<strong>1933</strong>Doch eine Germanisierung der Bevölkerung des annektierten bzw. erobertenLandes <strong>ist</strong> nicht möglich. Man kann nur Boden germanisieren.Man muss wie Polen und Frankreich nach dem Kriege rücksichtslos einigeMillionen Menschen ausweisen.“ 33 <strong>Das</strong> alte Preußen schaut ihn an,hört seine Worte. So alt <strong>ist</strong> Preußen aber gar nicht. Preußen <strong>ist</strong> in seinenbesten <strong>Jahr</strong>en. Mitte vierzig, fünfzig, und die hier anwesenden Männerkennen die Folgen des großen Krieges. Die sind ihnen sehr gegenwärtig.Der Kanzler spricht zweieinhalb Stunden zu den Gästen dieses Dinners.Adolf Hitler sagt später, er habe das Gefühl gehabt, „gegen eine Wand zureden“ 34 . Generalmajor von Brauchitsch kommentiert dann nach demVortrag: „Na, der wird sich noch wundern in seinem Leben.“ 35 OberstFromm, der Chef des Wehrmachtamts, sagt zu Generalleutnant Freiherrvon Fritsch, „dass die maßlosen Vorhaben an der Härte der Tatsachenscheitern und auf ein nüchternes Maß zurückgeführt“ 36 werden würden.Sein Wort in Gottes Ohr. Generalleutnant Ludwig Beck sagt später, erhabe den Inhalt dieser Rede „sofort wieder vergessen“ 37 .Die Männer möchten ihren Ohren nicht trauen. Der Gefreite <strong>hat</strong> gesagt,Exportmöglichkeiten müssten erkämpft werden. Neuer Lebensraum imOsten müsste erobert werden und rücksichtslos? <strong>Das</strong> Ziel würde wahrscheinlichder Osten sein. Oder auch der Westen? In den Gesichtern <strong>ist</strong>Ratlosigkeit. Der <strong>neue</strong> Kanzler <strong>hat</strong> lange geredet. Der große Krieg liegtnur fünfzehn <strong>Jahr</strong>e zurück. Vor kurzem erst wurden die Reparationenausgesetzt – Deutschland konnte sie ja nicht bezahlen. Und fast jedesandere Land rundherum in Europa <strong>ist</strong> besser gerüstet. Was geht in denKöpfen <strong>vor</strong> sich? Was will der Kleine? Weiß er, was er da sagt? Wenn erFehler macht, dann sind schließlich wir noch da! Oder denken auch sie:Lange macht er nicht, dann haben er und seine Leute abgewirtschaftet!Auf jeden Fall denken das viele Leute überall hier im Reich. Am Samstagliest der siebzehnjährige Paul aus dem thüringischen Oberweißbach imVölkischen Beobachter, den sein Vater mitgebracht <strong>hat</strong>te: „Die ArmeeSchulter an Schulter mit dem <strong>neue</strong>n Kanzler. Niemals war die Reichs-33 Enzensberger, S. 120f.34 Enzensberger, S. 11435 Schultze-Rhonhof, S. 32036 Ebd., S. 320f.37 Enzensberger, S. 11414
<strong>1933</strong>wehr identischer mit den Aufgaben des Staates als heute.“ 38 Zumindestdie Führung im roten Moskau weiß wenige Tage später, was der Kanzlerzu den Generälen gesagt <strong>hat</strong> zum Thema Lebensraum im Osten. Wie dieInformationen das edle Haus Hammerstein-Equord verlassen konnten,verblasst im weißen Nebel der Geschichte. <strong>Es</strong> wird später nur bekannt,dass sie über den KPD-Geheimdienst weitergegeben werden. Doch werstellt den Agenten die geheime Mitschrift zur Verfügung? HammersteinsSöhne? Man wird sie unter den Verschwörern des 20. Juli 1944 finden.Seine Töchter, die ja Verbindungen zum Geheimdienst der KPD unterhalten?39 Der Freiherr schon jetzt selbst über seine Töchter? Zwei <strong>Jahr</strong>espäter wird er Verbindungen zur illegalen KPD unterhalten. 40War es doch nicht die richtige Entscheidung, Adolf Hitler zum Kanzlerzu machen? Aber wer soll denn sonst bis März die Amtsgeschäfte leiten?Sollen die Sozialdemokraten einen Kanzler stellen oder besser noch dieKommun<strong>ist</strong>en? Mit wem bekommen sie denn eine Mehrheit zusammen?Mit den Deutschnationalen? Oder mit dem Zentrum? Kaum jemand willbewaffnete Terror<strong>ist</strong>en mit dem Feindbild Staat an der Macht wissen.Max <strong>ist</strong> 37 und Sozialdemokrat in Reichmannsdorf in Thüringen. Wenner mit Emma über die Brüder von der KPD spricht, lächeln beide bitter.Die meinen ja, wenn sie die Fabrikanten aufhängen, dann haben sie denKommunismus. 41 Als im November gewählt wurde, stand man <strong>vor</strong> derkrassen Wahl zwischen Teufel und Belzebub. Die Nazis, die 4,2 Prozentihrer Stimmen eingebüßt <strong>hat</strong>ten, waren immer noch auf 33,1 Prozent gekommen.Gesunken war auch die Wahlbeteiligung insgesamt auf etwa80 Prozent. Also <strong>hat</strong>te Hitlers Partei zwar nur ein Drittel aller Stimmendieser 80 Prozent erhalten, lag damit jedoch <strong>vor</strong> dem zweiten Sieger, derSPD, die auf 20,4 Prozent gesunken war. Einen Zuwachs um zweieinhalbProzent erlebte die KPD, die ungefähr 17 Prozent erreicht <strong>hat</strong>. <strong>Das</strong>Zentrum blieb bei etwa 12 und die DNVP steigerte sich auf über achtProzent. 42 Danach saß ganz Deutschland mit dem Blatt und einem Stiftan Tischen und <strong>hat</strong> um die Wette gerechnet. Wissend darum, dass sich38 Ebd., S. 11439 Enzensberger, S. 116ff., S. 124; vgl. Peter Steinbach und Johannes Tuchel,Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 19, 161,264, 29740 Steinbach, S. 16141 Aus Berichten meines Vaters über seinen Vater.42 Internetquelle 115
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