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1937 Für Clara ist es ein Herzensbedürfnis, zu stehen, wenn sie ...

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<strong>1937</strong><br />

<strong>Für</strong> <strong>Clara</strong> <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>ein</strong> <strong>Herzensbedürfnis</strong>, <strong>zu</strong> <strong>stehen</strong>, <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> ihren Führer<br />

<strong>sie</strong>ht. Sie steht, und <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> nicht wüsste, dass <strong>es</strong> leider nur Bilder von<br />

ihm sind, <strong>sie</strong> würde sogar <strong>zu</strong>r L<strong>ein</strong>wand winken. Doch Franz steht nur<br />

auf, weil er nicht auffallen will. Wie vielen geht <strong>es</strong> noch so wie ihm? Im<br />

Reich <strong>sie</strong>ht <strong>es</strong> nicht gut aus mit der freien M<strong>ein</strong>ungsäußerung. Wie sagte<br />

doch vorige Woche s<strong>ein</strong> Bruder: Hitlers Frisör bemüht sich vergeblich,<br />

die Schmalztolle Adolfs schön nach hinten <strong>zu</strong> bürsten, <strong>sie</strong> fällt aber jed<strong>es</strong><br />

Mal wieder in <strong>ein</strong>er Strähne nach vorn auf s<strong>ein</strong>e Stirn. „M<strong>ein</strong> Haar lässt<br />

sich eben schwer legen“, sagt Hitler. Darauf m<strong>ein</strong>t der Frisör: „Geben<br />

Sie nur Pr<strong>es</strong>sefreiheit, m<strong>ein</strong> Führer, da sollen Sie mal sehen, wie Ihnen<br />

die Haare <strong>zu</strong> Berge <strong>stehen</strong>!“ 1<br />

Im Februar kommen Redakteure der Münchener Neu<strong>es</strong>ten Nachrichten<br />

dann tatsächlich auf den Dreh, <strong>ein</strong>e Faschingsausgabe ihrer Zeitung <strong>zu</strong><br />

drucken. Darin <strong>ist</strong> das umgearbeitete Märchen vom Rotkäppchen wohl<br />

schon der b<strong>es</strong>te Beitrag. Jedenfalls <strong>ist</strong> s<strong>ein</strong>e Satire bald auch woanders<br />

in aller Munde. Darin wird jed<strong>es</strong> nur mögliche Nazi-Wort <strong>ein</strong>gebaut, das<br />

irgendwie hin<strong>ein</strong>passt. Voilà! „Es war <strong>ein</strong>mal vor vielen, vielen Jahren in<br />

Deutschland <strong>ein</strong> Wald, den der Arbeitsdienst noch nicht gerodet hatte,<br />

und in di<strong>es</strong>em Wald lebte <strong>ein</strong> Wolf. An <strong>ein</strong>em schönen Sonntag nun, <strong>es</strong><br />

war gerade Entedankf<strong>es</strong>t, da ging <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong><strong>es</strong> BDM-Mädel durch den<br />

Wald. Es hatte <strong>ein</strong> rot<strong>es</strong> Käppchen auf und wollte s<strong>ein</strong>e arische Großmutter<br />

b<strong>es</strong>uchen, die in <strong>ein</strong>em Mütterheim d<strong>es</strong> NSV untergebracht war.<br />

In der Hand trug <strong>es</strong> <strong>ein</strong> Körbchen mit <strong>ein</strong>er Pfundspende und <strong>ein</strong>er Flasche<br />

Patenw<strong>ein</strong>. Da begegnete ihm der böse Wolf. Er hatte <strong>ein</strong> braun<strong>es</strong><br />

Fell, damit niemand gleich von Anbeginn s<strong>ein</strong>e rassefremden Absichten<br />

merken sollte. Rotkäppchen dachte auch nichts Bös<strong>es</strong>, weil <strong>es</strong> ja wusste,<br />

dass alle Volksschädlinge im Konzentrationslager saßen, und glaubte,<br />

<strong>ein</strong>en ganz gewöhnlichen bürgerlichen Hund vor sich <strong>zu</strong> haben.<br />

»Heil Rotkäppchen«, sagte der Wolf. »Wo gehst du hin?« Rotkäppchen<br />

antwortete: »Ich gehe <strong>zu</strong> m<strong>ein</strong>er Oma ins Mütterheim.« - »So«, sagte<br />

der Wolf. »Aber dann bringe ihr doch <strong>ein</strong> paar Blumen, mit denen das<br />

Amt für Schönheit der Holzarbeit den Wald g<strong>es</strong>chmückt hat!« Sogleich<br />

machte sich Rotkäppchen daran, <strong>ein</strong> Ernt<strong>es</strong>träußchen <strong>zu</strong> pflücken. Der<br />

Wolf aber eilte <strong>zu</strong>m Mütterheim, fraß die Großmutter auf, schlüpfte in<br />

ihre Kleider, steckte sich das Frauenschaftsabzeichen an und legte sich<br />

ins Bett. Da kam auch Rotkäppchen schon <strong>zu</strong>r Tür her<strong>ein</strong> und fragte:<br />

1 Hirche, S. 97<br />

1


<strong>1937</strong><br />

»Nun, liebe Oma, wie geht <strong>es</strong> dir?« Der Wolf versuchte, die volksnahe<br />

Stimme der Oma nach<strong>zu</strong>machen, und antwortete: »Gut, m<strong>ein</strong> lieb<strong>es</strong><br />

Kind!« Rotkäppchen fragte: »Warum sprichst du heute so andersartig<br />

<strong>zu</strong> mir?« Der Wolf antwortete: »Die Rednerausbildung am Vormittag<br />

hat mich sehr beansprucht.« - »Aber Oma, was hast du für große<br />

Ohren?« - »Damit ich das Geflüster der Meckerer b<strong>es</strong>ser hören kann!« -<br />

»Was hast du denn für große Augen?« - »Damit ich die Wühlmäuschen<br />

b<strong>es</strong>ser sehen kann!« - »Was hast du denn für <strong>ein</strong>en großen Mund?« -<br />

»Du weißt doch, dass ich in der Kulturgem<strong>ein</strong>de bin!« Und mit di<strong>es</strong>en<br />

Worten fraß er das arme Rotkäppchen, legte sich ins Bett und schlief in<br />

s<strong>ein</strong>er verantwortungslosen Art sofort <strong>ein</strong> und schnarchte.<br />

Da ging draußen der Kreisjägerme<strong>ist</strong>er vorbei. Er hörte ihn und dachte:<br />

Wie kann <strong>ein</strong>e arische Großmutter so rassefremd schnarchen? Und als<br />

er nachsah, da fand er den Wolf, und er schoss ihn, obwohl er k<strong>ein</strong>en<br />

Jagdsch<strong>ein</strong> für Wölfe hatte, auf eigene Verantwortung hin tot. Dann<br />

schlitzte er ihm den Bauch auf und fand Großmutter und Kind noch lebend.<br />

War das <strong>ein</strong>e Freude! Der Wolf wurde dem Reichsnährstand <strong>zu</strong>gewi<strong>es</strong>en<br />

und <strong>zu</strong> Fleisch im eigenen Saft verarbeitet. Der Kreisjägerme<strong>ist</strong>er<br />

durfte an der Uniform <strong>ein</strong>en goldg<strong>es</strong>tickten Wolf tragen, Rotkäppchen<br />

wurde <strong>zu</strong>r Unterführerin im BDM befördert, und die Großmutter durfte<br />

auf <strong>ein</strong>em funkelnagelneuen KdF-Dampfer <strong>ein</strong>e Erholungsreise nach<br />

Madeira machen.“ 2<br />

Natürlich haben die Redakteure dann Ärger mit dem Staat bekommen,<br />

aber sagen Sie nicht, das hat sich nicht gelohnt. Di<strong>es</strong>e Zeitung hat mehr<br />

<strong>zu</strong>m Nachdenken geboten, als sonst so im Angebot <strong>ist</strong>. In di<strong>es</strong>en Jahren<br />

wird in Deutschland <strong>ein</strong> neu<strong>es</strong> geflügelt<strong>es</strong> Wort geboren: zwischen den<br />

Zeilen l<strong>es</strong>en. Um die scharfe Zensur wissend, finden Journal<strong>ist</strong>en andere<br />

Möglichkeiten, um ihre Kritik an das Publikum <strong>zu</strong> bringen. Bald <strong>ist</strong> hier<br />

<strong>zu</strong> hören: Die Frankfurter Zeitung wird jetzt enger gedruckt. Warum?<br />

Damit man nicht mehr so viel zwischen den Zeilen l<strong>es</strong>en kann. 3<br />

In Berlin sitzt Paul in s<strong>ein</strong>em f<strong>ein</strong>en neuen S<strong>es</strong>sel und li<strong>es</strong>t die Anzeigen<br />

der Deutschen Allgem<strong>ein</strong>en Volkszeitung vom 13. Februar. Er will sich<br />

mal wieder <strong>ein</strong>en schönen Abend mit s<strong>ein</strong>er Hertha gönnen – und da <strong>ist</strong><br />

<strong>ein</strong>e Menge <strong>zu</strong> finden: Sie könnten in di<strong>es</strong><strong>es</strong> Theater in der Behrenstraße<br />

2 Hirche, S. 135f.<br />

3 Hirche, S. 119<br />

2


<strong>1937</strong><br />

gehen. Dort spielt <strong>zu</strong>r Zeit The English Theatre Barretts of Wimpole St.<br />

Das wäre was. Oder hier: Curt Götz <strong>ist</strong> nur noch <strong>ein</strong>e Woche im Theater<br />

am Kurfürstendamm <strong>zu</strong> sehen in Towarisch, di<strong>es</strong>em Stück von Jacqu<strong>es</strong><br />

Duval. Im Theater d<strong>es</strong> Volk<strong>es</strong> wird heute <strong>ein</strong> Operettenabend geboten<br />

mit Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß, das Deutsche Theater in<br />

der Schumannstraße zeigt Androklus und der Löwe d<strong>es</strong> bekannten Iren<br />

George Bernard Shaw. Der inzwischen 81-jährige <strong>ist</strong> im Reich nicht nur<br />

als Pazif<strong>ist</strong> und Politiker bekannt, auch s<strong>ein</strong>e Dramen werden g<strong>es</strong>chätzt.<br />

Sie könnten auch ins Kabarett Alt-Bayern am Bahnhof Friedrichstraße<br />

gehen und sich Das Weltstadtprogramm anschauen. Im Wintergarten<br />

läuft Varieté, wie <strong>es</strong> s<strong>ein</strong> soll. Oder gehen <strong>sie</strong> mal wieder ins Kino? Im<br />

Capitol am Zoo gibt <strong>es</strong> San Franzisko, am W<strong>ein</strong>bergsweg im Prenzlauer<br />

Berg zeigen <strong>sie</strong> Der Hund von Baskerville, in <strong>ein</strong>em Kino in der Turmstraße<br />

in Moabit läuft Der Ritt in die Freiheit. Aber da fällt s<strong>ein</strong> Blick auf<br />

<strong>ein</strong>e gerahmte Anzeige – das wird genial: endlich <strong>ist</strong> der Weltstar Jack<br />

Hylton mit s<strong>ein</strong>em Orch<strong>es</strong>ter und der jazzigen britischen Dance-Music<br />

wieder auf Gastspiel in der Scala, wie jed<strong>es</strong> Jahr. Das <strong>ist</strong> was für Hertha!<br />

Berlin bleibt eben doch Berlin.<br />

Man darf sich <strong>ein</strong>fach nur nicht all<strong>es</strong> <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>fach vorstellen, denn sonst<br />

<strong>ist</strong> <strong>es</strong> gänzlich unmöglich, die Zusammenhänge <strong>zu</strong> ver<strong>stehen</strong>. Es <strong>ist</strong> doch<br />

nicht jeder von den Zuständen im Land bege<strong>ist</strong>ert, der da auf der Straße<br />

herumlaufen darf. Nehmen Sie den Oberbürgerme<strong>ist</strong>er von Leipzig. Das<br />

<strong>ist</strong> <strong>ein</strong>e große Stadt und er <strong>ist</strong> prominent. Daraus kann man ableiten, er<br />

müsse <strong>ein</strong> großer Nazi s<strong>ein</strong>; schließlich wurde Adenauer, der Kölner OB<br />

schon 1933 aus dem Amt getrieben. Man kann sich aber auch <strong>ein</strong>mal in<br />

jemanden hin<strong>ein</strong>denken, der aufmerksam beobachtet, was hier vor sich<br />

geht, und versucht, in s<strong>ein</strong>em Amt auf die Entwicklung bei uns Einfluss<br />

<strong>zu</strong> nehmen. Das geht b<strong>es</strong>ser im Amt als ohne Amt – so lange man nicht<br />

von anderen aus dem Amt gejagt wird. Andererseits kann man natürlich<br />

auch mit s<strong>ein</strong>em Rücktritt <strong>ein</strong> Zeichen setzen, muss jedoch bedenken,<br />

dass man dann effektiv noch weniger gegen die Zustände machen kann.<br />

Im April <strong>1937</strong> hält <strong>es</strong> der Leipziger Oberbürgerme<strong>ist</strong>er Carl Friedrich<br />

Goerdeler schließlich nicht mehr aus. Ende vergangenen Jahr<strong>es</strong> hatten<br />

sich die Nazis nach <strong>ein</strong>er Propagandaschlacht durchg<strong>es</strong>etzt und für die<br />

Entfernung d<strong>es</strong> Mendelssohn-Denkmals g<strong>es</strong>orgt – nicht etwa weil <strong>sie</strong><br />

b<strong>es</strong>onders viel von Musik verstünden, sondern weil <strong>sie</strong> im Kompon<strong>ist</strong>en<br />

Felix Mendelssohn Bartholdy in erster Linie <strong>ein</strong>en Juden sehen. Als der<br />

3


<strong>1937</strong><br />

OB di<strong>es</strong>e Barbarei nicht verhindern kann, tritt er endgültig <strong>zu</strong>rück. 4 Er<br />

<strong>ist</strong> natürlich auf der anderen Seite auch <strong>ein</strong> Promi, der sich das le<strong>ist</strong>en<br />

kann. Den können <strong>sie</strong> nicht still und heimlich <strong>ein</strong>sperren. <strong>Für</strong> Aktionen<br />

wie di<strong>es</strong>e würde Otto Normalverbraucher abgehen in <strong>ein</strong> Lager. Da sind<br />

ja inzwischen auch noch <strong>ein</strong> paar da<strong>zu</strong>gekommen, wie man so unter der<br />

Hand hört. Hier funktioniert ja nichts so gut wie der Buschfunk. Freilich<br />

<strong>ist</strong> <strong>es</strong> nicht die perfekte Lösung <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>treten, aber <strong>es</strong> <strong>ist</strong> sicher auch<br />

nicht die Lösung, ins Exil <strong>zu</strong> gehen. Dann wird die Masse derer, die sich<br />

hier wehren könnten, ja immer kl<strong>ein</strong>er. Aber wer will andererseits den<br />

Helden spielen und sich verprügeln lassen? Wer jedoch nach England<br />

geflohen <strong>ist</strong> wie Sebastian Haffner*, der bekommt dort wenigstens was<br />

für die Augen geboten, denn in London wird am 12. Mai Georg VI. als<br />

neuer König gekrönt.<br />

Wenn wir jetzt schon mal auf der Insel sind, können wir uns hier auch<br />

noch <strong>ein</strong> paar schöne Tage machen und die Kabinettssit<strong>zu</strong>ng am 23. Mai<br />

abwarten. Dann setzen wir uns da mit r<strong>ein</strong>, ob <strong>es</strong> in W<strong>es</strong>tminster regnet<br />

wie immer oder nicht. Die Einschät<strong>zu</strong>ng der Lage in der Welt nimmt der<br />

Premiermin<strong>ist</strong>er Stanley Baldwin persönlich vor und er wählt <strong>ein</strong>deutige<br />

Worte: „Wir haben in Europa zwei Verrückte, die frei herumlaufen. Wir<br />

müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten.“ 5 Es bedarf k<strong>ein</strong>er großen<br />

