist</strong>. Auf jeden Fallhoffen sie in London und Paris auf ein Ende des Alptraums von Rapallo.Der Kanzler <strong>ist</strong> ein scharfer Gegner des Bolschewismus und außer in dersowjetischen Hauptstadt hoffen alle, dass Deutschland die Beziehungenzu Moskau endlich auf Eis legt. Der römische Herrscher Mussolini bietetdem britischen Premier Ramsay MacDonald und dessen Außenmin<strong>ist</strong>erJohn Simon am 18. März <strong>1933</strong> einen „Viererpakt“ 63 an. Mussolini denktan so etwas wie ein Direktorium für Europa, das aus Großbritannien,Frankreich, Italien und Deutschland bestehen soll. Damit wäre Berlinaufgewertet und zugleich politisch eingebunden. Im Kern <strong>ist</strong> es dieselbeGrundidee wie in der innerdeutschen Diskussion. London findet das imPrinzip gut, Rom auch, von dort kam ja die Idee, Frankreich legt jedochWert darauf, dass sich der Text gegen niemanden richtet. Natürlich <strong>ist</strong>er gegen die kommun<strong>ist</strong>isch regierte Sowjetunion gerichtet und das <strong>hat</strong>gute Gründe. Unfassbar viele Emigranten haben das Land in den letztenanderthalb <strong>Jahr</strong>zehnten verlassen, sind geflohen <strong>vor</strong> den Arbeitern undBauern, die jetzt das Land dort beherrschen. Geflohen aus Angst um ihrLeben. Sie suchten und fanden auch Zuflucht in Asien, in Europa und inAmerika. In Berlin und Paris wohnen Tausende von ihnen. Viele zogenin Wohnungen in Charlottenburg ein, das die Berliner Schnauze seitdemrespektlos Charlottengrad nennt. Im <strong>neue</strong>n Russland selbst folgt seit derRevolution <strong>vor</strong> fünfzehn <strong>Jahr</strong>en eine Hungersnot der nächsten und zehnoder elf Millionen 64 Arbeiter, Bauern und deren Kinder sind inzwischenan der Unterernährung gestorben. Aber all das soll der Text nicht sagen;man will Stalin in Moskau nicht noch unnötig provozieren. <strong>Es</strong> soll etwaswie ein Quartett des Friedens werden. Berlin, also Hitler, begrüßt diesesVorhaben. Zu seinem außenpolitischen Berater Joseph Goebbels sagt ernach der Unterbreitung des Angebotes, das wird ihm „Ruhe und Luft“ 65verschaffen. Er <strong>hat</strong> noch einiges <strong>vor</strong>. Und solange das im Osten passiert,<strong>hat</strong> ja auch fast niemand etwas dagegen. In diesen Tagen geht in Berlinein Brief ein, in dem eine Frau aus Riga ihre Hoffnung formuliert, dass63 Falin, S. 37; Marian Wojciechowski, Vortrag, S. 26064 Meyers Taschenlexikon Geschichte, Bd. 5, S. 28065 Falin, S. 3723


<strong>1933</strong>der <strong>neue</strong> Kanzler in Berlin hoffentlich etwas gegen den Diktator in derSowjetunion ausrichten kann. Sie <strong>hat</strong> Angst, dass Stalin über kurz oderlang die baltischen Staaten wieder in den russischen Staat zurückholt. 66Am 20. März hört Paul im Radio, dass der Münchener Polizeipräsident,kommissarisch eingesetzt <strong>vor</strong>erst, Heinrich Himmler die Errichtung voneinem Konzentrationslager in der Nähe der Stadt Dachau bekannt gegeben<strong>hat</strong>. <strong>Das</strong> Wort <strong>ist</strong> Lagern entlehnt, die es Anfang des <strong>Jahr</strong>hundertsschon im Süden Afrikas gab und die vom Britischen und vom DeutschenReich in ihren dortigen Kolonien betrieben wurden. Die ersten Lager inMitteleuropa, in denen die Republik Polen zehntausende Deutsche gefangenhielt, gab es schon in den zwanziger <strong>Jahr</strong>en in Szczypiorno, BrestLitowsk und Bereza Kartuska. 67 <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> von Tilsit bis Aachen bekannt.Am 21. März liest Franz in den Münchener Neuesten Nachrichten: „AmMittwoch wird in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslagereröffnet. <strong>Es</strong> <strong>hat</strong> ein Fassungsvermögen von 5000 Menschen. Hier werdendie gesamten kommun<strong>ist</strong>ischen und – soweit notwendig – Reichsbanner,und marx<strong>ist</strong>ischen Funktionäre, die die Sicherheit Deutschlandsgefährden, zusammengezogen, da es auf die Dauer nicht möglich <strong>ist</strong>,wenn der Staatsapparat nicht so sehr belastet werden soll, die einzelnenkommun<strong>ist</strong>ischen Funktionäre in den Gerichtsgefängnissen zu lassen,während es andererseits nicht angängig <strong>ist</strong>, diese Funktionäre wieder indie Freiheit zu lassen. Bei einzelnen Versuchen, die gemacht wurden,war der Erfolg der, dass sie weiter hetzen und zu organisieren versuchen.“Reichsbanner waren die von den Sozialdemokraten organisiertenbewaffneten Kräfte zum Schutz der Republik. „Weiter versicherte PolizeipräsidentHimmler, dass die Schutzhaft in den einzelnen Fällen nichtlänger aufrechterhalten werde, als notwendig sei. <strong>Es</strong> sei aber selbstverständlich,dass das Material, das in ungeahnter Menge beschlagnahmtwurde, zur Sichtung längere Zeit benötigt. Die Polizei werde dabei nuraufgehalten, wenn dauernd angefragt werde, wann dieser oder jenerSchutzhäftling freigelassen werde. Wie unrichtig die vielfach verbreitetenGerüchte über die Behandlung von Schutzhäftlingen seien, gehe darausher<strong>vor</strong>, dass einigen Schutzhäftlingen, die es wünschten, wie z. B.66 Aus dem Privatarchiv des Autoren .67 Internetquellen 9-1224


<strong>1933</strong>Dr. Gerlich und Freiherrn v. Aretin, priesterlicher Zuspruch genehmigtworden sei.“ 68<strong>Es</strong> dauert gar nicht so lange, bis auf den Straßen Sprüche dieser Machartkursieren: <strong>Das</strong> Propagandamin<strong>ist</strong>erium <strong>hat</strong> die Zeitungen aufgefordert,für die Eintopf-Sonntage geeignete Kochrezepte zu veröffentlichen. Alswichtigstes Gericht soll empfohlen werden: gedämpfte Zunge. 69 Oder so:„Wenn jetzt <strong>neue</strong> Konzentrationslager eingerichtet werden, soll das aufBerggipfeln geschehen.“ – „Warum denn?“ – „Man erwartet, dass dieHäftlinge dort schneller braun werden.“ 70 Andere geben diesen Hinweisweiter: „Alter schützt <strong>vor</strong> Schutzhaft nicht.“ 71Der 49-jährige Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss* wird sich spätererinnern, wie der staatliche Terror plättete: „Mein Vater <strong>hat</strong> mir eine Erziehungbürgerlicher Anständigkeit gegeben, in der das Verbrechen alsaktuelle Form des öffentlichen Lebens nicht <strong>vor</strong>kam. Unsere Phantasie,auch wenn wir einige Übersicht über Greuel als h<strong>ist</strong>orische Geschehenbesaßen, reichte nicht so weit, das Verbrechen als institutionelle Formstaatlichen Wirkens einzusetzen.“ 72 So bleibt bei vielen Leuten lange dieVorstellung erhalten, es handele sich um Arbeitslager für Querulanten,zumal Hitler sogar der ausländischen Presse Lager <strong>vor</strong>führen lässt. Aberzurück in das Obdachlosenheim der SA in Oranienburg bei Berlin. Hörtman dort von der Ankündigung des Münchener Polizeipräsidenten undtreibt die Aufräumaktion auch in Brandenburg <strong>vor</strong>an? Oder geht die SA-Standarte 208 auf eigene Faust los und nimmt vierzig Kommun<strong>ist</strong>en ausden Gemeinden in der Umgebung der Stadt mit in ihr Heim? Die vierzigMänner werden die ersten Gefangenen auf dem Brauereigelände. 73 „Deruralte und ewig <strong>neue</strong> Reiz, der von dem Besitz der Macht ausgeht, zeigteinmal mehr seine Wirkung. Hat man nicht soeben die SA programmgemäß,wenn auch unbedacht, zur Hilfspolizei gemacht? Nun, dann willsie auch wirklich Polizei spielen. Zwar mag sich Göring diese Maßnahmeso denken, dass auf zwei schwer bewaffnete Polizeiwachtme<strong>ist</strong>er je ein68 Münchener Neueste Nachrichten, 21. März <strong>1933</strong>69 Hirche, S. 8470 Ebd., S. 11471 Ebd., S. 11472 Schultze-Rhonhof, S. 31073 Internetquelle 425


<strong>1933</strong>mit weißer Binde bestückter SA-Mann kommt, gewissermaßen ein braunerKonzessionsschulze; aber da verrechnet er sich gründlich in diesenHaudegen. Bald werden sie die Wachtme<strong>ist</strong>er als Protokollanten aufdem Revier zurücklassen und allein nach Staatsfeinden suchen. Die SAveranstaltet Großrazzien. Die SA macht Haussuchungen. Die SA beschlagnahmt.Die SA lädt zu Zeugenvernehmungen. Die SA sperrt ein.Kurzum, die SA erhebt sich zur Hilfspolizei in Permanenz und pfeift aufalle Rechts- und Verwaltungsgrundsätze aus der so genannten Systemzeit.<strong>Das</strong> Schlimmste für die ohnmächtigen Staatsbehörden <strong>ist</strong>, dass dieSA ihre Beute überhaupt nicht mehr herausrückt.Wehe, wenn sie jemanden in ihren Klauen <strong>hat</strong>! Damals entstehen die»Bunker«, jene furchtbaren Privatgefängnisse, von denen jeder gute SA-Sturm mindestens einen besitzen muss. Die »Abholung« wird SA-Gewohnheitsrecht. . . Der erste Gegner <strong>ist</strong> natürlich der Kommunismus.Aber er <strong>ist</strong> wirklich nur der erste Gegner. Nachdem einmal die Prügelheldenzur Hilfspolizei in eigener Sache gemacht worden sind, beginntein regelrechter Straßenterror, der nichts mehr mit dem Kampfe gegenden Bolschewismus zu tun <strong>hat</strong>. Was sich in diesen ersten Monaten währendund nach Erringung der Totalität in unsern Großstädten, zuweilenauch auf dem Lande, an Gewalttätigkeiten abspielt, <strong>ist</strong> unglaublich. DieBestie im Menschen tobt sich aus. Niedrigste Instinkte toben suchenihre Opfer. Blindlings schlagen alte, <strong>neue</strong> und <strong>neue</strong>ste Kämpfer auf ihrenFeind.“ 74In der Berliner Kroll-Oper sind Arbeiter mit dem Umbau beschäftigt, sowird der <strong>neue</strong> Reichstag am 21. März durch den Reichspräsidenten Paulvon Hindenburg, 85, in der Garnisonkirche in Potsdam eröffnet. Sein 17<strong>Jahr</strong>e junger Namensvetter Paul im thüringischen Oberweißbach hörtdie Festveranstaltung am Radio. Feierlich ernennt der Reichspräsidentjetzt auch offiziell Adolf Hitler, 43, zum Reichskanzler. Der 21. Märzwird zum „Tag der nationalen Er<strong>neue</strong>rung“ und später zum „Tag vonPotsdam“ ausgerufen. Im Windsc<strong>hat</strong>ten des Festaktes erlässt die Regierungeine Verordnung über die Bildung von Sondergerichten 75 , denn gewöhnlicheGerichte sind hier nicht genug. Dort arbeiten ja Richter nachalten demokratischen Spielregeln. Jetzt <strong>ist</strong> das nicht mehr modern. Diebisherige mündliche Verhandlung über den Haftbefehl <strong>ist</strong> nicht mehr74 Gisevius I, S. 13675 Felix Ecke, Die braunen Gesetze. Über das Recht im Unrechtsstaat, S. 2626


<strong>1933</strong><strong>vor</strong>gesehen, eine gerichtliche Voruntersuchung erübrigt sich, und eineBeweiserhebung kann abgelehnt werden, wenn dieses neuartige Sondergericht„die Überzeugung gewonnen <strong>hat</strong>, dass die Beweiserhebung fürdie Aufklärung der Sache nicht erforderlich <strong>ist</strong>.“ 76 So wird es möglich, jemandenfür den Kauf einer kommun<strong>ist</strong>ischen Zeitung wegen finanziellerUnterstützung einer staatsfeindlichen Organisation zu verurteilen. 77 <strong>Das</strong><strong>hat</strong> mit Meinungs- und Pressefreiheit aus der Weimarer Republik, dieauch von den Kommun<strong>ist</strong>en nicht besonders geschätzt wurde, nur nochherzlich wenig zu tun.Einen Tag später wird das Konzentrationslager Dachau so 20 Kilometernordöstlich von München eröffnet. <strong>Es</strong> wird ein Lager für Männer allerCouleur. Neben Männern aus der KPD, der SPD und Gewerkschaftenwerden dort Liberale und Konservative eingesperrt. Stellen Sie sich maldie Überraschung der zuletzt genannten Herren <strong>vor</strong>, wenn plötzlich imNachbarbett nicht ihre Frau liegt, sondern ein Mann, den sie bis gesternäußerst scharf angegriffen haben? <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> wichtig, sich das <strong>vor</strong>zustellen,wenn man verstehen will, wie sich die Menschen in Deutschland in denfolgenden <strong>Jahr</strong>en verändern werden. Danach wird für die Überlebendennichts mehr sein, wie es heute <strong>ist</strong>.Als Paul am 23. März das Radio anmacht, hört er Worte aus der erstenRegierungserklärung des <strong>neue</strong>n Kanzlers. Den aufrichtigen Wunsch <strong>hat</strong>er, den Frieden zu erhalten und zu festigen, die Rüstungen will er beschränkenund zu der innenpolitischen Versöhnung 78 beitragen, die sichauch Pauls Eltern erhoffen. Vater sagt auch immer, wir brauchen nichtso viele Parteien, die sich ständig angiften. Man könne jedes Problem inden Griff bekommen, wenn es von allen gemeinsam angepackt wird,und letztlich sind wir ja alle Deutsche und wollen, dass es hier wiederbesser wird. Natürlich begrüßt er, dass jetzt ein Gesetz verabschiedetwird „zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Endlich machen dieda oben mal was für uns kleine Leute. Ermächtigungsgesetz heißt dasWunderwerk. Ausgerechnet die SPD, die noch nie was geregelt bekommen<strong>hat</strong>, stimmt dagegen. Typisch. Was helfen soll, <strong>ist</strong>, dass die Reichsregierungjetzt endlich Gesetze beschließen kann, ohne erst den Reichs-76 Ebd., S. 4577 Ebd., S. 4578 Enzensberger, S. 11427


<strong>1933</strong>tag fragen zu müssen und, dass sich die Regierung jetzt nicht mehr unbedingtan die Verfassung des Reichs halten muss. 79 Wichtig <strong>ist</strong> ja auchnur, dass es besser wird. Dann macht er sich wieder an die Arbeit.Nachdem die me<strong>ist</strong>en Abgeordneten den Arm für das Gesetz gegen dieNot gehoben haben, hört man Reichskanzler Hitler: „Die Regierung dernationalen Revolution sieht es grundsätzlich als ihre Pflicht an, entsprechenddem Sinn des ihr gegebenen Vertrauensvotums des Volkes diejenigenElemente von der Einflussnahme auf die Gestaltung des Lebensder Nation fernzuhalten, die bewusst und mit Absicht diesen Weg negieren.“80 Er sagt an diesem Pult noch mehr, denn er spricht allgemein viel,und wenn, dann lange. Als er geschlossen <strong>hat</strong>, geht der Abgeordnete derSPD Otto Wels ans Rednerpult: „Aus einem Gewaltfrieden kommt keinSegen, im Innern erst recht nicht. Eine wirkliche Volksgemeinschaftlässt sich auf ihm nicht gründen. Ihre erste Voraussetzung <strong>ist</strong> gleichesRecht . . . Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei inder letzten Zeit erfahren <strong>hat</strong>, wird billigerweise niemand von ihr verlangenoder erwarten können, dass sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetzstimmt . . . Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstaggibt, <strong>ist</strong> die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewähltenVertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden wiedas jetzt geschieht, und wie es durch das <strong>neue</strong> Ermächtigungsgesetznoch mehr geschehen soll.“ 81 Diese Worte machen den Kanzler wütend.Er tritt zum zweiten Mal ans Rednerpult und hält noch eine Rede. „Ichglaube nun einmal aus den eigenen politischen Erfahrungen, die ich mitIhnen gemacht habe, dass das Recht allein leider noch nicht genügt,man muss auch die Macht besitzen. Und verwechseln Sie uns nicht miteiner bürgerlichen Welt. Sie meinen, dass Ihr Stern wieder aufgehenkönnte. Meine Herren, der Stern Deutschlands wird aufgehen und Ihrerwird sinken.“ 82Jur<strong>ist</strong>en bezeichnen dieses Ermächtigungsgesetz als obersten völkischenWert, will heißen nationalen Wert und als einen Akt von säkularer Be-79 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 125f.80 Ebd., S. 12681 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 12682 Ebd., S. 126f.28


<strong>1933</strong>deutung 83 . Der Verfassungsrechtler Otto Koellreutter erläutert in Juraunbedarften Leuten, warum das alles seine Richtigkeit <strong>hat</strong>: „Vor allemschützt die nationalsozial<strong>ist</strong>ische Rechtsauffassung die richtig verstandeneFreiheit der Persönlichkeit.“ 84 Otto <strong>ist</strong> der Meinung, dass man dieFreiheit richtig verstanden <strong>hat</strong>, wenn sich der Einzelne auch wirklich„seiner Bindungen an die völkische Gemeinschaft voll bewusst <strong>ist</strong> undaus dieser Ge<strong>ist</strong>eshaltung am Aufbau und an der Gestaltung der völkischenGemeinschaft teilnimmt“ 85 . Weitere Autoritäten stellen sich hinterdas Gesetz, wie der Präsident des Reichsverbandes der Deutschen IndustrieGustav Krupp von Bohlen und Halbach. Er lässt verlautbaren,die deutsche Industrie sei zur Mitwirkung bereit und werde alles tun,um der Reichsregierung „bei ihrem schweren Werke zu helfen“ 86 .Eine unerhörte Neuerung bringt das Gesetz über Verhängung und Vollzugder Todesstrafe am 29. März in das Rechtswesen Deutschlands. <strong>Es</strong>wird das erste Gesetz seit Menschengedenken, das rückwirkend gilt. Mitdiesem Gesetz können auch Straftaten geahndet werden, die zwischendem 31. Jänner, wie der Österreicher sagt, und dem 28. Februar 87 dieses<strong>Jahr</strong>es begangen worden sind. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> wichtig, weil man die Brandstiftervom Reichstag – wobei man an die verhafteten Kommun<strong>ist</strong>en denkt –einen Kopf kürzer machen möchte. <strong>Das</strong> wird zwar nicht gelingen, weil eskeine Beweise gegen sie gibt. Aber die psychologische Wirkung diesesGesetzes kann kaum überschätzt werden. Jetzt überlegt man sich nochreiflicher, was man tut oder besser lässt, wenn alles auch nachträglichnoch zu einer Straftat erklärt werden kann.Als Kanzler Hitler Anfang März sein Ansinnen für ein solches Gesetz derReichsregierung <strong>vor</strong>getragen <strong>hat</strong>te, ging es hoch her. Am 7. März wurdeein Gutachten der Strafrechtslehrer Friedrich Oetker, Walter Nagler undHellmuth von Weber* vom 4. März diskutiert. Sie waren der Auffassung,dass kritische Bedenken „sicherlich auch in der Öffentlichkeit erhobenwerden, wenn eine Notverordnung rückwirkende Strafverschärfungen83 Ecke, S. 2084 Ebd., S. 2085 Ebd., S. 2086 Ebd., S. 2187 Ebd., S. 4229


<strong>1933</strong>enthalten würde“ 88 . Franz Schlegelberger, der Staatssekretär im Justizmin<strong>ist</strong>erium,ergänzte, dass er vom Erlass einer solchen Rückwirkungsverordnungabrate und auch überhaupt grundsätzliche Bedenken habe,den jur<strong>ist</strong>ischen Grundsatz zu verwerfen, dass es eine Strafe nur gebenkönne, wenn die Tat gesetzeswidrig war zu dem Zeitpunkt der Tat. DerGrundsatz „Nulla poena sine lege“ gelte „fast in der ganzen Kulturwelt“ 89und zusammenfassend kommt Herr Schlegelberger zu dem Schluss, einePreisgabe dieses Grundsatzes müsse „zu einer Verwirrung des allgemeinenRechtsbewusstseins“ 90 führen.Die großartigen Möglichkeiten, die das Ermächtigungsgesetz jetzt bietet,werden am 31. März auch auf die Länderregierungen ausgedehnt. Nunkönnen sie ebenfalls endlich beschließen, was sie wollen. Die Auflösungder Landesparlamente nach dem Gesetz zur Gleichschaltung der Ländermit dem Reich nimmt noch ein paar mehr Querköpfen die Chance, aufdie Entwicklung in Deutschland Einfluss zu nehmen. Als die Parlamenteneu aufgestellt werden, legt man einfach die relativ guten Ergebnisse derWahlen zum Preußischen Landtag vom 5. März zugrunde. 91 Leise heißtes schon bald: „Die Länder sind gleichgeschaltet. Wir haben jetzt keinePreußen, Sachsen, Bayern oder Badener mehr. <strong>Es</strong> gibt nur noch Braun-Schweiger.“ 92Geht man heute im Reich in einen Buchladen, findet man dort das BuchWie wir Deutschen uns selbst entdeckten von Heinrich Wolf aus demLeipziger Armanen-Verlag. Darin wird erläutert, wie hinderlich sich dieReligion der Juden seit langem auf die Entwicklung der Wissenschaftenauswirkte. Wir lesen: „Zu den gefährlichsten Wahn<strong>vor</strong>stellungen gehörtder Gedanke einer einheitlichen Menschheit, einer allgemeinen Gleichheit.Er <strong>ist</strong> ein Erbe des entarteten, semitisierten Orients, wo die Völkermischungschon früh fortgeschritten war. Er <strong>hat</strong> die Entwicklung derGeschichts- und Naturwissenschaften sehr gehemmt. Vor allem standdas Ansehen der biblischen Überlieferung der freien Forschung sehr imWege. Der Mosaische Bericht über die Abstammung aller Menschen von88 Ecke, S. 43f.89 Ebd., S. 4490 Ebd., S. 4491 Ecke, S. 2192 Hirche, S. 8530


