zds#8
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eiten<br />
weg<br />
Bremen & Bremerhaven<br />
FREIE HANSESTADT<br />
ZWISCHEN 53° NORD & 8° OST<br />
Die Zeitschrift Der Strasse<br />
SEHEN HÖREN<br />
SCHREIBEN<br />
Preis : 2 euro<br />
ein euro Für den Verkäufer<br />
Nr. 8 — januar 2012<br />
12<br />
nur ruhigstellen,<br />
nicht treten<br />
Deine<br />
Schuhe sind<br />
zu hell<br />
32<br />
Mit dem<br />
Haar steigt<br />
die Gefahr<br />
die<br />
sache mit<br />
dem bart<br />
36<br />
Bitte machen<br />
Sie Ihr Spiel<br />
zurück an<br />
die tische
Breitenweg<br />
Editorial5<br />
Historie<br />
1894 / 2011 6<br />
Breitenweg in Zahlen7<br />
Fotostrecke<br />
Wo das Gras grüner ist 16<br />
Impressum46<br />
Vorschau<br />
Lange Reihe 47<br />
Inhalt<br />
53° NORD & 8° OST<br />
Foto:<br />
Björn Platzhalter<br />
Behrens<br />
HAUS<br />
GEMACHT<br />
Das Leben ist bekanntlich unstet,<br />
und wer auf dem Wagenplatz wohnt,<br />
will ebendies mit Freude zelebrieren.<br />
Ein Besuch auf der ewigen Baustelle<br />
8<br />
12<br />
NUR RUHIG-<br />
STELLEn,<br />
NICHT TRETEN<br />
Tausende tummeln sich am Wochenende<br />
auf der „Discomeile“. Wer aber<br />
darf rein und wer nicht? Ein Gespräch<br />
über weiße Schuhe, Frauenquoten<br />
und das Geschäft an der Tür<br />
24<br />
lICHTER,<br />
IMMER<br />
Die Ampel springt auf Grün.<br />
Der Mann verschwindet im Eingang.<br />
Die Tür bleibt offen<br />
UNTER DER<br />
BRÜCKE<br />
Sie hatten beide nie damit gerechnet,<br />
dass es so weit kommen könnte.<br />
Inzwischen leben sie sechs Jahre auf<br />
der Straße. Die Geschichte eines<br />
Arrangements, das den Traum nicht<br />
unterkriegt<br />
28<br />
32<br />
DIE SACHE<br />
MIT DEM BART<br />
Eis esse ich nur noch aus dem<br />
Becher. Aber mein Bart bleibt dran<br />
36<br />
ZURÜCK AN<br />
DIE TISCHE<br />
Sein BAföG reichte ihm nicht. Deswegen<br />
begann er zu pokern. Ein Frageund<br />
Antwortspiel über das gute Gefühl<br />
beim Gewinnen und die Sucht nach ihm
Breitenweg<br />
Die Zeitschrift der Straße<br />
Ein Projekt der Hochschule für<br />
Künste Bremen und der Hochschule<br />
Bremerhaven in Zusammenarbeit mit<br />
der Inneren Mission und der GISBU<br />
Bremerhaven.<br />
Die Straße der Zeitschrift<br />
Jede Ausgabe findet ihre Geschichten<br />
an einem Ort in Bremen / Bremerhaven.<br />
Sehen – Hören – Schreiben<br />
Jedem Artikel geht eine Beobachtung<br />
voraus – im oberen Seitenabschnitt.<br />
Abreißen oder dranlassen?<br />
Gute Frage. Probieren Sie’s aus!<br />
Kaufen<br />
Die Zeitschrift der Straße gibt es nur<br />
auf der Straße. Die Hälfte des Verkaufspreises<br />
ist für die VerkäuferInnen.<br />
Firmen, Institutionen und Nicht-Breme-<br />
rInnen senden wir die Zeitschrift auch<br />
per Abo ins Haus (32 € / 8 Ausgaben):<br />
abo@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Wie weiter?<br />
Die Zeitschrift der Straße erscheint<br />
alle acht Wochen. Die nächste Ausgabe<br />
Mitte März.<br />
Editorial<br />
5<br />
53° NORD & 8° OST<br />
Foto:<br />
Björn Platzhalter<br />
Behrens<br />
Sehen hören<br />
Schreiben<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Es könnte hektisch werden hier und voll und stressig. Der Breitenweg<br />
ist die Straße der Massen. Automassen wälzen sich tagsüber darüber,<br />
Menschenmassen drängeln sich feierabends darunter. Sie suchen Glück<br />
und Geld und geben dafür viel. Sie stehen lange Schlange und kommen<br />
doch nicht rein. Sie trinken und spielen und können nicht mehr<br />
aufhören. Manche stürzen ab, manche fliegen auf. Wir sind dem Betonband<br />
entlang einmal durch die Stadt gezogen, vom Viertel bis<br />
Utbremen. Wir fragen nach der Toleranz und nach der Lebensqualität,<br />
nach der Zufriedenheit, nach Glück und Heimat und natürlich<br />
nach dem Weg dorthin.<br />
Auf dem richtigen Weg sehen uns jedenfalls die JurorInnen des Ideenwettbewerbs<br />
„Generation D“. Sie stuften das Projekt „Zeitschrift der<br />
Straße“ unter 90 Einsendungen als eine der zehn besten Ideen bundesweit<br />
ein. Halten Sie, liebe Leserinnen und Leser, unsere Idee einer<br />
etwas anderen Straßenzeitung ebenfalls für eine gute, dann könnten<br />
Sie unser Glück auf viererlei Weise vergrößern: Erzählen Sie Freunden<br />
und Bekannten von uns. Erstehen Sie bei unseren VerkäuferInnen<br />
Zweitexemplare zum Verschenken. Werben, verschenken oder bestellen<br />
Sie ein Abo der „Zeitschrift der Straße“ – erhältlich für alle<br />
Firmen und Institutionen und außerdem für alle, die nicht direkt in<br />
Bremen wohnen. Und unterstützen Sie uns mit Anzeigen und Spenden.<br />
Herzlichen Dank!<br />
Armin Simon<br />
für das Team der Zeitschrift der Straße<br />
PS: Am 17. Februar gibt’s die Zeitschrift der Straße erstmals auch zum<br />
Hören – siehe Heftrückseite. Und schreiben Sie uns weiterhin, was<br />
Ihnen gefällt und was Sie vermissen: post@zeitschrift-der-strasse.de
eitenweg<br />
Historie<br />
1894<br />
6<br />
Zahlen<br />
und Fakten<br />
7<br />
2011<br />
Breiten<br />
Weg<br />
Vierspurige Straße vom<br />
Herdentorsteinweg zum Nordwestknoten,<br />
überbaut mit vierspuriger Hochstraße,<br />
je 1.200 Meter lang, parallel zur Weser.<br />
Geht nach Südosten nahtlos in den Rembertiring<br />
über. Erster Bau von 1856–1872,<br />
Aus- und Umbau 100 Jahre später<br />
Recherche: Benjamin Eichler,<br />
Wiebke Plasse, Leo Rokita, Armin Simon<br />
Text: Armin Simon<br />
Foto: Leonie Francke<br />
Die Verkehrsverhältnisse vor dem Hauptbahnhof verbessern<br />
sollte Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Straße.<br />
Man plante sie großzügig, für damalige Verhältnisse breit,<br />
und benannte sie entsprechend: Breitenweg. Sie verlängerte<br />
die Straße An der Weide quer über die Skaterplaza<br />
auf dem Bahnhofsplatz und schwenkte erst an der<br />
Bahnhofstraße auf den heutigen Straßenverlauf ein.<br />
Hinter dem Atlanta-Gebäude, das es damals noch nicht<br />
gab, knickte sie schräg rechts in Richtung Findorfftunnel<br />
ab und mündete dort, wo heute das Jakobushaus der<br />
Inneren Mission steht, auf die Düsternstraße, die nach<br />
Walle führte. Ecke Bürgermeister-Smidt-Straße (damals<br />
Georgstraße) stand ab Ende des 19. Jahrhunderts die<br />
Bremer Staatsbibliothek (Foto). Der reich verzierte Bau<br />
brannte im Zweiten Weltkrieg aus. Bereits beim Wiederaufbau<br />
in den 1950 ern fielen Giebel und Portale weg.<br />
Genutzt zuletzt als Magazin des Überseemuseums und<br />
dabei pestizidverseucht, wich das Gebäude 1996 dem<br />
Cinemaxx-Komplex.<br />
Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite<br />
fielen großflächig den Bomben zum Opfer. Die<br />
Stadtplaner werteten das als „Glück im Unglück“:<br />
Der Abriss der Ruinen ermöglichte die abermalige Verbreiterung<br />
des Breitenwegs und den Ausbau desselben<br />
als vielspurige, zweistöckige Autoschneise, die schnurgerade<br />
nach Walle und über den Nordwestknoten bis<br />
nach Oldenburg führt.<br />
Historisches Foto: LIS / Zentrum für Medien<br />
Verkehrsaufkommen auf dem Breitenweg (unten)<br />
zwischen Herdentorsteinweg und Bürgermeister-<br />
Smidt-Straße, Fahrzeuge pro Werktag: 19.300<br />
Verkehrsaufkommen auf der Hochstraße Breitenweg,<br />
Fahrzeuge pro Werktag: 23.100<br />
Radverkehrsaufkommen auf der Hochstraße am<br />
autofreien Sonntag 2010, in Fahrrädern: 5.000<br />
Baukosten der Hochstraße, Stand 1969,<br />
in D-Mark: 6.710.000<br />
Urteil des Senatsbaudirektors über die von ihm mit<br />
konzipierte Hochstraße, nach seiner ersten Fahrt<br />
darüber: „ein schmerzhafter Misserfolg“<br />
Prognostizierte Kosten für ihren Abriss,<br />
in Millionen Euro: viele<br />
Anzahl der Spielautomaten im „Automatencasino“<br />
am Rembertiring: 24<br />
Männeranteil dort, in Prozent: 80<br />
Angestellte pro Schicht: 1<br />
Anzahl der auf dem Tresen ausliegenden Broschüren<br />
zum Thema Spielsucht: 3<br />
Beats per minute im „Zucker“: 128<br />
Erlaubte Lautstärke auf der Tanzfläche, in Dezibel: 100<br />
Lautstärke einer Motorsäge, in Dezibel: 110<br />
Durchschnittliche Wartezeit am Einlass der Clubs an<br />
einem Samstagabend, in Minuten: 10<br />
Stunden, die Politiker investieren, um das Gewaltproblem<br />
an der Discomeile zu diskutieren: unendlich<br />
Bremen–Moskau mit dem Zug, in Stunden: 27,6<br />
Reisezeit nach Moskau mit dem Bus ab Breitenweg,<br />
in Stunden: 40<br />
Anzahl der Körperverletzungsdelikte auf der Discomeile<br />
im Jahr 2008, laut Polizei: 661<br />
Davon schwere Körperverletzung, etwa mithilfe<br />
von Waffen: 157<br />
Inkrafttreten des Waffenverbots: 1. Februar 2009<br />
Anzahl der seitdem bis Ende 2011 auf der Discomeile<br />
beschlagnahmten Waffen: ca. 460<br />
Rückgang aller Körperverletzungsdelikte auf der<br />
Discomeile 2010 im Vergleich zu 2008,<br />
in Prozent: 15,3<br />
Rückgang der Fälle schwerer Körperverletzung,<br />
etwa mithilfe von Waffen, im selben Zeitraum,<br />
in Prozent: 9,6<br />
Anzahl der an einem Samstagabend auf der Discomeile<br />
eingesetzten PolizeibeamtInnen: ca. 25<br />
Anzahl der Hundehaufen (ohne Hochstraße): 15
eitenweg<br />
Mi, 17.35 Uhr<br />
Breitenweg<br />
Dunkle Stimmen, Aggressivität in<br />
der Luft, zwielichtige Gestalten im<br />
Neonlicht. Kioske, die man nüchtern<br />
lieber nicht betritt, Flaschensammler,<br />
Bordsteinschwalben,<br />