Fanta<strong>sie</strong>, um sich <strong>zu</strong> denken, dass er Stalin und Hitler m<strong>ein</strong>t. Zumind<strong>es</strong>t<br />

was Hitler angeht, sind die M<strong>ein</strong>ungen in England weiterhin g<strong>es</strong>palten,<br />

auch in den Zirkeln der Macht in der City und in W<strong>es</strong>tminster. Manche<br />

sehen in ihm die Quittung für die Überheblichkeit, mit der London das<br />

Deutsche Reich nach dem Krieg behandelt hat, andere sehen ihn als den<br />

Garanten dafür, dass der Kommunismus nicht überschwappt auf andere<br />

Länder in Europa. Es <strong>ist</strong> schlimm genug, dass die Tschechoslowakei sich<br />

so eng an Moskau schmiedet – <strong>ein</strong> bürgerlich<strong>es</strong> Land, <strong>wenn</strong> auch sicher<br />

nicht mit sonderlich großzügigen bürgerlichen Freiheiten. Selbst Paris<br />

wird ja heute noch scheel ang<strong>es</strong>chaut wegen d<strong>es</strong> Vertrag<strong>es</strong> mit Moskau.<br />

Wie schnell kann aus der jetzigen Linksregierung <strong>ein</strong>e kommun<strong>ist</strong>ische<br />

Führung auf der anderen Seite d<strong>es</strong> Ärmelkanals werden! Wer will das?<br />

In der Zeitung steht, dass in Russland wahrsch<strong>ein</strong>lich schon seit <strong>ein</strong>igen<br />

Monaten politische Schauproz<strong>es</strong>se stattfinden, in denen sich g<strong>es</strong>tandene<br />

4 St<strong>ein</strong>bach, Widerstand, S. 230 und 300<br />

5 Falin, S. 46<br />

4


<strong>1937</strong><br />

Männer – warum auch immer – der wild<strong>es</strong>ten Verbrechen für schuldig<br />

erklärt haben sollen. Wer weiß, was <strong>sie</strong> mit denen <strong>zu</strong>vor gemacht hatten.<br />

Danach wurden die alle umgebracht. Solche Zustände wollen <strong>sie</strong> auf gar<br />

k<strong>ein</strong>en Fall bei sich in England bekommen. Das will selbstverständlich<br />

auch in Frankreich k<strong>ein</strong>er. Oder doch? Aber nicht doch! Erst allmählich<br />

wird das Ausmaß der Greuel in der Sowjetunion bekannt – wobei jeder<br />

di<strong>es</strong>e Meldungen anders aufnimmt: als antisowjetische Propaganda, als<br />

schauerlichen Beweis für das W<strong>es</strong>en di<strong>es</strong><strong>es</strong> Bolschewismus oder als was<br />

auch immer. Richtig <strong>ist</strong>, dass <strong>1937</strong> und 1938 drei von fünf Marschällen<br />

der Sowjetunion hingerichtet werden. Das betrifft im Einzelnen Michail<br />

Tuchatschewski, Alexander Jegorow und Wassili Blücher. Weiter betrifft<br />

das elf Stellvertreter der Volkskommissars für Verteidigung, 75 der 80<br />

Mitglieder d<strong>es</strong> Obersten Kriegsrat<strong>es</strong> und 14 der 16 Armeekommandeure.<br />

Umgebracht oder schikaniert werden alle acht Admirale d<strong>es</strong> Land<strong>es</strong>, die<br />

allerme<strong>ist</strong>en Korpskommandeure, 136 von 199 Divisionskommandeuren<br />

und 221 Brigadekommandeure. Sie alle haben Namen, <strong>ein</strong>e Biographie<br />

und <strong>ein</strong>e Familie, doch so genau will das in London gar niemand wissen.<br />

Einerseits hatten <strong>sie</strong> dort genau vor den Soldaten Angst, die bald tot s<strong>ein</strong><br />

werden, und andererseits sind di<strong>es</strong>e toten Soldaten der lebende Beweis<br />

dafür, dass man den Kommunismus schon ganz richtig <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>chätzt hat.<br />

Da muss k<strong>ein</strong>e Stat<strong>ist</strong>ik auch noch die Anzahl der Offiziere und Soldaten<br />

niederer Dienstgrade aufl<strong>ist</strong>en, um London vor jener Gefahr <strong>zu</strong> warnen,<br />

die der Bolschewismus in sich birgt. Es sind mehrere Zehntausend. Die<br />

Zahl derer, die in Deutschland <strong>1937</strong> in Konzentrationslagern <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>perrt<br />

sind, <strong>ist</strong> jedenfalls nicht höher – und die leben hinter dem Draht weiter,<br />

und das <strong>ist</strong> nicht so endgültig wie gefoltert und dann hingerichtet – sagt<br />

man sich vermutlich in London. Dort denkt man sicher auch, dass also<br />

diejenigen in Deutschland wegg<strong>es</strong>perrt bleiben, die Untaten vollbringen<br />

könnten, wie <strong>sie</strong> in der Sowjetunion jetzt an der Tag<strong>es</strong>ordnung sind.<br />

In London weiß man natürlich nicht, dass Berlin im Hintergrund an der<br />

Aktion beteiligt <strong>ist</strong>. R<strong>ein</strong>hard Heydrich aus Halle an der Saale, der Chef<br />

der Geheimen Staatspolizei oder auch G<strong>es</strong>tapo, will die Krisensituation<br />

in Moskau ausnutzen, um das sowjetische Militär <strong>zu</strong> schwächen. Er kam<br />

Anfang d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> <strong>1937</strong> schon auf die Idee, über „die Geheime Staatspolizei<br />

dem sowjetrussischen Geheimdienst – OGPU – auf dem Wege über<br />

den tschechischen Nachrichtendienst gefälschte Schriftstücke über angebliche<br />

Verratshandlungen Tuchatschewskis und anderer russischer<br />

5


<strong>1937</strong><br />

Militärs in die Hände“ 6 <strong>zu</strong> spielen. Als Beitrag <strong>zu</strong>r Völkerverständigung<br />

<strong>ist</strong> di<strong>es</strong><strong>es</strong> unmännliche Kratzen und Beißen ganz sicher nicht gedacht.<br />

R<strong>ein</strong>hard Heydrich wendet sich <strong>ein</strong><strong>es</strong> Tag<strong>es</strong> persönlich an den Geheimdienstchef<br />

Admiral Wilhelm Canaris und bittet ihn um die Überlassung<br />

schriftlicher Unterlagen aus der Zeit der militärischen Zusammenarbeit<br />

d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> mit der Sowjetunion. B<strong>es</strong>onders lag Heydrich daran, Handschriftproben<br />

der deutschen Generale von Seeckt und von Hammerst<strong>ein</strong><br />

<strong>ein</strong>erseits und vom sowjetischen Marschall Tuchatschewski andererseits<br />

<strong>zu</strong> erhalten. „Außerdem wäre <strong>es</strong> ihm sehr erwünscht, <strong>wenn</strong> die Abwehr<br />

ihm <strong>ein</strong>en Spezial<strong>ist</strong>en <strong>zu</strong>r Verfügung stellen könnte, der in der Nachahmung<br />

von Handschriften erfahren sei. Canaris, der ahnen mochte, was<br />

Heydrich vorhatte, lehnte das Ansinnen rundweg ab.“ 7 Das <strong>ist</strong> sicherlich<br />

nobel, doch Heydrich fragt noch andere Leute mit Verbindungen und er<br />

bekommt schließlich die wertvollen Handschriften. Er lässt belastende<br />

Dokumente anfertigen und mit den Unterschriften versehen, um <strong>ein</strong>ige<br />

der großen sowjetischen Militärs vor den eigenen Leuten bloß<strong>zu</strong>stellen.<br />

Die gefälschten Dokumente werden zwar bei den Proz<strong>es</strong>sen selbst nicht<br />

benutzt, da Stalin viele der Männer so oder so hinrichten lassen will und<br />

k<strong>ein</strong>e Beweise braucht, sondern nur Gerichte, die die Urteile absegnen. 8<br />

Aber vielleicht trug er s<strong>ein</strong> Scherfl<strong>ein</strong> da<strong>zu</strong> bei, dass auch Männer wie<br />

Michail N. Tuchatschewski, der Rote Napoleon, wie man ihn ehrfurchtsvoll<br />

nennt, und weitere führende Offiziere der sowjetischen Armee <strong>zu</strong>m<br />

Tode verurteilt und hingerichtet werden. Irgendwie muss man ja an den<br />

europäischen Lebensraum rankommen, von dem in Hitlers M<strong>ein</strong> Kampf<br />

so viel die Rede <strong>ist</strong>. Doch davon erfährt nicht nur London k<strong>ein</strong> Mensch<br />

nichts, davon erfährt auch Otto Normalverbraucher in Chemnitz nichts.<br />

Schöner <strong>ist</strong> <strong>es</strong> im Moment auf alle Fälle in Frankreich. Dort beginnt jetzt<br />

gerade die Weltausstellung in Paris. Das lockt B<strong>es</strong>ucher von überall an;<br />

auch aus Berlin re<strong>ist</strong> Reichswirtschaftsmin<strong>ist</strong>er Hjalmar Schacht an und<br />

reiht sich <strong>ein</strong> in die internationale Prominenz, die sich in der Stadt der<br />

Liebe an der S<strong>ein</strong>e versammelt hat. Schacht lässt <strong>es</strong> sich nicht nehmen,<br />

den deutschen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung am 24. Mai <strong>1937</strong><br />

persönlich <strong>zu</strong> eröffnen. Eingeweihte im Reich wissen jedoch, dass er die<br />

Veränderungen in Deutschland sehr kritisch begleitet, und lassen di<strong>es</strong>en<br />

6 Oscar Reile, Ostfront, Seite 253<br />

7 Oscar Reile, Ostfront, Seite 253<br />

8 Falin, S. 512<br />

6


<strong>1937</strong><br />

Spruch kur<strong>sie</strong>ren: „Luther sagte, was er glaubte; Hitler glaubte, was er<br />

sagt; Goebbels glaubt nicht, was er sagt. Schacht sagt nicht, was er<br />

glaubt.“ 9 Es <strong>ist</strong> auch nicht sonderlich kompliziert heraus<strong>zu</strong>bekommen,<br />

was Hjalmar Schacht glaubt, denn er macht aus s<strong>ein</strong>em Herzen k<strong>ein</strong>e<br />

Mördergrube. Er als Min<strong>ist</strong>er le<strong>ist</strong>et <strong>es</strong> sich, <strong>wenn</strong> auch vorsichtig, Kritik<br />

<strong>zu</strong> üben. Schacht glaubt noch immer, was viele Leute vor ihm ebenfalls<br />

dachten: di<strong>es</strong><strong>es</strong> Regime wird nicht mehr lange dauern. Dabei sind s<strong>ein</strong>e<br />

Hoffnungen gar nicht so unbegründet. Als Wirtschaftsmin<strong>ist</strong>er weiß er,<br />

dass man <strong>es</strong> nicht ung<strong>es</strong>traft ganz <strong>ein</strong>fach irgendwo wegnehmen und <strong>es</strong><br />

woanders hin<strong>ein</strong>pumpen kann. Die Wirtschaft <strong>ist</strong> in di<strong>es</strong>em Sinne auch<br />

<strong>ein</strong>e Art Organismus, der auf die Dauer nicht immer<strong>zu</strong> ung<strong>es</strong>traft hinund<br />

herg<strong>es</strong>chubst werden kann. Er hofft, dass der ganze Spuk sehr rasch<br />

in sich <strong>zu</strong>sammenbricht. Dr. Gisevius versucht bei s<strong>ein</strong>en Begegnungen<br />

mit Schacht, ihn immer wieder an<strong>zu</strong>stacheln, dass er die Inflation laufen<br />

lassen soll, damit den Leuten <strong>ein</strong> Licht aufgeht; aber Dr. Schacht erklärt<br />

ihm den Unterschied zwischen sich und ihm. Gisevius wolle eben <strong>ein</strong>en<br />

Zusammenbruch und er selbst nicht, weil er weiß, was das gerade für die<br />

kl<strong>ein</strong>en Leute bedeuten würde, und an die Inflation vor fünfzehn Jahren<br />

können <strong>sie</strong> sich beide nur <strong>zu</strong> gut erinnern. Der Ritt in die Freiheit nach<br />

Paris <strong>ist</strong> freilich nicht für jeden so unproblematisch wie für den Hjalmar.<br />

Karl-Ernst kann sich nicht <strong>ein</strong>fach in <strong>ein</strong>en Zug setzen und abdampfen<br />

<strong>zu</strong>r Weltausstellung, sonst wäre di<strong>es</strong>er Witz hier nicht entstanden: „Der<br />

Mos<strong>es</strong> war doch sehr b<strong>es</strong>chränkt“, sagt <strong>ein</strong> Jude <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>em Freund. „Wie<br />

kannst du so etwas sagen, wo er uns doch aus Ägypten geführt hat übers<br />

Meer . . . “ Darauf sagt der Freund: „Eben darum! Hätte er uns nicht geführt,<br />

hätte ich jetzt <strong>ein</strong>en englischen Pass.“ 10 Auch in anderen Belangen<br />

kann er wenig machen, ob nun im Reich all<strong>es</strong> in Ordnung <strong>ist</strong> oder nicht.<br />

Dafür hat der Ludwig die richtige Position. Ludwig Beck <strong>ist</strong> der Generalstabschef<br />

der Wehrmacht. Das schafft ihm <strong>ein</strong>igen Bewegungsfreiraum.<br />

Ihn kann man auch nicht <strong>ein</strong>fach so verhaften wie Karl-Ernst. Ludwig<br />

Beck <strong>sie</strong>ht deutlich die Bedrohung für Deutschland, die von der Hektik<br />

ausgeht, die Hitler in der Außenpolitik an den Tag legt. Mit Karl-Ernst<br />

kann Ludwig darüber nicht sprechen, denn di<strong>es</strong>en Mann kennt er gar<br />

nicht. Mit anderen kann er jedoch ins G<strong>es</strong>präch kommen. Manche der<br />

Männer denken ähnlich wie er, und Beck <strong>ist</strong> genau der richtige Mann,<br />

um in diplomatischer Mission Deutschland auf dem rechten Pfad <strong>zu</strong> hal-<br />

9 Hirche, S. 92<br />

10 Hirche, S. 89<br />

7


<strong>1937</strong><br />

ten. Hans Speidel*, nunmehr Leiter der Abteilung „Fremde Heere W<strong>es</strong>t“<br />

beim Generalstab d<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong> in der Reichshauptstadt, erinnert sich:<br />

„Im Frühjahr <strong>1937</strong> hatte ich <strong>ein</strong>e Reise General Becks nach Paris vor<strong>zu</strong>bereiten,<br />

die auf Anregung d<strong>es</strong> Militärattaché, General Kühlenthal, und<br />

d<strong>es</strong> Chefs d<strong>es</strong> französischen Generalstabs, General Gamelin, <strong>zu</strong>stande<br />

kam. Zur »Tarnung« wurde <strong>ein</strong> B<strong>es</strong>uch der Weltausstellung angegeben.<br />

Die Reise Becks nach Paris vom 16. bis 20. Juni <strong>1937</strong> sollte s<strong>ein</strong>em Anliegen,<br />

<strong>ein</strong> b<strong>es</strong>ser<strong>es</strong> Verhältnis der beiden Nachbarnationen her<strong>zu</strong>stellen,<br />

dienen. Ich begleitete ihn auf di<strong>es</strong>er Reise und bemerkte den tiefen<br />

Eindruck, den Beck auf die französischen G<strong>es</strong>prächspartner, auch auf<br />

den Kriegsmin<strong>ist</strong>er Daladier und Marschall Pétain machte.“ 11<br />

Hans Speidel weiß sehr gut, warum Beck der rechte Mann <strong>ist</strong>: „Die überragende<br />

Persönlichkeit im Generalstab d<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong> war der Chef, General<br />

der Artillerie Ludwig Beck. S<strong>ein</strong>e Ersch<strong>ein</strong>ung war <strong>ein</strong>drucksvoll: <strong>ein</strong><br />

mittelgroßer, schlanker Mann mit <strong>ein</strong>em schmalen Kopf, nach Eduard<br />

Spranger dem »<strong>ein</strong><strong>es</strong> Denkers, den s<strong>ein</strong> Berufsweg auf den b<strong>es</strong>onderen<br />

Zweig strategischen Denkens geführt hat«. S<strong>ein</strong>e durchge<strong>ist</strong>igten G<strong>es</strong>ichtszüge<br />

verrieten Selbstbeherrschung und Disziplin. Die Lauterkeit<br />

s<strong>ein</strong><strong>es</strong> Charakters ver<strong>ein</strong>igte sich mit <strong>ein</strong>em scharf g<strong>es</strong>chliffenen Ge<strong>ist</strong>,<br />

der durch <strong>ein</strong>e umfassende Bildung bereichert wurde. Von großer B<strong>es</strong>cheidenheit<br />

und Vornehmheit, von hoher Pflichtauffassung geprägt,<br />

lebte er nach der Moltk<strong>es</strong>chen Forderung »mehr s<strong>ein</strong> als sch<strong>ein</strong>en«. Wie<br />

s<strong>ein</strong> großer Vorgänger Moltke verkörperte Beck den Typ d<strong>es</strong> Generalstabschefs<br />

vollkommen. Er fasste die Aufgabe d<strong>es</strong> Generalstabs nicht<br />

eng, sondern stellte <strong>sie</strong> in <strong>ein</strong>en größeren Rahmen. Dabei betonte er vor<br />

allem die ethischen Grundlagen. Wie <strong>ein</strong>st Gneisenau suchte er durch<br />