<strong>1933</strong>einem Paar war seit Augustin Dogma der römisch-katholischen Kirche.Eine päpstliche Bulle des <strong>Jahr</strong>es 1512 erklärte auch die Bewohner der<strong>neue</strong>n Welt für Nachkommen Adams. Diese jüdische Lehre übte einenso großen Einfluss aus, dass sie sogar einen Gobineau zur Stimmenthaltungveranlasste. Und heute noch nennt Professor Adam den Universalismus,die »Katholizität«, d. h. die Alleinheit des Menschengeschlechtesunter den Wesensmerkmalen seiner Kirche »an erster Stelle«. Fr. A.Lange we<strong>ist</strong> mit Recht darauf hin, dass hinter den stellenweise erbittertenKämpfen um die Arteinheit des Menschengeschlechtes der Streit umdas Alte Testament stehe. Er sagt: »Diese Frage der Arteinheit <strong>ist</strong> einebloße Umbildung der Frage der Abstammung von einem Paar, wie CuviersTheorie der Erdrevolutionen eine Umbildung der Sage von denSchöpfungstagen war.« – Geologie und Wissenschaft des Spatens habenuns von den Ketten des 1. Buches Moses befreit. Die Erschaffung derErde und der Menschen <strong>ist</strong> nicht erst 3761 <strong>Jahr</strong>e v. Chr. erfolgt, sondernwir haben uns daran gewöhnt, mit <strong>Jahr</strong>millionen zu rechnen. Eine ebensoverhängnisvolle Irrlehre geht auf die alten Griechen und auf die »Aufklärung«des 18. <strong>Jahr</strong>hunderts zurück. Juden und Griechen gaben dieUngleichheit der Völker zu. Die einen bezeichneten den »Wirrwarr« alsStrafe Gottes für menschliche Überhebung, die Griechen als Wirkungder Umwelteinflüsse. Schemann nennt den großen Arzt und NaturforscherHippokrates (6. <strong>Jahr</strong>hundert v. Chr.) den »Entdecker der Rasse«und den großen Geschichtsschreiber Herodot (5. <strong>Jahr</strong>hundert v. Chr.)einen Rassenspürhund, als welchen sich unser E. M. Arndt selbst bezeichnet<strong>hat</strong>. Aber die recht erkannten Unterschiede erklärten sie durchdie Umwelteinflüsse. Hippokrates spricht über die Wirkungen von Luft,Wasser und Ortslage auf die menschlichen Bewohner; besonders ziehter das Klima in Betracht. Diese Erkenntnis von der Bedeutung der Umwelteinflüssewar an sich ein großer Fortschritt; aber Hippokrates wurdeder Vater der radikalen Milieutheorie.Und dann die sogenannte Aufklärung des 18. <strong>Jahr</strong>hunderts n. Chr.! Daflossen die Lehren von der Gleichheit aller Menschen und von der überragendenBedeutung der Umwelt zusammen. Vor 200 <strong>Jahr</strong>en lehrtendie Engländer Locke und Hume, dass »der menschliche Ge<strong>ist</strong> bei derGeburt ein leeres Blatt sei und nach jeder Art oder Richtung gestaltetwerden könne«. Später war für den bekannten Franzosen Rousseau, derdie Rückkehr zur Natur predigte, ein Fundamentalsatz: »Alles <strong>ist</strong> gut,wenn es aus den Händen des Schöpfers her<strong>vor</strong>geht; alles entartet unter31


<strong>1933</strong>den Händen der Menschen.« Sowohl in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung(1778) als auch in der französischen Erklärung der allgemeinenMenschenrechte (1789) wurde die Lehre von der natürlichenGleichheit aller Menschen betont. Und was konnte in dem folgendenZeitalter der »Humanität« für ernste, fromme Männer anziehender seinals der Gedanke, dass die Leiden der Menschheit nicht auf angeboreneMängel, sondern auf Mängel der Umgebung zurückzuführen seien unddass die zurückgebliebensten und tief stehenden Menschen gegebenenfallszu den höchsten Stufen emporsteigen könnten, wenn nur die Umweltgenügend gebessert würde?Auch die Lehre des französischen Naturforschers Lamarck von der Vererbungerworbener Eigenschaften beruht auf einer Überschätzung derUmwelteinflüsse. Und dann trat die material<strong>ist</strong>ische Geschichtsauffassungauf, die von den Sozialdemokraten ins Maßlose gesteigert wurde.Wir bedauern die außerordentliche Verherrlichung und Begünstigungder Soziologie, besonders in der Nachkriegszeit; denn auch für sie sindalle großen Männer Produkte ihrer Zeit und Umwelt.“ 93Die neu gewählte Reichsregierung in Berlin lässt es in dieser Frage nichtbei Worten und fordert ab Samstag, dem 1. April, zum Boykott jüdischerGeschäfte auf 94 und <strong>ist</strong> auch kein Aprilscherz – das kommt offiziell vonder Regierung. <strong>Das</strong> stößt viele Deutsche <strong>vor</strong> den Kopf. Im <strong>Jahr</strong> <strong>1933</strong> gibtes in Deutschland nur einen Helden. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> eine Frau. Baronesse MaimiCelina von Mirbach <strong>ist</strong> eine 33 <strong>Jahr</strong>e alte Frau, die in der Stadt Potsdamwohnt. Die einzige Heldin hört das Gegröle „Juda verrecke“ der SA inihrer Stadt. Jetzt findet sie in der Potsdamer Zeitung einen Leserbrief,den sie kürzlich geschrieben <strong>hat</strong>. Darin nennt sie das Hissen von Hakenkreuzfahnenan jüdischen Kaufhäusern einen Terrorakt. 95 Nicht übel fürden Anfang. <strong>Das</strong>s das abgedruckt wird, kann niemanden erstaunen, sinddoch viele Journal<strong>ist</strong>en 96 kritisch eingestellt gegen die Männer von der„braunen Fakultät“ 97 , wie Franz Josef Strauß* diese Truppenteile nennt.<strong>Es</strong> dauert auch nicht besonders lange, bis so was nicht mehr so einfach93 Léon Poliakov und Joseph Wulf, <strong>Das</strong> Dritte Reich und seine Denker, S. 400f.94 Der Nürnberger Prozess II, S. 47795 Herbert Straeten, Andere Deutsche unter Hitler. Zeitberichte über Retter <strong>vor</strong> demHolocaust, S. 10496 Marion Gräfin Dönhoff, Menschen, die wissen, worum es geht, S. 2597 Strauß, S. 3832


<strong>1933</strong>in eine Zeitung reinkommt. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> andererseits aber auch kein Zufall,dass Celina von Mirbach ernst nimmt, was sich im Lande tut. Sie gehörtzu den <strong>wenigen</strong> Leseratten, die das Buch Mein Kampf von Adolf Hitlerschon 1928 gelesen <strong>hat</strong>ten. Wer liest schon derartige politische Pamphleteoder auch nur Parteiprogramme? Man liest doch höchstens, wasin der Zeitung steht. Wenn man überhaupt irgendeine Zeitung mit Inhaltliest. Anzumerken bleibt, dass sich auch Baronesse von Mirbachnicht <strong>vor</strong> ein Schaufenster eines Juden stellt und die fliegenden Steineauffängt. Sie versucht es mit klaren Worten in einem Leserbrief.Der zweite einzige Held in Deutschland <strong>ist</strong> Karl Michael in Hettstedt amSüdharz. Er will in der Stadt gerade ein Paar Schuhe für seinen SohnWaldemar kaufen, als er die Männer von der SA sieht. Sie stehen <strong>vor</strong>dem Laden und erklären ihm, der Händler sei ein Jude und er solle dochwoanders einkaufen gehen. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> Karl so gleichgültig wie die Ansagedes Wetters von gestern. Er erwidert, dass die Schuhe hier am billigstenseien, und geht mit seinem Sohn in das Geschäft. 98 So harmlos bleibt dieSzene jedoch nicht überall.Der alltägliche Terror auf den Straßen bewirkt eine Reaktion, die sichernicht ungewöhnlich <strong>ist</strong>: viele haben banal Angst, dass sie selbst Schlägeabbekommen. Nur Einzelne greifen zu und helfen. Wer von den Lesernjetzt den ersten Stein wirft, muss sich fragen lassen, wann er schon malmit den Fäusten eine Schlägerei beendet <strong>hat</strong>. Wenn nicht gerade einervon der SA in der Nähe <strong>ist</strong>, raunen sich die Leute zu: „Lieber Gott machmich blind, dass ich Goebbels arisch find!“ 99 Zumindest aus der Zeitungkennen sie Bilder vom Klumpfuß und fragen sich, ob er eigentlich selbstschon mal in einen Spiegel gesehen <strong>hat</strong>. Nein, das kann die Tendenz zurAusgrenzung der Juden in Deutschland nicht aufhalten, aber es zeigt,was manch einer im Land von der Entwicklung hier hält. Richtig <strong>ist</strong> imgleichen Moment, dass viele Leute nichts dabei finden, dass andere invielen Bereichen diskriminiert werden. Die eine Wahrheit macht jedochdie andere Wahrheit nicht unwahr. Entscheidend wird später nur sein,wer dann in Deutschland noch zu Wort kommen wird.98 Erinnerung seines Enkels Peter Karl Michael aus Nassenerfurt in Hessen.99 Hirche, S, 11333


<strong>1933</strong>Die Reaktion, die der Terror bewirkt, <strong>ist</strong> Hitler bekannt. In Mein Kampferläuterte er, wie er als Hilfsarbeiter auf dem Bau versuchte, seine Ideenfür die Gesellschaft gegen sozialdemokratische Arbeiter durchzusetzen:„Anfangs versuchte ich zu schweigen. Endlich ging es aber nicht mehr.Ich begann Stellung zu nehmen, begann zu widersprechen. Da mussteich allerdings erkennen, daß dies so lange vollkommen aussichtslos war,solange ich nicht wenigstens bestimmte Kenntnisse über die nun einmalumstrittenen Punkte besaß. So begann ich in den Quellen zu spüren, ausdenen sie ihre vermeintliche Weisheit zogen. Buch um Buch, Broschüreum Broschüre kam jetzt an die Reihe. Am Bau aber ging es nun oft heißher. Ich stritt, von Tag zu Tag besser auch über ihr eigenes Wissen informiertals meine Widersacher selber, bis eines Tages jenes Mittel zurAnwendung kam, das freilich die Vernunft am leichtesten besiegt: derTerror, die Gewalt. Einige der Wortführer der Gegenseite zwangen mich,entweder den Bau sofort zu verlassen oder vom Gerüst herunterzufliegen.Da ich allein war, Widerstand aussichtslos erschien, zog ich es, umeine Erfahrung reicher, <strong>vor</strong>, dem ersten Rat zu folgen. Ich ging, von Ekelerfüllt, aber zugleich doch so ergriffen, daß es mir ganz unmöglich gewesenwäre, der ganzen Sache nun den Rücken zu kehren. Nein, nach demAufschießen der ersten Empörung gewann die Halsstarrigkeit wieder dieOberhand. Ich war fest entschlossen, dennoch wieder auf einen Bau zugehen. Bestärkt wurde ich in diesem Entschluss noch durch die Not, dieeinige <strong>Wochen</strong> später, nach dem Verzehren des geringen ersparten Lohnes,mich in ihre herzlosen Arme schloss. Nun musste ich, ob ich wollteoder nicht. Und das Spiel ging denn auch wieder von <strong>vor</strong>ne los, um ähnlichwie beim ersten Male, zu enden.“ So steht das auf Seite 42. Östlichder Oder, fast an der polnischen Grenze, wohnt ein kleines Mädchen. Sieheißt Chr<strong>ist</strong>a Wolf und sie wird später einmal Bücher schreiben. Einesdavon wird sie Kassandra nennen und darin sagen: „Viel später fiel mirauf, dass wie ein Mensch sich gegenüber Schmerz verhält, mehr überseine Zukunft verrät als die me<strong>ist</strong>en anderen Zeichen, die ich kenne.“Bei ihr steht das auf Seite 231; und Hitler schreibt in Mein Kampf aufSeite 46, welche Schlussfolgerung der junge Adolf Hitler aus der Angst<strong>vor</strong> der Anwendung von Gewalt zog: „Nicht minder verständlich wurdemir die Bedeutung des körperlichen Terrors dem Einzelnen, der Massegegenüber. Auch hier genaue Berechnung der psychologischen Wirkung.Der Terror auf der Arbeitsstätte, in der Fabrik, im Versammlungslokalund anlässlich der Massenkundgebung wird immer von Erfolg begleitet34


<strong>1933</strong>sein, solange ihm nicht ein gleich großer Terror entgegentritt.“ Auge umAuge und Zahn um Zahn. Wie verhält man sich gegenüber Schmerz?Kommen wir nach diesem Abstecher in die Vergangenheit zurück zum 1.April. Ein anderer, der diesen Tag in Berlin erlebt, <strong>ist</strong> Raimund Pretzel,25. Morgens um zehn erhält er ein Telegramm: „Komm bitte, wenn dukannst. Frank.“ 100 Der junge Deutsche setzt sich auf die Vorortbahn undfährt dorthin, wo Frank Landau wohnt. „Er war mein bester und ältesterFreund. Wir kannten uns seit der untersten Gymnasialklasse. Wir <strong>hat</strong>tenzusammen im »Rennbund Altpreußen« Rennen gelaufen und späterin »richtigen« Sportclubs. Wir <strong>hat</strong>ten zusammen studiert und warenjetzt Referendare. Wir <strong>hat</strong>ten so ziemlich jedes knabenhafte Hobby undjede knabenhafte Schwärmerei gemeinsam gehabt. Wir <strong>hat</strong>ten einanderunsere ersten literarischen Versuche <strong>vor</strong>gelesen, und wir taten dies mitunseren schon ernsthafteren literarischen Bemühungen – wir fühltenuns beide »eigentlich« mehr als Literaten denn als Referendare. Inmanchen <strong>Jahr</strong>en <strong>hat</strong>ten wir uns tagtäglich gesehen, und wir waren gewohnt,alles miteinander zu teilen – einschließlich sogar unserer Liebesgeschichten,die wir <strong>vor</strong>einander ohne das Gefühl der Indiskretion auszubreitenpflegten.“ 101Der Vater von Frank <strong>ist</strong> Arzt und zu boykottieren. Pretzel kommt in demMoment nicht der Gedanke, dass Franks Vater im Weltkrieg sicher auchfür sein Vaterland gekämpft <strong>hat</strong>. Der Jude. Für Deutschland. Die Situation<strong>ist</strong> derart absurd, dass dem jungen Mann die Gedanken vergehenund ganz andere kommen. Er will hier weg. „Die jüdischen Geschäfte –es gab ziemlich viele in den östlichen Straßen – standen offen, <strong>vor</strong> denLadentüren standen breitbeinig aufgepflanzt SA-Leute. An die Schaufensterwaren Unflätigkeiten geschmiert, und die Ladeninhaber <strong>hat</strong>tensich me<strong>ist</strong>ens unsichtbar gemacht.“ 102 Diese Szenen überall im Landspalten dieses Volk. Ein Teil begrüßt, was hier beginnt, und ein andererTeil steht hilflos einer gesetzlich sanktionierten Gesetzlosigkeit gegenüber.Wie groß sind die beiden Teile? Lässt sich die Linie ziehen, wo jemanddie NSDAP wählt? 44 Prozent nach dem Verbot der KPD und denRundfunkreden des Friedenskanzlers? 37 Prozent im Juli 1932? Muss100 Sebastian Haffner, Zwischen den Kriegen, S. 53101 Ebd., S. 53102 Haffner., S. 5435


<strong>1933</strong>man die 32 Prozent im November 1932 ansetzen? Oder <strong>ist</strong> das zu einfach?Hans-Bernd Gisevius, der in Nürnberg 1946 als Zeuge auftritt,meint, für körperliche Gewalt gegen die Juden hätte Hitler nicht einmalin der Partei eine Mehrheit gehabt. Gleichlautend wird sich in Nürnberg1946 der Anwalt für die politischen Leiter äußern. 103 Raimund Pretzelerlebt die Szene an diesem Samstag jedenfalls als wüst, und <strong>ist</strong> entsetzt,dass so viele Leute gaffen und nicht eingreifen. Und in diesem Momentschlägt direkt neben ihm ein Blitz ein und eine gewaltige Stimme ruftaus dem Off: „Schäme dich deiner Gedanken! Auch du stehst nur herumund machst nichts, Pretzel!“ Später geht Raimund Pretzel nach Englandund legt sich auf der Insel den Namen Sebastian Haffner* zu.Die dreiundzwanzigjährige Marion Gräfin Dönhoff, das vierte Kind ihrerEltern, die im Osten auf Schloss Friedrichstein in Ostpreußen wohnen,studiert seit einem <strong>Jahr</strong> Volkswirtschaftslehre in Frankfurt am Main. Siewill begreifen, wie es zu den wirtschaftlichen Problemen der zwanziger<strong>Jahr</strong>e kam. Momentan sieht sie jedoch <strong>vor</strong> allem in den randalierendenbraunen Männern auf der Straße ein Problem. „Sie versucht die Hakenkreuzfahnevom Dach der Universität zu entfernen und reißt Plakate, dieDozenten als Juden und Linke anprangern, von den Wänden. Sie verteiltFlugblätter gegen die Nationalsozial<strong>ist</strong>en und wird wegen ihrerSympathien für die Linken als die »rote Gräfin« bekannt.“ 104 Im Unterschiedzu dem Mut, den namenlose einfache Leute 105 in einer Zeit an denTag legen, in der jeder aus irgendeinem Grund Angst haben muss, Opferdieser Gewaltausbrüche zu werden, wird der Mut einer Marion GräfinDönhoff* später einmal mit ihrem Namen und ihrem Gesicht verbundenwerden. Woran das bloß liegt?Zu spät reift bei anderen wie dem chr<strong>ist</strong>lichen Pfarrer Martin Niemöllerdie Erkenntnis, dass sie auch unter diesen Bürgerkriegsverhältnissen dieRechte der anderen hätten verteidigen müssen, als sie selbst noch nichtbetroffen waren. Nach der Entlassung aus einem Konzentrationslagerwird er dann 1945 sagen: „Als die Nazis die Kommun<strong>ist</strong>en holten, habeich geschwiegen; ich war ja kein Kommun<strong>ist</strong>. Als sie die Sozialdemokra-103 Der Nürnberger Prozess I, S. 516f.104 Internetquelle 6105 Vgl. Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler; Steinbach, Widerstand;Herben Straeten, Andere Deutsche gegen Hitler36


<strong>1933</strong>ten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja keinGewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich warja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestierenkonnte.“ 106 Niemöller* bleibt nicht der Einzige mit dieser Erkenntnis. Er<strong>ist</strong> jedoch schon über ein <strong>Jahr</strong>zehnt mit Else verheiratet und auch ausdiesem Grund <strong>vor</strong>sichtiger als andere. Außerdem <strong>hat</strong> er schon seit 1924die NSDAP gewählt und die Einführung des Führerstaates Anfang dieses<strong>Jahr</strong>es herzlich begrüßt, so dass er jetzt erst einmal in seinem Kopf allessortieren muss, was sich unter der <strong>neue</strong>n Regierung hier so abspielt. <strong>Es</strong>gibt jedoch eine Menge andere, die deutlich spontaner auf die Ereignissereagieren als der 41-jährige Pfarrer. Unter den jetzigen Bedingungen <strong>ist</strong>es jedoch nicht einfach zu schätzen, wie viele Leute den Terror der Irrenals unsäglich empfinden.Der jüdische Professor Hans Rothfels aus Kassel, den die Experten ein<strong>Jahr</strong> danach entlassen, weil er nicht der richtigen Rasse angehört, wird1947 bestätigen, dass sich antijüdische Gesinnungen und Handlungen inDeutschland gerade nicht der allgemeinen Zustimmung erfreuten. 107 DieLeute wissen nur zu gut, dass es sich nicht um Greuelmärchen handelt,wenn ausländische Medien berichten, wie in Deutschland mit den Judenumgegangen wird. Seit dem Frühjahr ge<strong>ist</strong>ern Sprüche wie dieser durchdas Land: Isaak trifft Cohn, dessen Kopf dick verbunden <strong>ist</strong>. Außerdemträgt er einen Arm in der Binde und er hinkt. „Nu, was <strong>ist</strong>, Cohn“, ruftIsaak entsetzt, „was <strong>hat</strong> man mit dir gemacht?“ „Pst!“ flüstert Cohn ausseinem Verband heraus. „Sei still! Ich bin ein Greuelmärchen!“ 108Wer sind auf der anderen Seite eigentlich diejenigen, die in gebügeltenbraunen Uniformen an diesem Samstag über jüdische Läden herfallen?Kennen sie einen der nur 520.000 Juden in Deutschland 109 persönlich?Vielleicht sind es nicht die Schwächlichsten und auch nicht die Klügsten.<strong>Es</strong> sind Straßenjungs mit rohen Manieren. Welche Rolle sollen pro- oderantijüdische Gedanken bei den Schlägern spielen? Wenn keine Bildung<strong>vor</strong>handen <strong>ist</strong>, <strong>hat</strong> es Ideologie schwer. Vielleicht haben diese Leute zu106 Steinbach, S. 12107 Rothfels, S. 36108 Hirche, S. 35109 Straeten, S. 1337