Spielotheken, Hypotheken, geplatzte<br />
Zukunftspläne, verschwendete<br />
Nächte.<br />
17.45 Uhr<br />
Beim Handelsmuseum, Bahn-<br />
übergang vorm Güterbahnhof<br />
Die Ampeln immer rot, die Schranke<br />
immer unten, der Zug rauscht an<br />
mir vorbei.<br />
17.48 Uhr<br />
Zwischen Bahngleisen<br />
und Güterbahnhof<br />
Der alte Güterbahnhof ist belebt,<br />
überall brennt Licht, Menschen<br />
sind unterwegs.<br />
17.48 Uhr<br />
Es wird ruhig, auf die Pflastersteine<br />
hat jemand ein weißes Anarchie-A<br />
gemalt. Jenseits der Gleise lösen<br />
sich die oberen Stockwerke des Papageienhauses<br />
und seine mehrstöckigen<br />
Nachbarn im sanften Nebel<br />
auf. Auf den Rücken der langen Güterbahnhofshalle<br />
fällt gedämmtes Licht.<br />
8<br />
reportage<br />
9<br />
Haus<br />
gemacht<br />
Das Leben ist bekanntlich unstet,<br />
×<br />
Ein Sichtschutzzaun,<br />
darin ein<br />
Tor, einen<br />
Spalt breit<br />
geöffnet.<br />
Drei Schilder<br />
davor.<br />
und wer auf dem Wagenplatz<br />
wohnt, will ebendies mit<br />
Freude zelebrieren. Ein Besuch auf<br />
der ewigen Baustelle<br />
Text: Andrea Karch<br />
Fotos: Lilly Bosse<br />
Hammerschläge, Stimmen, ein dumpfer<br />
Klang von Holz auf Holz und Eisen auf<br />
Stahl. Die Kreissäge heult dunkel auf. Eine<br />
Gruppe Menschen tritt aus dem Wagenskelett<br />
hervor, ein Blick von außen auf<br />
ihr Bauvorhaben und sie verschwinden<br />
wieder im Inneren des noch rohen Korpus.<br />
Erneute Hammerschläge. Stück für<br />
Stück zerlegen die Arbeitenden den abgenutzten<br />
Bauwagen in seine Einzelteile.<br />
Die alte Fassade landet auf dem Haufen<br />
Feuerholz. Der alte Holzfußboden bleibt.<br />
Noch klaffen große Lücken in den neuen<br />
Wänden. Das Dach jedoch ist bereits<br />
wieder regenfest. Der Plan heißt: Ein gemeinschaftliches<br />
Wohnzimmer.<br />
Daniel kann von seinem Fenster den Baufortschritt<br />
gut beobachten. Zwei Jahre<br />
trampte er von Hamburg nach Vietnam,<br />
dann entschloss er sich zu einem Politikstudium<br />
an der Uni Bremen. „Normal“ zu<br />
wohnen war „keine Option“ für ihn. Ein<br />
Freund verkaufte ihm für einen Euro seinen<br />
alten Bauwagen. Drei Monate ist das<br />
nun her. Mitten in der Nacht kam der Student<br />
in spe mit seiner Behausung im<br />
Schlepptau damals auf dem Wagenplatz<br />
der „Querlenker“ hinter dem alten Güterbahnhof<br />
an. Platzierte sein neues<br />
Zuhause, setzte sich zu seinen noch unbekannten<br />
Mitbewohnern ans Lagerfeuer<br />
und verbrachte seine erste Nacht in der<br />
neuen Gemeinschaft. „Einer der schönsten<br />
Momente“, erinnert er sich. Der<br />
Wasserkessel auf dem Gasherd in der<br />
kleinen Kochnische beginnt zu pfeifen.<br />
Daniel hat ihm eine Flöte besorgt, die wie<br />
eine Mundharmonika klingt.<br />
„Ich hab auch mal gedacht, dass ich studieren<br />
werde. Aber dann hab ich alles<br />
geschmissen!“, wirft Rieke lachend ein.<br />
Als Clown arbeitete sie in einem Zirkus.<br />
Dann wollte sie auch im Wagen wohnen.<br />
So kam sie vor einem Jahr zu ihrer „Kassette“<br />
und stieß ebenfalls zur Wagenburg<br />
im Schatten des Nordwestknotens. Über<br />
den Namen ihrer Behausung kann sie<br />
noch heute herzhaft lachen. Ihre beste<br />
Freundin hatte den Wagen versehentlich<br />
so getauft, weil er einen vom Fahrerhaus<br />
abgetrennten Aufsatz besitzt. Korrekt<br />
heißt der natürlich „Koffer“. Rieke zeigt<br />
aus dem Fenster auf die hölzerne Kiste<br />
hinter dem rostigen blauen Fahrerhaus.<br />
„Du kannst ihn aber auch Muckefuck nennen“,<br />
sagt sie.<br />
Viele schöne<br />
erste Male<br />
Bauwagen wie diesen kann man<br />
nicht von der Stange kaufen. Und wenn,<br />
würde das kein Wagenbewohner tun. Zu<br />
einem Wagen, in dem man wohnen will,<br />
gehört eine Geschichte. Man bekommt<br />
ihn über persönlichen Kontakt. Er verändert<br />
sich durch die Person, die ihn<br />
bewohnt. Er hat einen Namen und eine<br />
Saga, die immer weiter erzählt wird. Und<br />
ein Vorleben, das seinen Charakter ausmacht.<br />
Über die Herkunft des eigenen<br />
Wagens weiß jeder Wagenbewohner penibel<br />
Bescheid. In dem von Rieke etwa
eitenweg<br />
×<br />
18.00 Uhr<br />
Hinterm Güterbahnhof<br />
Ein Sichtschutzzaun, darin<br />
ein Tor, einen Spalt breit geöffnet.<br />
Drei Schilder davor: „Kein Gast<br />
isst illegal“, „Endlich abschalten“<br />
und „Keine Angst, das ist nur<br />
ein Wagenplatz“.<br />
Sa, 22.30 Uhr<br />
Glückliche Menschen tanzen, sprechen,<br />
lachen einander an. Ringsum<br />
trockene Büsche, staubiger Boden<br />
und ein Turm aus grauem Beton, ausrangierte<br />
Bahnschwellen.<br />
S0, 5.00 Uhr<br />
Hinter dem Turm aus Bahnschwellen<br />
geht die Sonne wieder<br />
auf, junge Menschen genießen<br />
auf ihm sitzend ihre letzten Zigaretten.<br />
Sie legen ihre Köpfe auf die<br />
Schultern ihres Nachbarn.<br />
5.45 Uhr<br />
Erst jetzt ist der hohe Zaun aus<br />
bemalten Holzplanken zu erkennen,<br />
die große Hütte, aus der die Krone<br />
einer Eiche ragt, die bunten Fahnen,<br />
die im leichten Wind wehen. Sehe<br />
ich das richtig?<br />
haus<br />
gemacht<br />
reportage<br />
10 11<br />
Lebensstandard ist Definitionssache, findet Daniel. Auf dem<br />
Wagenplatz ist er auch eine Frage handwerklichen Geschicks<br />
lebte einst Muck, 15 Jahre lang. Einer von<br />
Mucks Freunden war Riekes Mitbewohner.<br />
Und weil „Muckefuck“ am Ende nur<br />
noch ungenutzt in Mucks Schrebergarten<br />
rumstand, zogen die beiden ihn kurzentschlossen<br />
über die Autobahn von Hamburg<br />
bis an seinen jetzigen Platz. „Ich<br />
rede auch mit ihm wie andere mit ihren<br />
Orchideen“, sagt Rieke über ihr Zuhause.<br />
„Du kannst<br />
ihn auch<br />
Muckefuck<br />
nennen“<br />
Natürlich soll auch Daniels neues Eigenheim<br />
bald getauft werden. „Karlsquell“<br />
wird es heißen und auch wie eine Bierdose<br />
aussehen. Ein Sinnbild für Daniels Lebensstil?<br />
Der schüttelt den Kopf. „Nicht<br />
mehr“, sagt er mit einem Augenzwinkern.<br />
Eine Woche später hängen neben den Antifa-Bannern,<br />
Konzertpostern und Altona-Schildern<br />
auch Fotos an seiner mit<br />
Holz verkleideten und nach außen mit<br />
Flachs gedämmten Wand. „Das Heimischwerden“,<br />
sagt Daniel, „ist gerade das<br />
Schönste“. Er deutet zu den Fotos hinüber.<br />
Eines zeigt den beeindruckenden<br />
Blick durch eine riesige Fensterfront auf<br />
die Skyline von Kuala Lumpur. „Guck, ich<br />
habe sogar mal in einer krassen Wohnung<br />
gelebt.“ Hier auf dem Wagenplatz aber,<br />
zwischen Eisenbahn und Schnellstraße,<br />
fühle er sich wohl, „pudelwohl sogar“.<br />
Zum Prozess des Heimischwerdens gehören<br />
die vielen schönen ersten Male: Die<br />
erste Nacht, in der die junge schwarze<br />
Katze durch das schmale Fenster in<br />
Riekes Wagen klettert und neben ihr einschläft.<br />
Die Spannung, als sie erstmals<br />
den eigenen Wasserhahn aufdreht, um<br />
Geschirr zu spülen. Und die Freude über<br />
das fließende Wasser, das sie selbst richtig<br />
angeschlossen hat. Das schellende Geräusch,<br />
als sie das erste Mal die Axt auf<br />
das trockene Holz haut. Das erste Anfeuern<br />
des Ofens samt des darauffolgenden<br />
Aufreißens der Fenster, als sich der kleine<br />
Raum rasant mit Hitze und Qualm<br />
füllt. Und der Abend, an dem sie zum ersten<br />
Mal jemanden mit in ihre Wagenwelt<br />
nach Hause nimmt.<br />
Huckleberry Finn hatte durchaus Sinn für<br />
Romantik. Aber auch sein Floß ging einmal<br />
unter. Und auch ein noch so gemütliches<br />
kleines Feuer im Ofen kann einen<br />
Wagen lichterloh in Flammen aufgehen<br />
lassen. So geschehen etwa in den Anfängen<br />
des Wagenplatzes hier: Eine Bewohnerin<br />
hatte einen Benzinkanister neben<br />
ihren Ofen gestellt. Dieser fing Funken<br />
und machte ihr Heim binnen Minuten<br />
dem Erdboden gleich. Auch Riekes erster<br />
Winter auf dem Platz begann mit einer<br />
großen Überraschung: Sie wusste nicht,<br />
dass alle ihre Mitbewohner den Zugvögeln<br />
folgen und auf den Philippinen oder<br />
anderswo überwintern würden. Am Ende<br />
blieb nur sie noch übrig. Das Wagenleben<br />
machte das nicht gerade einfacher.<br />
Vor allem nachts habe sie auch Angst gehabt,<br />
sagt sie. Einzig Kalle, der große<br />
Rottweiler, blieb damals an ihrer Seite.<br />
Was allerdings weniger Schutz und Gesellschaft<br />
als vielmehr noch eine Verantwortung<br />
und Aufgabe mehr bedeutete.<br />
Der eigentliche Luxus des Wagenlebens<br />
sind nicht die Räder unter dem Heim,<br />
sondern der Platz, an dem es steht, und<br />
die Menschen darum herum. Der tägliche<br />
Spagat zwischen Gemeinschaft und eigener<br />
Autonomie gehört dazu. Einsamkeit<br />
nicht. Ein Wagenplatz sei wie eine eigene<br />
Welt, sagt Daniel. Die Wagenszene<br />
habe ihre eigenen Werte: Engagement,<br />
persönliche Freiheit, eine gesellschaftskritische<br />
Haltung. Für Rieke ist jede/r<br />
Einzelne hier ein Lebenskünstler, „Jemand,<br />
den man gern kennenlernen würde“.<br />
Die Energie, Ideen und Interessen<br />
der Bewohner, ihre handwerklichen, kreativen<br />
und sozialen Kompetenzen lassen<br />
die „Insel“ Wagenburg immer wieder in<br />
Bewegung und Wandel verfallen.<br />
Draußen ertönt ein dumpfes Schnarren.<br />
Vor einigen Monaten hatte ein Bastler das<br />