Kriegsakademie und militärische Bildungsanstalten <strong>ein</strong>e Verbindung<br />

der Armee mit dem deutschen Ge<strong>ist</strong><strong>es</strong>leben <strong>zu</strong> schaffen, der Generalstab<br />

sollte unabhängig, innerlich frei <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er typusbildenden Kraft werden.<br />

Beck wurde in s<strong>ein</strong>er erzieherischen Aufgabe nicht müde, die Persönlichkeit<br />

<strong>zu</strong> bilden, den Funktionär aus<strong>zu</strong>schalten. Doch s<strong>ein</strong>e Gedanken<br />

und Ideale konnte er bei der <strong>zu</strong>nehmenden Amoralität d<strong>es</strong> Regim<strong>es</strong><br />

nicht durchsetzen. Bei s<strong>ein</strong>en Übungsreisen, den Kriegs- und Planspielen,<br />

waren Taktik und Strategie für Beck nie <strong>ein</strong> starr<strong>es</strong> Dogma, sondern<br />

stets Bewegung, lebendige Kraft.“ 12<br />

11 Speidel, S. 70<br />

12 Speidel, S. 69f.<br />

8


<strong>1937</strong><br />

Ludwig <strong>ist</strong> s<strong>ein</strong>er Zeit <strong>ein</strong> Stück voraus: „General Beck, schon damals <strong>ein</strong><br />

überzeugter Europäer, sah die Idee der Nationalstaaten für überholt an.<br />

Damals und später äußerten alle französischen G<strong>es</strong>prächspartner –<br />

nicht <strong>zu</strong>letzt Marschall Pétain –, dass General Beck k<strong>ein</strong> Vertreter <strong>ein</strong><strong>es</strong><br />

»militar<strong>ist</strong>ischen oder revanchelustigen Deutschlands« sei, sondern b<strong>es</strong>te<br />

deutsche militärische Tradition verkörpere.“ 13 Di<strong>es</strong>er Mann war schon<br />

gut: „Der Generalstab drängte auf Maß und Zurückhaltung. Die damals<br />

aufkommende politische und militärische Euphorie und Überheblichkeit<br />

wurde auf Weisung Becks scharf bekämpft. Klarheit und Wahrheit<br />

im Berichtsw<strong>es</strong>en ließen jedoch mancherorts <strong>zu</strong> wünschen übrig.“ 14 Zum<br />

Chef d<strong>es</strong> dortigen Generalstabs Maurice Gamelin sagt Ludwig Beck jetzt<br />

in der französischen Hauptstadt Paris, „dass der Friede Europas, ja der<br />

Welt, garantiert sei, <strong>wenn</strong> Frankreich und Deutschland ihren alten Streit<br />

begraben würden und die deutsche und die französische Armee gem<strong>ein</strong>sam<br />

<strong>ein</strong>en rocher de bronze für den Frieden darstellten.“ 15<br />

Berlin war, <strong>ist</strong> und bleibt <strong>ein</strong> heiß<strong>es</strong> Pflaster. Kriegsmin<strong>ist</strong>er Werner von<br />

Blomberg, den sich Hindenburg als konservativen Gegenpol <strong>zu</strong> Hitler<br />

dachte, reicht im Juni <strong>1937</strong> offiziell die schriftliche Erklärung <strong>ein</strong>, in der<br />

er schreibt, dass „k<strong>ein</strong> Anlass gegeben sei, <strong>ein</strong>en Angriff auf Deutschland<br />

von irgend<strong>ein</strong>er Seite <strong>zu</strong> befürchten“ 16 . Warum hält er di<strong>es</strong>e Zusicherung<br />

für wichtig, <strong>wenn</strong> der Kanzler öffentlich ständig vom Frieden in der Welt<br />

spricht? Schwant ihm etwas? Hat Hitler unter vier Augen Andeutungen<br />

gemacht? Hat von Blomberg inzwischen doch mal <strong>ein</strong>en Blick in Hitlers<br />

erst<strong>es</strong> Buch geworfen? In M<strong>ein</strong> Kampf wird doch geklärt, was bei Hitler<br />

im Kopf vor sich geht. Während die me<strong>ist</strong>en Leute im Reich <strong>zu</strong>r Arbeit<br />

gehen, wird auf den Fluren der Macht in Berlin getuschelt. Di<strong>es</strong>er oder<br />

jener hat etwas aufg<strong>es</strong>chnappt und ihm dämmert, dass ihr Führer nicht<br />

die gleichen Vorstellungen wie <strong>sie</strong> hat, wie <strong>es</strong> mit der neu ent<strong>stehen</strong>den<br />

Großmacht Deutschland weitergehen soll. Gerade der Kriegsmin<strong>ist</strong>er <strong>ist</strong><br />

schon hin und wieder mit dem Führer im G<strong>es</strong>präch. Er erfährt auch am<br />

24. Juni als <strong>ein</strong>er der ersten davon, dass der Operationsplan „Grün“ nun<br />

fertig vorliegt. Eine Tschechoslowakei soll <strong>es</strong> bald nicht mehr auf der<br />

Landkarte geben, doch der Plan <strong>sie</strong>ht k<strong>ein</strong>erlei gewaltsam<strong>es</strong> Vorgehen<br />

13 Speidel, S. 71<br />

14 Speidel, S. 72<br />

15 Speidel, S. 71<br />

16 Der Nürnberger Proz<strong>es</strong>s II, S. 317<br />

9


<strong>1937</strong><br />

vor. 17 Außenmin<strong>ist</strong>er Konstantin von Neurath befand, dass „<strong>es</strong> nicht angebracht<br />

sei, den Kreis der durch unsere Rh<strong>ein</strong>landaktion aufgeworfenen<br />

Probleme unnötig <strong>zu</strong> erweitern.“ 18<br />

Den <strong>ein</strong>fachen Leuten entgeht nicht, dass <strong>sie</strong> über ihre Arbeit und was<br />

<strong>sie</strong> da herstellen, mit anderen nicht sprechen dürfen. Seit langem schon<br />

hängen in vielen Betrieben Plakate der Aktion F<strong>ein</strong>d hört mit 19 , die vom<br />

Chef d<strong>es</strong> Geheimdienst<strong>es</strong> Admiral Wilhelm Canaris ins Leben gerufen<br />

worden war. Sie kommentieren ihre zwi<strong>es</strong>pältige Freude über den neuen<br />

Arbeitsplatz auf ihre Weise: Ein Mann <strong>ist</strong> in <strong>ein</strong>er Kinderwagenfabrik<br />

b<strong>es</strong>chäftigt. Da er k<strong>ein</strong> Geld hat, aber für s<strong>ein</strong>e Frau <strong>ein</strong>en Kinderwagen<br />

haben möchte, „b<strong>es</strong>chafft“ er sich die verschiedenen Fabrikationsteile<br />

aus den verschiedenen Abteilungen. Als er <strong>sie</strong> <strong>zu</strong> Hause <strong>zu</strong>sammensetzt,<br />

was m<strong>ein</strong>en Sie wohl, was daraus geworden <strong>ist</strong>? Ein Maschinengewehr!<br />

20 Aber in der Zeitung geht <strong>es</strong> doch dauernd um den Frieden? Das<br />

glauben viele und alle hoffen <strong>es</strong> sehr, doch di<strong>es</strong>er und jener äußert daran<br />

Zweifel: Goebbels klopft an die Himmelstür, aber Petrus erklärt ihm,<br />

dass er in die Hölle müsse. Um ihn <strong>zu</strong> trösten, sagt er, so schlimm sei <strong>es</strong><br />

gar nicht in der Hölle, und erlässt ihn durch <strong>ein</strong> Fernrohr in die Hölle<br />

blicken. Dort <strong>sie</strong>ht er <strong>ein</strong>e behagliche Bar, leicht bekleidete Mädchen,<br />

W<strong>ein</strong> und Sekt . . . und getröstet geht er von dannen. Aber als er in der<br />

Hölle <strong>ist</strong>, wird er von den Teufeln nach allen Regeln der Kunst gezwickt,<br />

gezwackt, gepuält. Entrüstet ruft er: „Satan, wo <strong>ist</strong> denn der Barbetrieb,<br />

den mir Petrus vom Himmel aus zeigte?“ Darauf erwidert Satan: „Das<br />

<strong>ist</strong> nur Propaganda, all<strong>es</strong> Propaganda, Herr Min<strong>ist</strong>er!“ 21 D<strong>es</strong>halb <strong>ist</strong> <strong>es</strong><br />

vielleicht noch der b<strong>es</strong>te Vorschlag, die Zeitungen gar nicht <strong>zu</strong> l<strong>es</strong>en, wie<br />

<strong>es</strong> mancher vorschlägt: Hase <strong>ist</strong> tot. Er hat die Zeitung gel<strong>es</strong>en und <strong>ist</strong><br />

von der Straßenbahn überfahren worden. Nutzanwendung: Li<strong>es</strong> k<strong>ein</strong>e<br />

Zeitung. 22 Ein gut<strong>es</strong> Beispiel für Goebbels’ Propaganda <strong>ist</strong> s<strong>ein</strong>e Berichterstattung<br />

über di<strong>es</strong>en Bürgerkrieg in Spanien. Dort knallt <strong>es</strong> schon <strong>ein</strong><br />

Jahr lang und die Fasch<strong>ist</strong>en <strong>sie</strong>gen ohne <strong>zu</strong> <strong>sie</strong>gen. Hinter vorgehaltener<br />

Hand erzählt man sich: „Welch<strong>es</strong> <strong>ist</strong> die größte Stadt Europas?“ Und<br />

17 Falin, S. 43<br />

18 Dokumente I, S. 48<br />

19 Höhne, S. 184<br />

20 Hirche, S. 120<br />

21 Hirche, S. 101<br />

22 Hirche, S. 119<br />

10


<strong>1937</strong><br />

die Antwort lautet: „Madrid. Seit Monaten marschieren dort schon die<br />

Truppen <strong>ein</strong> – und die Stadt <strong>ist</strong> immer noch nicht b<strong>es</strong>etzt.“ 23 Was auf<br />

der anderen Seite die Rolle d<strong>es</strong> eigenen Land<strong>es</strong> im spanischen Bürgerkrieg<br />

anbelangt, fragen die Leute: „Wer <strong>ist</strong> der tüchtigste Exporteur?“<br />

und beantworten sich die Frage selbst: „Adolf Hitler; denn er liefert all<strong>es</strong><br />

franco.“ 24 Die kostenlose Unterstüt<strong>zu</strong>ng für den Boss der Fasch<strong>ist</strong>en in<br />

Spanien spricht sich jetzt allmählich auch im Deutschen Reich herum.<br />

Wenn man danach geht, was in den Zeitungen steht, <strong>ist</strong> ja hier bei uns<br />

im Reich auch die Welt in Ordnung. Man muss beide Augen <strong>zu</strong>machen,<br />

um den allgegenwärtigen Mangel nicht <strong>zu</strong> bemerken. Hören wir uns mal<br />

um: Der Hitler ohne Frau, die Schlächter ohne Sau, die Bäcker ohne<br />

Teig – das <strong>ist</strong> das Dritte Reich. 25 Natürlich haben Sie Recht, reim’ dich,<br />

oder ich fr<strong>es</strong>s’ dich, aber was hier von Mund <strong>zu</strong> Mund geht, das <strong>ist</strong> nicht<br />

Kunst sondern Kritik. Di<strong>es</strong>er Aufruf <strong>ist</strong> auch nichts für 108-prozentige<br />

unserer Volksgenossen: Deutsche, tragt deutsche Wolle, herg<strong>es</strong>tellt aus<br />

Hirng<strong>es</strong>pinsten Adolf Hitlers, Lügengeweben, Goebbels’ Geduldsfäden<br />

d<strong>es</strong> deutschen Volk<strong>es</strong> und aus alten Lumpen der SA. 26 Einer der Sprüche<br />

äußert sich über die Aussichten, <strong>wenn</strong> das hier noch zwei Jahre so läuft<br />

wie bisher und nimmt Be<strong>zu</strong>g auf den Unterschied in der Leib<strong>es</strong>fülle von<br />

Göring und von Goebbels: „Wie <strong>sie</strong>ht <strong>es</strong> am Ende d<strong>es</strong> ersten Vierjahr<strong>es</strong>plan<strong>es</strong><br />

aus?“ – „Göring wird in die Hose von Goebbels passen.“ 27 Heiter<br />

sind die Aussichten nicht. Kurt Hirche hört, dass jemand irgendwo auf<br />

<strong>ein</strong>em Hindenburg-Denkmal über Nacht <strong>ein</strong> Plakat angebracht hat, auf<br />

dem <strong>zu</strong> l<strong>es</strong>en stand: „Steig hernieder, greiser Streiter, d<strong>ein</strong> Gefreiter<br />

kann nicht weiter!“ 28 N<strong>ein</strong>, er hört nicht, wo das war – und selbstredend<br />

erfährt er auch nicht, wer das war. Das heraus<strong>zu</strong>bekommen, fällt dann<br />

eher in den Aufgabenbereich der G<strong>es</strong>tapo.<br />

Polens Außenmin<strong>ist</strong>er Beck zaubert unterd<strong>es</strong>sen s<strong>ein</strong>e kreative Abwandlung<br />

d<strong>es</strong> W<strong>es</strong>tpakts vom Dezember 1936 wieder aus dem Schreibtisch;<br />

doch nun <strong>ist</strong> <strong>es</strong> <strong>zu</strong> spät. K<strong>ein</strong>er will mehr <strong>ein</strong>en W<strong>es</strong>tpakt und England<br />

setzt mehr oder weniger auf <strong>ein</strong>e Politik d<strong>es</strong> Appeasement. London will<br />

23 Hirche, S. 120<br />

24 Hirche, S. 71<br />

25 Hirche, S. 131<br />

26 Hirche, S. 130<br />

27 Hirche, S. 131<br />

28 Hirche, S. 97<br />

11


<strong>1937</strong><br />

das erstarkende Deutsche Reich b<strong>es</strong>änftigen. Das neue Deutschland soll<br />

bekommen, was <strong>es</strong> will, <strong>wenn</strong> <strong>es</strong> nicht schmatzt beim Essen und <strong>wenn</strong> <strong>es</strong><br />

England nicht auf s<strong>ein</strong>e Speisekarte setzt. Der andere Teil d<strong>es</strong> Plan<strong>es</strong> <strong>ist</strong><br />

nicht derart friedlich. Das offizielle London hofft auf <strong>ein</strong>en militärischen<br />

Zusammenstoß zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, in<br />

der die Zustände auch immer schlimmer werden. Sollen sich die beiden<br />

Verrückten in Europa doch ihre Hörner an<strong>ein</strong>ander abstoßen! Natürlich<br />

muss für di<strong>es</strong>en Teil d<strong>es</strong> Plan<strong>es</strong> noch <strong>ein</strong>e Hürde genommen werden; da<br />

stört noch di<strong>es</strong>er wolhynische Krautsalat zwischen Deutschland und der<br />

Räterepublik: da gibt <strong>es</strong> die Kaschuben und die Slowaken, die Zigeuner,<br />

die Ukrainer, die Juden, die Weißrussen, die Tschechen, die Polen, die<br />

Ruthenen, und an Deutschen mangelt <strong>es</strong> auch in k<strong>ein</strong>em di<strong>es</strong>er Länder.<br />

Es inter<strong>es</strong><strong>sie</strong>rt in London am Rand, wer wo in der Mehrheit oder in der<br />

Minderheit <strong>ist</strong>. Die Führung in London hofft darauf, dass das Deutsche<br />

Reich die Tschechoslowakei und Polen in s<strong>ein</strong>e breiten Arme nimmt, um<br />

B<strong>ein</strong>freiheit <strong>zu</strong> bekommen für die große Schlacht im Osten. Die soll <strong>es</strong> ja<br />

um Gott<strong>es</strong> willen nicht gewinnen, aber <strong>es</strong> soll derart g<strong>es</strong>chwächt werden,<br />

dass die Engländer dann gefahrlos auf dem Kontinent für Ruhe sorgen<br />

können. Die Kolonien hat England letztlich auch nicht durch <strong>ein</strong>e übergroße<br />