<strong>1933</strong>allem eine Meinung. Aber wen überrascht es, dass die, die am wenigstenim Kopf haben, zu allem ihren Senf geben wollen? <strong>Es</strong> muss doch nachdenklichmachen, wenn jemand, der nach der achten Klasse die Schulebeendet und mit seinen Kumpels bei einer Bierrunde von Kommun<strong>ist</strong>enlandet, auf einmal nach zweieinhalb <strong>Jahr</strong>en in die SA wechselt.Welche Ideologie soll der denn haben? Ihm geht es um ein gemeinsamesBier, um einen Radau, der Spaß macht, eine Schlägerei, Action. <strong>Es</strong> gehtdarum, Arbeit zu bekommen, damit man nicht bei den Eltern um Knetebetteln muss. Wer das bietet, <strong>ist</strong> ein Freund. Von den anderen <strong>hat</strong> manja nichts. Noch <strong>vor</strong> ein paar <strong>Wochen</strong> kam immer noch ein Schutzmann,wenn man sich auf der Straße gekloppt <strong>hat</strong>, und jetzt werden auf einmalganze Gruppen von Leuten für vogelfrei erklärt. Klasse! <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> völlig egal,ob die Kommun<strong>ist</strong>en zum Abschuss freigegeben werden oder irgendweranders. Man darf mal die Sau rauslassen und keiner belangt einen dafür.Da wird nicht lange gefackelt; wer weiß, wie lange man das noch so darf.Und es <strong>ist</strong> ganz gewiss unwahrscheinlich, dass sich die Rassenideologenpersönlich an diesen Ausschreitungen beteiligen.<strong>Das</strong>s es diesen Straßenjungs gar nicht um Ideologie gehen kann, bewe<strong>ist</strong>sich in diesen Tagen in Berlin. <strong>Es</strong> gibt nun schon geraume Zeit Bunker,in denen man andere Männer Tag und Nacht einsperrt und foltert. <strong>Das</strong><strong>ist</strong> viel besser, als in der Systemzeit von Weimar. Nur laufen draußen aufder Straße Poliz<strong>ist</strong>en Streife, die in althergebrachten Kategorien denkenund eingreifen wollen. „Nur lässt sich die SA höchst ungern verhaften.Lieber verhaftet sie selber. Sobald die Polizei versucht, jemanden aus ihrenBunkern herauszuholen, gibt es schwere Schlägereien.“ Die Vorfällehäufen sich und Beschwerden gehen beim Innenmin<strong>ist</strong>er ein. HermannGöring <strong>ist</strong> in einer Zwickmühle. Er selbst <strong>hat</strong> ja Stil; er schätzt das feineLeben, zieht sich ausgewählt an. Aber wenn andere für den feinen Herrnjemanden umbringen, soll es ihm recht sein. Mit ihm als Innenmin<strong>ist</strong>er<strong>hat</strong>te man den Bock zum Gärtner gemacht. Doch jetzt hilft alles nichts –als Innenmin<strong>ist</strong>er muss er etwas unternehmen. „Da verfällt Göring aufeinen rettenden Gedanken. In Zivil verkleidet, lediglich von zwei bewaffnetenPolizeihauptleuten flankiert, geht er selber zur Hedemannstraße.Dort befindet sich einer der berüchtigsten Bunker. Furchtbare Dinge erzähltman sich von ihm. In der Min<strong>ist</strong>erpräsidentschaft stapeln sich dieAkten darüber. Nun muss man sich das Bild <strong>vor</strong>stellen, wie Göring an38


<strong>1933</strong>der nächsten Straßenecke halt macht und sich persönlich davon überzeugt,dass schauerliche Schreie noch Hunderte von Metern weit zu hörensind. Was wird er, Göring, jetzt tun? Hineingehen? Nein, das getrauter sich nicht. Aber er findet einen charakter<strong>ist</strong>ischen Ausweg.Er holt sich in den nächsten Tagen die gesamte SA-Belegschaft aus derHedemannstraße zuzüglich einer weiteren Kolonne aus der General-Pape-Straße. Damit <strong>hat</strong> er die verwegensten Totschläger der Berliner SAbeieinander. Diese Halunken ernennt er zu seiner »Feldpolizei«.Er dekoriert sie mit aufdringlichen Polize<strong>ist</strong>ernen und verleiht ihnen unbeschränktePolizeibefugnisse, besonders innerhalb der SA. Dann betrauter sie mit der ehrenvollen Aufgabe, nunmehr rücksichtslos auf ihresgleicheneinzudreschen. Diese Rechnung geht auf. Solchen Kerlen <strong>ist</strong>es völlig gleich, wen und weshalb sie zu Tode prügeln. Hauptsache <strong>ist</strong>,dass sich allabendlich ihre Bunker füllen. Deshalb sind die Feldjägerbald in der gesamten Bewegung gefürchtet. In ihrer Art schaffen sie tatsächlich»Ordnung«, mit der sich noch der ungewollte Vorzug verbindet,dass sie sich mit der Zeit selber eliminieren. Von denen, die bei derGründung dabei sind, bleibt kaum einer übrig. Was sich nicht in denersten zwei <strong>Jahr</strong>en gegenseitig totschlägt, wird späterhin, als die Zeitenruhiger werden, wegen krimineller Delikte eingesperrt.Als letzter der ursprünglichen Mannschaft geht ihr Chef über Bord. DemStandartenführer Fritsch gelingt es noch, richtiggehender Polizeioberstzu werden. In dieser Würde hascht ihn sein Schicksal. Er, der so vielehinter Schloss und Riegel gesetzt <strong>hat</strong>, wird Mitte 1935 selber abgeholt.“Lachen Sie nicht, Dr. Gisevius <strong>ist</strong> froh, dass der Innenmin<strong>ist</strong>er jetzt denSchutzhafterlass herausgibt. „Zehntausende sitzen in den Gefängnissen,Bunkern oder Lagern, ohne zu ahnen warum, ja ohne dass ihre eigenenLagerkommandanten wissen, weshalb sie eingeliefert wurden. Immerhinbringt der Erlass eine gewisse Übersichtlichkeit in dieses heimtückischeSystem neuzeitlicher Freiheitsberaubung, bei dem die Häftlinge <strong>vor</strong>sich selber in Schutz genommen werden.“ 110In diesen <strong>Wochen</strong> nach den Gewaltakten gegen viele jüdische Geschäfte,für die an <strong>vor</strong>derster Front Hitlers Berater bei der Volksaufklärung undPropaganda Dr. Joseph Goebbels schon seit <strong>Jahr</strong>en Stimmung gemacht<strong>hat</strong>te, entsteht folgender Liedtext, den man nur wenige <strong>Wochen</strong> späterauf Platte mit den Vier Nachrichtern in Goebbels’ rheinischem Dialekt110 Gisevius I, S. 139f.39


<strong>1933</strong>genießen kann: „Gehirnschwund, Kalk, Arteriosklerose. Rasch tritt dieGicht den Menschen an. Und seufzend stehst du <strong>vor</strong> der Diagnose: Beidir <strong>ist</strong> irgendwas nicht richtig, Mann. Se müssten mal zum Dokter jeh’n,Herr Dokter. Dat kann doch nich so weiterjehn, Herr Dokter. Sicher <strong>hat</strong>Professor Freud auch für Sie a Kleinichkeit, die Sie von den Leiden, dieSie leiden, janz befreit. Dat is ja nich mehr anzusehn, Herr Dokter. Siesollten wirklich mal, ja, ja, Sie müssten wirklich mal, also, er muss dochwirklich mal zum Onkel Dokter jeh’n.“ 111 Als „der Doktor“ wird Goebbelsübrigens unter anderem auch bei der SA bezeichnet. 112Goebbels <strong>hat</strong> wahrhaft riesige Opfer für die Umgestaltung Deutschlandsauf sich genommen. Joseph oder Jupp, wie man ihn nennen soll, machtman auf der Straße hinter <strong>vor</strong>gehaltener Hand zu Bumsbeen, Ma<strong>hat</strong>maPropagandhi, Reichslügenmaul, Reichsspruchbeutel, nachgedunkelterSchrumpfgermane oder gelegentlich auch zu Wotans Mickymaus. Nichtalle dieser Namen <strong>hat</strong> er von Anfang an – aber er <strong>hat</strong> sie in Aussicht. Alser auf Schwanenwerder im Westen von Berlin einzieht, nennen ihn dieLeute in feinster Respektlosigkeit den Edlen Bock von Schwanenwerder.Dabei <strong>ist</strong> wichtig, dass das auch nicht der Falsche hört, sonst geht es abnach Dachau. Dort <strong>ist</strong> noch Platz. Und wenn Letzterer nicht reicht, dannwird ausgebaut. <strong>Es</strong> muss ja auch nicht in Bayern sein. Die Verlogenheitseiner Propaganda wird als das System Klumpfuß tituliert, das Radio alsGoebbelsschnauze oder Klumpfüßchens Zeitvertreib und seine Sendung„Stunde der Nation“ findet sich wieder als Josephs Märchenstunde. Naja, und dann kursieren Witze wie der hier: Goebbels <strong>ist</strong> Ehrenbürger vonLeipzig, oder wo man gerade wohnt, geworden. Warum? Weil Goebbelsder einzige Deutsche <strong>ist</strong>, der den Spargel quer essen kann. 113 Seine großeKlappe bietet noch Stoff für viele andere Witze.Während der Kanzler überall seine Reden für den inneren und äußerenFrieden hält, sind die führenden Männer in den Kirchen im Clinch überihre Haltung zur avisierten nationalen Er<strong>neue</strong>rung Deutschlands. Schonam Montag nach dem Beginn des Boykotts jüdischer Geschäfte trifft sichdie Führung der Deutschen Chr<strong>ist</strong>en zu ihrer ersten Reichstagung. Siekönnen sich nicht für das Altonaer Bekenntnis vom Januar erwärmen.111 Von der Schellack-Platte „Sie müssen mal zum Doktor geh'n, Herr Doktor.“112 Gisevius I, S. 88113 Hirche, S. 98f.40


<strong>1933</strong>Wenn Deutschland im revolutionären Aufbruch <strong>ist</strong>, können sie nicht analten Sprüchen hängen. Am 4. April <strong>1933</strong> bringen Sie das Ergebnis ihrerZusammenkunft an die Öffentlichkeit: „Gott <strong>hat</strong> mich als Deutschen geschaffen,Deutschsein <strong>ist</strong> Geschenk Gottes. Gott will, dass ich für meinDeutschland kämpfe. Kriegsdienst <strong>ist</strong> in keinem Fall Vergewaltigung deschr<strong>ist</strong>lichen Gewissens, sondern Gehorsam gegen Gott . . . Der StaatAdolf Hitlers ruft nach der Kirche, die Kirche <strong>hat</strong> den Ruf zu hören . . .Chr<strong>ist</strong>us <strong>ist</strong> zu uns gekommen durch Adolf Hitler!“ 114Um gerecht zu bleiben – die Nazis haben sich die evangelischen Kirchenaber auch schneller und massiver <strong>vor</strong>genommen als die katholische. DerDiplomat Erich Kordt weiß es: „Dem Grundsatz getreu, immer nur einenGegner anzugreifen, konzentrierten sich die Bestrebungen der NSDAPzunächst auf die protestantische Kirche. Mit den gleichen Methoden,mit denen die politische Macht übernommen worden war, sollten auchdie Kirchen gleichgeschaltet werden. Zunächst wurde eine große ZahlSA-Männer, die bisher nur bürgerliche Eheschließungen <strong>vor</strong>genommen<strong>hat</strong>ten, zu kirchlichen Massentrauungen veranlasst. In der Propagandawurde scharf gegen die aus der Kirche Ausgetretenen gewettert. Gleichzeitigwurde eine »Vereinigung deutscher Chr<strong>ist</strong>en« gebildet, die bei derKirchenwahl mit staatlicher Unterstützung die Mehrheit erhalten unddie Pfarrhäuser ähnlich besetzen sollte, wie es <strong>vor</strong>her mit den Polizeipräsidiendurch die SA geschehen war. Obwohl gerade aus der protestantischenPfarrerschaft die NSDAP bei den politischen Wahlen wertvolleUnterstützung erhalten <strong>hat</strong>te, setzte sich die Mehrheit der deutschenPfarrer unter der Führung von Pastor Niemöller hiergegen zur Wehr,und der Plan einer einfachen Machtübernahme scheiterte. Auch der mitUnterstützung der Partei fungierende sogenannte Reichsbischof Müller<strong>hat</strong>te kein Glück.“ 115 Martin Niemöller hebt mit Gleichgesinnten einenPfarrernotbund aus der Taufe. Sie möchten die Freiheit des chr<strong>ist</strong>lichenBekenntnisses <strong>vor</strong> der braunen Vereinnahmung schützen und halten ander Einheit von Altem und Neuem Testament fest. 116Der politische Katholizismus und die Katholische Arbeiterbewegung aufder anderen Seite waren bereits <strong>vor</strong> dem <strong>Jahr</strong>eswechsel auf D<strong>ist</strong>anz zu114 Internetquelle 7115 Kordt, S. 34116 Steinbach, S. 16641


<strong>1933</strong>diesen braun Uniformierten gegangen. Viele Bischöfe verurteilten dasBuch Mythos des 20. <strong>Jahr</strong>hunderts des Rassenfanatikers Alfred Rosenberg.Was die Nazis als Weltanschauung verkauften, bezeichneten sie alseine Irrlehre. Mit dem artgemäßen Chr<strong>ist</strong>entum in der EvangelischenKirche können sie nichts anfangen. Anders als bei den Protestanten gibtes in der Katholischen Kirche eine lange Tradition des Widerstandsdenkensund des Märtyrertums. So sind viele bereit, auch Verfolgung, Haftund Folter wegen ihrer Überzeugungen auf sich zu nehmen, 117 wobei sichdas in der Theorie feierlicher liest, als es in Wirklichkeit <strong>ist</strong>. Unter derHand macht bald dieser Spruch die Runde: Auch die Pfarrer grüßenjetzt mit „Heil Hitler!“ Aber der katholische grüßt anders als der evangelische.Der evangelische Pfarrer ruft: „Im Namen Gottes, Heil Hitler!“Der katholische Pfarrer grüßt: „In Gottes Namen, Heil Hitler.“ 118 <strong>Das</strong> <strong>hat</strong>nicht denselben Klang und das <strong>hat</strong> nicht denselben Inhalt.Um die Gleichschaltung der Länder noch weiter zu verbessern, wird am7. April ein zweites Gesetz dazu erlassen. Jetzt können Reichsstatthalterernannt werden. Der Kanzler muss nur geeignete Jungs für diese Postenfinden und sie <strong>vor</strong>schlagen. In der Regel findet er sie in den Gauleiternder NSDAP. Der Statthalter darf mehr als andere Leute. Er kann denVorsitzenden der Landesregierung entlassen, wenn der nicht macht, waser soll, und er kann einen geeigneten Kandidaten ernennen. Im Bedarfsfallkann er gleich den ganzen Landtag an die frische Luft befördern. EinMisstrauensbeschluss des Landtages <strong>ist</strong> nicht mehr zulässig. 119 Eigentlich<strong>ist</strong> niemand so richtig überrascht, dass man immer seltener Gegenstimmenzur Linie der Reichsregierung zu hören bekommt. Weil sie geradedabei <strong>ist</strong>, erlässt sie gleich noch ein Gesetz zur Wiederherstellungdes Berufsbeamtentums. Damit werden „Nichtarier“ endgültig aus vielenBerufen ausgeschlossen. Einer von ihnen <strong>ist</strong> Robert Kempner. Er <strong>ist</strong>Justiziar im Preußischen Innenmin<strong>ist</strong>erium. Zumindest bis dieses Gesetzgreift. Er wird sein Heimatland verlassen und in Nürnberg einer derwichtigsten Ankläger gegen das „Ancien Régime“ werden. Dieses Gesetzvom 7. April <strong>ist</strong> zwar gar nicht für die Wirtschaft gedacht, doch mancherwittert auch hier Morgenluft. Ob in den Aufsichtsräten, Vorständen oderWirtschaftsverbänden – überall <strong>ist</strong> man schnell bei der Sache und nutzt117 Steinbach, S. 166f.118 Hirche, S. 84119 Ecke, S. 2242


<strong>1933</strong>die Gelegenheit für seinen eigenen Vorteil, 120 setzt die Juden <strong>vor</strong> die Türund holt dafür gute Bekannte herein. Bei dem Gesetz ging es nur darum,Nazis in entscheidende Posten der Verwaltung zu manövrieren. Ergänztwird das Paket von einem Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft.Darin heißt es, dass die Zulassung von Anwälten bis zum Herbstzurückgenommen werden kann. 121Wer an den Gesetzen schon nichts ändern kann, übertreibt sie durch dieÜbertragung der zynischen Gesetzestexte in astreinem Beamtendeutschauf das berufliche Feld der leichten Mädchen: „Auch das Dirnenwesensoll gemäß dem Reichsbeamten- und Anwaltsgesetz von nichtarischenElementen gereinigt werden. Danach dürfen beruflich nur noch Dirnentätig sein: 1. solche, die rein arisch sind; 2. solche, die ihr Gewerbe schon<strong>vor</strong> 1914 ausgeübt haben; 3. solche, deren Mütter im Kriege gefallensind.“ Oder auch so: Was <strong>ist</strong> es? <strong>Es</strong> liegt <strong>vor</strong> der Tür und lügt. – Der VB.<strong>1933</strong> muss man niemandem erklären, dass der VB das Nazi-Blatt <strong>ist</strong>, derVölkische Beobachter. Oder, wie wäre es damit? Wie geht es Ihnen? –Danke, jetzt geht es mir einigermaßen erträglich: Ich habe den Rundfunkabbestellt. 122 Viele Deutsche verlassen in diesen Tagen ihre Heimatund suchen Zuflucht im Ausland. Unter ihnen <strong>ist</strong> Herbert Frahm. Spätererinnert er sich an jene Zeit: „Ein schwerer Abschied war es nicht, denich, an einem der ersten Apriltage des <strong>Jahr</strong>es <strong>1933</strong>, von Lübeck nahm.Ich musste weg, wenn ich nicht Leib und Seele riskieren wollte, und denBlick nach draußen wenden. Wo hätte ich die Muße hernehmen sollenfür den Blick zurück?“ 123 Dort, fern der Heimat, wird Herbert Frahm denNamen Willy Brandt* annehmen. Wenn wir schon bei Herbert sind, sowollen wir gleich mit Herbert von Bismarck* weitermachen. Der andereHerbert verlässt dieses Land nicht. Er <strong>ist</strong> Staatssekretär im preußischenInnenmin<strong>ist</strong>erium, zumindest bis <strong>1933</strong>. Er legt sich dauernd an mit dem<strong>neue</strong>n Chef Hermann Göring. Er protestiert laut und deutlich gegen dieGesetzwidrigkeit der Verfolgungen, die <strong>neue</strong>rdings auch von staatlichenOrganen ausgehen und er bemüht sich, die Min<strong>ist</strong>er, die nicht der Nazi-Partei angehören, zum Rücktritt zu bewegen. Weil ihm das nicht gelingt,tritt er am 10. April zurück. Bleibt nur noch anzumerken, dass der eine120 Ecke, S. 95121 Ebd., S. 97122 Hirche, S. 88 und 120123 Willy Brandt, Erinnerungen, S. 8543


<strong>1933</strong>Herbert in den nächsten tausend <strong>Jahr</strong>en im Ausland genau so viel oderwenig für Deutschland tun kann wie der andere Herbert in der innerenEmigration. Davon abgesehen, sind viele Leute im Ausland ja auch nichterbaut von den Emigranten aus Deutschland. Doch davon wird später zureden sein.Mitte April sondiert Warschau erneut in Paris die Bereitschaft für einenPräventivkrieg gegen das Reich. In Polen sind im Moment gerade mehrantideutsche Stimmungen am Wogen; die polnischen Aversionen gegendie Ukrainer, Kaschuben, Juden, Weißrussen und Tschechen im Landespielen jetzt eher so eine untergeordnete Rolle. Man muss auf jeden FallPrioritäten setzen. Piłsudski lässt Truppen aufmarschieren; auf Befehldes Marschalls hin wird Kavallerie in Pomerellen, <strong>vor</strong> Danzig und an derGrenze zu Ostpreußen konzentriert, Elitetruppen werden von der Ostgrenzeabgezogen und auch an die deutschen Grenzen verlegt. In diesenTagen informiert der deutsche Botschafter von Moltke das AuswärtigeAmt über die Warschauer Versuche, Frankreich zum Präventivkrieg zubewegen. 124 Erneut wehrt Paris dieses Ansinnen ab.Der 1. Mai <strong>ist</strong> traditionell der große Kampftag der Arbeiter. Dieses <strong>Jahr</strong>wird er besonders feierlich, denn diesmal spricht nicht irgendwer von soeiner Gewerkschaft sondern der Kanzler des Reiches persönlich. Allesströmt zum Tempelhofer Feld in Berlin. Wahrscheinlich kommen Leuteaus dem ganzen Berliner Umland, denn in der Stadt <strong>ist</strong> man bekanntlichnicht so von ihm angetan. In den noblen Gegenden am Grunewald blicktman auf den Volksredner herunter und in den Arbeiterbezirken wählteman die SPD oder die KPD. Vor über einer Million Teilnehmern erklärtder Kanzler den Tag zum „Feiertag der nationalen Arbeit“. 125 Gab es daswirklich schon einmal, dass ein Kanzler zum 1. Mai sprach? Er <strong>hat</strong> demPublikum auch eine ganz besondere Überraschung mitgebracht. Derjunge Kanzler glänzt mit einem Autobahnprogramm für Deutschland.Den Deutschen wird ein Volkswagen in Aussicht gestellt, wenn sie jedenMonat 5 Mark auf die hohe Kante legen. <strong>Es</strong> dürfen gern auch mehr sein.Nach drei <strong>Jahr</strong>en <strong>hat</strong> man dann mindestens ein Sparguthaben von 780Reichsmark. Dann wird man den Wagen bekommen, der eigentlich 990Mark kosten soll. Den Wagen gibt es zwar noch nicht, aber Vorfreude <strong>ist</strong>124 Schultze-Rhonhof, S. 405125 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 10644


<strong>1933</strong>immer noch die schönste Freude. So wird man bei den kleinen Leutenganz schnell der Größte. Bis 1939 werden 336.668 Sparer 236 MillionenMark eingezahlt haben. Da keiner von ihnen ein Hellseher <strong>ist</strong>, wissen sieauf dem Tempelhofer Feld natürlich nicht, dass kaum einer von ihnen soein Auto kaufen wird, weil das VW-Werk bei strenger Geheimhaltungfast ausschließlich Militärfahrzeuge herstellen wird. 126Für den 3. Mai wünscht sich der <strong>neue</strong> Kanzler den Beitritt der chr<strong>ist</strong>lichorientierten Gewerkschaften zu einem nationalsozial<strong>ist</strong>isch orientierten„Aktionskomitee zum Schutz der deutschen Arbeit“ – also faktisch eineSelbstauflösung der chr<strong>ist</strong>lichen Arbeitervereine. Viele der Funktionäregeben diesem Akt aus unterschiedlichen Gründen ihre Zustimmung.Aber einer von ihnen verweigert sie. Er heißt Jakob Kaiser*. Er wird ausseiner Gewerkschaft entlassen, doch er bemüht sich nach der letztlichenZerschlagung der chr<strong>ist</strong>lichen Gewerkschaften als eine Art Treuhänder,die Anerkennung von Versorgungsansprüchen der entlassenen Gewerkschaftsmitgliederbei den Behörden durchzusetzen, was nicht gelingt. 127Nur zehn Tage nach dem 1. Mai findet noch so eine Großveranstaltungstatt und große Feuer lodern in den deutschen Universitätsstädten, dort,wo Schiller, Goethe und wer sonst noch denken konnte, <strong>vor</strong> Studenteneinst sein Wissen ausgebreitet <strong>hat</strong>te. In Berlin findet die Veranstaltunggegenüber der Wilhelms-Universität und neben der Bibliothek statt. <strong>Das</strong><strong>ist</strong> praktisch, denn man will ja die falschen Bücher auf einem loderndenScheiterhaufen verbrennen. Theodor Heuss <strong>ist</strong> nun weniger überrascht,dass seine Broschüre Hitlers Weg aus dem Vorjahr genannt und in dieFlammen geworfen wird, als darüber, dass bei dieser feierlichen Bücherverbrennungauch gleich alles andere falsch gewesen sein soll, was er inseinem bisherigen Leben gelesen <strong>hat</strong>. Er kann sich auch nicht <strong>vor</strong>stellen,dass die uniform gekleideten Männer, die jetzt einen Bücherstapel nachdem anderen nehmen und in die Glut werfen, wirklich die Qualifikationhaben, um zu entscheiden, in welchen Büchern die absolute Wahrheit zufinden <strong>ist</strong> und in welchen völliger Unfug steht.Gehen jetzt all die Leseratten zu ihren Bücherregalen und entfernen ihreBücher von den falschen Autoren? Doch warum hält niemand die braun126 Ecke, S. 53127 Steinbach, S. 16145