Bedürfnis, ein platzeigenes Stromnetz<br />
samt Generator zu installieren, damit die<br />
sich sonst mit Solarzellen versorgenden<br />
Wagenbewohner auch an trüben Wintertagen<br />
Strom haben. Die Betriebszeiten<br />
des Generators legte das Plenum im Konsens<br />
fest, die meisten haben sich inzwischen<br />
ans Netz angeklemmt. Nur Rieke<br />
lebt noch komplett ohne Strom. Nicht<br />
aus Verzicht, sondern weil es ihr nicht<br />
wichtig war. Sie brauche einfach keinen,<br />
sagt sie. Wenig später bricht sie auf, um<br />
noch zu packen: „Sonst sehe ich meinen<br />
Koffer nicht mehr.“<br />
Gelegentlich pilgern ganze Pulks junger<br />
Menschen hinter den Güterbahnhof, um<br />
neben den Wagen bis in den Sonnenaufgang<br />
zu tanzen. Der Geruch von selbst<br />
gemachter Pizza aus dem Lehmofen steigt<br />
in die Luft, wenn Gäste und Wagenbewohner<br />
bei der Vokü, der „Volksküche“,<br />
zusammenkommen. In Kreativworkshops<br />
siebdrucken sie, auf einem kleinen Basar<br />
gibt es Selbstgemachtes. Das Leben hier<br />
aktiv mitgestalten – das ist ungeschriebenes<br />
Gesetz auf dem Wagenplatz. Und:<br />
Wer Lust hat, macht. Rieke zupft sich ein<br />
paar Flusen vom Fleece und runzelt plötzlich<br />
die Stirn. Bei einer der Partys wurde<br />
sie bestohlen. Zwischen Wohnraum und<br />
Außenwelt liegen nur drei kleine Stufen,<br />
kein Schloss, keine Wand – nichts, außer<br />
dem Vertrauen in die Sensibilität der<br />
Gruppe gegenüber Privatem und Eigentum.<br />
Doch jede gelebte Utopie, musste<br />
Rieke erfahren, bricht irgendwann an der<br />
Realität. „Sie müssen sogar meine Schublade<br />
geöffnet haben!“<br />
Leben nach<br />
eigenem Standard<br />
Daniel träumt davon, sich irgendwann<br />
komplett selbst zu versorgen und<br />
autark zu leben, mit Permakultur und vielem<br />
mehr. Der Weg dahin ist weit – und<br />
man muss sich um vieles kümmern. „Zeit<br />
für das Leben an sich haben“, nennt es<br />
Daniel. „Du bist gezwungen, dir Fragen<br />
zu stellen, zu verstehen, wie die Welt um<br />
dich herum funktioniert, selbst Lösungen<br />
zu finden, selbst Hand anzulegen.“ Und<br />
dass er jetzt endlich auch weiß, wie eine<br />
Solarzelle funktioniert. Das hat ihm sein<br />
Nachbar erklärt. Die Werkelnden neben-<br />
an sitzen auf der Ladefläche des Lkw und<br />
machen Pause. Die Kälte scheint ihnen<br />
nichts auszumachen, im Gegenteil: Glücklich<br />
schlagen sie sich gegenseitig in ihre<br />
ölverschmierten Hände und beraten, wie<br />
es weitergeht. Eine Katze balanciert über<br />
das Eingangstor des Geländes. „Keine<br />
Angst, das ist nur ein Wagenplatz“ steht<br />
auf dem Schild davor.<br />
Der „absolute Kapitalismus“, schimpft<br />
Rieke, lasse keinen Platz für alternative<br />
Lebensformen. Dass die „Querlenker“<br />
trotzdem bleiben durften, ist Ergebnis eines<br />
Kompromisses: Sie gründeten einen<br />
Verein, der seit einigen Monaten Miete an<br />
die Bahn zahlt. Im Gegenzug dürfen sie<br />
das seit Jahrzehnten nicht mehr genutzte<br />
Gelände nun offiziell bewohnen. Was<br />
anderswo die Nasszelle, ist hier das Toilettenhäuschen<br />
und der Badewagen. Zum<br />
Frühstück gibt es manchmal Essen aus<br />
dem Supermarkt, manchmal aus dem<br />
Container – Nahrungsmittel, die sonst<br />
sinnlos weggeschmissen würden. Anschließend<br />
fährt Rieke wie andere Menschen<br />
auch zur Arbeit. Den Sonntag genießt<br />
sie gemütlich im Bett – oder vor<br />
dem Feuer. „Die Leute denken, sie kaufen<br />
sich in Biosupermärkten gesund, und<br />
lassen sich von Ökostromanbietern verarschen.<br />
Aber von uns glaubt man immer<br />
noch, wir würden mit Fäkalien um uns<br />
schmeißen!“, empört sie sich.<br />
Solange der<br />
Wagen nicht<br />
fertig ist, bleibt<br />
es spannend.<br />
Und der Wagen<br />
ist nie fertig<br />
Lebensstandard, sagt Daniel, sei doch<br />
bloß Definitionssache. „Das hört sich<br />
jetzt so nach Hippie-Scheiß an, aber wenn<br />
ich die Tür öffne, bin ich draußen.“ Das<br />
ist für ihn Lebensqualität. Und wer hat in<br />
seiner Kindheit nicht auch mit Freunden<br />
Buden am Waldrand gebaut? Versucht,<br />
Kartoffeln durch Sonnenlicht zum Kochen<br />
zu bringen? Sich Malfarben aus Blüten gequetscht<br />
und Butter aus Butterblumen<br />
hergestellt? Das Gefühl, mit den eigenen<br />
Händen ein Nest zu bauen, mit beiden Füßen<br />
fest auf dem Boden zu stehen, eben<br />
„Zeit für das Leben an sich zu haben“, mit<br />
der Gemeinschaft an ebendieser zu wachsen,<br />
für sich selbst verantwortlich zu<br />
sein – das ist es, was das Wagenleben ausmacht.<br />
Eine Kleinfamilienidylle im Reihenhaus<br />
mit Vorgarten und Kleinwagen, „mit<br />
viel Schminke für alles“ und „mit der Erwartung,<br />
dass man entspricht“, sei für sie<br />
unvorstellbar, unterstreicht Rieke. Das<br />
habe sie längst hinter sich gelassen.<br />
Auf der Wohnzimmerbaustelle nebenan<br />
wandern Hammer und Bohrmaschine für<br />
heute in den Werkzeugkasten. Das Tageslicht<br />
schwindet schnell. Bald wird man<br />
bloß noch die Nordkurve der Hochstraße<br />
im Nebel schimmern sehen. „Keine<br />
Ahnung was als nächstes passiert“, sagt<br />
Daniel. Aber solange der Wagen nicht<br />
fertig ist, bleibt es spannend. Und der<br />
Wagen ist nie fertig.
eitenweg<br />
Sa, 22.00 Uhr<br />
Rembertiring<br />
Die Betreiber der 1-Euro-Drink-Lokale<br />
schließen die Türen auf. Die Arbeitsnacht<br />
kann beginnen.<br />
22.17 Uhr<br />
Bahnhofsplatz<br />
Eine Horde von Menschen läuft<br />
Richtung „Discomeile“. Sie halten<br />
Bier- und Sektflaschen in der<br />
Hand und unterhalten sich laut.<br />
22.25 Uhr<br />
Ecke Herdentorsteinweg/<br />
Rembertiring<br />
Jugendliche betreten einen Kiosk,<br />
um sich mit Zigaretten, Bier und<br />
Kaugummis auszustatten. Danach<br />
bleiben sie eine Weile vor dem<br />
Kiosk stehen.<br />
×<br />
22.38 Uhr<br />
Rembertiring, Höhe „La Viva“<br />
Die Securityleute gehen gemeinsam<br />
los zur Arbeit. Ihre Wege trennen<br />
sich vor den Locations, in denen sie<br />
arbeiten. Sie wünschen sich lautstark<br />
eine „angenehme Nacht“.<br />
12<br />
interview<br />
13<br />
×<br />
Die Securityleute<br />
gehen<br />
gemeinsam<br />
los zur Arbeit.<br />
Ihre Wege<br />
trennen sich<br />
vor den Loca-<br />
tions. Sie<br />
wünschen<br />
sich lautstark<br />
eine „angenehme<br />
Nacht“.<br />
Nur RuhiGstellen,<br />
nicht<br />
treten<br />
Tausende tummeln sich am<br />
Wochenende auf der „Discomeile“.<br />
Wer aber darf rein und wer nicht?<br />
Ein Gespräch über weiße Schuhe,<br />
Frauenquoten und<br />
das Geschäft an der Tür<br />
Interview: Wiebke Plasse<br />
Illustration: Martin Petersen<br />
ZDS Herr Schuster, wieso stellen Sie sich am SCHUSTER Viele sehen ihn wie ich eher als<br />
Wochenende freiwillig vor die Tür eines Clubs? Hobby. Diejenigen, die das hauptberuflich machen,<br />
stehen aber natürlich auch wochentags<br />
ROBERT SCHUSTER (Name geändert) Ich<br />
bin wochentags im gleichen Gewerbe tätig, als und tagsüber bei Events oder Firmen vor der Tür<br />
Sicherheitsdienstleister, wie das richtig heißt, und sorgen da für Sicherheit. Da müssen sie dann<br />
aber ich sitze dabei nur am Schreibtisch. Am Wochenende<br />
mache ich zum Ausgleich dasselbe ganz von leben zu können.<br />
aber schon einige Arbeitsstunden leisten, um da-<br />
praktisch. Andere gehen Fußball spielen, ich stell ZDS Heißt im Klartext?<br />
mich vor die Tür.<br />
SCHUSTER Für unsere Branche gilt erst<br />
ZDS Und Ihre Kollegen?<br />
seit wenigen Monaten ein deutschlandweiter
eitenweg<br />
22.42 Uhr<br />
Rembertiring, Eingang „Stubu“<br />
Immer mehr Menschen strömen auf<br />
die „Discomeile“ und machen sich<br />
auf den Weg zu den Locations. Meist<br />
sind sie unter 18 und halten aufgeregt<br />
den Erziehungsauftrag in den<br />
Händen, der ihnen Eintritt bis<br />
0.30 Uhr erlaubt.<br />
22.55 Uhr<br />
Rembertiring<br />
Die letzten Locations schließen ihre<br />
Türen auf. Sicherheitskräfte sind<br />
positioniert, Promoter verteilen<br />
fleißig Werbeflyer. Der Einlass beginnt.<br />
23.07 Uhr<br />
Rembertiring, Höhe „Casino“<br />
Auch die Sozialarbeiter von „Pro<br />
Meile“ beginnen ihre Arbeit mit ihrem<br />
ersten Rundgang. Sie gehen schnellen<br />
Schrittes auf eine Horde Jugendlicher<br />
zu, die miteinander rangeln.<br />
Nur RuhiGstellen,<br />
nicht treten<br />
interview<br />
14 15<br />
Mindestlohn – 7,30 Euro pro Stunde. Nachts und<br />
am Wochenende verdient man meist mehr, in<br />
München, Frankfurt oder Berlin teilweise bis zu<br />
300 Euro pro Nacht. In Bremen dagegen<br />
gibt’s auch nachts meist nur zwischen acht und<br />
18,00 Euro pro Stunde.<br />
ZDS Gefahrenzuschläge oder Boni gibt es nicht?<br />
SCHUSTER Nicht offiziell. Der Stundenlohn<br />
der Clubs ist natürlich ganz unterschiedlich. Und<br />
ein erfahrener Sicherheitsdienstleister verdient<br />
fairerweise mehr als ein Neuling. Viele von uns<br />
arbeiten als Selbstständige, andere sind beim jeweiligen<br />
Club als 400-Euro-Kraft gemeldet. Der<br />
exakte Stundenlohn lässt sich daher nur schwer<br />
beziffern. Wichtig ist aber, dass man die richtige<br />
Einstellung zu der Arbeit hat.<br />
ZDS Was meinen Sie damit?<br />
SCHUSTER Ein guter Sicherheitsdienstleister<br />
schlägt und tritt nicht. Er reagiert lediglich, um<br />
Angriffsgegenstände unter Kontrolle zu bringen.<br />