Friedfertigkeit erlangt. Das <strong>ist</strong> Politik made in London. Unlogisch<br />

sind die Gedankenspiele allemal. Manche der Politiker hoffen im Ernst,<br />

dass sich Hitler die Teile nimmt, bei denen er <strong>es</strong> für richtig hält, dass er<br />

aber Rumpfstaaten von Polen und der Tschechoslowakei übrig lässt. Auf<br />

k<strong>ein</strong>en Fall sollen di<strong>es</strong>e Länder Gegengewichte <strong>zu</strong> Deutschland bilden –<br />

trotz ihrer militärischen Möglichkeiten, da das Moskau <strong>zu</strong>r Schutzmacht<br />

für di<strong>es</strong>e Länder aufwerten würde. Es wird sogar erwogen, <strong>ein</strong>e Wiederver<strong>ein</strong>igung<br />

Deutschlands mit Österreich <strong>zu</strong> ermöglichen, damit sich das<br />

Reich etwas länger gegen die sowjetische Übermacht behaupten kann. 29<br />

Im Deutschen Reich dreht sich di<strong>es</strong>en Sommer all<strong>es</strong> um die Künste. Wie<br />

man weiß, gehört der Führer ja selbst <strong>zu</strong> den unverstandenen Geni<strong>es</strong>, so<br />

dass <strong>es</strong> nicht erstaunt, dass er das neue „Haus der Deutschen Kunst“ im<br />

bayerischen München höchstpersönlich eröffnet. Markus <strong>ist</strong> auf jeden<br />

Fall schwer be<strong>ein</strong>druckt. Nicht nur die Frankfurter Zeitung bringt das<br />

monumentale Ereignis am 19. Juli auf der Titelseite: „Die weite Säulenreihe<br />

d<strong>es</strong> neuen Haus<strong>es</strong>, die rot und goldenen Standarten dazwischen,<br />

die g<strong>es</strong>chlossenen Abteilungen von Wehrmacht und uniformierten Glie-<br />

29 Quigley, Appeasement, Die britische Mitschuld am Zweiten Weltkrieg, S. 9 und 38<br />

12


<strong>1937</strong><br />

derungen der NSDAP, welche die Prinzregentenstraße säumten – all das<br />

ver<strong>ein</strong>igte sich an di<strong>es</strong>em Sonntagmorgen, bei aufgeklärtem Himmel, <strong>zu</strong><br />

<strong>ein</strong>er Dokumentation von Macht und Ordnung. Im Empfangsraum d<strong>es</strong><br />

Haus<strong>es</strong>, der wie die Ausstellungshallen selber s<strong>ein</strong> Licht von oben empfängt,<br />

sammelten sich bis zehn Uhr die Gäste: die g<strong>es</strong>amte Reichsregierung,<br />

Mitglieder d<strong>es</strong> Diplomatischen Korps, Reichs- und Gauleiter der<br />

NSDAP und andere führende Männer, sämtlich mit ihren Damen. In der<br />

ersten Stuhlreihe gewahrte man auch die Witwe d<strong>es</strong> Erbauers, Frau Prof<strong>es</strong>sor<br />

Troost. In den Seitenschiffen der Halle, hinter <strong>ein</strong>er Kette von<br />

Männern der SS, fand <strong>stehen</strong>d noch <strong>ein</strong>e Anzahl von Geladenen Platz.<br />

Die hier innen waren, vernahmen den Akt der Übergabe d<strong>es</strong> Haus<strong>es</strong>, die<br />

Worte d<strong>es</strong> Münchner Gauleiters Wagner, d<strong>es</strong> Vorsitzenden der G<strong>es</strong>ellschaft<br />

»Haus der Deutschen Kunst«, Herrn von Finck, und den Dank<br />

d<strong>es</strong> Führers und Reichskanzlers nur durch Lautsprecher: di<strong>es</strong> vollzog<br />

sich vor dem Portal auf der Freitreppe.<br />

Dann betrat Adolf Hitler den feierlichen Raum, gefolgt von den genannten<br />

Herren, ferner vom Reichskriegsmin<strong>ist</strong>er und Reichsluftfahrtmin<strong>ist</strong>er.<br />

Nach der Darbietung <strong>ein</strong><strong>es</strong> Weihechors (Städtischer Chor Augsburg<br />

unter Otto Jochum) erteilte Gauleiter Wagner sogleich dem Führer und<br />

Reichskanzler das Wort.<br />

Es will fast überflüssig ersch<strong>ein</strong>en, hier s<strong>ein</strong>e Rede <strong>zu</strong> charakteri<strong>sie</strong>ren:<br />

<strong>sie</strong> war, obwohl verzweigt, deutlich und entschieden genug. Nicht überflüssig<br />

aber <strong>ist</strong> <strong>es</strong>, von der außerordentlichen inneren Anteilnahme d<strong>es</strong><br />

Sprechenden an s<strong>ein</strong>em Gegenstand <strong>ein</strong>en Begriff <strong>zu</strong> geben, welcher<br />

allen Hörern spürbar werden musste, die eigenste Leidenschaft und den<br />

Ton d<strong>es</strong> persönlichen Erlebens <strong>zu</strong> bezeichnen, welche hier <strong>ein</strong>drucksvoll<br />

vernehmlich geworden sind.<br />

Auch denen, die di<strong>es</strong>e Rede nur l<strong>es</strong>en, wird <strong>es</strong> nicht entgehen können,<br />

dass <strong>sie</strong> <strong>ein</strong>e Abrechnung darstellt mit G<strong>es</strong>innungen und Theorien, die<br />

das öffentliche Kunstleben der hinter uns liegenden Epoche b<strong>es</strong>timmten<br />

– <strong>ein</strong>e Abrechnung, die heute noch nicht beendet <strong>ist</strong>.<br />

Di<strong>es</strong>e Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ng, welche durch die Gleichzeitigkeit der Großen<br />

Deutschen Kunstausstellung mit der bereits angekündigten Schaustellung<br />

»Entartete Kunst« (<strong>sie</strong> wird von morgen ab <strong>zu</strong>gänglich s<strong>ein</strong>) ebenso<br />

schlagend illustriert wird wie durch den Entschluss Adolf Hitlers,<br />

<strong>ein</strong>en unerbittlichen Säuberungskrieg im Bereich der Kunst <strong>zu</strong> führen –<br />

di<strong>es</strong>e Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ng wurde in der Rede <strong>zu</strong>gleich mit den Waffen<br />

scharfer Ironie wie mit den Mitteln philosophischer Erörterung ge-<br />

13


<strong>1937</strong><br />

führt.“ 30 Es gibt nun noch k<strong>ein</strong>e Befragungsergebnisse, wie wer hier über<br />

die Stelle gelacht hat, dass die führenden Männer d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> sämtlich<br />

mit ihren Damen aufmarschiert seien, wo doch ausgerechnet der Führer<br />

ohne derartige Begleitung nach München kommt. Klar <strong>ist</strong> nur, dass <strong>es</strong><br />

nicht allen Beobachtern entgeht. Davon zeugen Sprüche wie der: „Wer<br />

wie <strong>ein</strong> Barbar regiert und Napoleon markiert, in Österreich geboren,<br />

den Bart englisch g<strong>es</strong>choren – wer italienisch grüßt, deutsche Mädchen<br />

Kinder kriegen lässt, aber selber k<strong>ein</strong>e Kinder machen kann – das <strong>ist</strong> <strong>ein</strong><br />

deutscher Mann!“ 31 Insofern hat die Frankfurter Zeitung schon absolut<br />

recht: „Deutsch s<strong>ein</strong> heißt klar s<strong>ein</strong>.“<br />

Der Führer <strong>ist</strong> genau der Richtige. Ein Frauenheld, <strong>ein</strong> Philosoph und<br />

<strong>ein</strong> Kunstkenner. Agathe <strong>ist</strong> ja <strong>ein</strong> extra neugierig<strong>es</strong> Weibsbild. Zu gerne<br />

würde <strong>sie</strong> erfahren, warum <strong>sie</strong> den unverstandenen jugendlichen Hitler<br />

damals nicht an der Wiener Kunstakademie haben wollten. Man wird ja<br />

noch mal fragen dürfen. Hatte er das Können der Renaissance in s<strong>ein</strong>er<br />

Mappe? Mit Hilfe von Farbe und Pinsel den röhrenden Hirsch so genau<br />

wie nur irgendmöglich auf die L<strong>ein</strong>wand <strong>zu</strong> bringen? Haben <strong>sie</strong> sich an<br />

der Akademie die Waldlichtung im Mondsch<strong>ein</strong> ang<strong>es</strong>chaut und g<strong>es</strong>agt,<br />

dass sich das <strong>ein</strong>zigartig als G<strong>es</strong>chenk <strong>zu</strong>m Geburtstag der Oma eignet?<br />

Hat das jugendliche Genie verstanden, dass Mitte d<strong>es</strong> 19. Jahrhunderts<br />

die Fotografie aufkam und die Realität absolut mühelos und zeitsparend<br />

auf Papier wiedergeben konnte? Ist ihm klar, dass jeder Versuch <strong>ein</strong><strong>es</strong><br />

Realismus in der Kunst dann nur der Fotografie hinterher hechelte? Die<br />

neuen Formen kamen doch nicht von ungefähr! Nehmen Sie nur di<strong>es</strong>en<br />

Impr<strong>es</strong>sionismus. Das kann so <strong>ein</strong> Foto noch nicht – Emotionen bei der<br />

Betrachtung der Lichtung im Mondsch<strong>ein</strong> darstellen. Oder dann di<strong>es</strong>er<br />

Expr<strong>es</strong>sionismus, der Dadaismus und der Kubismus und das all<strong>es</strong>.<br />

Aber weil dann der röhrende Hirsch so vermatscht aus<strong>sie</strong>ht, mag Hitler<br />

das neumodische Zeugs nicht. Das wird Stück für Stück <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>ammelt in<br />

den Museen Deutschlands und kommt erst in di<strong>es</strong>e Zur-Schau-Stellung<br />

„Entartete Kunst“ und danach wird <strong>es</strong> verbrannt wie die Bücher vor vier<br />

Jahren. Das muss all<strong>es</strong> weg. Das Volk soll jetzt entscheiden, was Kunst<br />

<strong>ist</strong>; vielleicht rechnet sich Adolf Hitler ja Chancen aus, doch noch an der<br />

Kunstakademie angenommen <strong>zu</strong> werden, <strong>wenn</strong> dort die Kunstkritiker<br />

30 Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 19. Juli <strong>1937</strong>, S. 1<br />

31 Hirche, S. 97<br />

14


<strong>1937</strong><br />

im Blaumann, möglichst noch mit <strong>ein</strong>er Pulle Bier am Hals dasitzen und<br />

über s<strong>ein</strong>e Werke urteilen.<br />

In s<strong>ein</strong>em Namen fährt der Präsident der Reichskammer der bildenden<br />

Künste Prof<strong>es</strong>sor Ziegler in Deutschland herum und entscheidet vor Ort,<br />

was deutsche Kunst und was entartet <strong>ist</strong>. In München berichtet er dann<br />

von den haarsträubenden Ergebnissen s<strong>ein</strong>er Exkursionen: „Ich war mir<br />

klar darüber, dass die Anzahl der in den vergangenen Jahren angekauften<br />

Werke ungeheuer groß s<strong>ein</strong> würde. Maßlos erstaunt war ich darüber,<br />

dass noch bis vor wenigen Tagen in deutschen öffentlichen Museen und<br />

Sammlungen teilweise di<strong>es</strong>e hier nach München gebrachten Verfallskunstdokumente<br />

ausg<strong>es</strong>tellt und damit seitens der Leiter di<strong>es</strong>er Anstalten<br />

den deutschen Volksgenossen die B<strong>es</strong>ichtigung <strong>zu</strong>gemutet wurde. Es<br />

sind die hier gezeigten Produkte allerdings nur <strong>ein</strong> Teil der in den vorgenannten<br />

Anstalten noch vorhandenen. Es hätten Eisenbahnzüge nicht<br />

gereicht, um die deutschen Museen von di<strong>es</strong>em Schund aus<strong>zu</strong>räumen.<br />

Das wird noch <strong>zu</strong> g<strong>es</strong>chehen haben, und zwar in aller Kürze. Es <strong>ist</strong> <strong>ein</strong>e<br />

Sünde und Schande, dass man die Anstalten mit di<strong>es</strong>em Zeug voll gehängt<br />

hat und die örtliche und anständig lebende deutsche Künstlerschaft<br />

gerade in di<strong>es</strong>en Stätten kaum oder nur schlechte Ausstellungsmöglichkeiten<br />

b<strong>es</strong>itzt.“ 32<br />

Bis vor wenigen Tagen hingen die Me<strong>ist</strong>er der Moderne in Deutschlands<br />

Museen. Im Jahr <strong>1937</strong>. Auf <strong>ein</strong>em Ausstellungsplakat wird <strong>ein</strong> herzlich<br />

unglücklicher Vergleich ang<strong>es</strong>tellt, um <strong>zu</strong> verdeutlichen, was „entartete<br />

Kunst“ sei. Da wird <strong>ein</strong> verliebter Eindruck von <strong>ein</strong>er jungen Frau dem<br />

Bild <strong>ein</strong><strong>es</strong> schnurrbärtigen älteren Arbeiters gegenüberg<strong>es</strong>tellt, wobei<br />

der real<strong>ist</strong>isch gemalte Arbeiter b<strong>es</strong>ser abschneidet. Die Unterschrift<br />

lautet: „Lebensvoller Ausdruck <strong>ein</strong>e deutschen Arbeiters, der nichts<br />

mehr von Verhet<strong>zu</strong>ng und Klassenhass in s<strong>ein</strong>en Zügen zeigt, sondern<br />

sich bewusst <strong>ist</strong>, dass s<strong>ein</strong>e Arbeit gleichberechtigt mit jeder anderen<br />

<strong>zu</strong>m Aufbau d<strong>es</strong> Vaterland<strong>es</strong> beiträgt. Das ausgezeichnete Bild schuf<br />

<strong>ein</strong>e Frau, Else Schmidt von der Velde.“ 33 Das fällt ja auch Gott sei Dank<br />

niemandem auf, dass das Propagandasülz <strong>ist</strong>. Wir sind ja alle bekloppt.<br />

Zusammeng<strong>es</strong>tellt wurde die Ausstellung „Entartete Kunst“ vom Kenner<br />

der Kunst Prof<strong>es</strong>sor Ziegler selbst. Die Dortmunder Zeitung schreibt am<br />

32 Dortmunder Zeitung, 20. Juli <strong>1937</strong>, S. 2<br />

33 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen, Albertas Limited, London 2009<br />

15


<strong>1937</strong><br />

20. Juli, er habe „<strong>ein</strong>e große Zahl von Scheußlichkeiten <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er Schau<br />

<strong>zu</strong>sammeng<strong>es</strong>tellt“. Ganz so schlimm kann <strong>es</strong> wohl eher nicht gew<strong>es</strong>en<br />

s<strong>ein</strong>, <strong>wenn</strong> in demselben Artikel kritisch darauf hingewi<strong>es</strong>en wird, dass<br />

der Kunstkenner Prof. Ziegler „maßlos erstaunt“ war, dass „noch bis vor<br />

wenigen Tagen in deutschen öffentlichen Museen und Sammlungen teilweise<br />

di<strong>es</strong>e hier nach München gebrachten Verfallskunstdokumente<br />

ausg<strong>es</strong>tellt und damit seitens der Leiter di<strong>es</strong>er Anstalten den deutschen<br />

Volksgenossen die B<strong>es</strong>ichtigung <strong>zu</strong>gemutet wurden“. 34 Und die B<strong>es</strong>ucher<br />

sind ja auch nicht ausgeblieben.<br />

Das lag sicher auch daran, dass die Bilder <strong>ein</strong> paar Leuten gefielen. Das<br />

Plakat erläutert auch, was die versammelte Staatsführung als wertvolle<br />

deutsche Kunst an<strong>sie</strong>ht – die „Kalenberger Bauernfamilie“ <strong>zu</strong>m Beispiel,<br />

die den Leuten mit di<strong>es</strong>en Worten angepri<strong>es</strong>en wird: „Ein wundervoll<strong>es</strong><br />

Bild deutschen Familienlebens. Im Hintergrunde <strong>ein</strong> Ausschnitt aus der<br />