<strong>1933</strong>Uniformierten von ihrem Tun ab? Steht es an den Veranstaltungsortennicht hundert zu null? Warum protestiert niemand? Heinrich Heine <strong>ist</strong>zum Protest nicht mehr in der Lage. Er <strong>ist</strong> nun bereits geraume Zeit tot.Doch Theodor Heuss <strong>ist</strong> quicklebendig. Hat er sich zwischen das Feuerund die Muskelmänner gestellt? Kann man also formulieren, dass dieseAktion von den Autoren und Leseratten in Deutschland begrüßt wurde?Doch etwas kann man sagen: dass diese wüste Szene, die sich in vielenUniversitätsstädten abspielt, ohne Zweifel beiträgt zur Meinungsbildungin der Bevölkerung, so oder so. Manch einer kauft sich zum Beispiel die<strong>neue</strong> Platte von Weiß-Ferdl. 128 Hören wir ein bisschen hinein.Früher gab’s so viel Parteien, deshalb auch viel Reibereienbis dann kam ein Ingenieur, und sprach: nein, so geht’s nicht mehr.Weg mit diesen Wechselströmen, woll’n wir lieber Gleichstrom nehmen.Er <strong>hat</strong> aus- und umgeschaltet: gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Hat man Zeitungen gelesen, früher <strong>ist</strong> man blöd gewesen.Die schrieb: Bravo! Richtig! Heil!Die and’re: Pfui – grad ’s Gegenteil!Doch das Geld kannst dir jetzt sparen. Liest du eine, b<strong>ist</strong> im Klaren:Gleichlautend sind all’ gestaltet, Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Arbeitsdienst wurd’ eingeführet, mancher freudig mitmarschieret,endlich schaffen, Gott sei Dank, And’re aber macht das bang. Stattbeim Fünf-Uhr-Tee beim Schwofen soll er jetzt im Gleichschritt loofen,handgepflegt den Spaten halten. Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Man hört nicht mehr Saxophone, tanzt nicht Rumba, Tscharlestone,Fort mit Jazz und Niggertanz, sind nicht mehr meschugge ganz.Alte Weisen hört man wieder, stramme Märsche, deutsche Lieder,die man gern im Ohr behaltet, gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Bei den Abrüstungskonf’renzen, die Franzosen immer penzen,Deutschland, ach, bedroht uns sehr, doch die Welt glaubt’s längst nichtmehr. Unser Kanzler sprach es offen: Friede <strong>hat</strong> nur der zu hoffen,der abrüstet. Da Wort haltet! Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.128 Von der Schelleck-Platte „Gleichgeschaltet“46


<strong>1933</strong>Uns’re Frauen gern mithalten, ganz bege<strong>ist</strong>ert sie gleichschalten,Geht der Mann am Abend aus, macht sie’s auch, bleibt nicht zu Haus.Kriegt die Nachb’rin Hut und Kleider, rennt sie auch sofort zumSchneider. Glaubst, dass die das Alt’ behaltet?Oh, gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Will der Mann e’ Freundin halten und nich treu blei’m seiner Alten,geht im Saft die deutsche Frau, droht dem Gatten mit Dacháu.Zwanzig <strong>Jahr</strong>’ hast du verdrossen, meine Reize du genossen?Dabei bleibt’s, du bis auch veraltet. Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Ganz vereint sind Bayern-Preißen, nicht mehr ausanand zu reißen.Statt, dass in die Berg’ wir ziehen mach mer Weekend in Berlin,nun im Lunapark dort droben, die Preußen lernen dafür jodeln.Mensch, wie det zusammenhaltet, Gleichjeschaltet, gleichjeschaltet.Wenn wir fest zusammen stehen, muss’s doch wieder aufwärts gehen!Baue Arbeitsmann und Knecht, alle Bürger gleiches Recht!Für das Land, das wir gestritten, und viel <strong>Jahr</strong>e Not gelitten,woll’n wir leben ungespaltet, gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.Auch im Ausland tragen die Veränderungen der letzten Monate auf derpolitischen Bühne in Deutschland zu einem Meinungswandel bei. Wennder sowjetische Botschafter in Berlin nach dem Frühstück die Zeitungenliest, wird jetzt noch öfter vom nötigen Kampf gegen den Bolschewismusgeschrieben. Darüber macht er sich so seine Gedanken. Im Moment <strong>ist</strong>das für sein Land natürlich keine Gefahr, dafür <strong>ist</strong> die eigene Armee zugroß und die deutsche dagegen verschwindend klein. Aber er macht sicheben seine Gedanken. Moskauer Diplomaten und Politiker <strong>hat</strong>ten schonseit <strong>Jahr</strong>en da<strong>vor</strong> gewarnt, die Reichswehr zu sehr zu unterstützen. DieMilitärs <strong>hat</strong>ten sich aber immer durchgesetzt. Im Mai <strong>1933</strong> <strong>ist</strong> das Maßvoll, und die Militärs selbst werden losgeschickt, um die Deutschen daswissen zu lassen. Kliment Woroschilow, Alexander Jegorow und MichailTuc<strong>hat</strong>schewski treffen General von Bockelberg und erklären ihm, dassdie Beziehungen zwischen den Streitkräften doch nicht so ganz von der„großen Politik der Regierungen“ 129 abgekoppelt werden können. UnserGeneral kann das schon verstehen, aber übertrieben findet er es doch.129 Falin, S. 3647


<strong>1933</strong>Welche Regierung <strong>hat</strong> denn hier anderthalb <strong>Jahr</strong>e Bestand gehabt? Unddie Amateure jetzt sind noch schneller weg als jede Regierung zu<strong>vor</strong>. Diehaben doch nun gleich gar nicht die Voraussetzungen zum Wirtschaften.Doch die Russen bleiben steinhart. Als „doppelzüngig“ 130 bezeichnen siedie deutsche Außenpolitik.Vor dem Berliner Reichstag wandelt der <strong>neue</strong> Reichskanzler Hitler am17. Mai Worte ab, die er so ähnlich bei dem Dinner im Februar <strong>vor</strong> denGenerälen ausgesprochen <strong>hat</strong>te. Doch wie klingen seine Gedanken jetzt?„Indem wir in grenzenloser Liebe und Treue an unserem eigenen Volkstumhängen, respektieren wir die nationalen Rechte auch der anderenVölker.“ Ist das derselbe Redner? Er weiß sich einig mit dem Publikum,wenn er dort formuliert, wir „möchten aus tiefinnerstem Herzen mit ihnenin Frieden und Freundschaft leben. Wir kennen daher auch nichtden Begriff des Germanisierens. Die ge<strong>ist</strong>ige Mentalität des vergangenen<strong>Jahr</strong>hunderts, aus der heraus man glaubte, vielleicht aus Polen undFranzosen Deutsche machen zu können, <strong>ist</strong> uns genauso fremd, wie wiruns leidenschaftlich gegen jeden umgekehrten Versuch wenden.“ Undob das die Leute gerne hören. „<strong>Es</strong> wäre ein Glück für die Welt gewesen,wenn im Vertrag von Versailles diese Realitäten auch im Bezug aufDeutschland gewürdigt worden wären . . . Eine überlegte Behandlungder Probleme hätte damals im Osten ohne Weiteres eine Lösung findenkönnen, die den verständlichen Ansprüchen Polens genauso wie den natürlichenRechten Deutschlands entgegengekommen wäre.“ 131Zur Abstimmung steht heute eine Resolution, die Hitlers Friedenspolitikbilligen soll. Wie wird die Partei dastehen, die den Frieden ablehnt? Alsoehrlich. Jene SPD-Leute, die nicht in ein Konzentrationslager verbrachtworden waren und nicht ins Ausland geflohen sind, sitzen in der Patscheund stimmen dieser Resolution zu. Sie meinen, dass Herr Kanzler baldabgewirtschaftet haben wird und so lange versuchen sie zu überwintern.Ihre Partei taumelt jetzt ebenfalls am Rande des Abgrundes. Seit einigenMonaten <strong>ist</strong> die Partei in sich gespalten – ein Teil der Führungsspitze <strong>ist</strong>aus Angst <strong>vor</strong> dem Zugriff durch die Schlägertrupps nach Prag geflohen.Vom Ausland aus rufen sie ihren Genossen, die in der Reichshauptstadtgeblieben sind, zu: „Ihr täuscht euch; Hitler wird lange dauern; und er130 Ebd., S. 36131 Schultze-Rhonhof, S. 313, Fußnote 848


<strong>1933</strong>wird euch nicht überwintern lassen.“ 132 Die Zustimmung der Rest-SPDzu dieser Resolution führt zum Bruch zwischen den Ängstlichen und denRatlosen in der Führung der Partei. Die Ängstlichen formulieren in Pragein Manifest, das zum Sturz Hitlers aufruft. Hitler nutzt die Gelegenheitund macht die Berliner SPD-Führung dafür verantwortlich; der Aufrufwird zum Anlass, um den Terror gegen die Ratlosen zu verschärfen.<strong>Das</strong>s sie entrüstet ihre Unschuld beteuern macht dieses Trauerspiel nurnoch peinlicher, zumal gerade viele junge Männer in der Eisernen Frontgegen die Braunen kämpfen wollen. Jetzt <strong>ist</strong> der Moment der Wahrheit.Diese Eiserne Front war am 16. Dezember 1931 von SPD, AllgemeinemDeutschem Gewerkschaftsbund, vom sozialdemokratischen KampfbundReichsbanner Schwarz-Rot-Gold und den Arbeitersportverbänden überhauptnur gegründet worden, um der zunehmenden Gewalttätigkeit derNazis etwas entgegensetzen zu können, wenn nicht jeder auf der Straßeeinzeln verprügelt werden wollte. Oberstes Ziel war die Verteidigung derWeimarer Republik gegen Nationalsozial<strong>ist</strong>en, Kommun<strong>ist</strong>en und gegendie von ihnen so genannte Adelskamarilla. 133In den Hauptstädten Europas geht unterdessen die Debatte weiter, wiesich Abrüstung organisieren lässt, ohne Überfälle durch andere Staatenzu riskieren. Jetzt wäre es nützlich gewesen, hätte Großbritannien eineSchutzgarantie für den Kontinent übernommen. Doch dazu <strong>ist</strong> Londonnicht bereit. John Simon erklärt <strong>vor</strong> dem britischen Unterhaus: „UnsereFreunde auf dem Kontinent müssen Verständnis dafür haben – und jeklarer sie die Sachlage erkennen, um so besser <strong>ist</strong> es –, dass Großbritanniennicht die Absicht <strong>hat</strong>, irgendwelche Verpflichtungen zu übernehmen,die über das hinausgehen, was wir im Locarno-Pakt (Garantie derdeutsch-französischen Grenze) und als Mitglied des Völkerbundes bereitsübernommen haben.“ 134 Auf die kontinentaleuropäischen Abgeordnetenauf der Abrüstungskonferenz in Genf, besonders die Franzosen,wirkt das „wie eine kalte Dusche“ 135 . Noch eine Frage spielt in Genf eineenorme Rolle: „Um die Sicherheitsmaschinerie in Bewegung zu setzen,musste <strong>vor</strong> allen Dingen eine klare Definition des Angreifers aufgestellt132 Haffner, S. 65133 Internetquelle 8134 Schmidt, S. 258135 Ebd., S. 25849


<strong>1933</strong>werden.“ Nur in mühseligen Debatten finden die Teilnehmerländer hierzu einer gemeinsamen Formel. Sie lautet schließlich: „Wer zuerst einemanderen Land den Krieg erklärt, wer mit seiner Wehrmacht auch ohneKriegserklärung in das Gebiet eines anderen Landes einmarschiert, wermit seinen Land-, See- oder Luftstreitkräften auch ohne Kriegserklärung. . . angreift, wer eine Blockade gegen ein anderes Land durchführt undschließlich, wer bewaffneten Banden auf seinem eigenen Staatsgebietzum Angriff auf das Gebiet eines anderen Landes Unterstützung gewährt,der <strong>ist</strong> der Angreifer.“ 136 Uff, eine schwere Geburt.Am 26. Mai <strong>ist</strong> das Wetter recht schön in Paris. François sitzt <strong>vor</strong> einemCafé und liest die Temps, die mehr oder weniger ein Regierungsblatt <strong>ist</strong>.Gestern hieß es da, die Engländer meinten, man könne nicht „mit vollerSicherheit die Verantwortung in einem bewaffneten Konflikt festlegen“.Heute schreiben sie: „Man kann nicht an der Tatsache <strong>vor</strong>beigehen, dassdie englische Haltung in dieser Frage außerordentlich enttäuschend <strong>ist</strong>.“Er nimmt noch einen Schluck Kaffee und liest weiter: „Noch immer sinddie Engländer nicht zu der Überzeugung gelangt, dass sie, genau so wiedie anderen Völker, rückhaltlos Verpflichtungen übernehmen müssen,um die Sicherheit der zivilisierten Welt zu garantieren. Diese Haltunggeht von der Idee aus, die zur Zeit der »splendid isolation« ihre Gültigkeit<strong>hat</strong>te, dass nämlich Großbritannien sich nur bei Konflikten festlegt,die seine Interessen berühren, und dass es sich in allen anderen Fällendie Möglichkeit <strong>vor</strong>behalten muss, im Zeitpunkt der Bereinigung desKonfliktes die Rolle des Schiedsrichters zu spielen.“ 137Der 1. Juni bringt hier eine h<strong>ist</strong>orische Neuerung. Zum ersten Mal wirdein Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit verabschiedet. Am 21.September folgt das zweite Gesetz mit demselben Ziel. Damit wird die sogenannte Arbeitsschlacht eröffnet 138 . Man kann sich <strong>vor</strong>stellen, welcheWirkung solche sozialpolitischen Maßnahmen auf Millionen von Leutenhaben, deren Familien seit <strong>Jahr</strong>en unter der Wirtschaftskrise und derverbreiteten Arbeitslosigkeit leiden. <strong>Das</strong> dürfte neben der Angst <strong>vor</strong> demTerror der SA ein anderer Grund sein, warum sich jetzt viele Mitgliederder KPD und der SPD dazu entschließen, der NSDAP oder einer ihrer136 Ebd., S. 258137 Ebd., S. 259138 <strong>Das</strong> Deutsche Reich I, S. 10650


<strong>1933</strong>Untergliederungen beizutreten, nachdem der Reichstag am 28. Mai dasVermögen der KPD beschlagnahmen ließ mit der Begründung, dass diePartei „als in der Gesamtheit dem Hochverrat dienend“ anzusehen sei,und am 22. Juni auch das Verbot der SPD beschließt. So ein Gesetz <strong>hat</strong>teweder die eine noch die andere Partei durchgesetzt. Auch die Mandateder SPD gelten als erloschen und jede Propaganda für diese Partei wirdverboten. 139 In diesen Monaten geht die Frage herum: „Wer <strong>ist</strong> das? EineZigeunerfrisur, ein französisches Bärtchen, eine englische Uniform undeine russische Idee?“ Die Antwort <strong>ist</strong> eindeutig: Adolf Hitler. 140 SeinePartei heißt nicht von ungefähr National-Sozial<strong>ist</strong>ische Arbeiter-Partei.Wobei es streng genommen gar nicht das Klübchen der Parteimitglieder<strong>ist</strong>, in dem sich in diesem Teil der Gesellschaft sozial<strong>ist</strong>ische Hoffnungeneingefressen haben. Dr. Gisevius meint, die SA sei „unter den nationalsozial<strong>ist</strong>ischenGruppen die Einzige, in der das Wort vom Sozialismusverwurzelt <strong>ist</strong>. Die Partei als solche kommt selbst in den Zeiten ihresgrößten Zulaufs nie über eine Bewegung des in sich zerfallenden Mittelstandeshinaus. Demgegenüber kann man bei den Sturmabteilungen davonsprechen, dass sich in ihnen nicht zuletzt auch sozial<strong>ist</strong>ische Leidenschaftenformieren. Der SA glückt, was der organisierten Partei nur insehr bedingtem Maße gelingt, nämlich in die große Masse des entwurzeltenProletariats einzudringen. <strong>Das</strong> Rücksichtslose und Kämpferischean ihr zieht jene jungen, lebensgierigen Schichten an, deren soziale Eingliederungtrotz der Irrungen und Wirrungen eines <strong>Jahr</strong>hunderts immernoch aussteht.“ 141 Die KPD als Interessenvertretung gibt es nicht mehr,keine Gewerkschaften, keine SPD, nichts. „Aber noch gellt den Arbeitslosen,verheißungsvoll und verführerisch zugleich, das bereits von denGroßvätern überkommene Losungswort vom Sozialismus in den Ohren.Da nehmen die jungen unter ihnen einen <strong>neue</strong>n Anlauf. Noch einmal –<strong>ist</strong> es das letzte Mal? - bilden sie einen, wie sie meinen, sozial<strong>ist</strong>ischenStoßtrupp, von Leidenschaft, voll von verwegenen Phantasien, voll vonBegehrlichkeit, aber doch auch voll von gläubigem Idealismus und hingabebereitemOpfermut.“ 142139 <strong>Das</strong> Deutsche Reich I, S. 106140 Kurt Hirche, Der »braune« & der »rote« Witz, S. 93141 Gisevius I, S. 156142 Gisevius I, S. 15651


<strong>1933</strong>Und was <strong>ist</strong> mit dem Terror überall im Deutschen Reich? Gisevius sieht,wie leicht auch bürgerliche Gemüter in seiner Umgebung zu beruhigensind, indem Hitler von „bedauerlichen Missgriffen“ 143 redet, die eben im„Übereifer für die nationalsozial<strong>ist</strong>ische Revolution“ passieren. Er hörtauch, wie immer wieder „eine alsbaldige Kaltstellung des Radikalismusangekündigt“ wird. Gisevius meint, Hitlers Le<strong>ist</strong>ung im Sommer <strong>1933</strong> <strong>ist</strong>es <strong>vor</strong> allem, zu verzögern, bis er eines Tages wirtschaftliche Erfolge <strong>vor</strong>weisenkann. In der SA warten die Männer ungeduldig auf die sozialenVerbesserungen, die ihnen zugesagt worden sind. <strong>Das</strong> dürfte auch eineErklärung dafür sein, warum in diesen Monaten viele Kommun<strong>ist</strong>en dieSeite wechseln. Vielleicht wollen sie nicht verprügelt werden sondern ankommenden Wohltaten teilhaben. Letzten Endes sind auch sie politischaktiv zum Wohl des Volkes – wenn auch ohne den Judenhass und dieseständige Propaganda gegen das böse Ausland. So könnte man erklären,dass sich „die Schockwirkung der Revolution . . . eine beachtliche Zeit“verschiebt. „Noch etwas paradoxer ausgedrückt, die Schrecksekunde desBürgertums dauert fast ein ganzes <strong>Jahr</strong>. Sie endet erst mit dem Frühjahr1934.“ Am 1. Juli spricht der Kanzler endlich ein Machtwort. Er erklärtdie nationalsozial<strong>ist</strong>ische Revolution für beendet. 144Vielleicht <strong>ist</strong> es nicht leicht nachvollziehbar, vielleicht <strong>ist</strong> es nur damit zuerklären, dass die Hoffnung immer zuletzt stirbt, aber die Ankündigung,dass die Revolution jetzt <strong>vor</strong>bei sei, muss bei manchem gewirkt haben.<strong>Es</strong> zeichnet die Hoffnung ja aus, dass sie gerade dann am nötigsten <strong>ist</strong>,wenn alles am aussichtslosesten scheint. Der kritische Zeitgenosse siehtim Sommer <strong>1933</strong> hingegen den ersten Höhepunkt der Anwendung vonGewalt im öffentlichen Leben in Deutschland: „Wie leicht lernt und übtsich die nackte Gewalt! Besser noch als bei Hitler können wir diesenVorgang an seinen Unterführern beobachten. Wir haben gesehen, wiesie binnen weniger <strong>Wochen</strong> als Führer oder Unterführer in ungeahnteMachtpositionen hineingeraten, wie ihnen im Grunde mehr zufällt, alssie zunächst selber ahnen. Was soll eigentlich diese Art von Menschen,die so plötzlich aus den Tiefen wirtschaftlicher Verschuldung oder kleinbürgerlichsterLebenshaltung zu Min<strong>ist</strong>ern, Staatssekretären, Reichsstatthaltern,Oberpräsidenten, Staatsräten, Oberbürgerme<strong>ist</strong>ern, Landeshauptleuten,Polizeipräsidenten, kurzum zu bislang un<strong>vor</strong>stellbaren143 Gisevius I, S. 148144 <strong>Das</strong> Deutsche Reich I, S. 10652


<strong>1933</strong>Höhen emporklettern, mit aller dieser Macht anfangen? Berufliche Vorbildunghaben sie nicht. Gesetzliche Vorschriften kennen sie nicht. EingearbeitetenBeamten trauen sie nicht. Was bleibt ihnen anderes übrig,als zu extemporieren? Sie diktieren einfach, fest darauf vertrauend, dassdie anderen schon gehorchen werden. Hierbei machen sie eine völligunverhoffte Entdeckung: sie merken, dass ihre unbeholfene Methode<strong>vor</strong>züglich funktioniert, weil fleißige Aktuare und nimmermüde Dezernentengrundsätzlich nicht aussterben. Was spätabends beim Umtrunkdekretiert wird, liegt mittags fix und fertig in der Unterschriftenmappe.Rauhe Befehle wandeln sich in geschniegelte Erlasse. Derbe Flüche lesensich wie eine abgeklärte Erläuterung zum bürgerlichen Gesetzbuch.Diese <strong>neue</strong>n Größen werden sich bis zuletzt ihre souveräne Verachtung<strong>vor</strong> Zuständigkeitsfragen oder Gesetzestexten bewahren. Nur insoweitpassen sie sich allmählich den <strong>neue</strong>n Amtsgewohnheiten an, als sie aufdie Findigkeit ihrer Beamten vertrauen lernen. Da diese nun einmal dieerstaunliche Fähigkeit besitzen, selbst noch die verwegensten Maßnahmenin ein reich besticktes Paragraphenmäntelchen zu hüllen, einigtman sich mit der Zeit auf Arbeitsteilung: die <strong>neue</strong>n Behördenchefs praktizierendie Gesetzlosigkeit, und die pflichtgetreuen Beamten legalisierendie Gewalt.“ 145Die Zentrumspartei, die Deutsche Volkspartei, der Jungdeutsche Ordenund die Bayerische Volkspartei lösen sich am 5. Juli selbst auf, be<strong>vor</strong> derReichstag am 14. Juli ein Gesetz gegen die Neubildung von Parteien beschließt.Die Min<strong>ist</strong>er, die nicht der richtigen Partei angehören, stehenplötzlich ohne ihr Parteibuch und obendrein ohne Parteimitglieder da.Jetzt können sie gerne wollen wollen, was sie wollen – keiner wird siedabei unterstützen können. Doch zum Verlassen der Regierung könnensie sich nicht entschließen. Was soll denn werden, wenn Hitlers Männerabsolut allein regieren dürfen? Einen Tag später folgt ein Gesetz, das derReichsregierung die Möglichkeit gibt, das deutsche Volk zu befragen, obes einer beabsichtigten Maßnahme zustimmt oder nicht. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> sicherlichauch ein feines Abstimmen, wenn viele der Mitdenkenden das Land ausdem einen oder dem anderen Grund bereits verlassen haben, wenn dieanderen eingesperrt sind, und wenn dem Rest der Mund verboten wird.Wie geht die freiwillige Auflösung der großen und kleinen Parteien undder Vereine ganz praktisch <strong>vor</strong> sich? „Man braucht die SA nicht einmal145 Gisevius I, S. 13253