Dabei nutzen wir die Methode des Fixierens. Sie<br />
kennen das vielleicht – es sieht brutal aus, wir<br />
wollen die betroffene Person in dem Moment<br />
aber nur ruhigstellen. Schmerzhaft ist es auch<br />
nicht, wenn man es richtig macht. Die Devise<br />
lautet: Wir überschreiten keine Grenzen, sondern<br />
gewährleisten nur die Sicherheit aller Gäste.<br />
ZDS Gilt das Ihrer Meinung nach für alle Bremer<br />
Sicherheitsdienstleister?<br />
SCHUSTER Natürlich nicht! Knapp drei Viertel<br />
arbeiten, um mehr Geld zu verdienen. Vom<br />
Rest kann man sagen, er hat andere Gründe, warum<br />
er da steht. Darunter auch all die, die bloß<br />
ihre Machtgefühle ausleben wollen. Immer wieder<br />
kann man solche „Sicherheitskräfte“ finden,<br />
die eigentlich keine Ahnung vom Beruf und vom<br />
Umgang mit Menschen an sich haben, sich selbst<br />
aber gerne in den Mittelpunkt stellen, um stärker<br />
dazustehen, als sie es eigentlich sind. Männlich<br />
wie auch weiblich.<br />
ZDS Ein ziemlich weit verbreitetes Vorurteil über<br />
Türsteher ...!<br />
SCHUSTER …, das aber tatsächlich nur eine<br />
Minderheit betrifft. Die meisten davon entlarven<br />
sich schnell selbst, weil es ihnen an Knowhow<br />
und körperlicher Fitness fehlt und sie durch<br />
ihre Umgangsweise mit den Gästen auffallen. Viele<br />
vergessen, dass wir den Club repräsentieren,<br />
vor dessen Tür wir stehen. Wir greifen nur im<br />
Notfall ein und bewahren andere vor Gewalt.<br />
Pseudo-Sicherheitsdienstleister können diesem<br />
Auftrag nie gerecht werden. Die sollten schnellstmöglich<br />
aus dem Gewerbe verschwinden!<br />
ZDS Sie haben in den vergangenen zehn Jahren<br />
schon für so gut wie jede Diskothek in der Stadt<br />
gearbeitet. Lassen sich da Unterschiede in der<br />
Türpolitik erkennen?<br />
SCHUSTER Gravierende! Es gibt Clubs, die setzen<br />
auf Niveau, andere eben nicht. Dementsprechend<br />
ist natürlich die Kundschaft und die Einlasskontrolle<br />
geregelt. Einige lassen wirklich<br />
jeden rein. Da müssen wir dann lediglich auf Waffen<br />
und andere verbotene Utensilien achten.<br />
Andere geben konkrete Vorgaben, wer rein darf<br />
und wer nicht. Kurz: Du hast freie Hand hier und<br />
feste Regeln dort.<br />
ZDS Was sind das denn für Regeln zum Beispiel?<br />
SCHUSTER Das liegt in der Macht des Geschäftsführers.<br />
Wer auf gepflegte Kundschaft setzt, will<br />
in seinem Club zum Beispiel keine Männer mit<br />
weißen Turnschuhen sehen – das ist der Klassiker.<br />
Vor allem in Szeneclubs beliebt ist eine Frauenquote,<br />
etwa: 60 Prozent Frauen und 40 Prozent<br />
Männer. Weitere Regeln sind meist auf die<br />
spezielle Veranstaltung bezogen. Eine Ü30- oder<br />
Ü40-Disco verliert ihren Charakter, wenn 30<br />
Prozent der Gäste unter 20 Jahre alt sind.<br />
ZDS Setzen Sie als Türsteher die jeweiligen Vorgaben<br />
eins zu eins um?<br />
SCHUSTER So etwas hundertprozentig umzusetzen,<br />
ist nicht immer und überall möglich. An<br />
der „Meile“ in Bremen haben wir tatsächlich eigentlich<br />
große Freiheit beim Einlass. Nur wenige<br />
Läden dort selektieren stark. Und ich selbst<br />
habe noch nie einen Mann abgewiesen, weil er<br />
ein Mann war. Es muss einfach optisch und verhaltenstechnisch<br />
passen.<br />
ZDS So einfach ist das?<br />
SCHUSTER Ja und nein. Jemanden abzuweisen,<br />
der sich betrunken daneben benimmt, ist natürlich<br />
einfach. Ebenso, sich Gesichter zu merken<br />
und sich an Randalierer von der Vorwoche zu<br />
erinnern. Aber in der Realität ist es doch so: Ist<br />
der Club leer, braucht er Kundschaft, also wird<br />
die Intensität der Selektion reduziert. Ein Gast,<br />
der dann rein darf, darf das aber in der nächsten<br />
Woche dann nicht unbedingt wieder. Das ist ein<br />
tragischer Fall, der nicht selten vorkommt.<br />
ZDS Und wie erklären Sie das dann?<br />
SCHUSTER Natürlich nicht mit der Wahrheit,<br />
das wäre verletzend und beleidigend. Wir sagen<br />
dann „Heute nicht.“, „Chef sagt Nein.“ oder „Du<br />
passt nicht ins Konzept der heutigen Veranstaltung.“<br />
Meist beginnen dann Diskussionen.<br />
ZDS Kein Wunder!<br />
SCHUSTER Der Punkt ist aber doch: Es gibt ein<br />
gewisses Konzept und dieses wollen die Gäste<br />
erleben, dazu gehört ein überwiegend gleichblei-<br />
bendes Publikum. Wir können an der Tür keine<br />
langen Diskussionen gebrauchen. Unser Job ist<br />
es, die Leute, die dürfen, schnellstmöglich in den<br />
Club zu bringen. Wenn die abgewiesenen Gäste<br />
den Fakt nicht akzeptieren wollen, werden sie<br />
aggressiv. Für uns kommt es dann auf Erfahrung<br />
und Einfühlungsvermögen an – freundlich, aber<br />
doch bestimmt!<br />
ZDS Sind Aggressionen und Gewalt regelmäßig<br />
an der Tagesordnung?<br />
SCHUSTER Es gibt ruhige und stressige Nächte.<br />
Wir sind schon vom fahrenden Auto aus mit<br />
Eiern und Steinen beworfen worden. Das ist natürlich<br />
ein Extrem. Aber irgendwie angegriffen<br />
und beleidigt werden wir oft – zum Nachteil der<br />
Möchtegerngäste selbst natürlich, denn die Chance,<br />
dass die beim nächsten Mal dann Einlass bekommen,<br />
sinkt in diesem Moment gegen null.<br />
Und die anderen Wartenden müssen unnötig in<br />
der Kälte ausharren. Deswegen versuchen wir<br />
das möglichst zu vermeiden … Ein guter Sicherheitsdienstleister<br />
lässt sich nicht provozieren.<br />
ZDS Kürzlich hat ein Schwarzer einer Diskothek<br />
an der „Meile“ Rassismus vorgeworfen, weil er<br />
nicht rein durfte. Das Gericht gab ihm recht.<br />
SCHUSTER Es ist für abgewiesene Personen<br />
leicht, die Karte der Nationalität auszuspielen.<br />
Jemandem wegen seiner Herkunft oder Nationalität<br />
den Zugang zu verweigern, kann sich aber<br />
kein Club in Bremen erlauben: Wir sind eine Studentenstadt,<br />
davon abgesehen würden die<br />
Behörden schnell reagieren. Sollte seine Hautfarbe<br />
tatsächlich der Grund gewesen sein, hat<br />
der Mann den Prozess zu Recht gewonnen. Die<br />
Devise des Stadtamts allerdings ist auch falsch:<br />
Dass jeder reinkommen sollte, ist unmöglich.<br />
Das Persönlichkeitsrecht und das Hausrecht in<br />
solchen Fällen miteinander zu kombinieren, geht<br />
einfach nicht.<br />
ZDS Immer wieder hört man von Schmiergeldern<br />
und kriminellen Gangs, die angeblich die<br />
Türpolitik kontrollieren. Was ist dran an diesen<br />
Gerüchten?<br />
SCHUSTER Ich muss zugeben, dass es Zeiten<br />
gab, in denen die wohlbekannte Gang hier regelmäßig<br />
an die Türen klopfte. Die sind heute aber<br />
vorbei, denn die „Rocker“ müssen sich verdeckt<br />
halten – zumindest an der Tür, an der ich momentan<br />
arbeite. Die Betreiber und Geschäftsführer<br />
der „Discomeile“ arbeiten inzwischen eng mit<br />
Stadtamt und Polizei zusammen.<br />
ZDS Früher war das anders?<br />
SCHUSTER Ja. Ich kann nicht mit Garantie sagen,<br />
dass da keine krummen Dinger gedreht wurden.<br />
Und vielleicht auch heute noch werden, ohne<br />
dass es für Dritte ersichtlich ist, wer weiß …<br />
ZDS Warum ist die Kontrolle der Türen denn<br />
überhaupt interessant für Gangs?<br />
SCHUSTER Es gibt natürlich ein finanzielles Interesse:<br />
Einige Clubs verdienen mehrere Zehntausend<br />
Euro am Abend. Wer möchte davon nicht<br />
ein wenig abbekommen? Konkrete Aussagen darüber<br />
kann ich aber nicht machen, das wären nur<br />
Mutmaßungen.<br />
ZDS Hat sich das Verhalten der Gäste geändert<br />
in den letzten Jahren?<br />
SCHUSTER Ihre Gewaltbereitschaft wächst stetig<br />
und sie schrecken nach wie vor nicht davor<br />
zurück, Waffen mitzubringen – trotz Waffenverbotszone.<br />
Ich bin nur froh, dass die Polizei auf<br />
der „Meile“ so gute Arbeit leistet. Die deeskalieren<br />
so manche gefährliche Situation allein durch<br />
ihre Anwesenheit.<br />
ZDS Was bedeutet die Gewaltbereitschaft der<br />
Gäste für die Zukunft der „Discomeile“?<br />
SCHUSTER Für die ein oder andere Location<br />
bedeutet es auf jeden Fall, ihr Konzept und ihr<br />
Sicherheitsniveau zu überdenken. Zum Beispiel<br />
die sogenannten 1-Euro-Bars: Viele Clubbesucher<br />
wandern da die Nacht über immer wieder<br />
hin und trinken dort viel mehr, als sie vertragen.<br />
Vor Clubs wie dem „Stubu“ und dem „La Viva“<br />
werden sie dann aggressiv, weil die Sicherheitskräfte<br />
sie als stark alkoholisierte Personen nicht<br />
wieder hinein lassen. Daraufhin ziehen sie frustriert<br />
und aggressiv über die Discomeile, wo sie<br />
ihren Frust durch Gewalt versuchen abzubauen.<br />
Oder aber sie werden auf Grund ihres stark alkoholisierten<br />
Auftretens zum Opfer und beispielsweise<br />
ausgeraubt.<br />
ZDS Wie lange wollen Sie Ihr Hobby unter diesen<br />
Umständen noch ausleben?<br />
SCHUSTER Es gibt Momente, da denke ich, das<br />
sollte die letzte Nacht gewesen sein. Wenn fünf<br />
Personen auf einen einschlagen zum Beispiel. Dennoch<br />
mag ich meinen Job: Nach so manch langer<br />
Nacht, in der ich betrunkene Frauen sicher ins<br />
Taxi gesetzt, aggressive Männer voneinander ferngehalten<br />
und ein Lob vom Chef für meine gute<br />
Türpolitik bekommen habe, kann ich nicht sagen,<br />
dass ich jemals damit aufhören möchte.<br />
ZUR PERSON<br />
Robert Schuster ist Mitte 30 und heißt in<br />
Wirklichkeit anders. Er hat über zehn Jahre Erfahrung<br />
als Türsteher an der Discomeile.