Landschaft Kalenbergs, das <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>s der vielen Duodezfürstentümer<br />

d<strong>es</strong> zerrissenen Vorkriegsdeutschlands gew<strong>es</strong>en <strong>ist</strong>.“ 35 Es handelt sich in<br />

dem Zusammenhang auch nicht um offizielle Propaganda. Wo denken<br />

Sie denn hin? Brauchen Sie mehr von di<strong>es</strong>em Sülz? „Di<strong>es</strong><strong>es</strong> prachtvolle<br />

Bild d<strong>es</strong> rh<strong>ein</strong>ischen Me<strong>ist</strong>ers Prof<strong>es</strong>sor Artur Kampf zeigt uns <strong>ein</strong>e Episode<br />

aus den Tagen der Freiheitskriege gegen den korsischen Eroberer.<br />

Auch damals war das deutsche Volk <strong>zu</strong>m Opfergang bereit. »Der König<br />

rief und alle, alle kamen!«“ 36 Es schlägt dem Fass den Boden aus, dass<br />

ausgerechnet dem Bildnis <strong>ein</strong><strong>es</strong> weiteren Mann<strong>es</strong> di<strong>es</strong>e Lob<strong>es</strong>hymne g<strong>es</strong>ungen<br />

wird: „Wohl <strong>ein</strong><strong>es</strong> der b<strong>es</strong>ten Führerbildnisse, die je g<strong>es</strong>chaffen<br />

wurden, verdanken wir dem Berliner Maler Franz Triebsch.“ 37 Ein wenig<br />

folgerichtig <strong>ist</strong> <strong>es</strong> schon, dass nur <strong>ein</strong>en Monat später mit dem Bau d<strong>es</strong><br />

Konzentrationslagers Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar im<br />

schönen Thüringen angefangen wird. Das Gelände wird <strong>ein</strong>gezäunt und<br />

bewacht, damit sich k<strong>ein</strong>er beim Skilanglauf hierher verirrt. Wenn das<br />

der Führer wüsste. Na gut. Das denkt k<strong>ein</strong> Mensch heute mehr. Wer von<br />

dem Lager weiß, kann sich denken, dass das aus Steuermitteln bezahlt<br />

wird, und wer davon nichts weiß, muss nicht darüber nachdenken. Aber<br />

wo <strong>ist</strong> der Führer?<br />

34 Dortmunder Zeitung, 20. Juli <strong>1937</strong>, S. 2<br />

35 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen Nr. 33, Albertas Limited, London 2009<br />

36 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen Nr. 33, Albertas Limited, London 2009<br />

37 Beilage <strong>zu</strong> Zeitungszeugen Nr. 33, Albertas Limited, London 2009<br />

16


<strong>1937</strong><br />

Kanzler Hitler bereitet sich auf den großen Staatsb<strong>es</strong>uch d<strong>es</strong> Duce aus<br />

Italien vor. Im September <strong>ist</strong> <strong>es</strong> dann soweit. Generalstabschef Beck <strong>ist</strong><br />

ebenfalls <strong>zu</strong>r Vorbereitung aufgerufen und sucht sich die richtigen Leute<br />

für die Delegation <strong>zu</strong>sammen, darunter auch Hans Speidel, den Leiter<br />

der Abteilung „Fremde Heere W<strong>es</strong>t“ d<strong>es</strong> Generalstabs, den er noch aus<br />

Paris kennt. Bei der Reise in das Reich jenseits der Alpen begleitet den<br />

italienischen Staatschef Mussolini auch <strong>ein</strong>e große Militärdelegation mit<br />

Marschall Badoglio an der Spitze. Wegen s<strong>ein</strong>er Position im Generalstab<br />

wird auch Speidel <strong>zu</strong> den G<strong>es</strong>prächen hin<strong>zu</strong>gezogen. Die Herren reden<br />

über „<strong>ein</strong>e militärische Zusammenarbeit im Frieden, aber auch in <strong>ein</strong>er<br />

möglichen kriegerischen Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ng. Badoglio machte <strong>ein</strong>en<br />

menschlich vornehmen, gebildeten und militärisch g<strong>es</strong>chulten Eindruck.<br />

Mussolini trat er sehr frei gegenüber. Mussolini sprach mich auf<br />

den Paris-B<strong>es</strong>uch General Becks, insb<strong>es</strong>ondere auf das Verhältnis<br />

Deutschland-Frankreich und den Ausbildungsstand d<strong>es</strong> französischen<br />

Heer<strong>es</strong> an. Von außerordentlich starkem Willen geprägt, selbstbewusst,<br />

herrisch, zeigte er sich im persönlichen G<strong>es</strong>präch von <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>drucksvollen,<br />

sehr unmittelbaren Liebenswürdigkeit. Der große Zapfenstreich<br />

im Stadion, bei dem Mussolini kurz sprach, bildete den Abschluss d<strong>es</strong><br />

B<strong>es</strong>uch<strong>es</strong>, der die mitreißende Wirkung der Diktatoren auf die Massen<br />

erneut <strong>zu</strong>m Bewussts<strong>ein</strong> brachte.“ 38 So weit die Schilderung von Speidel.<br />

Der <strong>ein</strong>zelne Mann <strong>ist</strong> vom Jubel <strong>ein</strong>er Masse be<strong>ein</strong>druckt. Er kann ja<br />

nicht abschätzen, wie viele Leute den Staatsb<strong>es</strong>uch <strong>ein</strong>fach ausblenden<br />

und lieber <strong>zu</strong>r Trabrennbahn gehen oder <strong>zu</strong>m Flohmarkt.<br />

Max in Reichmannsdorf erzählt s<strong>ein</strong>er Emma den neu<strong>es</strong>ten Witz über<br />

den Duce, der sich bei der Gelegenheit gleich über den Dialekt der Leute<br />

im thüringisch-fränkischen Lauscha lustig macht: Eine Abordnung der<br />

Lauschaer will Benito Mussolini b<strong>es</strong>uchen. Sie setzen sich in <strong>ein</strong>en Zug<br />

nach Rom. Als <strong>sie</strong> angekommen sind, wandern <strong>sie</strong> wohlgemut <strong>zu</strong>r Villa<br />

d<strong>es</strong> Duce. Doch als <strong>sie</strong> das Türschild sehen, sind <strong>sie</strong> bitter enttäuscht<br />

und gehen wieder nach Hause. Dort werden <strong>sie</strong> gefragt, warum <strong>sie</strong> denn<br />

nun doch nicht beim Duce waren, woraufhin die Delegation erklärt, auf<br />

dem Türschild habe g<strong>es</strong>tanden: „Benito Mussolini“ und das heißt ganz<br />

klar: Bin nicht da, Mussolini. 39 Und nicht nur in Reichmannsdorf gibt <strong>es</strong><br />

überall die schönsten Witze über den gloriosen Staatsb<strong>es</strong>uch aus Rom.<br />

38 Speidel, S. 73<br />

39 Von m<strong>ein</strong>em Vater überliefert.<br />

17


<strong>1937</strong><br />

Ein anderer geht so: Hitler b<strong>es</strong>ucht Mussolini und geht mit ihm <strong>zu</strong>m<br />

Schwimmen. Adolf hat die Badehose an, Benito badet ohne. Warum?<br />

Adolf will hinter der Badehose den letzten Arbeitslosen verbergen, aber<br />

Benito will herabschauen können auf den letzten Rebell. 40<br />

Folgender Witz nimmt Hitlers arrogante innenpolitische Art auf’s Korn:<br />

Chamberlain, Mussolini und Hitler <strong>stehen</strong> an <strong>ein</strong>em Teich und wollen<br />

ausprobieren, nach w<strong>es</strong>sen Methode die me<strong>ist</strong>en Fische gefangen werden<br />

können. Chamberlain beginnt. Er zündet sich <strong>ein</strong> Pfeifchen an, setzt<br />

sich gemächlich ans Ufer, wirft s<strong>ein</strong>e Angel aus – und hat nach zwei<br />

Stunden <strong>ein</strong>en Eimer voll gefangen. Nun kommt Mussolini dran. Der<br />

springt kopfüber in den Teich und greift sich <strong>ein</strong>en fetten Hecht. Hitler<br />

lächelt, streicht s<strong>ein</strong>e Locke <strong>zu</strong>rück und befiehlt, das Wasser d<strong>es</strong> Teich<strong>es</strong><br />

ab<strong>zu</strong>lassen. Zu Hunderten zappeln jetzt die Fische am Boden. Hitler<br />

steht, triumphierend um sich blickend, daneben. „Nun, so nehmen Sie<br />

doch die Fische!“ drängen Chamberlain und Mussolini. Sagt Hitler:<br />

„Erst sollen <strong>sie</strong> mich darum bitten!“ 41 Vielleicht <strong>ist</strong> <strong>es</strong> ja auch gerade die<br />

in di<strong>es</strong>er Form b<strong>es</strong>chriebene Art Hitlers, die die Ereignisse vorantreibt.<br />

Er drängelt nicht; er wartet den geeigneten Zeitpunkt ab.<br />

Wenn Hitler etwas beherrscht, dann <strong>ist</strong> <strong>es</strong> die Ausnut<strong>zu</strong>ng vorgegebener<br />

Situationen. Er hat s<strong>ein</strong>e Vorstellungen, was g<strong>es</strong>chehen soll, doch er tritt<br />

damit nicht hervor, sondern wartet Situationen ab, in denen er s<strong>ein</strong>e<br />

Vorstellungen unterbringen kann. Eine der ganz großen Visionen <strong>ist</strong> die<br />

von der Ausdehnung d<strong>es</strong> Lebensraum<strong>es</strong> d<strong>es</strong> deutschen Volk<strong>es</strong>. Er hatte<br />

das Thema ja schon in der Woche s<strong>ein</strong>er Amts<strong>ein</strong>führung fünf Jahre <strong>zu</strong>vor<br />

im Kreis der führenden Generäle der Reichswehr angerissen – und<br />

war damals auf taube Ohren g<strong>es</strong>toßen. Nach dem Fiasko d<strong>es</strong> Weltkrieg<strong>es</strong><br />

<strong>ist</strong> die übergroße Mehrheit der Deutschen vom Kriegspielen bedient. So<br />

kam <strong>es</strong> ja überhaupt <strong>zu</strong>m Ende d<strong>es</strong> Kaiserreich<strong>es</strong>. Di<strong>es</strong>en Krieg nahmen<br />

ja sehr viele Deutsche dem Kaiser bitter übel. Klug wie Hitler <strong>ist</strong> – s<strong>ein</strong><br />

Intelligenzquotient liegt deutlich über dem Durchschnitt – lässt er das<br />

Thema für Jahre ruhen; er wartet, bis sich s<strong>ein</strong>e Herrschaft hinreichend<br />

gef<strong>es</strong>tigt hat und bis <strong>ein</strong>er di<strong>es</strong>er Generäle <strong>ein</strong> Thema anreißt, bei dem<br />

er s<strong>ein</strong>e Visionen neu an den Mann bringen kann.<br />

40 Hirche, S. 94<br />

41 Hirche, S. 77<br />

18


<strong>1937</strong><br />

Die Generäle sehen die innen- und außenpolitischen Erfolge Hitlers und<br />

<strong>sie</strong> sehen die militärische Unterlegenheit d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong>. Sie wissen um die<br />

Überlegenheit der Staaten rund um das Reich und <strong>sie</strong> fürchten den Neid<br />

der dortigen Eliten. Sie haben inzwischen Erfahrungen g<strong>es</strong>ammelt mit<br />

der unkonventionellen Außenpolitik Hitlers und waren nicht nur <strong>ein</strong>mal<br />

ziemlich überrascht, dass <strong>es</strong> trotzdem in Europa immer ruhig geblieben<br />

war. Andererseits wissen <strong>sie</strong> um die Rohstoffprobleme d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> und<br />

die un<strong>zu</strong>reichende Bewaffnung der Reichswehr, die jetzt als Wehrmacht<br />

firmiert. Hier musste auf jeden Fall Abhilfe g<strong>es</strong>chaffen werden. So bittet<br />

von Blomberg, der Reichswehrmin<strong>ist</strong>er, der jetzt Kriegsmin<strong>ist</strong>er heißt,<br />

den Kanzler um <strong>ein</strong>e Zusammenkunft in di<strong>es</strong>er Angelegenheit. Zu di<strong>es</strong>er<br />

Konferenz der entscheidenden Männer kommt <strong>es</strong> am 5. November <strong>1937</strong>.<br />

Kennen Sie das ebenfalls? Wären Sie auch gerne manchmal Mäuschen?<br />

Dabei s<strong>ein</strong>, <strong>wenn</strong> etwas richtig Wichtig<strong>es</strong> pas<strong>sie</strong>rt, was aber irre geheim<br />

gehalten wird? Dort führt ja für Otto Normalverbraucher in aller Regel<br />

k<strong>ein</strong> Weg r<strong>ein</strong>. Doch Sie sollen Ihre Chance bekommen – aber nur, <strong>wenn</strong><br />

Sie <strong>es</strong> niemandem verraten! Normalerweise findet Kanzler Hitler ja die<br />

Stadt Berlin furchtbar und bevor<strong>zu</strong>gt s<strong>ein</strong> Domizil auf dem Dach s<strong>ein</strong>er<br />

Welt auf dem Obersalzberg. Wenn er aber mit den Deutschen sprechen<br />

muss, dann begibt er sich schon <strong>ein</strong>mal hinunter in die Stadt Berlin und<br />

in die Reichskanzlei. Was er den Generälen am 5. November sagen wird,<br />

weiß er genau. Er wird s<strong>ein</strong> Thema vom Lebensraum erneut vortragen.<br />

Bei di<strong>es</strong>er B<strong>es</strong>prechung anw<strong>es</strong>end sind der Kanzler Hitler, s<strong>ein</strong> Adjutant<br />

Hoßbach, Reichskriegsmin<strong>ist</strong>er von Blomberg, die Kommandeure aller<br />

Waffengattungen von Fritsch, Raeder und Göring sowie Außenmin<strong>ist</strong>er<br />

von Neurath. Im Raum sind somit <strong>sie</strong>ben Personen. Und Sie. Niemand<br />

sonst. <strong>Für</strong> die Deutschen geht in wenigen Wochen schon das fünfte Jahr<br />

der innenpolitischen Stabilität <strong>zu</strong> Ende. In di<strong>es</strong>en fünf Jahren wurde so<br />

oft vom Frieden g<strong>es</strong>prochen wie seit dem Ende d<strong>es</strong> Weltkrieg<strong>es</strong> nicht<br />

mehr. Die Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ngen auf den Straßen und in den Sälen sind<br />

längst G<strong>es</strong>chichte und die Unruh<strong>es</strong>tifter, wenige Zehntausend, was bei<br />

über 60 Millionen Einwohnern kaum auffällt, sitzen im Wald in di<strong>es</strong>en<br />

Konzentrationslagern. Mit den Jahren wird mancher auch wieder in die<br />

Freiheit entlassen und er schweigt, nicht nur, weil er soll, sondern auch,<br />

weil ihm k<strong>ein</strong>er oder fast k<strong>ein</strong>er glaubt. Di<strong>es</strong>en Effekt wird noch manch<br />

<strong>ein</strong>er in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten kennen lernen. In<br />

G<strong>es</strong>prächen, bei denen der überzeugte Nazi nicht mit in der Runde sitzt,<br />

19


<strong>1937</strong><br />

bekommt man dafür die Schlussfolgerung aus vier Jahren Dritt<strong>es</strong> Reich<br />

<strong>zu</strong> hören: Ziege und Schnecke wetten mit<strong>ein</strong>ander, wer <strong>zu</strong>erst an <strong>ein</strong>em<br />

b<strong>es</strong>timmten Punkt ankommt. Die Schnecke gewinnt natürlich. – Wi<strong>es</strong>o<br />

natürlich? – Nun, die Ziege wurde wegen Meckerei ins KZ gebracht. Die<br />

Schnecke aber blieb still und <strong>ist</strong> nur gekrochen! – Die Moral: Meckern<br />

musste nicht, kriechen musste! 42 Doch nicht jedem liegt di<strong>es</strong><strong>es</strong> dumme<br />

Klappe-Halten. Davon zeugt di<strong>es</strong>er Spruch: Lehmann, der <strong>ein</strong>e Drogerie<br />

b<strong>es</strong>itzt, trifft s<strong>ein</strong>en Freund Krause und erzählt ihm niederg<strong>es</strong>chlagen,<br />

dass ihm das G<strong>es</strong>chäft g<strong>es</strong>chlossen wurde. „Aber warum denn?“ fragt<br />