<strong>1933</strong>aufzusuchen, sie kommt ganz von selber und handelt nach der Regel,dass der Abschied von altvertrauten Büroräumen leichter fällt, wenn dieSchemel zerbrochen an der Wand liegen und aus den Akten ein Freudenfeuerangezündet wird, während der Hauswirt die Schadenersatzrechnungpräsentiert. Selbst hartgesottene Individual<strong>ist</strong>en halten es daherfür besser, beizeiten nachzugeben. Wenn sie dann einander begegnen,schimpfen sie wohl auf die Gesinnungslumpen um sich herum, siezwinkern sich auch gegenseitig zu, sie selber brächten dergleichen Opferselbstverständlich nur zur Tarnung. Aber was tut’s? Mit der Zeit gewöhnensich bewährteste Reaktionäre ebenso wie Rotfront<strong>ist</strong>en an die brauneFarbe, und keinerlei noch so verbräunte reservatio mentalis ändertetwas am äußeren Sieg der Bewegung. Was gegnerisch <strong>ist</strong>, verschwindetvon der Bildfläche. Die großen Parteien fallen, Gewerkschaften und Unternehmerverbändewerden beseitigt, sämtliche Logen, die me<strong>ist</strong>en Vereineund Bünde hören auf zu bestehen, kurzum, auf der ganzen Liniewird tabula rasa gemacht. Wir dürfen hinter diesem gewaltmäßigenVorgang keine systematische Planung vermuten. Im Gegenteil, es gehtwirr und planlos zu. Wiederum <strong>ist</strong> es ein und dieselbe unaufhaltsame,innere Dynamik, die die siegreiche Bewegung zu ihren unersättlichenVorstößen treibt. Der ihr innewohnende, unbestimmbare Drang lässtsich einfach nicht mehr abbremsen, be<strong>vor</strong> nicht die restlose Nivellierungunseres gesamten völkischen Lebens erreicht <strong>ist</strong>.“ 146„Nachdem die breite Masse derart aus ihrer Gleichgewichtslage geraten<strong>ist</strong>, kommt alles, wie es gar nicht anders kommen kann. Da keiner gernder dumme Letzte sein möchte, überstürzen sie sich samt und sonders,tunlichst zu den neunmalklugen Ersten zu gehören . . . Doch sie alle begreifen,dass Verstocktheit keinesfalls mehr am Platze <strong>ist</strong>. Und damitihre Aufgeschlossenheit sich recht vernehmbar kundtue, sprechen sievon jetzt an monatelang in denselben revolutionären Vokabeln. Sie prägensich die Namen ihres Gauleiters ein, sie merken sich die Rangabzeichenaller nächstwohnenden SA-Führer, und mit besonderem Eifer beteiligensie sich an dem atemberaubenden Wettrennen um die niederenMitgliedsnummern. Diese sind nicht einmal billig. Die Partei lässt sichihre Wahlschulden gleich doppelt und dreifach zurückerstatten . . . Alleüberschlagen im stillen Herzenskämmerlein, ob sie ohne derartige spendenfreudigeRückversicherung ihres lieben Nächsten sicher sind. Hat146 Gisevius I, S. 12954


<strong>1933</strong>nicht jeder einmal mit seiner Portierfrau Streit gehabt oder dem Kohlenhändlertüchtig die Meinung gesagt? Hand aufs Herz, wer <strong>hat</strong> noch niemalseinen unbotmäßigen Dienstboten herausgeworfen oder seinemabermals Vorschuss begehrenden Handlungsgehilfen barsch die Tür gewiesen?Wie, wenn . . . ? Sorgenvoll schlägt das volksgenössische Gewissen.Denn eine Revolution präsentiert mit unheimlicher Gedächtnisschärfelängst vergilbte Rechnungen, nicht nur die h<strong>ist</strong>orischen, sondernauch die allerpersönlichsten. Ein Alpdruck quält darum nächtens solcheUnglückseligen, über deren politische Zuverlässigkeit noch das Testatihres Hauswartes oder des Betriebszellenobmanns aussteht. Deshalbhaben sie es alle so eilig.Wohl treibt viele unter ihnen die Bege<strong>ist</strong>erung. Aber mindestens ebensoviele Schlauberger fliehen in die NSDAP. Schlauere tun ein wenig mehrund laufen überdies zur SA. Noch Klügere tippen auf die SS, währenddie Gerissensten sich einen Amtswalterposten bei irgendeinem der neugegründeten Verbände verleihen lassen, etwa beim Luftschutz oder derWinterhilfe. Schlaue, Kluge und Gerissene sind sich jedoch in einem völligeinig: ein sichtbares Abzeichen <strong>ist</strong> gut, indessen weit besser nochzieht man sich hurtig eine Uniform an. In diesen erregten <strong>Wochen</strong> <strong>hat</strong>man lieber seinen unverbindlich-verbindlichen braunen Schutzheiligenzu Hause als irgendeinen verjährten Konflikt mit dem SA-Mann in derNachbarschaft. Bald sind Zivil<strong>ist</strong>en eine seltene Ausnahme in dem gebräuntenStraßenbild der Städte. Sie werden entweder als Ausländer angeglotztoder gelten als suspekt. Ein ganzes geschlagenes <strong>Jahr</strong> wird esdauern, bis diese braune Pracht – dann allerdings über Nacht und nahezuvollständig wieder verschwindet.“ 147„Hieraus erklärt sich ohne Umschweife, warum die schwarz-weiß-rotenKoalitionsgenossen jetzt so schnell ausfallen. Sie kommen bei diesemStimmaufwand und Marschtempo nicht mehr mit. Ihre schönge<strong>ist</strong>igen<strong>Es</strong>says, erst recht ihre gutherzigen Beteuerungen, an dem viel gefeiertenErfolge nicht ganz unbeteiligt zu sein, werden von den Braunhemdenüberschrien und von der faszinierten Menge inmitten allen Siegeslärmsüberhört. Fast über Nacht werden sie zu »Auchnationalen« und könnenfroh sein, wenn sie schnell noch als »Märzgefallene« Unterschlupf beider Partei oder SA finden. Liegt das bloß an dem schnöden Undank dernationalsozial<strong>ist</strong>ischen Parteiführer? Nein, das Volk will selber in diesen147 Gisevius I, S. 126-12855


<strong>1933</strong>bewegten <strong>Wochen</strong> eines einzigartigen Taumels keine Koalitionseifersüchteleien.<strong>Es</strong> verlangt nach ungestörten Freudenfesten. Wen schiertjetzt, da der Sieg gefeiert wird, noch die Abwägung von braunen oderschwarz-weiß-roten Erfolgsanteilen? Feiert nicht ganz Deutschland dieNeubegründung seiner Volksgemeinschaft? Statt zu dem nüchternenTriumvirat Hugenberg-Papen-Seldte strömt das Volk lieber zu den»überparteilichen« Siegeskundgebungen der NSDAP.Diese ihrerseits leitet aus solchen gerissen aufgemachten Parteiveranstaltungenihre künftige und ausschließliche <strong>Das</strong>einsberechtigung ab . . .Die Ausgehöhltheit der bestehenden Ordnungen, die Überfälligkeit derDutzende von Parteien, die Brüchigkeit der Gruppen und Verbände offenbartsich am besten dadurch, dass kaum einer da <strong>ist</strong>, sich ernstlich zuverteidigen. Wer kämpft noch? <strong>Das</strong> so genannte Bürgertum nimmt <strong>vor</strong>dem Terror Reißaus, nicht minder mutlos zeigen sich die Restbeständedes Marxismus. Wo immer der braune Vorstoß hinzielt, findet er keinenernsten, geschlossenen Widerstand. Er stößt ins Leere. Ein riesenhaftesVakuum tut sich plötzlich <strong>vor</strong> der siegreichen Bewegung auf. Wie wirdsie es ausfüllen? Sie weiß es noch nicht – kann es gar nicht so schnellwissen. Einstweilen verhängt sie es mit braunem Tuch und pocht aufihre Totalität.“ 148Ein Mann, der mit seinen schönge<strong>ist</strong>igen <strong>Es</strong>says für eine WiedergeburtDeutschlands unter segensreicheren Vorzeichen eingetreten war, <strong>ist</strong> dervierunddreißigjährige Hans Zehrer*, der Herausgeber der konservativenMonatsschrift Die Tat. <strong>Das</strong> <strong>neue</strong> Regime setzt ihn ganz banal ab, geradeeben weil er konservativ und nicht revolutionär <strong>ist</strong>. Michael in Dresden<strong>ist</strong> einer der treuesten Leser der Tat und das auch nicht zuletzt wegender Artikel von Zehrer. Er bleibt auch nicht der Einzige, der den klugenund moderaten Gedanken Hans Zehrers nachtrauert. Zehrer <strong>hat</strong> guteChancen gehört zu werden, denn er stammt aus Berlin. Weniger leicht<strong>hat</strong> es ein anderer Konservativer, der 43 <strong>Jahr</strong>e alte Ewald von Kle<strong>ist</strong>-Schmenzin* von einem Hof in Pommern in der Nähe der Ostsee. Dochdas hindert ihn nicht daran, schon <strong>vor</strong> und erst recht nach Hitlers Griffnach der Macht Schriften gegen die Nationalsozial<strong>ist</strong>en zu verfassen.Einer derjenigen, die hier ihre subjektive Wahrnehmung der Ereignissedarstellen dürfen, <strong>ist</strong> der junge Hans-Bernd Gisevius. Er absolviert im148 Gisevius I, S. 125-13056


<strong>1933</strong>Juli <strong>1933</strong> sein jur<strong>ist</strong>isches Assessorexamen und meldet sich zum Dienstin der preußischen Verwaltung. Wie üblich beginnt er bei der politischenPolizei. Der Preußische Min<strong>ist</strong>erpräsident Hermann Göring <strong>hat</strong>te sieEnde April aus dem Polizeiapparat ausgegliedert und daraus das GeheimeStaatspolizeiamt gebildet. 149 Noch im selben <strong>Jahr</strong> wird Gisevius demRegierungs- und Kriminalrat Nebe zugeteilt. Da es hier nicht um denGestapo-Beamten Nebe und ebenso wenig um das Gestapo-Opfer Nebegeht, liegt das Augenmerk auf der Wahrnehmung von Hans-Bernd, 29.Er bricht eine Lanze für andere, von denen er manche mit den <strong>Jahr</strong>enpersönlich kennen lernen wird: „Jener Arthur Nebe war noch gläubig.Warum soll ich das nicht offen aussprechen? Erstens glaubten zu jenerZeit die me<strong>ist</strong>en Deutschen an die Makellosigkeit Hitlers und an dieSauberkeit seiner Ziele. Zweitens entsprang die bege<strong>ist</strong>erte Hingabe andie <strong>neue</strong>n Ideale keineswegs allenthalben einer Psychose. Und drittens<strong>ist</strong> gerade der Fall Nebe hierfür ein brauchbarer Beleg, weil dieser frühereKriminalkommissar am Berliner Polizeipräsidium seine guten Gründe<strong>hat</strong>te, sich von zweifelhaften Vorgesetzten in die Opposition gedrängtzu fühlen.“ 150Der junge Mann findet in dem älteren weniger einen Vorstreiter gegenlegalisierte Verbrechen in einer staatlichen Behörde als vielmehr einenwachen Beobachter, der sich sein kritisches Bewusstsein auch unter denneuartigen Zuständen erhält. Sein Bericht über den Vorgesetzten kannganz gewiss als exemplarisch für viele Menschen in Berlin und anderswoin Deutschland gelten: „Just in jenen Tagen, da ich Nebe traf, erlebte erseine ersten Enttäuschungen. Wenige Zeit zu<strong>vor</strong> war er in die Gestapoversetzt worden. Beileibe sollte er nicht die <strong>neue</strong> Behörde mit Fachverstandorganisieren. Erst recht sollte er sich nicht in die höheren politischenEntscheidungen einmischen. Was man von ihm verlangte, war diereibungslose Abwicklung der von Diels an die Exekutive weitergeleitetenBefehle. Dürfen wir uns wundern, wenn der alsbald zum Oberregierungsratbeförderte Kriminalkommissar sich in dieser <strong>neue</strong>n Umgebungnicht zurechtfand? Nebes Ernüchterung wurde ärger und ärger, je mehrer am gestap<strong>ist</strong>ischen Tatort erleben musste, wie sich die braunen Vorkämpferfür Sauberkeit und Recht ihre <strong>neue</strong> Polizeipraxis <strong>vor</strong>stellten.Eine kleine Weile mochte er sich über mancherlei Ungereimtheiten hin-149 Ebd., S. 49150 Gisevius I, S. 5757


<strong>1933</strong>wegtrösten. Doch allmählich wusste er <strong>vor</strong> lauter Staunen und Kopfschüttelnnicht mehr, was er noch für möglich oder unmöglich haltensollte.“ 151Aus dem Kopfschütteln kam auch Hans-Bernd nicht heraus: „Da gab esmanche, die wirklich Gläubige waren, Menschen, die aus heißem Herzenund edler Leidenschaft an die <strong>neue</strong> Form des Sozialismus glaubten, dienun in Deutschland verwirklicht werden sollte, an die Überwindung desKlassenstaates, an die Beseitigung der Vorherrschaft von Junkern undIndustriemagnaten, an eine gerechte Verteilung der Güter. Gerade, weilich niemals an die braunen Heilsversprechungen geglaubt habe, liegtmir daran, dieses auszusprechen. Nebe <strong>hat</strong> seinen Irrglauben teuer bezahlt,zunächst mit herben Enttäuschungen und entsetzlichen Gewissensqualen,dann mit den nervenaufreibenden Ängsten der Illegalitätund schließlich mit grausamsten Folterungen und dem Tod am Galgen:ich denke, es geziemt jedermann, Achtung <strong>vor</strong> einem solchen Schicksalzu haben.“ 152 <strong>Es</strong> wäre ja zu schön, wenn alles im richtigen Leben einfachzu verstehen wäre.Eine Vorstellung von den heutigen Zuständen im Reich vermitteln auchdiese Überlegungen von Gisevius: „Mein Kampf um Nebe war hart undentschlossen. Als erstes wich ich ihm nicht aus, sondern umgekehrt, ichhängte mich so fest an ihn, bis er mich einfach nicht mehr los wurde.Auf diese vielleicht etwas taktlos erscheinende Weise sorgte ich dafür,dass die menschliche Bindung mit der Zeit stärker wurde als jede politischeÜberlegung. Und da es der Zufall wollte, dass unsere Wohnungennahe beieinander lagen, zwang ich mich dem Gutmütigen noch insoweitauf, als er mich morgens und abends mit seinem Polizeiauto mitnahm.<strong>Das</strong> war wichtiger, als es heute scheinen möchte. Autos sind im DrittenReich oft meine Schutzengel gewesen. Die einzige Me<strong>ist</strong>erschaft, die ichim vergangenen <strong>Jahr</strong>tausend entwickelt habe, war die Organisierungvon Autos, wobei es mehrfach <strong>vor</strong>gekommen sein soll, dass auf Grundmeines planmäßigen Übereifers zwei, ja drei <strong>vor</strong> meiner Haustür warteten.Ich bin fest überzeugt, dass dieser Trick mir einige Mal das Lebengerettet <strong>hat</strong>. Wenn beispielsweise zu besonders heiklen Zeitpunktennacheinander die Dienstwagen des Berliner Polizeipräsidenten, eines151 Gisevius I, S. 58152 Ebd., S. 6058


<strong>1933</strong>Min<strong>ist</strong>ers, des Reichsbankpräsidenten oder irgendeines hohen Offiziersoder in jenen Anfängen <strong>1933</strong> ein Wagen der Gestapo bei mir <strong>vor</strong>fuhren,so <strong>hat</strong>te ich eine Zeit lang die Spitzel von der nächsten Straßeneckemundtot gemacht. Nach ihrer primitiven Erkenntnisgabe konnte einMensch, der auf so bedeutungsvollem Räderwerk daher rollte, unmöglichein Staatsfeind sein, soviel auch sein sonstiges Gehaben zu schwerwiegendenBedenken Anlass geben mochte. Aber noch in einer andernWeise begann ich um und mit Nebe zu kämpfen. Ich sagte ihm alle jeneDinge auf den Kopf zu, von denen ich fühlte, dass er sich täglich innerlichmit ihnen abquälte. Nebe war viel zu verschlossen, als dass er miteinem Fremden über seine Zweifel gesprochen hätte, ob es mit dieser<strong>neue</strong>n gestap<strong>ist</strong>ischen Praxis nicht ein böses Ende nehmen müsse. Nochschwankte er. Noch hoffte er. Noch weigerte er sich, an das zu glauben,was ihm sein Verstand und sein Rechtsempfinden eingaben.“ 153Beim Lesen manch eines Textes drängt sich die Frage auf, warum Hans-Bernd zum Beispiel bei seinem Auftreten nicht ein Konzentrationslagervon innen kennen lernen musste. Seine Erklärung <strong>ist</strong> so ermutigend wiebanal: „Wenn ich diese Bemerkung einflechten darf, so gab es übrigensall die <strong>Jahr</strong>e entsetzte Zeitgenossen, die sich die Art meiner Meinungsäußerungnicht anders zu erklären wussten, als dass ich ein bezahlterGestapospitzel sei. Demgegenüber möchte ich feststellen, dass unter gewissenUmständen nichts so sehr verblüffen kann wie eine unerwarteteOffenheit. Heydrich <strong>hat</strong>te mich beispielsweise so sehr in sein Gedächtniseingeschlossen, dass ich mir oftmals die Frage <strong>vor</strong>gelegt habe, warumdieser Mordbube nicht energischer und treffsicherer auf eine Abkürzungmeines Erdendaseins bedacht war. Vielleicht gelang es mir hier und da,seine freundlichen Absichten zu vereiteln. Aber die entscheidende Rolledürfte der Umstand gespielt haben, dass dieser schwarze Mann michaus dem Auge verlor, weil er – zu viel von mir wusste.“ 154Am 15. Juli <strong>hat</strong> Rom endlich Erfolg mit seinem Vorstoß für ein Quartettunter Einschluss Deutschlands. Und die Deutschen sind stolz auf ihrenFriedenskanzler. Na ja, auf jeden Fall staunen die Deutschen, wie AdolfHitler mit den Großen dieser Welt an einen Tisch kommt. Davon habendiese Demokraten <strong>vor</strong> ihm in lauen Nächten mal geträumt. Deutschland153 Gisevius I, S. 60f.154 Gisevius I, S. 6159


<strong>1933</strong>gehört wieder zu den Großmächten. Ein „Pakt des Einvernehmens undder Zusammenarbeit“ 155 wird von den Regierungsvertretern aus London,Rom, Paris und Berlin unterzeichnet. Und das in der ewigen Stadt Rom.<strong>Das</strong> bedeutet endgültig Frieden. Einvernehmen und Zusammenarbeit.Nur in Moskau verstärkt sich das Gefühl von Bedrohung, zumal sich derStaat durch Japan im Osten ebenfalls bedroht sieht. Der totale Krieg,der mit unfassbarer Grausamkeit und mit Massenvernichtungswaffen inChina geführt wird, bedroht auch asiatische Gebiete der Sowjetunion. 156Anders <strong>ist</strong> die Lage in Europa westlich des kommun<strong>ist</strong>ischen Landes. Invielen Hauptstädten kleinerer Länder wird dieses Übereinkommen derGroßen Vier begrüßt. So sieht man in Warschau beispielsweise diesemWandel in der deutschen Außenpolitik mit großer Hoffnung entgegen.Der Plan für einen Präventivkrieg gegen Deutschland tritt nunmehr inden Hintergrund. Die Neuorientierung weckt dort die Hoffnung, dassder gerade gewählte Kanzler Adolf Hitler in Berlin pragmatischer an dieAußenpolitik herangeht als seine antipolnischen Vorgänger.Was die Polen selbst angeht, handelte es sich ja sogar um Innenpolitik,denn Polen war in den vergangenen zwei <strong>Jahr</strong>hunderten dreimal durchRussland, Österreich und Preußen aufgeteilt worden, bis Polen von derLandkarte verschwunden war. Seit das Deutsche Reich im Januar 1871gegründet worden war, dominierten dort ausgerechnet die preußischenJunker die Innen- und Außenpolitik, die es unter Kanzler Bismarck undseinen Nachfolgern mit den Polen im Reich gar nicht gut meinten. Sogab es Polen ja auch überhaupt erst wieder seit dem 5. November 1916,als Berlin und Wien einen polnischen Staat proklamierten, um treueSoldaten für ihren Feldzug gegen Russland zu gewinnen. Befriedigendwar die Lösung noch nicht, da dem Staat kein Staatsgebiet zugesprochenwurde. Die Republik Polen gibt es im eigentlichen Sinne erst seit dem 11.November 1918 und somit nach dem Ende des Weltkriegs. Und im <strong>Jahr</strong>1920 <strong>hat</strong>te Warschau, das erst seit zwei <strong>Jahr</strong>en wieder die HauptstadtPolens war, nichts Besseres zu tun, als Zehntausende von Deutschen inKonzentrationslager einzusperren und mit eigenen Truppen in die vomBürgerkrieg geschwächte Sowjetunion einzufallen, um selbst Gebiete imWesten dieses Landes zu erobern. Somit sind die Beziehungen zu Berlin155 Falin, S. 37156 Ebd., S. 3760