eitenweg<br />
Wo<br />
16<br />
Bildstrecke<br />
17<br />
das Gras<br />
Grüner<br />
ist<br />
Fotos: Björn Behrens
eitenweg<br />
Bildstrecke<br />
18 18<br />
19
eitenweg<br />
20<br />
20<br />
Bildstrecke<br />
21
eitenweg<br />
22<br />
Bildstrecke<br />
23
eitenweg<br />
Mi, 20.51 Uhr<br />
Rembertiring, Ecke Fedelhören<br />
Fußgängerampel springt auf Grün<br />
um, ein Paar geht über die Straße.<br />
21.07 Uhr<br />
Rembertiring,<br />
Ecke Rembertistraße<br />
Fußgängerampel springt auf Grün um,<br />
langes, vielfach unterbrochenes<br />
Piepen, Fahrradfahrer kommen aus<br />
allen Richtungen, ein Mann sieht von<br />
draußen Fernsehen.<br />
×<br />
21.10 Uhr<br />
Rembertistraße<br />
Ein Mann verstaut etwas im<br />
Kofferraum eines schwarzen Autos,<br />
Motorenrauschen.<br />
21.21 Uhr<br />
Rembertiring<br />
Ein paar Jungs kommen mir lachend<br />
entgegen. Sie gehen Essen.<br />
21.24 Uhr<br />
Rembertiring,<br />
Ecke Bahnhofsplatz<br />
Rauschen. Das schwarze Auto<br />
steht an der Kreuzung, der Fahrer<br />
hört Musik.<br />
24<br />
prosa<br />
×<br />
Ein Mann<br />
verstaut<br />
etwas im<br />
Kofferraum<br />
eines<br />
schwarzen<br />
Autos,<br />
Motorenrauschen.<br />
25<br />
Lichter,<br />
immer<br />
Text: Haleh Soleymani<br />
Illustration: Senya Corda<br />
Lichter, Warten.<br />
„Fedelhören, die Schatzkiste der Bremer City ”<br />
Ich warte darauf, dass im Schaufenster von „Elektro Andy“<br />
die Lichterkette aufhört zu blinken. Sie hört nicht auf zu blinken. Kalte<br />
Lichterpunkte, Schneeflocken im Morgengrauen, im Zwielicht, vielleicht<br />
stiller Luft. Die Autoampel springt auf Grün um. Motorenrauschen<br />
aus dem Rembertikreisel zieht auf dem dunklen Asphalt an mir<br />
vorbei. Stimmen aus dem Fedelhören werden lauter. Ein Pärchen. Beide<br />
tragen große Plastiktüten. Sie kommen näher, hören auf zu reden.<br />
Ziehen an mir vorbei. Ich warte weiter vor Elektro Andy. Hole mein<br />
Handy aus der Tasche, entsperre die Tastatur, das Display leuchtet<br />
auf. An der Ecke, aus der die beiden gekommen sind, ist das Schaufenster<br />
hell erleuchtet. Warme Lichtkreise in einer großen Viereckfront,<br />
die Autoampel springt auf Rot um, das Rauschen ist weiter entfernt.<br />
Einige der Lampen in dem Geschäft kosten mehrere Hundert<br />
Euro. Ich überlege. Warte, entsperre die Tastatur, das Display leuchtet<br />
auf. Schiebe das Handy in die Jackentasche und bewege mich lang-
eitenweg<br />
lichter,<br />
immer<br />
prosa<br />
26 27<br />
sam in Richtung Bahnhof. Werfe den Lampen von Weitem durch das<br />
Rauschen hindurch einen müden Blick zu. Erst später überquere ich<br />
die Straße. Bleibe an der Ecke Rembertistraße stehen. Warte darauf,<br />
dass die Beleuchtung der Gewoba aufhört zu leuchten. Sie hört nicht<br />
auf zu leuchten. Grasgrüner Schlenker vor dem Schriftzug, eine Wiese<br />
vor einem Wohnblock, da hinten liegt ein Verwandlungsroboter<br />
von kik, dem der linke Arm fehlt. Die Fußgängerampel springt auf<br />
Grün um, das höre ich am langen, ständig unterbrochenen Piepen.<br />
Plastik, Glas. „Albers Wettannahmen.<br />
Vitam impendere vero“<br />
Ein Mann in blauem Anorak hält mit seinem Damenfahrrad<br />
vor dem Schaufenster des Wettbüro Albers. Er sieht in die leere, mit<br />
Teppichboden ausgelegte Halle, auf den Flachbildschirm, der über einem<br />
Billardtisch hängt. Sieht sich ein Handballspiel an. Die glatte<br />
durchsichtige Fensterfront sperrt ihn aus, wird von seinem Atem beschlagen.<br />
Aus der milchigen Glastür neben einer Textilreinigung tritt<br />
ein zweiter Mann auf die Straße, hebt die Hand in Richtung eines<br />
schwarzen Autos, ein kurzes Blinken, über die Straße hinweg ein leises<br />
perfektes Knirschen, ich glaube, es ist ein Audi R6, Motorenrauschen,<br />
ständig unterbrochenes Piepen. Er öffnet den Kofferraum und<br />
wirft eine große blaue Mülltüte hinein. Der Mann im blauen Anorak<br />
steigt auf sein Fahrrad und verschwindet in der Rembertistraße. Dann<br />
kommt er zurück und fährt an mir vorbei. Ich ziehe mein Handy aus<br />
der Jackentasche. Entsperre die Tastatur. Höre, wie der Deckel des<br />
Kofferraums zufällt. Unter der Glastür des Wettbüros hindurch wird<br />
warme, nach kaltem Zigarettenrauch riechende Luft in den gleichmäßig<br />
rauschenden Abend geblasen. Das Display leuchtet auf. Unterbrochenes<br />
Piepen, immer noch, oder schon wieder, nochmal kurzes Blinken<br />
am schwarzen Auto, der Mann verschwindet im Eingang, lässt die<br />
Tür offen. Ja, ich bin ziemlich sicher, das ist ein Audi R6.<br />
Freie Plätze, Verpflegung. „discomeile.com,<br />
neuer Gerichtstermin steht in den Sternen“<br />
Ich schiebe das Handy in die Jackentasche und überquere den<br />
Rembertiring noch einmal, weg von der Discomeile, gehe weiter in<br />
Richtung Bahnhof. Nähere mich der Hochstraße. In das Motorenrauschen<br />
mischt sich ein anderer Klang, gleichmäßig ansteigend, die Straßenbahnen<br />
sind nicht mehr weit entfernt. Ein paar Jungs kommen mir<br />
entgegen, große Brillengestelle, kleine Tunnel in den Ohren. Schieben<br />
Rennräder neben sich her, einer imitiert etwas Spanisches, sie lachen,<br />
schließen ihre leichten Räder vor einem Dönerladen an die Stangen.<br />
Ich werfe einen Seitenblick auf den Fleischspieß, der sich hinter Glas<br />
wie in Zeitlupe dreht, dann auf die andere Seite der Straße, die Discomeile<br />
ist noch nicht angeschaltet. Beschließe, mir am Bahnhof ein<br />
Eis zu kaufen. Wo ist hier gleich noch die Bildungsbehörde? Rauschen,<br />
Lichter, Ampeln, Schilder, Lichter, Rauschen, Rauschen. An der Kreuzung<br />
beim Bahnhofsplatz zeigt die elektronische Tafel 164 freie Parkplätze<br />
an. Im grell beleuchteten Parkhaus steht mitten auf der Fahrbahn<br />
ein Einkaufswagen, vollgepackt mit alten Plastiktüten und Kleidungsstücken,<br />
Ampeln springen auf Rot um, auf Grün um, Rauschen.<br />
Blume<br />
An der Kreuzung vor dem Tivolihochhaus kommt langsam<br />
der Audi zum Stehen. Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche, entsperre<br />
die Tastatur. Ich warte darauf, dass die Lichter ausgehen. Sie<br />
gehen nicht aus. Der Breitenweg, ein systematisch zerlegter Weihnachtsstern,<br />
ohne Glitzer und lange vor Heiligabend, lange vor der<br />
Discomeile, bevor die Lebkuchenherzen mit Kirschfüllung in die<br />
Supermärkte kommen. Und lange danach, immer. Ich warte. Aus dem<br />
Audi dringen gedämpft Stereo Klavierakkorde in das leuchtende Rauschen.<br />
„… catch a star … so many people love you baby …“. Die<br />
Autoampel springt auf Grün um. Der Audi zieht an mir vorbei.<br />
„… waiting for a star to fall …“. Verschwindet im Rauschen. „… and<br />
carry your heart into my arms …“. Ich lasse mein Handy in der Jackentasche.<br />
Gehe weiter in Richtung Bahnhof.
eitenweg<br />
Sa, 17.31 Uhr<br />
Friedrich-Rauers-Straße,<br />
„Jakobushaus“ der Inneren Mission<br />
Ein Mann klingelt an der Tür, der Pförtner<br />
öffnet. Der Mann tritt an den Empfangstresen<br />
und diskutiert mit dem Pförtner.<br />
Schließlich hält er eine „Use Akschen“-<br />
Ausgabe der „Zeitschrift der Straße“ in<br />
die Höhe. Er will noch ein paar Exemplare<br />
davon, zum Verkaufen.<br />
17.33 Uhr<br />
Friedrich-Rauers-Straße<br />
Ecke Breitenweg<br />
Von riesigen Masten werfen helle<br />
Scheinwerfer Lichtkegel in die Nacht<br />
und tauchen das Gewirr aus Brücken,<br />
Straßen und Schienen in ein fahles,<br />
gelbes Licht.<br />
17.35 Uhr<br />
Breitenweg/Nordwestknoten,<br />
unter der Eisenbahnbrücke<br />
nach Oldenburg<br />
Der Verkehrslärm fängt sich in der<br />
Unterführung, reflektiert von Stahl und<br />
Beton. Eine Unterhaltung ist unmöglich.<br />
Aber es ist eh kein Mensch zu sehen.<br />
Nur ein Radfahrer — und auch der<br />
macht, dass er wieder rauskommt<br />
aus dem Krach.<br />
28<br />
porträt<br />
×<br />
Die Lichter<br />
glänzen auf<br />
dem nassen<br />
Asphalt.<br />
Achtspurig<br />
braust der<br />
Verkehr<br />
vorbei. Hat<br />
irgendjemand<br />
das Matratzenlager<br />
am<br />
Straßenrand<br />
gesehen?<br />
29<br />
Unter<br />
der brücke<br />
Sie hatten beide nie<br />
damit gerechnet, dass es so weit<br />
kommen könnte. Inzwischen<br />
leben sie sechs Jahre<br />
auf der Straße. Die Geschichte<br />
eines Arrangements,<br />
das den Traum nicht unterkriegt<br />
Text: Armin Simon<br />
Fotos: Caroline Nowicki<br />
Die gelben Säcke, Steffen K. wird sie wohl<br />
nie vergessen. Es war die erste Nacht,<br />
die er draußen verbrachte, verbringen<br />
musste, auf der Straße, wie man so sagt,<br />
doch auf den Bremer Straßen war nur<br />
Matsch. Der Schnee lag hoch, auch im<br />
Bürgerpark, wo Steffen K. nach einem<br />
Schlafplatz Ausschau hielt. Und wo er<br />
in der Kälte verzweifelt versuchte, die<br />
hauchdünnen Plastikfolien zu einem Zelt<br />
zusammenzubinden. Steffen K., gelernter<br />
Facharbeiter für Straßenbau, damals<br />
Mitte 20: Er hatte sich nie überlegt,<br />
wie es ist, keine Unterkunft zu haben<br />
mitten im Winter, abends nicht zu wissen,<br />
wo man hingehen soll. Es war nie ein<br />
Thema gewesen für ihn. „Ich hab gedacht,<br />
da kommt man eh nie hin.“ Man.<br />
Sechs Sommer und sechs Winter etwa ist<br />
das jetzt her. Steffen K. hat eine Matratze<br />
inzwischen und warme Decken. Er hat<br />
wieder Mitbewohner, Freunde wie<br />
Thomas B., der jetzt neben ihm steht und<br />
der eine ähnliche Geschichte erzählen<br />
kann. Es gibt einen Ort, an dem sie<br />
wohnen, oder zumindest: übernachten,<br />
mit einem Boden und einem Dach. Nur<br />
Wände gibt es nicht. Steffen K. und<br />
Thomas B. leben noch immer draußen, auf<br />
der Straße. Morgens, mittags, abends,<br />
nachts. „Ist nicht jeder für gemacht“, sagt<br />
Steffen K. Der Wind bläst kalt über den<br />
Beton, zieht durch Jacke und Hose. Der<br />
Atem bildet Wölkchen. Nur den beiden<br />
ist nicht kalt.<br />
Flucht vor<br />
der Notunterkunft<br />
Man darf nicht allzu anspruchsvoll<br />
sein, wenn man wohnungslos ist. Erst recht,<br />
wenn man Platte macht, das heißt: draußen<br />
schläft. Thomas B. und Steffen K. haben<br />
schnell gelernt, auf was es dabei ankommt.