Krause. „Aus politischen Gründen.“ Krause <strong>ist</strong> überrascht: „Was denn,<br />

du und Politik? Das musst du mir erklären!“ Woraufhin Lehmann sagt:<br />

„Nun, ich habe Reklame gemacht, wie jeder G<strong>es</strong>chäftsmann, und hab’<br />

ans Fenster g<strong>es</strong>chrieben: »Heilerde <strong>zu</strong>m Essen« und drunter: »Heil-<br />

Quellen <strong>zu</strong>m Trinken«. Und da hat mir doch <strong>ein</strong><strong>es</strong> Tag<strong>es</strong> <strong>ein</strong>er drunter<br />

gemalt: »Heil Hitler <strong>zu</strong>m Kotzen!« – Na, <strong>sie</strong>hst, und da war <strong>es</strong> aus!“ 43<br />

Di<strong>es</strong>e Männer betreten am 5. November das Gebäude der Reichskanzlei<br />

und sammeln sich beim Kanzler. Hitler betont <strong>zu</strong> Beginn die Bedeutung<br />

d<strong>es</strong> Treffens und wünscht, dass die Erklärung, die er vortragen will, im<br />

Falle s<strong>ein</strong><strong>es</strong> Tod<strong>es</strong> als s<strong>ein</strong> letzter Wille und T<strong>es</strong>tament betrachtet werde.<br />

Der Reichskanzler kommt danach von den Rohstoffproblemen und der<br />

mangelhaften Ausrüstung von Wehrmacht und Luftwaffe <strong>zu</strong>m rasanten<br />

Bevölkerungswachstum infolge s<strong>ein</strong>er erfolgreichen Sozialpolitik. Langfr<strong>ist</strong>ig<br />

muss <strong>es</strong> dem<strong>zu</strong>folge darum gehen, die Ernährungsgrundlage der<br />

Deutschen <strong>zu</strong> sichern. Daraus ergibt sich <strong>ein</strong> Raumproblem. Er erörtert<br />

di<strong>es</strong>e und jene Überlegung, nur um <strong>sie</strong> im langen Monolog gleich wieder<br />

<strong>zu</strong> verwerfen. Konflikte zwischen verschiedenen europäischen Ländern<br />

werden themati<strong>sie</strong>rt, die <strong>zu</strong> Kriegen zwischen ihnen führen können. Die<br />

so ent<strong>stehen</strong>de Lage könnte man nutzen, um Österreich mit dem Reich<br />

wieder<strong>zu</strong>ver<strong>ein</strong>igen und die Tschechei <strong>zu</strong> annektieren. 44 <strong>Für</strong> Göring <strong>ist</strong><br />

das k<strong>ein</strong>e Eröffnung mehr; er weiß von Hitlers Ideen schon lange, hatte<br />

Mussolini, der eigentlich manchmal wegen Österreich lieber Krieg gegen<br />

Deutschland geführt hätte, schon im April d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> darüber berichtet.<br />

Hitler sagt, <strong>zu</strong>r Verb<strong>es</strong>serung unserer militär-politischen Lage müsse in<br />

jedem Falle <strong>ein</strong>er kriegerischen Entwicklung unser erst<strong>es</strong> Ziel s<strong>ein</strong>, die<br />

42 Hirche, S. 117<br />

43 Hirche, S. 107<br />

44 Schultze-Rhonhof, S. 435<br />

20


<strong>1937</strong><br />

Tschechei und gleichzeitig Österreich nieder<strong>zu</strong>werfen, um die Flankenbedrohung<br />

<strong>ein</strong><strong>es</strong> etwaigen Vorgehens nach dem W<strong>es</strong>ten aus<strong>zu</strong>schalten.<br />

Er führt auch aus, die Angliederung der beiden Staaten an Deutschland<br />

bedeute militär-politisch <strong>ein</strong>e w<strong>es</strong>entliche Entlastung infolge kürzerer,<br />

b<strong>es</strong>serer Grenzziehung, durch das Freiwerden von Streitkräften für andere<br />

Zwecke und durch die dann mögliche Neuaufstellung von Truppen<br />

bis in Höhe von etwa 12 Divisionen. 45 Dabei schielt er vor allem auf die<br />

modernen tschechischen Panzer und die High-tech Flugzeuge, die man<br />

in der Sowjetunion gekauft hatte.<br />

Ja, Göring wusste davon; der Kern der Naziführung hat <strong>es</strong> gewusst. Die<br />

führenden Militärs erfahren am 5. November <strong>1937</strong> von di<strong>es</strong>en Plänen. In<br />

Deutschland <strong>ist</strong> sich manch <strong>ein</strong>er aber gar nicht so sicher, ob die Leute<br />

in Österreich tatsächlich mit Deutschland ver<strong>ein</strong>igt werden wollen. Von<br />

da rührt das geflügelte Wort her: Der Hitler-Staat hat drei Hauptstädte.<br />

Berlin: die Hauptstadt d<strong>es</strong> Dritten Reich<strong>es</strong>, München: die Hauptstadt<br />

der Bewegung, Wien: die Hauptstadt der Opposition. 46 Wer sich di<strong>es</strong>en<br />

Spruch ausgedacht hat, ahnt nicht, dass viele Österreicher neidisch den<br />

wirtschaftlichen Aufschwung betrachten und ihn ebenfalls wollen.<br />

Hitler erklärt, das Problem d<strong>es</strong> deutschen Lebensraum<strong>es</strong> sollte bis 1943<br />

oder höchstens 1945 gelöst s<strong>ein</strong> und k<strong>ein</strong><strong>es</strong>wegs später. Jetzt will er abwarten,<br />

wie sich die sozialen Spannungen in Frankreich entwickeln und<br />

ob <strong>es</strong> <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em bewaffneten Konflikt zwischen Italien und Frankreich<br />

kommt, in den sich England gewiss <strong>ein</strong>schalten wird. Sind di<strong>es</strong>e Länder<br />

mit sich b<strong>es</strong>chäftigt, so bleibt das Risiko für Deutschland überschaubar.<br />

Führt dann <strong>ein</strong> solcher von ihm erwarteter Krieg in W<strong>es</strong>teuropa wegen<br />

der gegenseitigen Gebietsforderungen <strong>zu</strong>r Mobilmachung di<strong>es</strong>er Länder,<br />

so will er „di<strong>es</strong>e sich nur <strong>ein</strong>mal bietende Gelegenheit für <strong>ein</strong>en Feld<strong>zu</strong>g<br />

gegen die Tschechei nutzen“ 47 . Sollten sich andere Staaten natürlich aus<br />

<strong>ein</strong>em Krieg der Mittelmeerländer heraushalten, will er das auch tun. Er<br />

rechnet bei <strong>ein</strong>er Annexion Österreichs und der Tschechei mit dem Zugewinn<br />

an Nahrungsmitteln für fünf bis sechs Millionen Menschen, die<br />

45 Der Nürnberger Proz<strong>es</strong>s II, S. 489<br />

46 Hirche, S. 87<br />

47 Schultze-Rhonhof, S. 329<br />

21


<strong>1937</strong><br />

„zwangsweise Emigration“ von zwei Millionen aus der Tschechei sowie<br />

<strong>ein</strong>er Million aus Österreich vorausg<strong>es</strong>etzt. 48<br />

Wenn <strong>es</strong> <strong>ein</strong> Wort gibt, das die Reden d<strong>es</strong> Kanzlers charakteri<strong>sie</strong>rt, dann<br />

heißt <strong>es</strong> ausufernd. Er redet s<strong>ein</strong>e G<strong>es</strong>prächspartner an die Wand, <strong>ein</strong>e<br />

Regel, <strong>zu</strong> der <strong>es</strong> nur wenige Ausnahmen gibt, weil <strong>es</strong> nur wenige wagen,<br />

ihm Paroli <strong>zu</strong> bieten und da er <strong>es</strong> auch nur wenigen g<strong>es</strong>tattet. Als er über<br />

die Ösis und die Tschechen spricht, erläutert er erneut die Gedanken aus<br />

s<strong>ein</strong>em Werk M<strong>ein</strong> Kampf. Es handele sich nicht um die Gewinnung von<br />

Menschen, sondern von landwirtschaftlich nutzbarem Raum. Auch die<br />

Rohstoffgebiete seien zweckmäßig im unmittelbaren Anschluss an das<br />

Reich in Europa und nicht in Übersee <strong>zu</strong> suchen, wobei die Lösung sich<br />

für <strong>ein</strong> bis zwei Generationen auswirken müsse. Der Kanzler breitet die<br />

alte Weisheit vor ihnen aus, die G<strong>es</strong>chichte aller Zeiten vom römischen<br />

Weltreich bis <strong>zu</strong>m englischen Empire habe deutlich bewi<strong>es</strong>en, dass jede<br />

Raumerweiterung nur durch Brechen von Widerstand und unter Risiko<br />

vor sich gehen könne. Auch Rückschläge seien unvermeidbar. Weder<br />

früher noch heute habe <strong>es</strong> herrenlosen Raum gegeben, jeder Angreifer<br />

stoße stets auf den B<strong>es</strong>itzer. 49 Man muss sicher auch sehen, dass <strong>es</strong> noch<br />

immer gang und gäbe <strong>ist</strong>, Grenzziehungen in Frage <strong>zu</strong> stellen. Vielleicht<br />

wird das 1957 oder 1977 <strong>ein</strong>mal anders s<strong>ein</strong>, aber vielleicht ja auch nicht.<br />

Heut<strong>zu</strong>tage stellt England Forderungen an Irland, Spanien an Italien,<br />

Italien an Frankreich, Polen und auch Ungarn an die Tschechoslowakei,<br />

Litauen und Russland an Polen und Norwegen an Dänemark. 50<br />

Der Redner <strong>ist</strong> sich ganz sicher, dass sich Polen, mit dem Er durch den<br />

Vertrag von 1934 verbündet <strong>ist</strong>, bei <strong>ein</strong>em Krieg d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> mit <strong>ein</strong>em<br />

dritten Staat neutral verhalten wird. Übrigens schließt Hitler noch am<br />

selben Tage mit Polen <strong>ein</strong> neu<strong>es</strong> Minderheitenschutzabkommen. 51 Was<br />

andererseits England und Frankreich angeht, so <strong>sie</strong>ht er <strong>ein</strong>en Krieg mit<br />

di<strong>es</strong>en beiden Mächten in den Jahren nach 1943 voraus. 52 Was denken<br />

die anw<strong>es</strong>enden Herren? In den nächsten sechs Jahren fließt noch sehr<br />

viel Wasser den Rh<strong>ein</strong> hinunter? Um Wirtschaft und Finanzen sollte er<br />

48 Schultze-Rhonhof, S. 329<br />

49 Der Nürnberger Proz<strong>es</strong>s II, S. 408<br />

50 Schultze-Rhonhof, S. 329<br />

51 Schultze-Rhonhof, S. 435<br />

52 Schultze-Rhonhof, S. 436<br />

22


<strong>1937</strong><br />

sich jetzt erst <strong>ein</strong>mal vorrangig kümmern, damit <strong>es</strong> ihn in sechs Jahren<br />

überhaupt noch gibt? Einer der vielen Offiziere, die das Drama, das sich<br />

dann in der Reichskanzlei abspielt, nicht erleben, <strong>ist</strong> R<strong>ein</strong>hard Gehlen*.<br />

Doch <strong>es</strong> passt hierher, dass er aufschnappt, wie der deutsche Diplomat<br />

Hasso von Etzdorf* <strong>ein</strong><strong>es</strong> Tag<strong>es</strong> in Anspielung auf den Titel d<strong>es</strong> Buch<strong>es</strong><br />

Die Welt als Wille und Vorstellung d<strong>es</strong> Denkers Arthur Schopenhauer<br />

die völlig wirklichkeitsfremde Denkweise Adolf Hitlers auf den bitteren<br />

Nenner bringt: Die Welt als Wille ohne Vorstellung. 53<br />

Natürlich und selbstverständlich bekäme Hitler Hiebe, <strong>wenn</strong> die Leute<br />

auf der Straße erführen, dass der Kanzler der Herzen <strong>ein</strong> Raumproblem<br />

entdeckt hat, das er mit militärischen Mitteln <strong>zu</strong> lösen gedenkt – ob nun<br />

in sechs oder in zwölf Jahren. Aber wie <strong>sie</strong>ht <strong>es</strong> mit den sechs Deutschen<br />

aus, die den Ausführungen d<strong>es</strong> Führers geduldig <strong>zu</strong>hören mussten? Sind<br />

Sie gefügig? N<strong>ein</strong> und nochmals n<strong>ein</strong>! Sie tragen als Soldaten an herausgehobener<br />

Stelle Verantwortung für das Wohlergehen d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong>. Von<br />

den <strong>sie</strong>ben Herren im Raum sind drei di<strong>es</strong><strong>es</strong> Regime persönlich: Hitler,<br />

Göring und Hoßbach. Der Letztere hat gar nichts <strong>zu</strong> melden; er <strong>ist</strong> der<br />

Adjutant. Hitler wird sich nicht widersprechen, und Göring tut <strong>es</strong> nicht.<br />

Von den r<strong>es</strong>tlichen vier Männern widersprechen drei. Der Reichskriegsmin<strong>ist</strong>er<br />

und Oberbefehlshaber der Deutschen Wehrmacht Werner von<br />

Blomberg trägt militärtechnische Einwände vor genau wie der Oberbefehlshabers<br />

d<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong> Generaloberst Freiherr von Fritsch. Gewiss sind<br />

<strong>sie</strong> als Soldaten k<strong>ein</strong><strong>es</strong>wegs der Frieden persönlich, aber <strong>sie</strong> schweigen<br />

nicht, als der bisher so friedliche Kanzler Gedankenspiele offenbart, die<br />

den B<strong>es</strong>tand d<strong>es</strong> Reich<strong>es</strong> an sich gefährden. Und der dritte Mann in der<br />

Runde? Außenmin<strong>ist</strong>er Konstantin von Neurath hat den Eindruck, dass<br />

„die G<strong>es</strong>amttendenz s<strong>ein</strong>er Pläne aggr<strong>es</strong>siver Natur“ <strong>ist</strong>, und reicht beim<br />

Kanzler s<strong>ein</strong>e Bitte um den Rücktritt <strong>ein</strong>. 54 Doch unser Kanzler lässt ihn<br />

zappeln. Ein wenig muss er noch bleiben. Wenige Tage später li<strong>es</strong>t der<br />

Generalstabschef d<strong>es</strong> Heer<strong>es</strong>, der General der Artillerie Ludwig Beck die<br />

Notizen, die Hitlers Adjutant Hoßbach von der B<strong>es</strong>prechung angefertigt<br />

hat und verfasst drei Denkschriften gegen <strong>ein</strong>e riskante Außenpolitik an<br />

den Kanzler. Beck wird s<strong>ein</strong><strong>es</strong> Postens als Generalstabschef entbunden,<br />

als er versucht, noch mehr Generäle gegen Hitler auf<strong>zu</strong>bringen. 55 Sieben<br />

53 R<strong>ein</strong>hard Gehlen, Der Dienst, S. 120<br />

54 Schultze-Rhonhof, S. 326<br />

55 Schultze-Rhonhof, S. 330<br />

23


<strong>1937</strong><br />

Generäle entschließen sich <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er Verschwörung 56 und hätten Mütter<br />

von den Visionen ihr<strong>es</strong> Schwarms erfahren, hätten <strong>sie</strong> sich entschlossen,<br />

ihn mit dem Schöpflöffel grün und blau <strong>zu</strong> schlagen. Doch das weiß ihr<br />

Führer <strong>zu</strong> verhindern.<br />

Ereignisreich <strong>ist</strong> der 8. November ’37. In München wird die Ausstellung<br />

„Der ewige Jude“ durch Reichspropagandamin<strong>ist</strong>er Dr. Joseph Goebbels<br />

und Bayerns Gauleiter Julius Streicher eröffnet, die in den nächsten Monaten<br />

durch unsere Großstädte tingeln wird. Der Völkische Beobachter<br />

notiert: „Julius Streicher, der verdiente Vorkämpfer gegen die jüdische<br />

Weltp<strong>es</strong>t, war, wie kaum <strong>ein</strong> zweiter, berufen, Sinn und Bedeutung di<strong>es</strong>er<br />

Schau <strong>zu</strong> umreißen.“ 57 Vielleicht <strong>ist</strong> ihm ja <strong>ein</strong>fach nicht aufgefallen,<br />

dass wir seit fünf Jahren dabei sind, im Rahmen der Hetze gegen Juden<br />

Wissenschaftler und Künstler von Weltklasse ins Ausland <strong>zu</strong> schicken?<br />

