zds#8
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eitenweg<br />
1.47 Uhr<br />
Meine Begleitung sagt: „Die armen<br />
Mädchen hier. Die sind total betrunken<br />
und träumen von der großen Liebe<br />
und ärgern sich am nächsten Morgen<br />
tierisch über den Typen, mit dem sie<br />
mitgegangen sind.“ Die Mädchen<br />
tragen Highheels und<br />
Abend garderobe.<br />
×<br />
2.30 Uhr<br />
Wieder draußen<br />
Ich trage einen bayerischen Filzhut.<br />
Ein Mädchen sagt zum Türsteher:<br />
„Der is’n Jude, ich schwör’!“<br />
4.03 Uhr<br />
Im „Tower“<br />
Vor dem Klo treffe ich auf zwei<br />
Typen. Der eine sagt: „Oh, sieh an,<br />
ein Rabbiner.“ Der andere: „Vor 70<br />
Jahren hätte es für dich aber ganz<br />
schön schlecht hier ausgesehen!“<br />
DIE SACHE<br />
MIT DEM BART<br />
Essay<br />
34 35<br />
Kurányi beziehungsweise wie ein durchschnittlicher Großraumdiskogänger.<br />
Als ich anfing zu studieren, trug ich Vollbart, aber moderat:<br />
ein langer Vierzehntagebart sozusagen, jede Woche ordentlich gestutzt,<br />
Stufe 6 meines Barttrimmers. Ich fiel niemandem auf.<br />
Erst seit ich in meinen Bartwuchs nicht mehr eingreife, ist alles<br />
anders. Plötzlich spricht mich jeder darauf an. „Mensch, wie siehst<br />
du denn aus?“ „Hey, du Rabbiner!“ „Hey, du Taliban!“ „Du siehst ja aus<br />
wie ein Penner!“ „Oh, der Alm-Öhi!“ „Moin, Moin, Käpt’n!“ Und:<br />
„Willst du eigentlich keine Frau mehr abkriegen?“ Binnen Sekunden<br />
mutiere ich nun vom Zionisten zum Islamisten, vom Seebär zum Camembert.<br />
Und der passende Hut dazu setzt diesem Phänomen buchstäblich<br />
noch eins drauf: Die Schubladen, in denen mich die anderen<br />
so gerne verstauen, öffnen sich jetzt noch häufiger und schneller.<br />
Es gibt Doktorarbeiten über das Thema, etwa die von Christina Wietig:<br />
„Bodystyling – wie viel Bart braucht der Mann?“ fragt sie, und hält<br />
fest, dass der Bart an sich schon eine Botschaft sei. Er identifiziere zunächst<br />
das männliche Geschlecht, da den meisten Frauen keine Haare<br />
im Gesicht wüchsen. Er vergrößere zudem die Körperoberfläche, was<br />
ein Mehr an Information zur eigenen Persönlichkeit ermögliche.<br />
Schließlich stelle er als Symbol genuiner Virilität, als Zeichen von Dominanz,<br />
politischer Gesinnung und Individualität ein öffentliches Bekenntnis<br />
zwischen subjektiver Ästhetik und kollektiven Normen dar.<br />
Für mich ging er vor allem immer mit der Mode einer Zeit: Die<br />
letzte große Vollbartwelle schwappte in den 1968er-Jahren durchs Land,<br />
ob Hippie oder Kommunist, ob APO oder Kommune: Die Männer<br />
verzottelten zunehmend. Heute kehrt der Vollbart wieder als junger<br />
urbaner Metropolenbart, eine Modegeste. Mit der Studentenbewegung<br />
von einst hat sie nichts mehr zu tun. Trendige Männer heute lesen weder<br />
Marx noch Mao: Schöne Ideen waren das, ja, keine Frage, bloß<br />
funktionierte es halt nicht. „Alles für alle“ wäre zwar ganz cool, aber<br />
mein Rennrad würde ich doch gern für mich selbst behalten. Ideale<br />
hat man schon, Ideologien jedoch bleiben lieber außen vor. Und so steht<br />
der Metropolenbart nicht für den Ausbruch aus der spießigen Reihenhausbürgerlichkeit,<br />
sondern für eine Absage an die glattrasierten, kosmetikschönen<br />
Strahlemanngesichter der metrosexuellen Uniformität.<br />
Natürlich schwingen auch Natursehnsucht, Unangepasstheit<br />
und autonomes Mannsein mit. Das männliche Geschlecht grenzt sich<br />
ab, der ewigen Androgynität und Frauenversteherhaltung überdrüssig.<br />
Das Kinn erfährt durch den Bartwuchs eine physiognomische Erweiterung,<br />
die es aggressiver und den Mann wieder bedrohlich wirken<br />
lässt. Ein exponierter Bart diente einst zur Einschüchterung von Rivalen.<br />
Für Virilität ist er daher noch immer das Symbol schlechthin.<br />
Zumal nicht jeder einen guten Vollbart hinkriegt: Man braucht den<br />
richtigen Wuchs – und Geduld.<br />
Nur zwischendurch, wenn es juckt, wenn man schwitzt unter<br />
dem Bart, wenn beim Essen die Krümel darin hängen bleiben und wieder<br />
keiner Bescheid sagt, dann kann der Bart schon mal nerven. Eis<br />
esse ich nur noch aus dem Becher.<br />
Und dann immer diese Blicke! Das ununterbrochene Angesehenwerden<br />
bedeutet Stress für den Träger eines echten Vollbarts.<br />
Das geht so weit, dass selbst Begleiter sich von den Gaffern belästigt<br />
fühlen. „Warum schneidest du ihn dir nicht endlich ab!?“<br />
Der Vollbart macht seinen Träger zum Fundamentalisten.<br />
Man trägt ihn immer aus Überzeugung. Und demonstriert Selbstvertrauen,<br />
indem man all diese Blicke erträgt. Manche tun es für ihre Religion.<br />
Der Almbewohner zeigt seine Askese und Naturverbundenheit.<br />
Und der Fischer, der Tage und Nächte auf See verbringt, schert sich<br />
nicht um die Landratten. Der Bart steht für Rückgrat und innere Haltung.<br />
Das haben alle barttragenden Kulturen und Subkulturen, Gruppen<br />
und Eigenbrötler gemeinsam. Die Terroristen des 11. September<br />
trugen übrigens keinen: Sie versteckten sich, sahen angepasst aus und<br />
waren trotzdem mörderisch gefährlich.<br />
„Viel Spaß beim Wandern!“, „Fahr nicht zu weit raus, Junge!“,<br />
„La baguette et le fromage“ höre ich mir also gerne an. Dank der Politikverdrossenheit<br />
der Gesellschaft will eh niemand wissen, wofür ich<br />
wirklich stehe. Das Interpretieren von Bärten ist heute noch in allen<br />
Köpfen, aber es öffnet nur Schubladen und bedeutet nichts mehr.<br />
Ich sehe nicht ein, warum ich mich anpassen sollte. Nur damit<br />
mich keiner mehr anspricht? Was würde ein echter Alm-Öhi sagen?<br />
„Isch mir doch glich, was d’Lüt sagget.“ Recht hat er.