eitenweg<br />
×<br />
17.36 Uhr<br />
Hinter dem Nordwestknoten<br />
Die Lichter glänzen auf dem<br />
nassen Asphalt. Achtspurig braust der<br />
Verkehr vorbei. Einfädeln, abbiegen,<br />
Spur halten – hat irgendjemand das<br />
Matratzenlager am Straßenrand<br />
gesehen?<br />
17.40 Uhr<br />
Breitenweg, Höhe „Jakobushaus“<br />
Die Fenster der Notunterkunft<br />
sind bunt umrandet. In nicht wenigen<br />
brennt Licht. Die Tische in der<br />
Cafeteria im Erdgeschoss sind leer.<br />
Sie hat bereits geschlossen.<br />
Unter<br />
der Brücke<br />
PortrÄt<br />
30 31<br />
Eine Autofahrerin brachte den Männern Lammfelldecken vorbei.<br />
Gegen den eiskalten Bremer Nebel schützen sie aber nur bedingt<br />
Erstens: Immer eine Unterlage, die die<br />
Kälte von unten abhält! Zweitens: Auf<br />
gute Gesellschaft achten! Obdachlose<br />
sind oft Opfer – Überfälle, Diebstähle,<br />
Aggressionen. Selbst innerhalb der Szene<br />
ist das keine Seltenheit. Wer Freunde um<br />
sich hat, schläft sicherer. Und drittens ein<br />
Platz, an dem man seine Sachen lassen<br />
kann. Ein Platz wie dieser hier: abgeschieden<br />
und doch nicht weit draußen,<br />
geräumig, aber auch bei starkem Regen<br />
trocken. Matratzen, Decken und Bretter,<br />
gestützt auf ein paar Planken, bilden einen<br />
knapp hüfthohen, gebogenen Wall um<br />
das Lager. Der schützt gegen neugierige<br />
Blicke, vor allem aber gegen Wind. Um die<br />
30 Quadratmeter misst der so umgrenzte<br />
Raum. Wäre das Geflecht aus Fahrbahnen<br />
und Brücken ringsum ein Hotel, würde<br />
man von einem Vierbettzimmer reden.<br />
Vor dem Fenster, das es hier nicht gibt,<br />
wachsen Brombeeren und Äpfel. Marder,<br />
Fledermäuse und Katzen schauen regelmäßig<br />
vorbei.<br />
Eine richtige<br />
Wohnung?<br />
„Daran denkt<br />
man jeden Tag“<br />
Der Verkehrslärm ist allgegenwärtig.<br />
„Wie Meeresrauschen“, sagt Steffen K.<br />
„Irgendwann hörst du das nicht mehr.“<br />
Die Männer haben sich arrangiert, mit<br />
der Situation, mit ihrem Leben, so gut<br />
es eben geht. Sie haben sich eingerichtet<br />
hinter den mannshohen Büschen, die im<br />
Winter bloß blattloses Geäst sind, mit<br />
Matratzen und Decken und ein paar<br />
Plastiktüten mit Kleidung und anderem<br />
Kram. Sie jammern nicht. Aber die<br />
Augen sind traurig. Wie es wäre, wieder<br />
eine richtige Wohnung zu haben, sagt<br />
Steffen K., „daran denkt man jeden Tag.“<br />
Es gibt halbintakte Stühle hier, einen Kerzenständer,<br />
einen Besen. Etwas abseits<br />
steht, auf einer Mülltonne, ein Globus.<br />
Eine Handvoll leere Zigarettenschachteln<br />
liegt zwischen den Schlaflagern, auch ein<br />
paar Flaschen, aber Komasaufen sei hier<br />
nicht erwünscht, unterstreicht Steffen K.<br />
Davor wolle man ja gerade fliehen,<br />
vor den Alkis und den Drogen in den<br />
Notunterkünften. „Wenn man selbst<br />
labil ist, kann man schnell draufgehen“,<br />
sagt er, und: „Da will ich nicht wieder<br />
reinrutschen.“<br />
Neben Steffen K.s Matratze steht ein<br />
Nachttisch aus schilffarbenem Geflecht.<br />
Der Stecker des Radioweckers darauf<br />
hängt verloren in der Luft. Der Wecker<br />
funktionierte auch mal mit Batterien,<br />
aber das Wecken übernimmt hier ohnehin<br />
der Verkehr. Morgens um fünf, sechs<br />
Uhr geht es los mit dem Gedröhne, ein<br />
Fahrzeug nach dem anderen saust dann<br />
vorbei, nur ein paar Schritte weiter. Die<br />
Straßenlaterne, die den ganzen Schlafplatz<br />
nachts in gelbes Licht taucht,<br />
erlischt um Viertel nach sieben. In der<br />
Regel schläft dann niemand mehr, denn<br />
auch die Kälte macht wach. Schon im<br />
November fiel das Thermometer neun<br />
mal unter null. „Frühmorgens ist es am<br />
schlimmsten“, sagt Thomas B.<br />
In dem Bett ganz links liegt, eingewickelt<br />
in einen Stapel Decken, ein älterer Mann<br />
mit üppigem Bart. Er reckt sich, sucht<br />
nach einer Zigarette, grüßt. Steffen K.<br />
gibt ihm Feuer. Der Kollege, erzählt er,<br />
verlasse seit zwei Wochen das Bett nur<br />
noch, um auf Toilette zu gehen. Wenn sie<br />
abends zurückkommen aus der Stadt,<br />
bringen sie ihm was zu essen mit.<br />
Die wenigsten AutofahrerInnen, die an<br />
der Schlafstelle vorbeifahren, dürften<br />
diese überhaupt bemerken. Manche<br />
hupen freundlich. Eine kam kürzlich dann<br />
zu Fuß vorbei und brachte den Brückenbewohnern<br />
ein paar Lammfelldecken.<br />
„Die sind echt gut“, lobt Thomas B. In der<br />
Frühe hilft trotz allem manchmal nur<br />
noch Aufstehen und Bewegung: Der<br />
eiskalte Nebel, der dann über Bremen<br />
liegt, kriecht überall hin. Und er macht,<br />
wenn’s dumm läuft, sogar das Geschäft<br />
kaputt. Steffen K. greift nach einem Heft,<br />
das auf dem Nachttisch liegt. Es ist ein<br />
Exemplar der „Zeitschrift der Straße“.<br />
Das Papier ist welk, wellt sich vor<br />
Feuchtigkeit. Vor Nebelfeuchtigkeit.<br />
Thomas B. kramt einen Tabakbeutel aus<br />
seinem grauen Parka, den er über die<br />
beiden Wollpullover gezogen hat, und<br />
beginnt sich die nächste Zigarette zu<br />
drehen. Seine Finger sind dunkelrot.<br />
Vor allem nachmittags stehen er und<br />
Steffen K. hinterm Hauptbahnhof und<br />
bieten die Zeitschrift dort feil. Vormittags<br />
sind sie beim Arzt – Methadonvergabe.<br />
Die meisten,<br />
die auf der<br />
Straße leben,<br />
haben ein<br />
Suchtproblem<br />
„Ich hatte auch mal ein anständiges<br />
Leben“, sagt Thomas B. Er sagt es ganz<br />
nüchtern, ohne Pathos. Es war einmal.<br />
Es war einmal, sein Job bei der Luftwaffe,<br />
zwei Jahre lang. Es war einmal, seine Zeit<br />
als Staplerfahrer bei der Spedition.<br />
Seine Beziehung damals hielt acht Jahre.<br />
Dann meldete die Firma Insolvenz an, der<br />
neue Inhaber hatte zu viele Lkws gekauft.<br />
Für Thomas B. begann „der große<br />
Absturz“. Eine Zeit lang hielt er sich<br />
mit Zeitarbeit über Wasser. Dann war<br />
die Freundin weg, der Job weg, die<br />
Wohnung weg. Er herbergte bei Freunden,<br />
schließlich fiel auch das flach. Thomas B.<br />
begann zu trinken. Mit 30, das war vor<br />
vier Jahren, kam noch Heroin dazu. Das<br />
Methadonprogramm fing ihn schließlich<br />
auf. Es brachte auch Steffen K. von der<br />
Nadel weg. „Die meisten, die auf der<br />
Straße leben, haben ein Suchtproblem“,<br />
sagt der. Zusammen gehen die beiden<br />
Männer jeden Morgen zum Arzt, trinken<br />
in der Praxis einen kleinen Plastikbecher<br />
mit dem Substitut. Es schmeckt nach<br />
nichts, sagt Thomas B., aber es besänftigt<br />
den Rappel, den der Körper sonst kriegt.<br />
Kennengelernt haben sie sich im Frühjahr,<br />
in Oslebshausen: Justizvollzugsanstalt,<br />
Abteilung für Untersuchungshaft. Dort<br />
sitzen Beschuldigte ein, die noch auf<br />
ihren Prozess warten. Und Menschen wie<br />
Steffen K. und Thomas B., die Geldstrafen<br />
und Bußgelder nicht bezahlen können.<br />
1.700 Euro waren es bei Steffen K. Rund<br />
sieben Monate saß er deswegen ein,<br />
ein Tagessatz von acht Euro. Jeder<br />
Gefängnisplatz kostet um die 100 Euro<br />
pro Tag, Baukosten für den Knast nicht<br />
mitgerechnet.<br />
80 Euro Lohn<br />
für 16 Tage Arbeit<br />
Die Möglichkeiten, als wohnungsloser<br />
Methadonsubstituierter an Geld zu<br />
kommen, sind begrenzt. Und das Geld<br />
von der BAgiS reicht nie – erst recht<br />
nicht, wenn es, wie in Steffen K.s Fall,<br />
wegen einer Sperre zeitweilig auf null<br />
gekürzt wird. Steffen K.s Knie sind kaputt.<br />
Im Straßenbau kann er nicht mehr arbeiten.<br />
Aber auf den Kopf gefallen ist er<br />
nicht. Thomas B. hat noch immer seinen<br />
Staplerführerschein. Arbeit? Er schaut an<br />
seinen Klamotten herunter. „Dafür müsste<br />
ich erst mal eine Wohnung finden. Und<br />
das ist nicht mehr so einfach.“ Er hat<br />
Schulden, die Schufa stellt ihm kein gutes<br />
Zeugnis aus. Dass die BAgiS die Miete<br />
übernehmen würde, ziehe bei Vermietern<br />
nicht, sagt er. Und dass er hier unter der<br />
Brücke zumindest seine Ruhe habe.<br />
Wenn er die „Zeitschrift der Straße“<br />
verkauft, hat er neben der aktuellen<br />
immer auch die alten Ausgaben dabei.<br />
„Viele Leute sammeln die Zeitschrift und<br />
kaufen die Hefte, die ihnen noch fehlen“,<br />
ist seine Erfahrung. Und noch eine hat er<br />
beim Verkaufen gemacht: „Wenn man<br />
sagt: ‚Zeitschrift der Straße‘, dann kommen<br />
die Leute. Sagt man‚ ,Obdachlosenzeitung‘,<br />
dann… – wsst!“ Sein Arm fährt<br />
zur Seite. Eine „Obdachlosenzeitung“ will<br />
niemand haben.<br />
Die einzigen Jobs, die er ab und an ergattert<br />
sind Gelegenheitsjobs – da finden<br />
sich immer wieder Arbeitgeber. Solche<br />
wie der Freimarkt-Gastronom, der ihn<br />
einmal zum Kellnern engagierte in<br />
seiner Kaschemme. 16 Tage lang habe er<br />
da gearbeitet, sagt Thomas B., „zwölf<br />
Stunden am Tag“. 400 Euro habe der Wirt<br />
dafür versprochen, allerdings erst am<br />
Schluss, damit sie durchhielten. Thomas<br />
B. hielt durch. Am letzten Tag drückte<br />
ihm der Wirt dann ganze 80 Euro in die<br />
Hand. Warum er ihn nicht verklagt habe?<br />
„Geht nicht“, sagt er. „Ich hatte ja keinen<br />
Vertrag.“ Oder der Mann, der mit dem<br />
dicken BMW am Bahnhof vorfuhr. 20 Euro<br />
am Tag versprach er jedem der beiden,<br />
plus Kost und einen Campingwagen zum<br />
drin wohnen. „Dafür sollten wir in<br />
Oldenburg mit einer Klingelkasse für<br />
einen Zirkus Werbung machen“, erzählt<br />
Steffen K. Wenn die täglichen Arzttermine<br />
in Bremen nicht wären, sie hätten es<br />
vermutlich sogar gemacht.<br />
„Wohnung, Arbeit, Familie“, sagt Steffen K.–<br />
wenn er sich was wünschen dürfte, dann<br />
wäre es das: „Ein ganz normales Leben“.<br />
Das ist so schnell nicht in Sicht, Steffen K.<br />
macht sich da keine Illusionen. Er hat<br />
deshalb einen zweiten, kleineren Wunsch<br />
parat: „Erst mal einen Stapel ‚Zeitschrift<br />
der Straße‘.“ Die könnte er dann verkaufen.