<strong>1933</strong>und zu Moskau unterkühlt. Im Sommer des <strong>Jahr</strong>es gewinnt WarschauBerlin positive Seiten ab. Mit dem dortigen Machtwechsel sind die entscheidendenMänner in der politischen Führung endlich keine Preußenmehr. Hermann Göring zum Beispiel <strong>ist</strong> ein gemütlicher Bayer, JosephGoebbels ein fröhlicher Rheinländer und der <strong>neue</strong> Kanzler <strong>ist</strong> sogar einÖsterreicher. 157 Wien <strong>hat</strong>te sich bei den Polen längst nicht so unbeliebtgemacht wie Berlin; dort <strong>hat</strong>ten sie allerdings auch seit <strong>Jahr</strong>hundertenErfahrung bei der Verwaltung eines Vielvölkerreiches.Paule <strong>ist</strong> von der Aufnahme des Reiches in den Kreis der großen Länderbege<strong>ist</strong>ert und seine Freunde sind es ebenfalls. So wird das später imGeschichtsbuch stehen. Oder auch nicht. Was den siebzehnjährigen PaulConradi aus dem thüringischen Oberweißbach mit dem fünfundachtzigjährigenPaul von Hindenburg aus der Stadt Posen in dieser Sache verbindet,<strong>ist</strong> der Wunsch, dass ihr Deutschland wieder die geachtete Großmachtwird, auf die sie stolz sein können wie die Briten auf ihr Land. InFrankreich gehen aber viele Leute gegen den Viererpakt auf die Straßen.Paul und seine Freunde sind schrecklich enttäuscht. Sie fragen sich, obdie Franzosen etwa nochmal einen Krieg in Europa wollen. Wegen derAblehnung in der Bevölkerung traut sich die Pariser Regierung daraufhinnicht mehr, den Vertrag mit London, Rom und Berlin zur Ratifizierungin die Französische Nationalversammlung zu bringen. So bleibt dasUnterfangen auf halber Strecke liegen und das Deutsche Reich <strong>ist</strong> baldwieder da, wo es 1919 einmal <strong>angefangen</strong> <strong>hat</strong>te. <strong>Es</strong> dauert gar nicht sehrlange, da <strong>hat</strong> der Volksmund den Pakt, den es nun doch nicht geben soll,aufgegriffen: Zwei Sachsen gehen über den KuDamm. Die Zeitungsverkäuferrufen die Gazetten aus: „Der Viererpakt! Der Viererpakt!“ Dereine Sachse <strong>ist</strong> ganz erstaunt: „Was? Der Fiehrer packt . . . ? Schon?“ 158Krieg und Frieden und beide eigentlich in der umgekehrten Reihenfolgegehören zum Ressort jedes höheren Offiziers. Er wiederum unterliegt indieser Frage den Entscheidungen der großen Politik. So <strong>ist</strong> interessant,wie sich die Tagespolitik des <strong>Jahr</strong>es <strong>1933</strong> auf den Alltag eines höherenSoldaten auswirkt, der zu politischer Zurückhaltung aufgerufen <strong>ist</strong>. Der35-jährige Hauptmann Hans Speidel, der <strong>vor</strong> acht <strong>Jahr</strong>en seinen Doktorin Tübingen mit magna cum laude, mit großem Lob abgeschlossen <strong>hat</strong>,157 Wojciechowski, S. 265158 Hirche, S. 9561


<strong>1933</strong>bemerkt bald eine unangenehme Veränderung in der Armee: „Währenddes Manövers des V. Armeekorps im September <strong>1933</strong> in Oberschwabennahm mich der <strong>neue</strong> Chef des Stabes des Reichskriegsmin<strong>ist</strong>ers, Obersti. G. von Reichenau, der mir vom Skilauf in Oberjoch als her<strong>vor</strong>ragenderSportsmann und allzeit fröhlicher Kamerad wohl bekannt war, zur Seiteund verwarnte mich: <strong>Es</strong> sei ihm zu Ohren gekommen, dass ich der Regierunggegenüber kritisch eingestellt sei und das nationalsozial<strong>ist</strong>ischeGedankengut in der Öffentlichkeit nicht verträte. Er erwarte eine grundlegendeÄnderung meiner Auffassungen, nicht zuletzt im Hinblick aufmeine be<strong>vor</strong>zugte Verwendung. Ein Teilnehmer unserer Diskussionsabende<strong>hat</strong>te mich also gemeldet! Diese Tatsache wirkte wie ein Schock:Konnte man unter Kameraden, unter Freunden nicht mehr offen sein?Ein innerer Zwiespalt bahnte sich an.“ 159Gehen wir nach Berlin in das zweigeschossige Gebäude des AuswärtigenAmtes in der Wilhelmstraße. Dort <strong>ist</strong> Paul Schmidt Dolmetscher. Wieschätzt Schmidt die Lage ein? „Im Auswärtigen Amt in Berlin <strong>hat</strong>te sichnichts geändert. An ihm war die <strong>neue</strong> Zeit spurlos <strong>vor</strong>übergegangen.“ 160<strong>Das</strong> glaube ich kaum, sagt der ungläubige Thomas. Doch Hans Rothfels*bestätigt das: „Für das Auswärtige Amt etwa lässt sich durch die <strong>Jahr</strong>ehin, ohne dass in jedem einzelnen Falle genaue Datierungen <strong>vor</strong>lägen,eine Reihe von Persönlichkeiten der frühen Opposition zurechnen. Nebendenen, die schon erwähnt wurden oder noch besondere Erwähnungfinden werden, seien Namen genannt wie die von Dr. Robert A. Ulrich*,E. v. Selzam, Dr. Siegfried von der Heyden-Rynsch, Dr. Georg vonBruns, Dr. Ad. Velhagen, Herbert Blankenhorn*, Eduard Brücklmeier,Gottfried von N<strong>ist</strong>iz, Dr. von Twardowski* und Dr. Aschmann.Die Gegenarbeit des Amtes wurde durch Weitergabe von Informationenan die oppositionellen Kreise ergänzt. In diesem Betracht war Dr. PaulSchmidt eine nicht unwichtige Figur, da er als Dolmetscher an allen internationalenBesprechungen Hitlers teilnahm.“ 161Soll Dr. Schmidt berichten: „Aber die Besorgnis über die internationalenFolgen der Umstellung war groß, denn die Berichte, die aus Europa undaus Übersee eintrafen, zeigten, dass innerhalb weniger Monate Deutsch-159 Speidel, S. 53f.160 Schmidt, S. 277161 Rothfels, S. 6062


<strong>1933</strong>land wieder in eine fast völlige Isolierung geraten war. Die von Stresemannund seinen Nachfolgern mit so unendlicher Mühe erzielten Gewinneauf moralischem Gebiet waren so gut wie verloren gegangen. Nurdie politischen Ergebnisse, die Rheinlandräumung und die Streichungder Reparationen, waren erhalten geblieben. Würde sich auch die imVorjahre zuerkannte Gleichberechtigung des Reiches auf militärischemGebiet jetzt noch verwirklichen lassen? <strong>Das</strong> war die große Frage, die alleGemüter im Auswärtigen Amt beherrschte, als ich mit der Völkerbundsdelegationam 20. September <strong>1933</strong> nach Genf abre<strong>ist</strong>e. Viel stärker nochals <strong>vor</strong> einem Monat in London trat hier die Ablehnung des Auslandesgegenüber dem nationalsozial<strong>ist</strong>ischen Deutschland zutage.“ 162Sehr bemerkenswert findet Dr. Schmidt das Auftreten von Propagandamin<strong>ist</strong>erGoebbels: „Er bewegte sich in dem Genfer Milieu, das er immerso heftig geschmäht <strong>hat</strong>te, völlig ungezwungen, als sei er schon jahrelangDelegierter beim Völkerbund gewesen. Rein äußerlich machte »derwilde Mann aus Deutschland«, wie er in der »Bavaria« hieß, einen gepflegtenund ruhigen Eindruck, wenn er mit Herrn von Neurath odermit anderen deutschen Delegierten in den Wandelgängen oder in unsererHotelhalle saß und dabei zwanglos mit Ausländern ins Gesprächkam. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich als Dolmetscher – soweit essich um nichtdeutschsprechende Delegierte handelte – feststellen, dasssich Goebbels sehr schnell den Genfer Jargon angewöhnt <strong>hat</strong>te. Hätteman nicht gewusst, wer er war, hätte man tatsächlich glauben können,er sei der friedliebendste und verständigungsbereiteste Mensch auf derWelt. Auf diese Weise <strong>hat</strong>te er bald außerhalb der Völkerbundsitzungenund bei einigen Abendveranstaltungen, zu denen er mit der deutschenDelegation eingeladen war, fast mit allen prominenten Ausländern mindestensein paar Worte gewechselt. Ich <strong>hat</strong>te den Eindruck, dass sie fastalle genau so überrascht waren wie ich, anstatt des tobenden Volkstribuneneinen völlig normalen, von Zeit zu Zeit liebenswürdig lächelndenTyp eines Völkerbunddelegierten <strong>vor</strong> sich zu finden, wie er zu Dutzendenauf den Septembertagungen auftrat. Während viele der Ausländerihm deswegen mit einem amüsierten, durchaus nicht immer kritischenInteresse begegneten, erregten sein glattes Wesen und seine scheinbareVerständigungsbereitschaft bei anderen, <strong>vor</strong> allem aber bei der Presse,um so größeres Ärgernis, weil das Verhalten des Propagandamin<strong>ist</strong>ers162 Schmidt, S. 277f.63


<strong>1933</strong>nicht zu Unrecht für eine gefährliche, täuschende Maske gehalten wurde.Auch bei der Genfer Bevölkerung muss wohl instinktiv dieser Eindruckbestanden haben. <strong>Das</strong> erlebte ich persönlich in den Kinos, als eine<strong>Wochen</strong>schau gezeigt wurde, in der ich mit Goebbels am Tisch saß, ähnlichwie bei dem Groener-Interview über die Gleichberechtigung, undseine Friedensschalmeien auf Französisch wiedergab. <strong>Das</strong> Erscheinenvon Goebbels löste keine Demonstrationen aus, auch so lange er deutschsprach, verhielt sich das Publikum ruhig. Erst als es durch meine Übersetzungerfuhr, was er gesagt <strong>hat</strong>te, ging ein vielstimmiges Pfeifkonzertlos.“ 163Im Foyer des Hotels Carlton hält Goebbels am 28. September eine Rede,in der er unter anderem sagt: „Mit Schmerz und Enttäuschung <strong>hat</strong> dasdeutsche Volk in den vergangenen Monaten die Beobachtung gemacht,dass das Werden des nationalsozial<strong>ist</strong>ischen Staates und seine positivenRückwirkungen . . . in der Welt vielfach Verständnislosigkeit, Misstrauenoder gar Ablehnung gefunden haben.“ 164 Vor der vollen Halle erklärter die <strong>neue</strong> Ordnung in Deutschland zu einer „veredelten Art von Demokratie,in der kraft Mandat das Volk autoritär regiert wird“. Dr. Schmidtschaut sich um und sieht „ungläubige Skepsis“ und „manches ironischeLächeln“. Auf Zustimmung treffen hingegen seine Worte gegen denKommunismus: „Wem die Methoden, mit denen wir dem bolschew<strong>ist</strong>ischenAnsturm begegneten, zu hart erscheinen, der möge sich <strong>vor</strong> Augenhalten, was geschehen wäre, wenn es umgekehrt gekommen wäre.“ 165Auch hier steht nicht der herumwütende Zwerg, wie man ihn von derLeinwand kennt, sondern ein Herr im Anzug mit einer ruhigen Stimme.Schmidt konstatiert, wie ihn die Pressevertreter nachdenklich anblickenund dass einige Engländer und Amerikaner auch zustimmend nicken.Dr. Goebbels kommt auch auf Behandlung der Juden zu sprechen: „Ichstehe nicht an, offen zuzugeben, dass im Verlauf der nationalen Revolutiongelegentlich Übergriffe seitens unkontrollierbarer Elemente geschehensind.“ 166 Schmidt merkt süffisant an, wie eifrig die Worte des großenMe<strong>ist</strong>ers notiert werden, und dass natürlich diese Worte „am nächsten163 Schmidt, S. 278164 Ebd., S. 279165 Schmidt, S. 279166 Ebd., S. 279f.64


<strong>1933</strong>Tage in vielen Auslandszeitungen in großer Aufmachung“ 167 erscheinen,dass jedoch der nächste Satz, den er in dieser Angelegenheit sagt, „überalletwas verschämt weggelassen“ wird. Darin formuliert der Me<strong>ist</strong>er derAufklärung: „Unverständlich aber scheint es uns, dass sich das Auslandweigert, den von Deutschland abwandernden jüdischen Überschuss aufzunehmen.“168Dr. Schmidt steht neben dem Herrn Min<strong>ist</strong>er, übersetzt und beobachtetdie Zuhörerschaft in der feinen Halle. Goebbels redet und Schmidt übersetztnoch eine ganze Weile weiter. Wie der Kanzler spricht der Min<strong>ist</strong>ervon der Sehnsucht des deutschen Volkes nach Frieden. Wohl oder übelräumt der Dolmetscher ein, dass die Art und Weise, wie der Min<strong>ist</strong>er Dr.Goebbels formuliert, eben wie er sich gibt an diesem Nachmittag hier inGenf, die Vertreter der Presse aus aller Welt trotz aller Vorbehalte gegendas Regime, das er vertritt, sehr beeindruckt. „Genau so wie die Politikerwaren auch sie wohl überrascht, dass der maßlose Demagoge, als den sieGoebbels aus seinen Äußerungen kannten, nun in einer so zivilisiertenund verbindlichen Gestalt <strong>vor</strong> ihnen stand.“ 169 Dr. Schmidt fällt auf, dasssich speziell die Journal<strong>ist</strong>innen herandrängen. Ein Sicherheitsbeamtersagt danach zu ihm: „Mir war oft nicht ganz behaglich zumute, wenn ichDamen mit Handtaschen dicht <strong>vor</strong> dem Min<strong>ist</strong>er stehen sah. Man weißnie, was plötzlich aus so einer Tasche herausgezogen wird.“ 170Im Reichsgericht zu Leipzig beginnt unterdessen am 21. September derProzess gegen die Brandstifter vom Berliner Reichstag. Dr. Hans-BerndGisevius nimmt daran als Beobachter teil und berichtet für uns aus demSaale: „Zunächst erwe<strong>ist</strong> sich freilich lange Zeit als die einzige Sensationdieses Leipziger Sensationsprozesses, dass er überhaupt keine Sensationbringt. So etwas <strong>ist</strong> nach großspurigen Ankündigungen immer peinlich.Diesmal wirkt es besonders übel. Denn alles verzeihen die Neugierigender Welt, nur nicht, dass man die von ihnen erwarteten Enthüllungennicht bietet. Wohl sitzen die Zuschauer gespannt auf ihren Plätzen, unddie aus aller Welt zusammengeströmten Presseleute harren unentwegtder Dinge, die da kommen sollen. Allein, es gibt weder Zwischenfälle167 Ebd., S. 280168 Ebd., S. 280169 Schmidt, S. 280170 Ebd., S. 28065


<strong>1933</strong>noch enthüllt sich das Geheimnis. Langsam, wie eine dicke zähflüssigeMasse, fließt der Strom der Zeugen und der Sachverständigen <strong>vor</strong>über.Jeder sagt ein längst bekanntes Sprüchlein herunter; keiner hinterlässteinen nachhaltigen Eindruck. Ungeahnt langweilig <strong>ist</strong> die Verhandlung,die sich geschlagene drei Monate hinschleppt. Jedes Mal, wenn sich einedramatische Verwicklung anzuspinnen beginnt, wiegelt der temperamentloseVorsitzende ab, und die sowieso schon halb entschlummerteZuhörerschaft versinkt erneut in Apathie.“ 171Marinus van der Lubbe, der 24 <strong>Jahr</strong>e alte Hauptangeklagte aus Holland,hinter dem die Flammen hochgeschlagen waren, als er beim Verlassendes Reichstages gestellt und verhaftet wurde, klebt wie „ein erloschenerLichtstumpf“ 172 auf der Anklagebank und schweigt. Politisch ausgedient<strong>hat</strong>te er freilich schon, als einen Tag danach die Kommun<strong>ist</strong>ische Parteiin Deutschland ausgeschaltet worden war. Von einem Kommun<strong>ist</strong>en <strong>hat</strong>der gerade fünf <strong>Jahr</strong>e ältere Hans-Bernd allerdings eine Vorstellung, diesich mit der Erscheinung dieses Wirrkopfes nicht deckt. <strong>Es</strong> bleibt auchfraglich, ob dieser jugendliche Held Kontakt mit einer kommun<strong>ist</strong>ischenGruppe <strong>hat</strong>te. Van der Lubbe führte nach Hans-Bernds persönlichemEindruck ein genormtes Vagabundendasein und ergänzt: „Wer je dieseszusammengeschrumpfte Etwas betrachtet <strong>hat</strong>, wird dieses Jammerbildnie mehr vergessen.“ 173 Während sich der jugendliche Held völlig sicher<strong>ist</strong>, dass er das große Gebäude ganz allein in Brand gesetzt <strong>hat</strong>, <strong>ist</strong> sichder Rest der Welt sicher, dass das gar nicht möglich <strong>ist</strong>. „Gegen LubbesBehauptung, er sei der Alleintäter, steht die vereinte Front der Sachverständigen.Brandpolizei wie Gerichtschemiker stimmen darin überein,dass eine Mehrzahl von Tätern am Werke gewesen sein muss.Die Vielzahl der festgestellten Brandherde, besonders die schnelle Ausbreitungdes Feuers <strong>ist</strong> anders überhaupt nicht verständlich. Die Gutachterlachen, wenn Lubbe ihnen weismachen will, seine paar Kohlenzünderhätten den Reichstag in Brand gesteckt. Eine ganze Gruppe musssich betätigt haben, und diese Kolonne <strong>hat</strong> sich augenscheinlich einerbestimmten, leicht entzündbaren Flüssigkeit bedient.“ 174171 Gisevius I, S. 39172 Ebd., S. 40173 Gisevius I, S. 40174 Ebd., S. 36f.66


<strong>1933</strong>Als peinlich empfindet der Berufseinsteiger auch den Auftritt von ErnstTorgler: „Man muss sich immerhin <strong>vor</strong>stellen, dass er kein x-beliebiger,irgendwo aufgegriffener Kommun<strong>ist</strong> <strong>ist</strong>. Außer Thälmann <strong>ist</strong> er wohl derbekannteste Führer der deutschen kommun<strong>ist</strong>ischen Partei, auf derenStufenleiter er es bis zum Vorsitzenden der Reichstagsfraktion gebracht<strong>hat</strong>.“ Weiter schreibt der Beobachter: „Nein, dieser Mann <strong>ist</strong> kein Held.An seiner traurigen Haltung erwe<strong>ist</strong> sich überzeugend <strong>vor</strong> dem Tribunalder Geschichte, warum trotz 1918, trotz der großen Wirtschaftskrise von1930 bis <strong>1933</strong> die Roten nicht zum Zuge kamen. Wenn man bedenkt,welch ungeheure Machtquelle in der marx<strong>ist</strong>isch organisierten Arbeitermasseihrer politischen Auswertung harrte, und sich daran erinnert,dass sich aus dieser Menschenfülle nur eine Gruppe von sicherlich achtbaren,aber me<strong>ist</strong> unzulänglichen Funktionären herauslöste, dann erstversteht man das Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung. DieserTorgler hockt auf der Anklagebank und meint, er müsse sich von demVorwurf der Brandstiftung reinwaschen. Ein blöder Zufall – oder war esdie Teufelei seiner politischen Gegner? - <strong>hat</strong> ihn noch einmal ins helleRampenlicht gestellt. Wenigen Desperados wurde solch ein Abgang vonder politischen Bühne geboten. Doch kein Volkstribun schmettert dieletzte Fanfare. Statt dessen bittet da jemand um einen Freispruch fürseine kleinbürgerliche Ex<strong>ist</strong>enz.“ 175Als Glanzpunkt des Prozesses <strong>vor</strong> dem Reichsgericht feiert Hans-BerndGisevius den Auftritt des bulgarischen Kommun<strong>ist</strong>en Georgi Dimitroff:„Ein Raunen geht durch den Saal, sobald er sich erhebt.“ 176 Als Anarch<strong>ist</strong>war Dimitroff in Bulgarien zu insgesamt 32 <strong>Jahr</strong>en schwerer Kerkerhaftverurteilt worden und <strong>ist</strong> über die Sowjetunion nach Deutschland geflüchtet.Zufällig gerät er in die Verhaftungswelle, die durch Berlin geht.Am 27. Februar hielt er sich aber in München auf und kann sich somitsicher sein, dass er nicht schuldig gesprochen werden kann. Grinsendkommentiert Gisevius, es sei „zwar keiner im ganzen Saal, der Dimitroffnicht einen Angriff gegen die bürgerliche Ordnung zutrauen würde, aberhinsichtlich des Reichstagsbrands <strong>ist</strong> ihm wirklich nichts anzuhaben.“Dr. Gisevius merkt an: „Nicht einen Augenblick vergisst Dimitroff, dasser politischer Angeklagter <strong>ist</strong>. Die Anklage der Brandstiftung als solchelässt ihn völlig kalt, wie ihn auch seine Vorstrafen nicht beschweren.175 Gisevius I, S. 44ff.176 Ebd., S. 4267


<strong>1933</strong>»Ich habe gehört, dass ich in Bulgarien zum Tode verurteilt bin; nähereErkundigungen habe ich darüber nicht eingezogen, denn das interessiertmich nicht«, meint er mit lässiger Handbewegung.“ 177 Die Äußerung, ersei hier nicht nur Angeklagter, sondern auch Verteidiger für Dimitroff,wird quittiert, indem er bis auf Weiteres von der Sitzung ausgeschlossenwird. „<strong>Es</strong> wird auch höchste Zeit“, kommentiert Hans-Bernd Gisevius,„denn er tastet sich gefährlich an den Kern der Dinge heran. »Ist esmöglich, dass die Brandstifter durch den unterirdischen Gang in denReichstag gekommen sind?« fragt er neugierig und bohrt immer wiederin dieser peinlichen Geschichte herum.“ 178Dann kommt Hermann Göring in den Saal und möchte hier auch etwassagen. Doch er <strong>ist</strong> ganz schlecht: „Eigens für diesen Auftritt <strong>hat</strong> sich derInnenmin<strong>ist</strong>er ein Kostüm bauen lassen. Nie <strong>vor</strong>her, nie hinterher wirder darin abgebildet werden. Aber für diesen Tag passt es <strong>vor</strong>züglich. Eingreller, brauner Jagdanzug aus Leinen, Kniehosen, hohe braune Stiefel,so wirkt er schon rein äußerlich als Provokation des höchsten deutschenGerichtshofes. Und dann legt Göring los. Er brüllt. Er überschreit sich.Mit der einen Hand fuchtelt er wild in der Gegend herum. Mit demwohlparfümierten Taschentuch in der anderen Hand wischt er sich denperlenden Schweiß von der Stirn. Erst höhnt er: »In großen Zügen wirdim Braunbuch behauptet, dass mein Freund Goebbels mir diesen Planbeigebracht hätte, den Reichstag anzuzünden, und dass ich ihn dannfreudig ausgeführt hätte. <strong>Es</strong> wird weiter behauptet, dass ich diesemBrande zugesehen hätte, ich glaube, in eine blauseidene Toga gehüllt. <strong>Es</strong>fehlt nur noch, dass man behauptet, ich hätte, wie Nero beim BrandeRoms, Laute gespielt.« Dann wettert er: »<strong>Das</strong> Braunbuch <strong>ist</strong> eine Hetzschrift,die ich vernichten lasse, wo ich sie finde. Mit dieser idiotischenUntersuchung dürften wir uns überhaupt nicht befassen, denn damitverkümmern wir unsere eigenen Rechtsbegriffe.« Dann tobt der Innenmin<strong>ist</strong>er,er habe die Polizei wieder das Schießen gelehrt: »Ich übernehmedie Verantwortung. Wenn dort einer erschossen liegt, so habe ichihn erschossen.«“ 179177 Ebd., S. 42178 Gisevius I, S. 42f.179 Gisevius I, S. 4368