Seit 1933 haben wir auch k<strong>ein</strong>en Nobelpre<strong>ist</strong>räger mehr und <strong>wenn</strong> man<br />

sich an<strong>sie</strong>ht, wie Babelsberg <strong>ein</strong>en Künstler nach dem anderen verliert,<br />

tut <strong>ein</strong>em der Bauch weh. Viele von ihnen gehen in die USA. Man kann<br />

nur hoffen, dass das ferne Hollywood dem großen Babelsberg nicht sehr<br />

bald den Rang abläuft bei der Produktion von Filmen der Sonderklasse.<br />

Wenn wir als Großmacht auftreten wollen, müssten wir di<strong>es</strong>e Leute hier<br />

hegen und pflegen anstatt <strong>sie</strong> <strong>zu</strong> verscheuchen. Können wir uns k<strong>ein</strong>er<br />

sinnvolleren Obs<strong>es</strong>sion als dem Judenhass widmen? Wie dusselig sind<br />

wir denn nur? In Berlin eröffnet der Gaupropagandaleiter Pg. Wächter<br />

noch so <strong>ein</strong>e wegweisende Ausstellung; <strong>sie</strong> heißt „Bolschewismus ohne<br />

Maske“. Ach ja, der Pg. Wächter. Der Nazi als solcher tendiert ja da<strong>zu</strong>,<br />

die herrliche Sprache Goeth<strong>es</strong> und Schillers mit tausenden Abkür<strong>zu</strong>ngen<br />

jämmerlich <strong>zu</strong> verhunzen – schafft damit aber auch viel Freiraum für<br />

die Interpretation. So kommen die Leute auf der Straße auf die wild<strong>es</strong>ten<br />

Einfälle. Aus Pg. wird nicht nur Partei-Gegner, sondern auch Partei-<br />

Genießer, Posten gefunden oder Prima Großmutter 58 in Anspielung auf<br />

die heute zwingend erforderliche arische Frau im Stammbaum, will <strong>ein</strong>e<br />

Familie für deutsch gehalten werden. Und noch etwas ereignet sich am<br />

8. November. Min<strong>ist</strong>erpräsident Generaloberst Göring fährt extra nach<br />

Braunschweig, wo er s<strong>ein</strong>em Hobby fröhnt und an der Reichs-Hubertus-<br />

Feier bei den Jägern teilnimmt, sowie <strong>ein</strong>en Adolf-Hitler-Platz <strong>ein</strong>weiht.<br />

56 Schultze-Rhonhof, S. 354<br />

57 Völkischer Beobachter, 9. November <strong>1937</strong>, S. 2<br />

58 Hirche, S. 123<br />

24


<strong>1937</strong><br />

Vor der Rede von Pg. Wächter hält „der Leiter der fasch<strong>ist</strong>ischen Kulturpropaganda<br />

im Ausland, General der Miliz Melchiori, <strong>ein</strong>e zündende<br />

Rede, in der er das Gem<strong>ein</strong>same d<strong>es</strong> nationalsozial<strong>ist</strong>ischen und fasch<strong>ist</strong>ischen<br />

Kampf<strong>es</strong> gegen die rote Weltp<strong>es</strong>t“ 59 hervorhebt.<br />

Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, legt am<br />

10. November s<strong>ein</strong>en Vorschlag für die Politik gegenüber London vor.<br />

Er hielt dort f<strong>es</strong>t: „Wir wollen von England Kolonien und Aktionsfreiheit<br />

im Osten, England wünscht von uns militärisch<strong>es</strong> Stillhalten, namentlich<br />

im W<strong>es</strong>ten . . . Das englische Ruhebedürfnis <strong>ist</strong> groß. Es lohnt sich<br />

f<strong>es</strong>t<strong>zu</strong>stellen, was England für s<strong>ein</strong>e Ruhe zahlen will.“ 60 In Sizilien <strong>ist</strong><br />

der Gedanke von der Schutzgelderpr<strong>es</strong>sung her bekannt. Hitler sammelt<br />

Ratschläge und M<strong>ein</strong>ungen für s<strong>ein</strong>e Begegnung mit Halifax, der für den<br />

britischen Premier die Beziehungen mit Berlin verb<strong>es</strong>sern soll. Der Lord<br />

bereitet sich unterd<strong>es</strong>sen in London auf s<strong>ein</strong>en Gedankenaustausch mit<br />

Hitler auf dem Obersalzberg vor. Er und s<strong>ein</strong>e politischen Freunde sind<br />

der Auffassung, dass <strong>sie</strong> auf <strong>ein</strong>e Drei-Blöcke-Welt hinarbeiten sollten.<br />

Sie wollen England mit den USA ver<strong>ein</strong>igen (vielleicht mit <strong>ein</strong>er etwas<br />

längeren Brücke über den Ozean). Das wird dann ihr Atlantischer Block.<br />

In Osteuropa und in A<strong>sie</strong>n sehen <strong>sie</strong> die Sowjetunion und dazwischen<br />

denken <strong>sie</strong> sich das Deutsche Reich. „Man glaubte, dass di<strong>es</strong><strong>es</strong> System<br />

Deutschland (nach der Einverleibung Europas) zwingen könnte, Frieden<br />

<strong>zu</strong> halten, weil <strong>es</strong> zwischen dem atlantischen Block und der Sowjetunion<br />

<strong>ein</strong>gezwängt wäre, während die Sowjetunion <strong>zu</strong>m Frieden gezwungen<br />

werden könnte, weil <strong>sie</strong> zwischen Japan und Deutschland <strong>ein</strong>gezwängt<br />

wäre. Di<strong>es</strong>er Plan konnte nur dann gelingen, <strong>wenn</strong> man <strong>es</strong> schaffte,<br />

Deutschland und die Sowjetunion mit<strong>ein</strong>ander in Kontakt <strong>zu</strong> bringen,<br />

indem Österreich, die Tschechoslowakei und der polnische Korridor<br />

Deutschland geopfert wurden. Das wurde vom Frühjahr <strong>1937</strong> bis Ende<br />

1939 (oder sogar Anfang 1940) das Ziel sowohl der Antibolschewiken als<br />

auch der Drei-Blöcke-Leute.“ 61 Arthur Neville Chamberlain, der erst am<br />

28. Mai <strong>1937</strong> Premiermin<strong>ist</strong>er geworden war, hatte bereits in London<br />

deutschen Diplomaten versprochen: „Gebt uns befriedigende Zusagen,<br />

dass ihr gegenüber Österreich und der Tschechoslowakei k<strong>ein</strong>e Gewalt<br />

gebrauchen werdet, und wir werden euch versichern, jede Veränderung,<br />

59 Ebd., S. 2<br />

60 Falin, S. 44<br />

61 Quigley, S. 38<br />

25


<strong>1937</strong><br />

die ihr haben möchtet, nicht mit Gewalt <strong>zu</strong> verhindern, <strong>wenn</strong> ihr <strong>sie</strong> mit<br />

friedlichen Mitteln erhaltet.“ 62<br />

Die Londoner Politik <strong>ist</strong> etwas für Genießer und nichts für Leute mit den<br />

schwachen Nerven. Wenn Sie logisch denken, <strong>ist</strong> das für Sie auch nichts.<br />

Die Eliten in Großbritannien haben Angst vor <strong>ein</strong>em Krieg, den Sowjets<br />

oder Deutsche auslösen könnten. Sie sollen d<strong>es</strong>halb <strong>ein</strong>gezwängt und<br />

<strong>zu</strong>m Frieden gezwungen werden. Dafür wird ihnen Europa <strong>zu</strong>m Fraß<br />

vorgeworfen – und all<strong>es</strong> nur, damit <strong>sie</strong> <strong>ein</strong>ander näher kommen, was<br />

schließlich <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em Krieg führen soll. Anders sprach Hitler auch nicht.<br />

Würde so <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>facher Brite, <strong>ein</strong> Franzose oder gar <strong>ein</strong> Tscheche oder<br />

Pole erfahren, was sich die Londoner ausgedacht haben, er würde sich<br />

jetzt da<strong>zu</strong> entschließen, <strong>sie</strong> unsanft aus dem Amt <strong>zu</strong> treiben und die entsprechenden<br />

Franzosen ebenfalls. Anfang d<strong>es</strong> Monats hatte <strong>es</strong> nämlich<br />

Konsultationen zwischen London und Paris gegeben, bei denen sich die<br />

Chefetagen der zwei Großmächte <strong>ein</strong>ig wurden, „die Tschechoslowakei<br />

ab<strong>zu</strong>treten, <strong>wenn</strong> die Annexion d<strong>es</strong> Sudetenland<strong>es</strong> ohne groß<strong>es</strong> Aufsehen<br />

vor sich ginge“ 63 , wobei di<strong>es</strong>er Gentleman natürlich nur m<strong>ein</strong>t, dass<br />

<strong>es</strong> ohne Aufsehen in Großbritannien und Frankreich vor sich gehen soll.<br />

Sterbt leise, aber sterbt. Die Londoner Außenpolitik <strong>ist</strong> schon heftig. Sie<br />

holen sich den Segen von Paris für ihre ego<strong>ist</strong>ische Außenpolitik und <strong>sie</strong><br />

sehen die Französische Republik schon als <strong>ein</strong>e w<strong>es</strong>tliche Provinz ihr<strong>es</strong><br />

mittleren Block<strong>es</strong>, <strong>wenn</strong> man den Globus von London aus betrachtet.<br />

Zur Sache geht <strong>es</strong> am 19. November <strong>1937</strong>. Auch Hermann Göring, der<br />

ebenfalls Kontakte nach England unterhält, wird hin<strong>zu</strong>gezogen. Weil wir<br />

sehr verg<strong>es</strong>slich sind, können wir jetzt ohne Scheu verg<strong>es</strong>sen, was unser<br />

Kanzler am Freitag vor zwei Wochen <strong>zu</strong> führenden deutschen Militärs in<br />

Berlin g<strong>es</strong>agt hatte. Schwupp, verg<strong>es</strong>sen. Jetzt erleben wir <strong>ein</strong>en frischen<br />

Kanzler, den Staatsmann von Format. Der edle Gast Lord Halifax stattet<br />

ihm <strong>ein</strong>en B<strong>es</strong>uch ab. Später berichtet Hans Speidel*: „In der Öffentlichkeit<br />

dagegen, vor dem Reichstag wie gegenüber Halifax betonte Hitler<br />

b<strong>es</strong>chwichtigend, dass die Politik der Überraschungen <strong>zu</strong>gunsten <strong>ein</strong>er<br />

Entspannungs- und Friedenspolitik aufgegeben würde. Damals waren<br />

die mittlere und untere Führung sowie die Truppe in tiefer Überzeugung<br />

62 Falin, S. 503<br />

63Falin, S. 54<br />

26


<strong>1937</strong><br />

defensiv <strong>ein</strong>g<strong>es</strong>tellt. Der Bau d<strong>es</strong> W<strong>es</strong>twalls schien nur der Verteidigung<br />

<strong>zu</strong> dienen, und auch die Einsatzübungen der Truppe im vorg<strong>es</strong>ehenen<br />

Mobilmachungsabschnitt zwischen der Weißenburger Senke und dem<br />

Rh<strong>ein</strong> ließen k<strong>ein</strong>e offensiven Absichten erkennen.“ 64<br />

Lord Halifax betont <strong>ein</strong>gangs, dass er die Gelegenheit begrüßt, durch die<br />

persönliche Aussprache mit dem Führer jetzt <strong>ein</strong> b<strong>es</strong>ser<strong>es</strong> Verständnis<br />

zwischen England und Deutschland herbeiführen <strong>zu</strong> können. Di<strong>es</strong> wäre<br />

nicht nur für unsere beiden Länder, sondern für die ganze europäische<br />

Zivilisation von größter Wichtigkeit. Vor der Abreise aus England habe<br />

er mit dem Premiermin<strong>ist</strong>er Chamberlain und dem Außenmin<strong>ist</strong>er Eden<br />

über den B<strong>es</strong>uch auf dem Obersalzberg g<strong>es</strong>prochen, und <strong>sie</strong> seien sich in<br />

der Zielset<strong>zu</strong>ng absolut <strong>ein</strong>ig gew<strong>es</strong>en. 65 London erkennt die großen Verdienste,<br />

die sich der Führer beim Wiederaufbau Deutschlands erworben<br />

habe, voll und ganz an, und <strong>wenn</strong> die englische öffentliche M<strong>ein</strong>ung <strong>zu</strong><br />

gewissen deutschen Problemen gelegentlich <strong>ein</strong>e kritische Stellung <strong>ein</strong>nehme,<br />

so liege di<strong>es</strong> <strong>zu</strong>m Teil daran, dass man in England nicht so ganz<br />

vollständig über die Beweggründe und die Umstände gewisser deutscher<br />

Maßnahmen unterrichtet sei. Die englische Kirche, sagt Halifax, verfolgt<br />

die Entwicklung der Kirchenfrage in Deutschland beispielsweise „voller<br />

B<strong>es</strong>orgnis und Unruhe“ 66 . Ebenso stünden Kreise der Arbeiterpartei gewissen<br />

Dingen in Deutschland kritisch gegenüber. (Er nicht.) Das heißt<br />

später in den Medien, man hat auch die Menschenrechte ang<strong>es</strong>prochen.<br />

Halifax kommt dann auf die anderen Partner in Europa <strong>zu</strong> sprechen. Er<br />

findet, sobald England und Deutschland auf dem Weg der Annäherung<br />

sind, sollen Frankreich und Italien <strong>ein</strong>bezogen werden, damit <strong>sie</strong> nicht<br />

den Eindruck bekommen, di<strong>es</strong>e Entwicklung richte sich vielleicht gegen<br />

<strong>sie</strong>. Weder die Achse Berlin-Rom noch das gute Verhältnis zwischen<br />

London und Paris dürften darunter leiden. 67<br />

Kanzler Hitler wünscht, dass Deutschland „nicht mehr das moralische<br />

oder materielle Stigma d<strong>es</strong> Versailler Vertrag<strong>es</strong>“ 68 an sich tragen dürfe.<br />

Als logische Konsequenz dürfe man Deutschland dann nicht mehr „die<br />

64 Speidel, S. 75<br />

65 Dokumente und Materialien aus der Vorg<strong>es</strong>chichte d<strong>es</strong> II. Weltkrieg<strong>es</strong> I, S. 12<br />

66 Ebd., S. 17<br />

67 Dokumente I, S. 18<br />

68 Ebd., S. 19f.<br />

27


<strong>1937</strong><br />

Aktivitäts-Legitimation <strong>ein</strong>er Großmacht“ 69 verweigern. Er bezeichnet <strong>es</strong><br />

als „Aufgabe <strong>ein</strong>er überlegenen Staatskunst, sich mit di<strong>es</strong>er Wirklichkeit<br />

ab<strong>zu</strong>finden, <strong>wenn</strong> <strong>sie</strong> vielleicht auch gewisse unangenehme Seiten mit<br />

sich brächte“ 70 . London und Paris sollten sich jetzt damit abfinden, dass<br />

Deutschland „in den letzten 50 Jahren <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er Realität geworden“ 71 sei.<br />

Anstelle d<strong>es</strong> Spiels der freien Kräfte müsse „höhere Vernunft“ 72 walten,<br />

„wobei man sich allerdings darüber klar s<strong>ein</strong> müsse, dass di<strong>es</strong>e höhere<br />

Vernunft ungefähr <strong>zu</strong> ähnlichen Ergebnissen führen müsse, wie <strong>sie</strong> sich<br />

bei den Auswirkungen der freien Kräfte ergeben hätten.“ 73 Selbst <strong>wenn</strong><br />

man di<strong>es</strong>e Worte wohlwollend auslegt, kann das nur heißen, militärisch<br />

schwächere Länder sollten sich den Deutschen freiwillig und an <strong>ein</strong>em<br />

Verhandlungstisch ergeben. Der Reichskanzler sagt, er frage sich „in den<br />

letzten Jahren oft, ob die heutige Menschheit intelligent genug wäre, das<br />

Spiel der freien Kräfte durch die Methode der höheren Vernunft <strong>zu</strong> ersetzen.“<br />

74 Das war s<strong>ein</strong>e Vorstellung von der Verhinderung <strong>ein</strong><strong>es</strong> neuen<br />

Weltkrieg<strong>es</strong>. Man müsse sich bei den Opfern, die die Vernunft-Methode<br />

sicherlich hier und dort fordere, vergegenwärtigen, welche großen Opfer<br />

ent<strong>stehen</strong> würden, <strong>wenn</strong> man <strong>zu</strong> der alten Methode d<strong>es</strong> freien Spiels der<br />

Kräfte <strong>zu</strong>rückkehrte. Man würde „dann f<strong>es</strong>tstellen, dass man im ersteren<br />