eitenweg<br />
Sa, 0.50 Uhr<br />
Breitenweg, Ecke Bahnhofsplatz<br />
Der DJ im „Shagall“ heizt der Menge<br />
so richtig ein: „Morgen spielt Werder<br />
gegen Stuttgart. Und damit die auch<br />
gewinnen, stimmen wir uns schon<br />
mal drauf ein!“ Und jetzt alle: „Wir<br />
sind Werder Bremen, grün-weiß das<br />
Emblem …“<br />
1.15 Uhr<br />
Breitenweg, im Restaurant<br />
„Tayba“<br />
Peter kommt rein. Ich weiß seinen<br />
Namen, weil er auf seiner Nikolausmütze<br />
steht. Er ist wesentlich älter<br />
als alle anderen hier. Am wohlsten<br />
fühlt er sich, wenn er sich an der<br />
Wand abstützen kann.<br />
1.21 Uhr<br />
Der Kellner bringt uns Pommes mit<br />
Ketchup und Mayo. Die Dips sind auf<br />
einem Extrateller und so üppig<br />
bemessen, dass man problemlos alle<br />
Pommes darin verstecken könnte.<br />
1.45 Uhr<br />
Breitenweg, in der Bar<br />
„Drink Time“<br />
Es gehört zum guten Ton hier, sich<br />
ein ganzes Tablett Longdrinks zu<br />
bestellen. Und es möglichst schnell<br />
zu leeren. Ganz wichtig dabei:<br />
Möglichst gelangweilt gucken.<br />
32<br />
Essay<br />
33<br />
×<br />
Ich trage einen<br />
bayerischen<br />
Filzhut. Ein<br />
Mädchen sagt<br />
zum Türsteher:<br />
„Der is’n Jude,<br />
ich schwör’!“<br />
Die Sache<br />
mit dem<br />
Bart<br />
Eis esse ich nur noch<br />
aus dem Becher.<br />
Aber mein Bart bleibt dran<br />
Text: Harm Coordes<br />
Fotos: Björn Behrens<br />
Letzten Sommer wurde ich verfolgt. Ich war auf dem Fahrrad unterwegs.<br />
Die Verfolger, vier junge Männer arabischen Aussehens, in einem Auto.<br />
Zuerst fuhren sie neben mir, kurbelten die Fensterscheiben herunter<br />
und beschimpften mich fäusteschwingend als Juden. Dann versuchten<br />
sie, mir den Weg abzuschneiden. Und fuhren mir auf dem Radweg hinterher.<br />
Ich bin kein Jude, in Israel war ich noch nie. Und ich konnte sie<br />
schließlich abhängen. Mein Abend aber war trotzdem gelaufen.<br />
Einige Wochen später saß ich mit Freunden in einer Kneipe.<br />
Als mein Gegenüber aufstand, erblickte mich die deutsch aussehende<br />
Frau vom Nebentisch. Sie zuckte zusammen, stieß einen spitzen Schrei<br />
aus und rief quer durchs Lokal: „Da sitzt ein Terrorist!“<br />
So was passiert mir ständig. Dabei sehe ich eigentlich ganz<br />
normal aus, deutsch, männlich, wie ein Student Ende 20 eben – nur<br />
habe ich mich seit sechs Monaten nicht rasiert. Mein Bart ist es, der<br />
mich plötzlich von anderen unterscheidet.<br />
Einen Bart trage ich schon lange. Als er zu sprießen begann,<br />
gelang mir nur ein Kinnbart, danach pflegte ich meine Koteletten bis<br />
zum Kinn. Mit 16 kam ein Oberlippenbart hinzu. Ich sah aus wie Kevin
eitenweg<br />
1.47 Uhr<br />
Meine Begleitung sagt: „Die armen<br />
Mädchen hier. Die sind total betrunken<br />
und träumen von der großen Liebe<br />
und ärgern sich am nächsten Morgen<br />
tierisch über den Typen, mit dem sie<br />
mitgegangen sind.“ Die Mädchen<br />
tragen Highheels und<br />
Abend garderobe.<br />
×<br />
2.30 Uhr<br />
Wieder draußen<br />
Ich trage einen bayerischen Filzhut.<br />
Ein Mädchen sagt zum Türsteher:<br />
„Der is’n Jude, ich schwör’!“<br />
4.03 Uhr<br />
Im „Tower“<br />
Vor dem Klo treffe ich auf zwei<br />
Typen. Der eine sagt: „Oh, sieh an,<br />
ein Rabbiner.“ Der andere: „Vor 70<br />
Jahren hätte es für dich aber ganz<br />
schön schlecht hier ausgesehen!“<br />
DIE SACHE<br />
MIT DEM BART<br />
Essay<br />
34 35<br />
Kurányi beziehungsweise wie ein durchschnittlicher Großraumdiskogänger.<br />
Als ich anfing zu studieren, trug ich Vollbart, aber moderat:<br />
ein langer Vierzehntagebart sozusagen, jede Woche ordentlich gestutzt,<br />
Stufe 6 meines Barttrimmers. Ich fiel niemandem auf.<br />
Erst seit ich in meinen Bartwuchs nicht mehr eingreife, ist alles<br />
anders. Plötzlich spricht mich jeder darauf an. „Mensch, wie siehst<br />
du denn aus?“ „Hey, du Rabbiner!“ „Hey, du Taliban!“ „Du siehst ja aus<br />
wie ein Penner!“ „Oh, der Alm-Öhi!“ „Moin, Moin, Käpt’n!“ Und:<br />
„Willst du eigentlich keine Frau mehr abkriegen?“ Binnen Sekunden<br />
mutiere ich nun vom Zionisten zum Islamisten, vom Seebär zum Camembert.<br />
Und der passende Hut dazu setzt diesem Phänomen buchstäblich<br />
noch eins drauf: Die Schubladen, in denen mich die anderen<br />
so gerne verstauen, öffnen sich jetzt noch häufiger und schneller.<br />
Es gibt Doktorarbeiten über das Thema, etwa die von Christina Wietig:<br />
„Bodystyling – wie viel Bart braucht der Mann?“ fragt sie, und hält<br />
fest, dass der Bart an sich schon eine Botschaft sei. Er identifiziere zunächst<br />
das männliche Geschlecht, da den meisten Frauen keine Haare<br />
im Gesicht wüchsen. Er vergrößere zudem die Körperoberfläche, was<br />
ein Mehr an Information zur eigenen Persönlichkeit ermögliche.<br />
Schließlich stelle er als Symbol genuiner Virilität, als Zeichen von Dominanz,<br />
politischer Gesinnung und Individualität ein öffentliches Bekenntnis<br />
zwischen subjektiver Ästhetik und kollektiven Normen dar.<br />
Für mich ging er vor allem immer mit der Mode einer Zeit: Die<br />
letzte große Vollbartwelle schwappte in den 1968er-Jahren durchs Land,<br />
ob Hippie oder Kommunist, ob APO oder Kommune: Die Männer<br />
verzottelten zunehmend. Heute kehrt der Vollbart wieder als junger<br />
urbaner Metropolenbart, eine Modegeste. Mit der Studentenbewegung<br />
von einst hat sie nichts mehr zu tun. Trendige Männer heute lesen weder<br />
Marx noch Mao: Schöne Ideen waren das, ja, keine Frage, bloß<br />
funktionierte es halt nicht. „Alles für alle“ wäre zwar ganz cool, aber<br />
mein Rennrad würde ich doch gern für mich selbst behalten. Ideale<br />
hat man schon, Ideologien jedoch bleiben lieber außen vor. Und so steht<br />
der Metropolenbart nicht für den Ausbruch aus der spießigen Reihenhausbürgerlichkeit,<br />
sondern für eine Absage an die glattrasierten, kosmetikschönen<br />
Strahlemanngesichter der metrosexuellen Uniformität.<br />
Natürlich schwingen auch Natursehnsucht, Unangepasstheit<br />
und autonomes Mannsein mit. Das männliche Geschlecht grenzt sich<br />
ab, der ewigen Androgynität und Frauenversteherhaltung überdrüssig.<br />
Das Kinn erfährt durch den Bartwuchs eine physiognomische Erweiterung,<br />
die es aggressiver und den Mann wieder bedrohlich wirken<br />
lässt. Ein exponierter Bart diente einst zur Einschüchterung von Rivalen.<br />
Für Virilität ist er daher noch immer das Symbol schlechthin.<br />
Zumal nicht jeder einen guten Vollbart hinkriegt: Man braucht den<br />
richtigen Wuchs – und Geduld.<br />
Nur zwischendurch, wenn es juckt, wenn man schwitzt unter<br />
dem Bart, wenn beim Essen die Krümel darin hängen bleiben und wieder<br />
keiner Bescheid sagt, dann kann der Bart schon mal nerven. Eis<br />
esse ich nur noch aus dem Becher.<br />
Und dann immer diese Blicke! Das ununterbrochene Angesehenwerden<br />
bedeutet Stress für den Träger eines echten Vollbarts.<br />
Das geht so weit, dass selbst Begleiter sich von den Gaffern belästigt<br />
fühlen. „Warum schneidest du ihn dir nicht endlich ab!?“<br />
Der Vollbart macht seinen Träger zum Fundamentalisten.<br />
Man trägt ihn immer aus Überzeugung. Und demonstriert Selbstvertrauen,<br />
indem man all diese Blicke erträgt. Manche tun es für ihre Religion.<br />
Der Almbewohner zeigt seine Askese und Naturverbundenheit.<br />
Und der Fischer, der Tage und Nächte auf See verbringt, schert sich<br />
nicht um die Landratten. Der Bart steht für Rückgrat und innere Haltung.<br />
Das haben alle barttragenden Kulturen und Subkulturen, Gruppen<br />
und Eigenbrötler gemeinsam. Die Terroristen des 11. September<br />
trugen übrigens keinen: Sie versteckten sich, sahen angepasst aus und<br />
waren trotzdem mörderisch gefährlich.<br />
„Viel Spaß beim Wandern!“, „Fahr nicht zu weit raus, Junge!“,<br />
„La baguette et le fromage“ höre ich mir also gerne an. Dank der Politikverdrossenheit<br />
der Gesellschaft will eh niemand wissen, wofür ich<br />
wirklich stehe. Das Interpretieren von Bärten ist heute noch in allen<br />
Köpfen, aber es öffnet nur Schubladen und bedeutet nichts mehr.<br />
Ich sehe nicht ein, warum ich mich anpassen sollte. Nur damit<br />
mich keiner mehr anspricht? Was würde ein echter Alm-Öhi sagen?<br />
„Isch mir doch glich, was d’Lüt sagget.“ Recht hat er.