<strong>1933</strong>Der Uniformenfimmel des dicken Hermann <strong>ist</strong> eines der Dauerthemen.<strong>Es</strong> dauert gar nicht lange, da <strong>hat</strong> der Volksmund schon diesen Spruchausgeheckt: Hermann bestellt eine <strong>neue</strong> Uniform. „Aber diesmal ganzschlicht. Oben nur ein schmaler Kragen mit drei silbernen Streifen. Undalles Übrige dann ganz einfach in Gold.“ 180Als Dimitroff sprechen darf, kommt er der Lösung noch ein gutes Stücknäher: „Ich frage, was <strong>hat</strong> der Herr Innenmin<strong>ist</strong>er am 28. Februar undin den nächsten Tagen getan, damit durch die polizeiliche Untersuchungder Weg Lubbes von Berlin nach Henningsdorf, sein Aufenthalt im dortigenAsyl, seine Bekanntschaft mit zwei anderen Leuten dort festgestelltund so die Komplizen ausfindig gemacht werden konnten?“ 181 <strong>Das</strong> warenwohl zwei Nazis, denen van der Lubbe von den Zündelabsichten erzählteund die ihn in den nächsten Tagen nicht aus den Augen ließen. Wie warwohl auch die Abstimmung für die gleichzeitige Aktion der SA zustandegekommen. Jedenfalls fiel dem Herrn Min<strong>ist</strong>er auf Dimitroffs Frage nurein Psalm ein, der im Licht der vermutlichen Täterschaft schon wiedereine interessante Note erhält: „Ich selbst bin nicht Kriminalbeamter,sondern verantwortlicher Min<strong>ist</strong>er. Für mich war es deshalb nicht sowichtig, den einzelnen kleinen Strolch festzustellen, sondern die Partei,die verbrecherische Weltanschauung, die dafür verantwortlich war.“ 182„Die endlose Zeugenvernehmung klärt nichts auf, eigentlich macht sieden Kriminalfall von Tag zu Tag verworrener. Übergehen wir die berufsmäßigenLügner, ich meine die SS-Gruppenführer und <strong>neue</strong>n Polizeipräsidenten,dann <strong>ist</strong> das Merkwürdige, dass man keineswegs von lautergedungenen Zeugen reden kann. Dazu sind ihre Aussagen viel zu auseinanderliegendund ungekünstelt. Diese Leute sind me<strong>ist</strong>ens echt. Siesind typische Zeugen, wie man sie allenthalben finden kann. Keiner vondiesen Angestellten, Ehefrauen, Kellnern, Kneipwirten, Chauffeurenund Fahrstuhlführern wird ohne Weiteres seine Hand zum Meineid erheben.Sie bilden sich fest ein, mit ihren eigenen Augen gesehen zu haben,was sie jetzt so weitschweifig bezeugen. Sie wollen nicht der Verschleierungdienen, sie wollen aufklären. Sie wollen die Schuldigen dergerechten Strafe zuführen – aber gerade dadurch verwirren sie und hel-180 Hirche, S. 80181 Gisevius I, S. 43182 Gisevius I, S. 4469


<strong>1933</strong>fen sie den wahren Tätern, aus dem Blickfeld zu verschwinden.“ 183 <strong>Das</strong>Gerichtsurteil wird für das <strong>Jahr</strong>esende erwartet.Während Dr. Gisevius auf den Landstraßen zwischen der Reichshauptstadtund der alten Messestadt Leipzig hin- und herfährt, geschieht nocheiniges mehr in Deutschland. So macht der Kanzler am 29. Septemberden feierlichen ersten Spatenstich für ein großangelegtes Infrastrukturprojekt,die Reichsautobahn. 184 An ihren Baustellen werden viele LeuteArbeit finden und bald wird es auch eine Autobahn nach Leipzig geben.Im Dezember des <strong>Jahr</strong>es 1932 war Hauptmann Hans Speidel informiertworden, dass nach einer internationalen Entscheidung die Posten vonMilitärattachés an den Botschaften in den Hauptstädten der Welt wie<strong>vor</strong> dem Krieg wieder eingerichtet werden sollten und er als Gehilfe desMilitärattachés an der deutschen Botschaft in Paris <strong>vor</strong>gesehen war. ImOktober <strong>1933</strong> <strong>ist</strong> es soweit. So lernt Hans Speidel* die Sicht deutscherDiplomaten auf die Wahlsieger vom März dieses <strong>Jahr</strong>es näher kennen:„Mit den höheren Beamten der Botschaft entwickelte sich ein bleibendesFreundschaftsverhältnis. Den ersten Weltkrieg <strong>hat</strong>ten alle als Offizieremitgemacht: An der Spitze der Botschafter, der das Flugzeugführerabzeichenund das Eiserne Kreuz erster Klasse bei allen Einladungen aufdem Frack trug, weiter der kultivierte Botschaftsrat Dr. Dirk Forster, einprofunder Kenner der politischen Materie, der gewandte, über her<strong>vor</strong>ragendeinternationale Beziehungen verfügende Gesandtschaftsrat Dr.Dumont, die Legationssekretäre Freiherr von Maltzan, Freiherr von derHeyden-Rynsch, von Holleben und Peter Pfeiffer, der 1934 aus Moskaukam. Mit Ausnahme des Freiherrn von der Heyden <strong>hat</strong>ten alle der nationalsozial<strong>ist</strong>ischenRegierung gegenüber starke Reserven. Forster undFreiherr von Maltzan mussten später den Dienst quittieren. Dem treuenFreund Voit von Maltzan* blieben wir verbunden.“ 185Die Reichsregierung sorgt sich verstärkt um Leib und Leben der Amtswalterder NSDAP sowie der Angehörigen der SA und der ihr weiterhinunterstellten SS. Am 13. Oktober erlässt sie deshalb ein Gesetz zur Gewährle<strong>ist</strong>ungdes Rechtsfriedens. Wer den besonderen Deutschen nach183 Ebd., S. 40184 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 177185 Speidel, S. 5670


<strong>1933</strong>dem Leben trachtet, soll hingerichtet werden. 186 Erlaubt bleibt natürlich,dass die besseren Deutschen wie gehabt den anderen Leuten nach demLeben trachten dürfen. Was kann ein einzelner Mensch gegen Zuständewie diese machen? Wenig. Aber das Wenige, was man machen kann, tutzum Beispiel auch der Landrat von Rendsburg in den Tiefen des Reichesund schreibt eine Denkschrift, in der er das Regime, wie es jetzt <strong>ist</strong>, klarund deutlich kritisiert und ihm von einer religiösen Grundlage aus denKampf ansagt. 187 Der Landrat <strong>hat</strong> wohl auch einen Namen, aber diesenNamen kennen nur die Leute in der Gegend rund um das verschlafeneRendsburg. Er heißt Theodor Steltzer*. Von dieser Denkschrift werdensoundsoviele Abzüge gemacht, die von ihm in seinem Bekanntenkreisverbreitet werden. In eine Zeitung kommt er damit nicht mehr rein.Am 14. Oktober <strong>1933</strong> werden der Reichstag und alle Landtage aufgelöst.„Im Herbst <strong>1933</strong> <strong>hat</strong>te Hitler fast alle Konkurrenten und Widersacherbeseitigt.“ Hören wir weiter die Auswertung von Erich Kordt aus demAuswärtigen Amt: „Die Kommun<strong>ist</strong>en, die Sozialdemokraten, die Regierungender süddeutschen Staaten, die Gewerkschaften, das Zentrum, dieMonarch<strong>ist</strong>en, der Stahlhelm, die Industrieführer – alle waren sie einzeln,me<strong>ist</strong> nach geschickten Täuschungsmanövern, politisch ausgeschaltetworden. Die Konzentrationslager, in die viele der alten und alle<strong>neue</strong>n Opponenten wanderten, sorgten dafür, dass sich keine <strong>neue</strong> legaleOpposition bilden konnte. Die <strong>wenigen</strong> Führer, die sich ins Auslandretteten, wurden dort bis auf verschwindend geringe Ausnahmen widerwilligaufgenommen und konnten den Terror nicht wirksam bekämpfen.Immerhin hätte es wohl mehr spontane Akte des Widerstandes gegendas Regime Hitlers gegeben, wenn nicht ein großer Teil des deutschenVolkes doch noch auf den Reichspräsidenten von Hindenburg und dieReichswehr gesetzt hätte. Unmöglich konnte der Reichspräsident auf dieDauer diesem Treiben zusehen.“ 188 Doch der alte Mann bleibt stumm.Was denen blüht, die spontan den Aufstand proben, kann man gerade inOberbayern sehen. Als die Bergarbeiterstadt Penzberg <strong>1933</strong> und 1934energische Aufstandsbestrebungen gegen die Diktatur zeigt, 189 wird den186 Ecke, S. 25f.187 Rothfels, S. 61f.188 Kordt,S. 34f.189 Steinbach, S. 54571


<strong>1933</strong>Leuten im Städtchen <strong>vor</strong>geführt, wie die braunen Machthaber so einenspontanen Akt abzuwürgen verstehen. Auf die me<strong>ist</strong>en Leute im Landetrifft natürlich eher der Spruch zu: Wer stellt ein medizinisches Wunderdar? – Viele Deutsche. Sie können aufrecht gehen und haben doch eingebrochenes Rückgrat. 190 Wir waren jedoch bei der Wahrnehmung vonErich Kordt: „Reichspräsident und Reichswehrführung sowie Kabinettsmitgliederwie Neurath und Schwerin-Krosigk und ReichsbankpräsidentSchacht würden wohl, so dachten viele, zunächst Hitler einmal zeigenlassen, was er könne. Nach einem zu erwartenden Misserfolg würden sieaber für die Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit sorgen.Auch aus außenpolitischen Gründen, so argumentierte man, könnte sichder Reichspräsident nicht auf die Dauer passiv verhalten.“ 191Auch außerhalb des Reichs sind die Ansichten über Deutschland geteilt.Später erinnerte sich Kordt: „Schwache Regierungen und unzufriedeneVölker überall in der Welt schienen den Beweis dafür zu liefern, dasstrotz aller abstoßenden Züge seines Regimes Hitler den rechten Wegwusste. Von dieser allgemeinen Begriffsverwirrung blieben auch vieleausländische Persönlichkeiten nicht frei. Sie halfen, die Besinnlichen inDeutschland zu paralysieren. Die hypnotische Wirkung, die Hitler aufdas Ausland ausübte, <strong>ist</strong> vielleicht noch schwerer zu verstehen als dieauf das deutsche Volk.“ 192Professor Hans Rothfels liefert ein Beispiel für ausländische Ansichten,die zu dieser Paralyse der Besinnlichen im Deutschen Reich mit beiträgt.Nach der Publikation des Brown Books of the Hitler Terror, in dem derLondoner jüdische Verleger Victor Golancz bekannt gewordene Fällekörperlicher Misshandlungen im Reich benennt, sagt der Ex-Botschafterder USA in Berlin James W. Gerard im Rahmen einer Buchbesprechungin der New York Times am 15. Oktober: „Hitler tut viel für Deutschland,seine Einigung der Deutschen, seine Schaffung eines spartanischenStaats, der durch Patriotismus belebt <strong>ist</strong>, seine Einschränkung der parlamentarischenRegierungsweise, die für den deutschen Charakter soungeeignet <strong>ist</strong>, sein Schutz der Rechte des Privateigentums – all dieses190 Hirche, S. 113191 Kordt, S. 35192 Ebd., S. 4972


<strong>1933</strong><strong>ist</strong> gut.“ 193 Berichten Deutsche, die den Horror eines Lagers erlebt habenund nach der Entlassung aus der Heimat geflohen sind, aber ihren ausländischenFreunden davon, treffen sie „oft genug auf ein leichtes Kopfschütteln.Und die Ungläubigkeit verstärkte sich, wenn es sich um dieZahl der Betroffenen oder um die angewandten Methoden handelte.“ 194Der 42 <strong>Jahr</strong>e alte Hans Rothfels <strong>ist</strong> mit dieser Haltung nicht glücklich.Er erlebt, wie die Verfolgungswelle über unser Land rollt und er merktdazu an: „Aber solange die Insassen von Konzentrationslagern lediglichDeutsche waren, wurde den dort begangenen Greueln im Ausland wenigBeachtung geschenkt.“ 195 Diese Fehleinschätzung wird sich böse rächen,denn im Reich werden die Köpfe aus Politik und Gewerkschaften in dieZuchtanstalten geschickt. Wer soll jetzt noch die Bevölkerung gegen diebraune Revolution organisieren? Der Metzger an der Ecke wohl kaum.Kurt steht an einer Bushaltestelle und wartet. <strong>Es</strong> dauert gar nicht lange,und Peter kommt dazu. Nach ein paar allgemeinen Worten grinst Petergrimmig und fragt, ob Kurt diesen Spruch schon kennt: In der Schulefragt der Herr Lehrer, welche Bilder großer Führer der Bewegung sie zuHause hängen haben. Natürlich werden Hitler, Göring und Goebbels amme<strong>ist</strong>en genannt, bis der Arbeiterjunge Michael sagt: „Wir haben nochkeinen; aber meine Mutter <strong>hat</strong> gesagt, warte nur, bis Vater aus dem KZzurückkommt, dann hängen wir alle drei auf!“ 196Während Dr. Kordt wähnt, eine hypnotische Wirkung zu erkennen, dieein Hitler <strong>1933</strong> auf <strong>Das</strong> Ausland wie auch auf <strong>Das</strong> deutsche Volk ausübt,kann man die Wirkungen, die er erzielt, auch ganz nüchtern betrachten.Zur Fehleinschätzung der Entwicklung des Deutschen Reichs trägt auchdas schlechte Gewissen im Ausland bei. Selbstverständlich war dort sehrschnell nach dem Weltkrieg klargeworden, dass sich die Regelungen vonVersailles und Saint-Germain einseitig gegen Deutschland richteten. DieNeigung anderer Regierungen zu gerechteren Lösungen für Deutschlandhielt sich unseren demokratischen Kanzlern gegenüber in Grenzen. DieGleichberechtigung, die 1932 wiederhergestellt wurde, war ein Zeichenin die richtige Richtung; als dann ein Hitler Kanzler wurde, zog sich das193 Rothfels, S. 22194 Ebd., S. 22195 Ebd., S. 21196 Hirche, S. 11373


<strong>1933</strong>Ausland teilweise auf alte Positionen zurück. Jener Abrüstungsplan, dender Premier Ramsay MacDonald am 16. März <strong>1933</strong> <strong>vor</strong>gestellt <strong>hat</strong>te, warvon Hitler am 23. März als „Zeichen der Verantwortung und des gutenWillens“ 197 anerkannt worden. Doch diesem Plan folgten keine schnellenEntscheidungen. Im Sommer vertagte sich die Konferenz – und Londonund Paris besprachen die anstehenden Probleme unter dem Eindruckder Entwicklung im Reich alleine weiter. Als Ergebnis kommt ein <strong>neue</strong>rPlan heraus, den Londons Außenmin<strong>ist</strong>er Sir John Simon am 9. Oktober<strong>1933</strong> dem Büro der Abrüstungskonferenz <strong>vor</strong>legt, der nun DeutschlandsGleichberechtigung, wie sie der MacDonald-Plan zugestanden <strong>hat</strong>te, fürein erstes Stadium von 4 <strong>Jahr</strong>en ausschließt. „Während dieser Periodesollte eine offiziell für alle Mächte geltende, in der Praxis aber in ersterLinie auf Deutschland anwendbare Kontrolle durchgeführt werden.“ 198Kanzler Hitler nutzt diese Steil<strong>vor</strong>lage. Am 19. Oktober wird der Austrittdes Reiches aus dem Völkerbund erklärt. Die USA wollten damit gleichnichts zu tun haben, die Sowjetunion durfte nicht rein, Japan <strong>ist</strong> schondraußen, da es lieber Krieg gegen das große China führen will, so kannHitler damit rechnen, dass mit seinem Schritt der Völkerbund nunmehrendgültig scheitert. Min<strong>ist</strong>er Goebbels begründet den Schritt in einemInterview dann so: „Wir fordern gleiche Berechtigung, und wir weigernuns von <strong>vor</strong>nherein, uns mit dem Makel der Ehrlosigkeit behaften zulassen. Da uns weder im Völkerbund noch auf der Abrüstungskonferenzdiese gleiche Berechtigung zugestanden worden <strong>ist</strong>, mussten wir sowohlden Völkerbund als auch die Abrüstungskonferenz aus Gründen derEhre verlassen.“ 199Manch einer in Europa denkt sich: Recht <strong>hat</strong> der Mann. Hitler <strong>hat</strong> hiergar keine hypnotische Wirkung auf jemanden im In- oder im Ausland,wie von Dr. Kordt in den Raum gestellt. Hitler <strong>hat</strong> an wichtigen Punktenauf den ersten Blick Recht, und er <strong>ist</strong> ein Me<strong>ist</strong>er in der Ausnutzung von<strong>vor</strong>gegebenen Situationen für die Veränderung der politischen Bühne inseinem Sinne. Die deutsche Elite, die diesen politischen Künstler erst andie Macht geholt <strong>hat</strong>te, weil sie meinte, ihn für ihre Zwecke benutzen zu197 Kordt, S. 58198 Kordt, S. 59199 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 27174


<strong>1933</strong>können, <strong>ist</strong> bald peinlich berührt ob ihres Fehlgriffs und versucht mitmagischen Worten im Nebel zu belassen, was sie angerichtet <strong>hat</strong>, dennniemand will es dann gewesen sein, der den Ge<strong>ist</strong> aus der Flasche geholt<strong>hat</strong>te. Für dieses Phänomen findet Erich Kordt jedoch passende Worte:„<strong>Es</strong> <strong>hat</strong> in Deutschland Leute gegeben, die glaubten, Hitler beherrschenzu können: die bayrischen National<strong>ist</strong>en, die preußischen Reaktionäre,die Industriemagnaten, die radikalen Landsknechte, die Armee. Auchim Ausland <strong>ist</strong> häufig die Auffassung vertreten worden, er glaube zuschieben, werde aber selbst geschoben. Wer nur die große Domäne derWillkür sah, die Hitler bewusst seinen Helfershelfern überließ, konntewohl zu einem solchen Schlusse kommen. In Wirklichkeit war er dasWerkzeug von niemandem und herrschte unbestritten auch ohne Sachkenntnis,ja, ohne ein Programm, das außerhalb seiner Person lag. Zudem polnischen Außenmin<strong>ist</strong>er Beck äußerte er einmal, man brauchekein Programm, um die Macht zu behalten, aber man müsse dafür sorgen,stets 30 Prozent der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Außerdemsei eine gute Polizei erforderlich.“ 200Stattdessen wird später versucht, die Schuld dem Volk zuzuweisen. Aberdie Wirkung, die Hitler im Inland <strong>hat</strong>, <strong>hat</strong> ebenso wenig mit Hypnose zutun. Nur, wer jeden Tag genug zu essen <strong>hat</strong> und sich nur um die Farbender Strümpfe sorgt, die seine Kinder heute in die Schule für die besserenLeute anziehen sollen, fragt sich, warum sich die Lumpensammler nachdem Weltkrieg kommun<strong>ist</strong>ischen und nationalsozial<strong>ist</strong>ischen und allenmöglichen anderen radikalen Straßenrednern anschließen, die meinen,die Lösung für die allgemeine Misere parat zu haben. <strong>Das</strong> Grundübel <strong>ist</strong>dabei überhaupt nicht die Demokratie nach der Abdankung des Kaisers.<strong>Das</strong> Grundübel der zwanziger <strong>Jahr</strong>e <strong>ist</strong> wohl eher der Egoismus, mit derdie Leute in den verschiedenen Schichten im Lande versuchen, trotz derNiederlage im Weltkrieg so gut wie irgend möglich zu leben. Ein großerTeil der Elite <strong>hat</strong>te eben nicht nach Lösungen für die massenhafte Verelendunggesucht, was sich unter anderem auch in den Wahlergebnissender demokratischen Parteien widergespiegelt <strong>hat</strong>te.Vielleicht <strong>hat</strong> Adolf Hitler wirklich kein Programm, aber er <strong>hat</strong> ein Ziel,und er steuert zumindest in den ersten <strong>Jahr</strong>en nicht darauf zu, er wartetvielmehr Situationen ab, um sich Stück für Stück seinem Ziel zu nähern.200 Kordt, S. 5375