Falle billiger weg käme“ 75 , so der Führer und Reichskanzler wörtlich.<br />

Halifax betont, dass man Deutschland in England „als <strong>ein</strong> groß<strong>es</strong> und<br />

souverän<strong>es</strong> Land“ 76 achtet und dass auch nur auf di<strong>es</strong>er Grundlage mit<br />

ihm verhandelt werden soll. Die Engländer seien <strong>ein</strong> Volk der Realitäten<br />

und seien „vielleicht mehr als andere davon überzeugt, dass die Fehler<br />

d<strong>es</strong> Versailler Diktats richtig g<strong>es</strong>tellt werden“ müssen, oder wie <strong>es</strong> in den<br />

englischen Aufzeichnungen heißt, „that m<strong>ist</strong>ak<strong>es</strong> had been made in the<br />

Treaty of Versaill<strong>es</strong> which had to be put right“ 77 . Lord Halifax we<strong>ist</strong> auf<br />

Englands Rolle bei der vorzeitigen Rh<strong>ein</strong>landräumung, bei der Lösung<br />

69 Ebd., S. 20<br />

70 Ebd., S. 20<br />

71 Ebd., S. 20<br />

72 Ebd., S. 21<br />

73 Ebd., S. 21<br />

74 Ebd., S. 21<br />

75 Ebd., S. 22<br />

76 Dokumente I, S. 23<br />

77 Ebd., S. 23<br />

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<strong>1937</strong><br />

der Reparationsfrage sowie bei der Wiederb<strong>es</strong>et<strong>zu</strong>ng d<strong>es</strong> Rh<strong>ein</strong>land<strong>es</strong><br />

durch die Deutsche Wehrmacht hin. 78<br />

Der Reichskanzler erwidert, er habe leider die Empfindung, dass zwar<br />

der Wille vorhanden sei, sich in der vernünftigen Richtung <strong>zu</strong> betätigen,<br />

dass jedoch b<strong>es</strong>onders in den demokratischen Ländern vernünftigen Lösungen<br />

große Schwierigkeiten bereitet würden, weil politische Parteien<br />

dort die Möglichkeit hätten, ausschlaggebend auf die Handlungen der<br />

Regierung Einfluss <strong>zu</strong> nehmen. Er selbst habe in den Jahren 1933 und<br />

1934 <strong>ein</strong>e Anzahl praktischer Vorschläge <strong>zu</strong>r Rüstungsbegren<strong>zu</strong>ng gemacht,<br />

deren Annahme Europa und der Welt viel Geld erspart hätten.<br />

Di<strong>es</strong>e Vorschläge seien „der Reihe nach abgelehnt“ 79 worden. Er verwi<strong>es</strong><br />

auf die Angebote <strong>ein</strong>er 200.000 oder 300.000 Mann-Armee und der<br />

Begren<strong>zu</strong>ng der Luftrüstungen. Nur das Flottenabkommen sei von allen<br />

s<strong>ein</strong>en Bemühungen übrig geblieben. Adolf Hitler verwe<strong>ist</strong> auf das gute<br />

Verhältnis, das er „trotz der schwierigen Vergangenheit mit Polen herg<strong>es</strong>tellt“<br />

80 hat. In di<strong>es</strong>em Zusammenhang spricht er auch den „Raub d<strong>es</strong><br />

Memelgebiets durch Litauen im Jahr 1923 und die spätere Behandlung<br />

deutscher Prot<strong>es</strong>te in di<strong>es</strong>er Frage“ 81 an. Wo er Recht hat, hat er Recht.<br />

Er erklärt sich die Ablehnung aller s<strong>ein</strong>er Vorschläge damit, dass er im<br />

Ausland „als das schwarze Schaf ang<strong>es</strong>ehen“ 82 werde, und die Tatsache,<br />

dass <strong>ein</strong> Vorschlag von ihm stamme, habe genügt, um ihn ab<strong>zu</strong>lehnen.<br />

Da hat Halifax so nett mit ihm g<strong>es</strong>prochen und unser Führer reagiert so<br />

undankbar. Der Lord verliert die Contenance und sagt, <strong>wenn</strong> der Führer<br />

wirklich der Ansicht sei, <strong>es</strong> könnte k<strong>ein</strong> Fortschritt auf dem Wege der<br />

Verständigung gemacht werden, solange England noch <strong>ein</strong>e Demokratie<br />

<strong>ist</strong>, dann sei <strong>ein</strong>e weitere Unterhaltung eigentlich überflüssig. S<strong>ein</strong> Land<br />

werde s<strong>ein</strong>e gegenwärtige Regierungsform so bald nicht ändern. Es <strong>ist</strong><br />

vielleicht <strong>ein</strong>e gute Idee, in die englische Mitschrift r<strong>ein</strong><strong>zu</strong>l<strong>es</strong>en, um <strong>ein</strong><br />

Gefühl für den jetzt ang<strong>es</strong>chlagenen Ton <strong>zu</strong> bekommen: „Lord Halifax<br />

replied that, if the chancellor was really of that opinion, it was clear that<br />

he had wasted his time in coming to Bercht<strong>es</strong>gaden and the Chancellor<br />

78 Ebd., S. 23<br />

79 Ebd., S. 25<br />

80 Ebd., S. 26<br />

81 Ebd., S. 26<br />

82 Ebd. S. 26f.<br />

29


<strong>1937</strong><br />

had wasted his time in receiving him. For if the Chancellor’s premis<strong>es</strong><br />

were correct, it followed that no advance could be made on the road to<br />

understanding, and that, so long as England was a democracy, further<br />

conversation could serve no useful purpose.“ 83<br />

Das Flottenabkommen <strong>zu</strong>m Beispiel sei gegen den Willen der Mehrheit<br />

der regierenden Partei unterschrieben worden. Der Brite <strong>ist</strong> jetzt richtig<br />

in Fahrt. D<strong>es</strong> Kanzlers Vorschläge seien abgelehnt worden, weil <strong>ein</strong>ige<br />

Länder mit ansehen mussten, „wie Deutschland sich über vertragliche<br />

Verpflichtungen hinwegsetzte aus Gründen, die vielleicht Deutschland<br />

selbst überzeugend ersch<strong>ein</strong>en, andere Länder aber wenig überzeugt“ 84<br />

haben. Die Abrüstung müsse der Sicherheit folgen und nicht umgekehrt.<br />

Darauf m<strong>ein</strong>t der Kanzler, er sei von dem Lord falsch worden. Er m<strong>ein</strong>te<br />

doch Frankreich und nicht England, und für Frankreich seien die gerade<br />

gemachten Bemerkungen „wohl hundertprozentig <strong>zu</strong>treffend“ 85 . Streng<br />

genommen fehlt jetzt nur noch, dass <strong>ein</strong>er handgreiflich wird. Da dürfen<br />

Sie nicht lachen, der Junge vom Lande <strong>ist</strong> jähzornig, und in Berlin sind<br />

s<strong>ein</strong>e Tobsuchtsanfälle gefürchtet.<br />

Nach der Mittagspause kommt Lord Halifax noch <strong>ein</strong>mal auf <strong>ein</strong>e Fortführung<br />

der deutsch-englischen Fühlungnahme <strong>zu</strong> sprechen und schlägt<br />

erneut direkte Verhandlungen zwischen Regierungsvertretern vor, die<br />

„nicht nur sachlich begrüßenswert“ seien, <strong>sie</strong> „würden auch <strong>ein</strong>en guten<br />

Eindruck auf die öffentliche M<strong>ein</strong>ung machen“ 86 . Dann könne man die<br />

Kolonialfrage <strong>zu</strong>m Beispiel ins G<strong>es</strong>präch bringen. Der Kanzler spricht in<br />

der Folge die Rolle der Medien in England an, die er als verhängnisvoll<br />

bezeichnet und führt aus, dass neun Zehntel aller Spannung „<strong>ein</strong>zig und<br />

all<strong>ein</strong> von ihr hervorgerufen“ 87 würden. Dabei kann er darauf verweisen,<br />

dass die britische Pr<strong>es</strong>se aus den deutschen Schiffen, die Francos Armee<br />

von Marokko nach Südspanien brachten, die B<strong>es</strong>et<strong>zu</strong>ng Marokkos durch<br />

das Deutsche Reich gemacht haben. Eine direkte Vorausset<strong>zu</strong>ng für die<br />

Beruhigung der Verhältnisse wäre also die Zusammenarbeit der Völker,<br />

83 Dokumente I, S. 29<br />

84 Ebd., S. 30<br />

85 Ebd., S. 32<br />

86 Ebd., S. 43<br />

87 Ebd., S. 45<br />

30


<strong>1937</strong><br />

„um dem journal<strong>ist</strong>ischen Freibeutertum <strong>ein</strong> Ende <strong>zu</strong> bereiten“ 88 . Da<br />

hätte er Dr. Goebbels wohl jede weitere Betätigung untersagen müssen.<br />

Außenmin<strong>ist</strong>er Freiherr von Neurath, der immer noch nicht gehen darf,<br />

überlässt den Bericht über die Konferenz dem regimekritischen Reichsfinanzmin<strong>ist</strong>er<br />

Hjalmar Schacht. In den oberen Etagen in Berlin werden<br />

die Gegner von Hitlers Außenpolitik noch hellhöriger. Und in London <strong>ist</strong><br />

<strong>es</strong> mit ohne <strong>zu</strong>friedenstellendem Ergebnis auch schwierig, die Ideen der<br />

führenden Männer in der Öffentlichkeit <strong>zu</strong> propagieren. Im Bewussts<strong>ein</strong>,<br />

dass gewisse Positionen von der Öffentlichkeit sicherlich nicht mitgetragen<br />

werden würden, werden <strong>ein</strong>zelne Ideen immer mal wieder in<br />

The Tim<strong>es</strong>, in Reden im Unterhaus und durch kalkulierte Indiskretionen<br />

hinausgetragen. Parallel da<strong>zu</strong> wird verbreitet, Deutschland sei bis an die<br />

Zähne bewaffnet und England könne dem nichts entgegensetzen. 89 „In<br />

der Dezemberausgabe von <strong>1937</strong> d<strong>es</strong> Round Table, wo auch die me<strong>ist</strong>en<br />

der <strong>sie</strong>ben Punkte, die Halifax kurz davor mit Hitler b<strong>es</strong>prochen hatte,<br />

erwähnt wurden, wurde <strong>ein</strong> Krieg <strong>zu</strong>r Verhinderung der deutschen Ambitionen<br />

in Europa aus den Gründen <strong>zu</strong>rückgewi<strong>es</strong>en, dass s<strong>ein</strong> »Ausgang<br />

unsicher« sei und dass »in s<strong>ein</strong>em Gefolge unwünschbare innenpolitische<br />

Katastrophen auftreten« würden.“ 90 In dem Artikel wird der<br />

Eindruck erzeugt, Großbritannien sei dem Reich unterlegen, indem die<br />

Möglichkeiten der Sowjetunion und der Tschechoslowakei weggelassen<br />

werden, die französische Armee mit zwei Dritteln der deutschen und die<br />

britische mit weniger als drei Divisionen angeben werden 91 .<br />

Der Führer und Reichskanzler trifft am 21. November genau den Punkt,<br />

<strong>wenn</strong> er in Augsburg formuliert: „Wir haben auch Kritik, nur kriti<strong>sie</strong>ren<br />

bei uns die Vorg<strong>es</strong>etzten die Untergebenen und nicht die Untergebenen<br />

die Vorg<strong>es</strong>etzten.“ 92 , angefangen bei unbotmäßiger Kritik, als endlich am<br />

21. Dezember der Operationsplan Grün in <strong>ein</strong>er neuen Fassung vorliegt.<br />

Da mag sich der Untergebene wundern, wie er will, Adolf Hitler kann <strong>es</strong><br />

sich nach dem Talk mit Halifax le<strong>ist</strong>en, s<strong>ein</strong>e „Bereitschaft <strong>zu</strong>r Gewalt-<br />

88 Dokumente I, S. 45<br />

89 Quigley, S. 51<br />

90 Quigley, S. 52<br />

91 Quigley, S. 52<br />

92 Ecke, S. 38<br />

31


<strong>1937</strong><br />

anwendung“ gegen die Tschechoslowakei <strong>zu</strong> erlären, „auch dann, <strong>wenn</strong><br />

sich die <strong>ein</strong>e oder andere Großmacht gegen uns wendet“ 93 .<br />

R<strong>ein</strong>hard hört am letzten Abend d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> den Komiker Werner Finck:<br />

„M<strong>ein</strong>e lieben Freunde! Eine Jahr<strong>es</strong>abschiedsrede soll man nur halten,<br />

<strong>wenn</strong> man gut aufgelegt <strong>ist</strong>. Da Sie mich eben gut aufgelegt haben, <strong>ist</strong><br />

die Grundbedingung erfüllt. Allerdings schicke ich voraus, dass ich k<strong>ein</strong><br />

F<strong>es</strong>tredner bin. Ich kann mich wohl f<strong>es</strong>treden, aber das <strong>ist</strong> ja wohl nicht<br />

dasselbe. Wo waren wir <strong>stehen</strong>geblieben? Ach so, ja. Also, das alte Jahr<br />

geht. Es geht ja all<strong>es</strong>, <strong>wenn</strong> man nur will. War <strong>es</strong> uns <strong>ein</strong> mühselig<strong>es</strong><br />

Jahr? Wie g<strong>es</strong>agt – <strong>es</strong> geht. Es geht ums Ganze. Das Ganze halt. Es hallt<br />

von den Bergen und schallt durch die Täler und <strong>ein</strong>er ruft <strong>es</strong> dem andern<br />

<strong>zu</strong>: Prost Neujahr! Gleich wird <strong>ein</strong> neu<strong>es</strong> Jahr anbrechen. Merkwürdig,<br />

dass wir immer nur angebrochene Jahre bekommen. Dabei war<br />

di<strong>es</strong><strong>es</strong> Jahr gar nicht so übel – wie <strong>ein</strong>em werden kann, <strong>wenn</strong> man bedenkt,<br />

was die Welt daraus gemacht hat. Hier<strong>zu</strong>lande zeigte das alte<br />

Jahr wieder <strong>ein</strong> turnerisch<strong>es</strong> Gepräge, und von allen Übungen erzielte<br />

der Aufschwung den größten Beifall. Im Ausland zeigte sich <strong>ein</strong>e starke<br />

Tendenz <strong>zu</strong> kriegerischen Verwicklungen. Über den Nicht<strong>ein</strong>mischungsausschuss<br />

wollen wir k<strong>ein</strong> Wort mehr verlieren. Was <strong>ist</strong> er schon? Eben<br />

Ausschuss. Und, selbst in Frankreich, die Blum reiche Sprache unser<strong>es</strong><br />

w<strong>es</strong>tlichen Nachbarn kann nicht über das hinwegtäuschen. Und viele,<br />

die bisher in England das Ideal <strong>ein</strong><strong>es</strong> marktf<strong>ein</strong>dlichen Land<strong>es</strong> sahen,<br />

werden durch die neuerlichen Ri<strong>es</strong>enrüstungen auch aus di<strong>es</strong>em Garten<br />

Eden vertrieben. Es knallt und schreit bereits, doch noch <strong>ist</strong> <strong>es</strong> nicht<br />

zwölf. Lasst Euch durch die Schreier nicht aus der Ruhe bringen. Was<br />

wird das nächste Jahr uns bringen? Mind<strong>es</strong>tens zwölf Monate. Wohl<br />

dem, der <strong>ein</strong> gut<strong>es</strong> Gewissen hat. Es fehlen noch etliche Sekunden. 21,<br />

22, 23 war die Inflation. Nehmt die Gläser in die Hand. Es <strong>ist</strong> gleich soweit,<br />

wie wir <strong>es</strong> gebracht haben. Zur Sache m<strong>ein</strong>e Lieben. Wir haben<br />

wieder <strong>ein</strong> Jahr <strong>zu</strong>rückgelegt. <strong>Für</strong> manche wird <strong>es</strong> das Einzige s<strong>ein</strong>, was<br />

<strong>sie</strong> sich <strong>zu</strong>rückgelegt haben. Denen <strong>ist</strong> nicht <strong>zu</strong> helfen. Möge Euch m<strong>ein</strong>e<br />

Rede <strong>zu</strong>m Proste gereichen. Hört, <strong>es</strong> schlägt! Soll <strong>es</strong> schlagen. Soll <strong>es</strong> alle<br />

andern Jahre schlagen an Glück, Eintracht, Weisheit und Frieden. Prost<br />

Neujahr 1938!“ 94<br />

93 Falin, S. 43f.<br />

94 Von der Schellack-Platte<br />

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