<strong>1933</strong>Nachfolgender Text vom stellvertretenden Vorsitzenden der DeutschenGesellschaft für Psychologie Prof. Dr. Walther Poppelreuther mag hiereinerseits für die Sprache dieser Tage stehen und andererseits auch fürden Versuch eines Autoren, hinter das Geheimnis von Hitlers Erfolg beiden Massen zu kommen: „Überall zeigt sich Hitler als der biologisch eingestelltePsychologe. <strong>Das</strong> heißt, er klebt nicht an dem bewussten Seelenlebeneinen einzelnen Menschen, sondern er sieht das Seelenleben desEinzelnen im großen Zusammenhang des Lebens, welches letzten Endesalles Organische umfasst. So <strong>ist</strong> er bei aller Idealhaftigkeit – man könntefast sagen, trotz aller Idealhaftigkeit – insofern auch ein Naturwissenschaftler,der die Dinge des Lebens <strong>vor</strong> allem als von unabänderlichenNaturgesetzen gesteuert ansieht. Hitler fand beide Theorien <strong>vor</strong>: einerseitsder Kampf zwischen den Lebewesen <strong>ist</strong> der »Vater aller Dinge«,andererseits gegenseitiges Dulden, Nichtbekämpfen, Toleranz, gegenseitigesFördern (idealhafter Pazifismus) <strong>ist</strong> das Ziel. Hier unterscheidet erwissenschaftlich richtig: das eine stimmt und das andere auch; das Problemliegt nur darin, festzulegen, wo und wie stimmt das eine, wo undwie das andere? Hitler findet die »richtige Mitte« der antiken Philosophen,indem er eben ganz einfach »das Volk«, d. h. den Volksstaat <strong>vor</strong>rangiert.Denn stellt man das Volksganze <strong>vor</strong>an, so löst sich das Problemharmonisch! Kampf gegenüber allem, was das Volksganze bedroht, Friedeaber in allem, was für das Volksganze <strong>ist</strong>! Die echte WissenschaftlichkeitHitlers erwe<strong>ist</strong> sich schon an der Wurzel seiner Massenpsychologie,in seiner wertenden Stellungnahme zur Masse. In der Fachwissenschaftgeht es hin und her mit der Frage: Ist die Masse minderwertig, dumm,ego<strong>ist</strong>isch, material<strong>ist</strong>isch, profitlich usw. – oder aber <strong>ist</strong> sie hochwertig,klug, aufopferungsfähig, altru<strong>ist</strong>isch, idealhaft usw.? Hitler fand auchhier die richtige Antwort auf diese Problematik: Die Masse <strong>ist</strong> einerseitsgut, hochwertig, klug usw., andererseits aber auch minderwertig, dummusw. Für das politische Wirken handele es sich aber darum, richtig zuerkennen: wo und wie <strong>ist</strong> die Masse gut, hochwertig usw., wo und wie <strong>ist</strong>sie minderwertig, dumm usw.? Eine schematische Wertung sei unsinnig.“201 Soweit Professor Poppelreuther. Um nun so viele Leute wie nurmöglich hinter sich zu bekommen, muss jemand richtig einschätzen, wiedie Mehrheit der Bevölkerung eine aktuelle Lage vermutlich sieht sowierichtig beurteilen, welche Reaktion darauf spontan erwartet wird.201Poliakov und Wulf, S. 39976


<strong>1933</strong>Der Diplomat Kordt verwe<strong>ist</strong> darauf, dass das Ausscheiden des ReichsLondon ebenfalls zum Grübeln bringt: „<strong>Das</strong>s der britischen Regierungangesichts dieser für sie unerwarteten Reaktion Hitlers nachträglichdoch Bedenken hinsichtlich der Richtigkeit ihrer Politik kamen, gehtdeutlich aus der Unterhausrede Sir John Simons vom 7. November <strong>1933</strong>her<strong>vor</strong>, in welcher der britische Außenmin<strong>ist</strong>er das Bestreben, auch weiterhineine Versöhnung zwischen Paris und Berlin zu suchen, zum Ausdruckbrachte.“ 202Am 12. November wird der Reichstag neu gewählt. Da sollen die Bürgernur noch die aufgestellten Kandidaten der NSDAP bestätigen. Zugleichwird eine Volksabstimmung über Hitlers Außenpolitik durchgeführt. Inerster Linie geht es um die Bestätigung des Austritts aus dem Völkerbund.Die Wahlbeteiligung soll bei 96,3 Prozent liegen. Nur 4,8 Prozentseien gegen die <strong>neue</strong> Außenpolitik. Wer es glaubt, wird selig, und wer esnicht glaubt muss dran glauben. In der fernen Zukunft wird sich zeigenlassen, dass das die erste Wahl der <strong>neue</strong>n Zeit <strong>ist</strong>, an deren Ergebnis imNachhinein gearbeitet wird. 203In Warschau gewinnt man den Nicht-Preußen weiterhin positive Seitenab; man betrachtet sie als „unbelastet vom traditionellen antipolnischenKomplex“ 204 . Am 15. November lässt Marschall Piłsudski den Botschafterin Berlin Józef Lipski bei der Reichsregierung anfragen, ob sie eineMöglichkeit sieht, Polen nach dem Austritt des Reiches aus dem Völkerbundeine Rückversicherung für die eigene Sicherheit zu geben. 205 Hitlerbietet Józef Piłsudski „einen Freundschafts- und Nichtangriffsvertragan. Am 24. November legt der deutsche Botschafter von Moltke den Vertragsentwurfdazu im polnischen Außenmin<strong>ist</strong>erium <strong>vor</strong>. Dann herrschtfür sechs <strong>Wochen</strong> Funkstille zwischen Warschau und Berlin. Piłsudskiversucht in dieser Zeit ein drittes Mal, Paris zu animieren, einer zukünftigenWiederaufrüstung Deutschlands durch einen Präventivkrieg zu<strong>vor</strong>zukommen.Als Frankreich ihm erneut die kalte Schulter zeigt, entschließtsich der polnische Staatschef, seine Außenpolitik zu ändern.“ 206202 Kordt, S. 59203 Der Spiegel, 48/1949, S. 7f.204 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 265205 Schultze-Rhonhof; S. 406206 Schultze-Rhonhof, S. 40677


<strong>1933</strong>Warschau hegt jetzt die Hoffnung, dieses <strong>neue</strong> Deutschland könne zumVerbündeten gegen die Sowjetunion werden. Die antikommun<strong>ist</strong>ischeund antijüdische Einstellung macht Hitler für Warschau als denkbarenPartner viel attraktiver als die Vorgänger, die sich mit der Sowjetunionverbündet <strong>hat</strong>ten, um die durch die Verträge von Versailles und Saint-Germain her<strong>vor</strong>gerufene Isolation Deutschlands zu durchbrechen.Auch der französische Kriegsmin<strong>ist</strong>er Daladier sucht den Ausgleich mitHitler. Zweimal schickt er den Grafen Fernand de Brinon nach Berlin.Der Journal<strong>ist</strong> mit exzellenten Beziehungen zu Finanzkreisen soll sehen,wie Frankreich weiter mit Deutschland zusammenarbeiten kann. Hitlergewährt ihm ein Interview, das am 23. November im Pariser Matin undim Berliner Völkischen Beobachter zu lesen <strong>ist</strong>. Hitler sagt darin, dass esjetzt darum geht, die Zugehörigkeit des Saarlandes zu Deutschland oderzu Frankreich zu klären, damit es keine Streitfragen in den Beziehungenmehr gibt, die Kriege rechtfertigen. Wörtlich sagt Hitler: „Man beleidigtmich, wenn man weiterhin erklärt, dass ich den Krieg will.“ 207 De Brinonfragt nach, ob später wirklich keine <strong>neue</strong>n Schwierigkeiten zwischen denbeiden Ländern auftreten werden, und Hitler antwortet ihm: „Wenn ichmein Wort gebe, so bin ich gewohnt, es zu halten.“ Der Journal<strong>ist</strong> möchteaußerdem wissen, ob Deutschland in den Völkerbund zurückkehrenwird, worauf Hitler sagt: „Wir werden nicht nach Genf zurückkehren.Ich bin aber stets bereit, Verhandlungen mit einer Regierung aufzunehmen,die mit mir sprechen will.“ 208 Hitler strebt hier solche zweiseitigenVerträge wie in den Verhandlungen mit Warschau an.Doch nirgendwo <strong>ist</strong> man so unmittelbar mit den <strong>neue</strong>n Herren in Berlinkonfrontiert wie in Deutschland selbst und jeder sucht seinen Weg, ummit den ungewohnten Umständen klarzukommen. Dabei sind sich vieleLeute nicht sicher, wie viel Reichskanzler Hitler von den Zuständen imLand weiß. Vielleicht glaubt der Kanzler ja, Kundgebungen wie eine am13. November im Berliner Sportpalast widerspiegelten die Meinungender me<strong>ist</strong>en Chr<strong>ist</strong>en in der evangelischen Kirche. So setzt sich GustavHeinemann* am 29. November aufgewühlt an seinen Schreibtisch undrichtet einen scharfen Brief an ihn: „Sehr verehrter Herr Reichskanzler!Wieder einmal versucht die »Glaubensbewegung Deutscher Chr<strong>ist</strong>en«,207 <strong>Das</strong> Dritte Reich I, S. 273208 Ebd., S. 27378


<strong>1933</strong>hohe Regierungsstellen durch falsche Berichte über den wahren Zustandder evangelischen Kirche irrezuführen (vgl. heutige Telegramme über<strong>Es</strong>sener Vorgänge).“ 209 Sicher brodelt es überall im Reich, aber in <strong>Es</strong>senkennt er sich aus, da <strong>ist</strong> er seit <strong>Jahr</strong>en zu Hause, da <strong>ist</strong> er Justiziar undProkur<strong>ist</strong> bei den Rheinischen Stahlwerken sowie Kirchen<strong>vor</strong>steher derEvangelischen Gemeinde <strong>Es</strong>sen-Altstadt. In seinem Brief nimmt er auchStellung zu den jüngsten Einlassungen von Studienrat Dr. Krause imBerliner Sportpalast, der dort zum Aufbau einer Volkskirche aufrief,wozu erst einmal die „Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienstund im Bekenntnismäßigen“ 210 gehört. Weiter sagte er: „Die Juden sindnicht Gottes Volk. Wenn wir Nationalsozial<strong>ist</strong>en uns schämen, eine Krawattevom Juden zu kaufen, dann müssten wir uns erst recht schämen,irgendetwas, das zu unserer Seele spricht, das innerste Religiöse vomJuden anzunehmen. Hierher gehört auch, dass unsere Kirche keineMenschen judenblütiger Art mehr in ihre Reihen aufnehmen darf.“ 211In seinem Brief an den Reichskanzler setzt sich Dr. Heinemann damitauseinander: „Die ungeheuerlichen Angriffe des Berliner GauobmannesDr. Krause auf die Grundlagen des Chr<strong>ist</strong>entums und der evangelischenKirche haben eine gewaltige Erregung in den hiesigen Gemeinden her<strong>vor</strong>gerufen.Diese Erregung steigert sich täglich, nicht zuletzt deshalb,weil eine plötzlich eintretende Nachrichtensperre für die hiesige Presseden Gerüchten Tür und Tor öffnet.“ 212 Obwohl Gustav schon 34 <strong>Jahr</strong>e alt<strong>ist</strong>, oder vielleicht gerade weil er erst 34 <strong>ist</strong>, <strong>hat</strong> er den Drang, seinemKanzler die Wahrheit über die Stimmung in seinem Reich zu vermitteln;wie soll es der Kanzler in Berlin sonst auch erfahren, wenn es ihm keinersagt? „17 Pfarrer des Kirchenkreises <strong>Es</strong>sen haben heute ihren Austrittaus der Glaubensbewegung Deutscher Chr<strong>ist</strong>en erklärt, weil sie nach derWeimarer Tagung überzeugt sind, dass diese Bewegung mit dieser Führungnicht mehr auf den rechten Weg zu bringen <strong>ist</strong>. Von den 54 Pfarrerndes hiesigen Kirchenkreises verbleiben damit nur noch etwa 5 beiden »Deutschen Chr<strong>ist</strong>en«. Immer deutlicher wird es weiten Kreisen derGemeinden mit ihren Pfarrern, dass die Kirchenpolitik der Reichslei-209 Werner Koch, Ein Chr<strong>ist</strong> lebt für morgen. Heinemann im Dritten Reich, S. 47210 Koch, S. 46211 Koch, S. 46212 Ebd., S. 4779


<strong>1933</strong>tung der »Deutschen Chr<strong>ist</strong>en« und der von ihr einseitig beherrschtenpreußischen Kirchenbehörden ein Verderb für Staat und Kirche <strong>ist</strong>.“ 213Gustav muss ernsthaft glauben, der Kanzler wisse das alles nicht, sonsthätte er diesen Brief gar nicht erst geschrieben. Er erhält freilich keineAntwort darauf. Dafür erlässt die Reichsregierung am 1. Dezember einGesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> wichtig,damit Querulanten mit Einfluss noch weniger Möglichkeiten haben, umUnruhe zu stiften. 214Kanzler Hitler unterbreitet seinerseits am 18. Dezember London, Parisund Rom ein Memorandum, das „unter anderem den Vorschlag einerUmwandlung der Reichswehr in ein kurz dienendes Heer von 300.000Mann und eine Reihe von Vorschlägen über eine qualitative allgemeineBeschränkung der Rüstungen auf rein defensive Waffen, eine Stellungnahmezu der Bewertung der SA und SS im Rahmen der Abrüstung,konkrete Darlegungen über ein System allseitiger periodischer Kontrolleund vieles andere“ 215 enthält. Erich Kordt schätzt ein, man könne „esvielleicht als eines der schwersten Versäumnisse der Politik der Westmächtegegenüber Hitler ansehen, dass nicht bei dieser Gelegenheit derVersuch gemacht worden <strong>ist</strong>, Hitler bei seinem Wort zu nehmen und ihnauf diese im Großen und Ganzen maßvollen Vorschläge festzunageln.“ 216Einen Tag <strong>vor</strong> Heiligabend wird das Urteil im Reichstagsbrandprozessgesprochen: „Torgler erwe<strong>ist</strong> sich als so harmlos, dass ihn das Gerichteinfach laufen lässt. Selbst die braunen Schergen, denen es, weiß derHimmel, auf ein paar Tote mehr oder weniger nicht ankommt, verzichtendarauf, ihn einen Kopf kleiner zu machen. Eine kurze Weile sperrensie ihn in irgendein Konzentrationslager. Dann lassen sie ihn heraus,und hurtig taucht er in der Weltstadt Berlin unter.“ 217 Die drei BulgarenDimitroff, Popoff und Taneff werden freigesprochen. 218 Und was wirdmit Marinus van der Lubbe? „Die Richter erklären den geständigen und213 Koch , S. 47214 Ecke, S. 27215 Kordt, S. 59216 Ebd., S. 60217 Gisevius I, S. 46218 <strong>Das</strong> Deutsche Reich I, S. 10680


<strong>1933</strong>überführten Holländer für einen von mehreren Brandstiftern. Indessenvermögen sie über seine Helfershelfer nichts mitzuteilen. Sie bekennenoffen, dass dieses eigentliche Rätsel der Brandnacht auch für sie ungelöstbleibe.“ 219 Der jugendliche Held, der den Reichstag unbedingt alleinangezündet haben wollte, wird wenig später hingerichtet.Urteil hin oder her, im Volk mag man nicht so recht glauben, dass es derHolländer gewesen sein soll. Dort tauchen schnell Sprüche dieser Güteauf: Vater und Sohn sitzen beim <strong>Es</strong>sen. „Papa, wer <strong>hat</strong> den Reichstagangezündet?“ – „Junge, das weiß ich nicht.“ – „Ach, Papa, sag es mirdoch!“ – „Ich weiß es doch nicht!“ – „Doch, du wirst es schon wissen!“ –„Halt den Mund. ESS, ESS!“ Mit diesem Tipp liegt man zwar nicht ganzrichtig, aber andererseits auch nicht völlig falsch. Anderswo heißt es:„Wer <strong>hat</strong> den Reichstag angezündet?“ – „Die Gebrüder SASS.“ Schön <strong>ist</strong>auch der: Ein SA-Mann flüstert seinem Freunde zu: „Der Reichstagbrennt!“ Der Freund schaut sich um, legt den Finger auf den Mund undsagt: „Pst! Erst morgen!“ 220Ich weiß schon – Sie lesen das doch nur wegen der Witze. Na ja, warumauch nicht. So kommen die Leute von der Straße auch mal zu Wort. Na,was erzählt man sich <strong>1933</strong> noch so? Ein kleiner Landbürgerme<strong>ist</strong>er wirdaufgefordert, die Kommun<strong>ist</strong>en seines Ortes festzustellen. Da er nichtweiß, wie er sie erkennen soll, ruft er in der Stadt an. Da erklärt ihm einMann, der es wissen sollte: „Kommun<strong>ist</strong>en? <strong>Das</strong> sind Leute, die nichtstun und viel verdienen wollen.“ Der Landbürgerme<strong>ist</strong>er <strong>hat</strong> verstandenund meint: „Ach, da haben wir nur zwei: den Pfarrer und den Lehrer.“ 221In Königsberg erzählen sie sich den Witz: Hitler, Göring und Goebbelsberatschlagen, was sie tun sollten, falls sie angesichts der großen Unzufriedenheitgezwungen würden, abzudanken. Sagt Hitler: „Für mich <strong>ist</strong>das einfach. Ich werde als lästiger Ausländer ausgewiesen.“ Auch Göringgibt sich sehr zuversichtlich: „Ich ziehe mir Zivil an, da erkennt michniemand.“ Und Goebbels meint: „Bei mir <strong>ist</strong> es noch leichter. Ich fordereals Jude Entschädigung für erlittene Unbill!“ 222 So <strong>ist</strong> das heute bei uns;219 Gisevius I, S. 47220 Hirche, S. 124221 Ebd., S. 69222 Ebd., S. 9181


<strong>1933</strong>der Jude an sich <strong>ist</strong> ein Dauerthema. Kommt einer zu einem Bauern undwill ein Schwein kaufen, es müsse aber ein arisches sein. Fragt der Bauerden Fremden: „Arisch? Woran erkennt man das?“ Bereitwillig erläutertihm der Fremde: „Nun, es muss Borsten haben wie Hitler, ein Maul wieGoebbels und einen Bauch wie Göring.“ 223 Mit dem Propagandafeldzug,der mit solchen Redeweisen auf die Schippe genommen wird, wollen dieBraunen die Juden im Reich zum Verlassen desselben drängen. Etwasanderes steht hier nicht zur Debatte – insofern man im Reich überhauptnoch über etwas diskutieren kann.Der Abschluss des Prozesses in Leipzig bleibt nicht ohne Folgen für denbisherigen Prozessbeobachter aus Berlin. Behördenchef Diels hätte ihngern an ein Landratsamt in die ostpreußische Provinz versetzt, doch erkann Staatssekretär Grauert, der wider Erwarten nicht im Weihnachtsurlaub<strong>ist</strong>, erreichen. Der findet schließlich eine andere Verwendung fürden jungen Mann in der Reichshauptstadt. Hier <strong>ist</strong> die Stelle einer Hilfskraftim Innenmin<strong>ist</strong>erium zu besetzen, die Gisevius eine Menge Einblickverschafft in die Vorgänge im Land. Er <strong>hat</strong> nun „all die Irrläufer,die seit der Ende Oktober erfolgten Abtrennung der Geheimen Staatspolizeiaus dem Bereich des Innenmin<strong>ist</strong>eriums fälschlicherweise immernoch dorthin gerichtet wurden, zuständigkeitshalber an Görings Staatsmin<strong>ist</strong>eriumweiterzuleiten. Dies war eine Beschäftigung, für die er michgeeignet hielt, blieb ich doch sozusagen in meiner Branche. Damit ichaber nicht auf eigene Faust Politik machte, unterstellte er mich einembesonders wachsamen Min<strong>ist</strong>erialdirektor. Überdies schärfte er mir ein,ich solle mich für diesen Akt des Wohlwollens dadurch erkenntlich zeigen,dass ich mich in Zukunft peinlichst zurückhielte und <strong>vor</strong> allem aufmeine lästerlichen Redensarten verzichtete. Natürlich stimmte ich zu.Grauert konnte mir zwar die Bearbeitung der einlaufenden Schriftstückeverbieten, aber dass ich alle diese Anzeigen, Beschwerden oder Petitioneneifrig las, be<strong>vor</strong> ich sie an die Geheime Staatspolizei weiterleitete,das konnte er beim besten Willen nicht verhindern. <strong>Das</strong> konnte mandrüben im Palais Göring nicht einmal kontrollieren, zumal dann nicht,wenn ich die Originale unberührt ließ und allenfalls ein paar Abschriftenzurückbehielt. Was jedoch damals alles an Notschreien an die – falsche– Adresse des machtlosen Innenmin<strong>ist</strong>eriums kam, kann sich nur derjenigeausmalen, der noch in Erinnerung <strong>hat</strong>, wie viele entrüstete Staats-223 Hirche, S. 11682


<strong>1933</strong>bürger sich im ersten Revolutionsjahre dem Wahne hingaben, es gäbe soetwas wie eine rechtsbeflissene Polizei, und »wenn der Führer das wüsste«oder »wenn das Göring erführe«, dann griffen diese bestimmtein.“ 224 Sicher <strong>hat</strong> nicht jeder in Deutschland solch einen spannendenArbeitsplatz gehabt wie Dr. Gisevius, aber mit der gleichen Sicherheitdarf man davon ausgehen, dass auch nicht jeder diesen Tanz auf demVulkan über längere Zeit unbeschadet durchgestanden hätte.Den <strong>Jahr</strong>eswechsel verbringt jeder auf seine Weise. Pauls Mutter stehtam Herd und bereitet die traditionelle Linsensuppe zu. Die Linsen symbolisierenTaler und die Hoffnung auf genug Geld im Neuen <strong>Jahr</strong>. ZumAbendessen sammelt sich die Familie in der Küche des Häuschens obenim Thüringer Wald. Der Vater <strong>hat</strong>te im Herbst endlich Arbeit gefundendurch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Dr. Leys Arbeitsfront. <strong>Das</strong><strong>ist</strong> noch nicht großartig aber es <strong>ist</strong> immerhin besser als in der Zeit da<strong>vor</strong>.Wovon sollte der Vater die Familie denn ernähren wenn nicht von seinerHände Arbeit? Geschenkt wird keinem etwas. Die Bege<strong>ist</strong>erung hält sichsonst im Land in Grenzen, denn der versprochene Aufschwung lässt aufsich warten. Vorige Woche erst <strong>hat</strong>te Paul diesen Spruch aufgeschnappt:„Komm, lieber Hitler, und sei unser Gast und beschere uns, was du unsversprochen hast. Bei den verfluchten Sozialdemokraten gab es ab undzu noch Kartoffeln und Braten, doch bei Goebbels und Hermann Göringgibt’s nur noch Pellkartoffeln und Hering.“ 225 Nein, eine gute Stimmungin der Bevölkerung sieht anders aus. Einer der Witze, die im Umlaufsind, geht so: Der Lehrer lässt die Abc-Schützen Gedichtchen aufsagen,die sie schon kennen. Besonders lobt er Fritzchen, der folgenden Vers<strong>vor</strong>trägt: „Unsere Katz <strong>hat</strong> Junge, sieben an der Zahl. Eins davon <strong>ist</strong>Sozi, sechs sind national!“ Als wenig später der Schulrat kommt, ruft erFritzchen auf, das Gedicht zu wiederholen. Fritz rezitiert: „Unsere Katz<strong>hat</strong> Junge, sieben an der Zahl. Sechs davon sind Sozis, eins <strong>ist</strong> national!“Verlegen und ärgerlich sagt der Lehrer: „Aber Fritz, das letzte Mal warendoch sechs national und eines nur Sozi!“ Darauf meint Fritzchen: „Ja,Herr Lehrer, damals waren sie auch noch blind. Inzwischen sind ihnendie Augen aufgegangen.“ 226224 Gisevius I, S. 182f.225 Hirche, S. 90226 Ebd., S. 114f.83

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