eitenweg<br />
15.59 Uhr<br />
Rembertiring,<br />
„Automatencasino“<br />
„Jugendliche unter 18 Jahren kein<br />
Zutritt“ steht schwarz auf weiß auf<br />
einem Schild an der Tür.<br />
16.00 Uhr<br />
Auf der Brake,<br />
Spielkasino „Planet Ufo“<br />
„OPEN“ – Das Leuchten des Neonschilds<br />
ist schon von Weitem zu<br />
sehen. Von den Plakatwänden<br />
lächeln fröhliche, elegant gekleidete<br />
Spieler die Passanten an. Drinnen<br />
sitzen zwei Männer allein versunken<br />
hinter den Spielautomaten.<br />
16.01 Uhr<br />
Rembertiring,<br />
„Automatencasino“<br />
Braune Fußabdrücke. Auf dem roten<br />
Teppich die Spuren des Tages.<br />
×<br />
16.03 Uhr<br />
Ein älterer Mann hat zwei Spielautomaten<br />
für sich eingenommen. Er<br />
wechselt ständig zwischen ihnen hin<br />
und her und versucht sein Glück.<br />
Dann der Gewinn: 23 Euro. Der Mann<br />
stößt einen leisen Jubelschrei aus.<br />
36<br />
interview<br />
×<br />
Ein älterer<br />
Mann hat<br />
zwei Spielautomaten<br />
für sich eingenommen.<br />
Er wechselt<br />
ständig<br />
zwischen<br />
ihnen hin<br />
und her.<br />
37<br />
Zurück an<br />
die Tische<br />
Sein BAföG reichte ihm nicht.<br />
Deswegen begann<br />
er zu pokern.<br />
Ein Frage- und Antwortspiel<br />
über das gute Gefühl<br />
beim Gewinnen<br />
und die Sucht nach ihm<br />
Interview: Benjamin Eichler, Marlo Mintel<br />
Fotos: Eike Harder<br />
zds Herr Stark, was bringt mehr Geld fürs<br />
Studium: BAföG oder Pokern?<br />
Stark Pokern natürlich – wenn man’s kann.<br />
zds Sie können es gut?<br />
Stark Ich hatte schnell ein Level erreicht, mit<br />
dem ich gutes Geld erspielen konnte, ja. Anfangs<br />
waren das nicht mehr als 50 Euro im Monat. In<br />
der Folgezeit wurden die Gewinne immer größer.<br />
Habe mich viel mit den Strategien auseinandergesetzt<br />
und viel über Psychologie gelernt.<br />
zds Waren Sie schon immer eine Spielernatur?<br />
Stark Ich habe bereits mit vier Jahren angefangen,<br />
Konsole zu zocken. Schon damals war<br />
mein Anspruch immer, zu gewinnen. Selbst bei<br />
Gesellschaftsspielen im Familienkreis konnte ich<br />
nicht verlieren. Wenn ich mal Kinder haben sollte,<br />
werde ich sie wohl nicht gewinnen lassen.<br />
Ich werde meinen Sieg sogar eher genießen.<br />
zds Wie kamen Sie zum Pokern?<br />
Stark Angefangen hat es vor fünf bis sechs Jahren.<br />
Angefixt durch das Fernsehen haben wir im<br />
Freundeskreis die ersten Pokerabende gemacht.<br />
Es ging nur um kleine Beträge damals. Dann habe<br />
ich mit Onlinepoker angefangen. Irgendwann<br />
war es soweit, dass ich da mit 15 Dollar Einsatz<br />
in kürzester Zeit 150 Dollar gewonnen habe. Da<br />
habe ich mich wie der König der Welt gefühlt!<br />
zds Und wie lange währte das?<br />
Stark Nicht lange. Ich habe diesen Gewinn am<br />
gleichen Tag wieder verloren. Da habe ich mich<br />
natürlich schlecht gefühlt.<br />
zds Haben Sie daraufhin Ihre Finger vom<br />
Pokerspielen gelassen?<br />
Stark Im Gegenteil: Ich fing an, mich noch intensiver<br />
mit dem Spiel zu beschäftigten. Letzten<br />
Endes habe ich von da an unterm Strich immer<br />
Geld gemacht. Als Pokerspieler darf man nicht<br />
das einzelne Spiel sehen, sondern ob man am En-
eitenweg<br />
16.09 Uhr<br />
Auf der Brake,<br />
Spielkasino „Planet Ufo“<br />
Ein Mann kommt heraus, zündet sich<br />
eine Zigarette an und zieht die Fellkapuze<br />
ins Gesicht.<br />
16.24 Uhr<br />
Zitrone–Zitrone–Glocke. Verdammt –<br />
wieder kein Gewinn!<br />
16.40 Uhr<br />
Breitenweg<br />
Eine junge Frau in Röhrenjeans<br />
springt über eine Pfütze. Das Regenwetter<br />
verträgt sich nicht mit ihrem<br />
Lippenstift.<br />
zurück an<br />
die tische<br />
interview<br />
38 39<br />
Spielen macht nicht unglücklich – zumindest, solange man<br />
gewinnt. Aber unterm Strich verlieren die meisten<br />
de des Jahres mehr Geld in der Tasche hat als<br />
am Anfang. Ich habe in dieser Zeit einen guten<br />
Freund kennengelernt. Der war mir im Pokern<br />
um einiges voraus. Von ihm habe ich viel gelernt<br />
und bin auf ein höheres Level gekommen. Ab<br />
dann konnte ich mir durch das Pokern mehr leisten,<br />
als ich es jemals zuvor konnte.<br />
zds Macht Pokern süchtig?<br />
Stark Oh, das ist schwierig. Jeder definiert Sucht<br />
anders. Sucht ist, wenn du wider besseren Wissens<br />
es trotzdem machst. Auf Glücksspiel bezogen<br />
ist süchtig, wer sein Geld nimmt, es in die<br />
Spielhalle trägt, alles verliert und weiterhin auf<br />
den großen Gewinn hofft.<br />
zds Weil er denkt: Je öfter ich spiele, umso größer<br />
meine Gewinnchance?<br />
Stark Ja genau. Du hast viel Geld in den Automaten<br />
geworfen und das möchtest du nun auch<br />
wieder zurückgewinnen. Oder bei Sportwetten:<br />
Wenn die ersten fünf Spiele nicht liefen, glaubst<br />
du, dass das sechste ein Gewinn sein wird.<br />
zds Warum ist es so schwer aufzuhören?<br />
Stark Ich hab dazu eine interessante Studie gelesen,<br />
über einen Versuch mit Laborratten, bei<br />
denen man Suchtverhalten untersuchte. Der Versuch<br />
sah so aus, dass die Ratten auf einen Knopf<br />
gedrückt haben, wenn sie was zu essen haben<br />
wollten. Jedes Mal, wenn sie draufgedrückt haben,<br />
bekamen sie Essen. Dann haben die Tester<br />
die Versuchsanordnung geändert: Auch wenn die<br />
Ratten den Knopf gedrückt haben, bekamen sie<br />
kein Essen mehr. Die Ratten beschäftigten sich<br />
jetzt bald mit etwas anderem. War der Knopf allerdings<br />
so eingestellt, dass ein Zufallsgenerator<br />
bei jedem Drücken neu entschied, ob es etwas<br />
zu Essen gab oder nicht, drückten die Ratten den<br />
ganzen Tag auf den Knopf. Und das spiegelt genau<br />
das Prinzip der Spielhallen wider. Du weißt<br />
nicht, wann du gewinnst. Weil die Leute nicht<br />
wissen, wann sie gewinnen, laufen sie immer wieder<br />
hin. Denn sie denken, dass sie irgendwann<br />
ja gewinnen müssen.<br />
zds Sie haben doch auch gespielt!<br />
Stark Beim Pokern kommt ein spezieller Faktor<br />
hinzu: Es gibt die offenen Karten in der Mitte.<br />
Deswegen ist ein großer strategischer Teil<br />
dabei. Das ist der Teil, den du selbst beeinflussen<br />
kannst – der Unterschied zwischen Pokern<br />
und reinen Glücksspielen. Aber selbst der beste<br />
Pokerspieler der Welt kann verlieren, sogar<br />
gegen Anfänger. Es kommt nur seltener vor. Es<br />
ist eine Achterbahn. Die geht nicht nur nach<br />
oben, sondern auch nach unten.<br />
zds Auch bei Ihnen?<br />
Stark Ich habe jeden Monat eine vierstellige<br />
Summe gewonnen, in guten sogar fünfstellig. Aber<br />
mit dem Spielen kamen Probleme in meinem Umfeld.<br />
Nach dem vierten Semester habe ich mein<br />
Studium abgebrochen – und stand dann ohne regelmäßiges<br />
Einkommen da. Schließlich bekam ich<br />
kein BAföG mehr. Meine Freundin hat mich verlassen.<br />
Ich bin in ein ziemliches Loch gefallen.<br />
Ich habe damals gelernt, dass man nur pokern<br />
sollte, wenn man sich gut fühlt.<br />
zds Sie haben verloren?<br />
Stark Ich bin nach England geflogen zu einem<br />
großen Turnier, bei dem ich mit einem Einsatz<br />
von 1.400 Pfund die Chance auf einen großen<br />
Gewinn hatte. Ich bin aber schnell aus dem Turnier<br />
rausgeflogen. Aus Frust habe ich die kommenden<br />
Nächte im Casino verbracht und dort<br />
beim Pokern fünfstellig verloren. Konkret sah<br />
das so aus: Ich fuhr zum Casino, setzte mein Geld,<br />
verlor es und fuhr nach Hause. Die Gefahr war<br />
groß, alles zu verlieren. Da habe ich mir gesagt:<br />
Zieh die Notbremse!<br />
zds Und haben Sie sie gezogen?<br />
Stark Ich habe mein Geld meinen Eltern geschenkt<br />
und mir selbst nur so viel gelassen, dass<br />
ich ein paar Monate davon leben konnte. Ich war<br />
am Punkt null.<br />
zds Also nie wieder pokern?<br />
sprecher Doch klar. Ich gewann dann glücklicherweise<br />
ein Turnier, das mir 8.000 Euro einbrachte.<br />
Das war ein wichtiges Polster für mich.<br />
Hab dann die Entscheidung gefällt, ein anderes<br />
Studium anzufangen, das mich mehr anspricht,<br />
als mein erstes.<br />
ZDS Macht Gewinnen glücklich?<br />
STARK Von mir kann ich sagen, dass mich das<br />
Spielen nicht unglücklich macht, solange ich gewinne.<br />
Aber ich kenne viele, die mit Glücksspiel<br />
viel Geld gemacht haben und jetzt ihr Leben nicht<br />
mehr geregelt bekommen. Viele Onlinepokerspieler<br />
verkriechen sich in dieser Onlinewelt,<br />
sind sozial isoliert und kommen kaum noch aus<br />
dem Haus. Oder sie leben in Saus und Braus und<br />
haben nichts Ernstes mehr in ihrem Leben, nach<br />
dem Motto: Das ganze Leben ist ein Glücksspiel.<br />
Selbst bei mir kann ich nicht sagen, inwieweit<br />
mich Pokern nicht doch verbrannt hat. Wenn du<br />
einmal so viel Geld mit einer leichten Tätigkeit<br />
gemacht hast, ist es schwierig, sich für richtige<br />
Arbeit zu motivieren. Ich etwa hatte mir schon<br />
ab und an die Frage gestellt, warum ich überhaupt<br />
noch studiere.<br />
ZDS Hat Ihr plötzlicher Reichtum Ihr Verhältnis<br />
zum Geld verändert?<br />
STARK Schon. Ich habe beispielsweise während<br />
meines Studiums lieber 20 Euro für ein Taxi ausgegeben<br />
als zehn Minuten auf eine Bahn zu warten.<br />
Das hat sich aber schnell wieder gelegt.<br />
ZDS Macht es einen Unterschied, ob man Geld<br />
für Pokern oder für andere Dinge ausgibt?<br />
STARK Klar. Mir fällt es beispielsweise heute<br />
noch schwer, für Belangloses zehn Euro rauszuhauen.<br />
Wenn ich aber am Pokertisch sitze und<br />
verliere 200 Euro, dann ist es halt so – scheißegal,<br />
für mich war es ein Einsatz!<br />
ZDS Geht es beim Gewinnen nur ums Geld?<br />
STARK Nein, manchmal auch vielmehr darum,<br />
sich selbst zu beweisen.<br />
ZDS Deutschland stellt mit Pius Heinz seit<br />
Kurzem erstmals den Weltmeister im Pokern.<br />
Die Medien preisen ihn als neuen Star. Sollten<br />
wir jetzt alle pokern?<br />
STARK Erst mal ist dieses Gerede, wir sind Pokerweltmeister,<br />
ein völliger Quatsch. Letztendlich<br />
spielt jeder für sich. Auch Pius Heinz spielt<br />
nicht „für Deutschland“, sondern gewinnt das<br />
Geld für sich. Zum Pokern würde ich niemandem<br />
raten. 95 Prozent der Spieler beim Onlinepoker<br />
verlieren mehr Geld, als sie gewinnen. Die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass du dich verbrennst, ist<br />
also viel höher, als dass du etwas gewinnst. Und<br />
wer sich mit der Szene näher beschäftigt, der<br />
wird schnell erkennen, dass da mehr Schein als<br />
Sein ist. Viele von den durch das Fernsehen hochstilisierten<br />
vermeintlichen Stars sind in Wahrheit<br />
Gauner und Verbrecher, haben fünfmal geheiratet,<br />
nehmen regelmäßig harte Drogen und<br />
saßen schon im Knast. Leichtes Geld verführt<br />
zu Dummheiten.<br />
ZDS Haben Sie noch Spaß am Spiel?<br />
STARK Nein. Viele Spieler verlieren irgendwann<br />
die Passion.<br />
ZDS Wovon leben Sie heute? Von den Ersparnissen,<br />
die Sie sich nach Ihrem „Punkt null“<br />
erspielt haben?<br />
STARK Ja, zum Teil. Wenn es allerdings eng wird,<br />
geht es zurück an die Tische.<br />
Zur Person<br />
Jan Stark (Name geändert) ist 24 und studiert<br />
in Bremen. Seine Familie schätzte seine<br />
Pokerkarriere und unterstützte ihn.
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Das Abo<br />
der strasse<br />
für alle Unternehmen, Institutionen<br />
und Nicht-BremerInnen<br />
32 Euro für acht Ausgaben, per Post, frei Haus.<br />
Bestellung: abo@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Bitte Liefer – und Rechnungsadresse sowie Startausgabe angeben.<br />
Bezahlung gegen Rechnung mit ausgewiesener Umsatzsteuer.<br />
Die Liga<br />
der außergewöhnlichen Drucker<br />
UWE VANDREIER DIETMAR KOLLOSCHÉ ALEXANDRA WILKE UND ANDRÉ APPEL<br />
BERLINDRUCK UND GSG BERLIN PRÄSENTIEREN IN ZUSAMMENARBEIT MIT A1/BREMER KREUZ/A27 OSKAR-SCHULZE-STR. 12<br />
EINE CO-PRODUKTION MIT 28832 ACHIM EINE BERLINDRUCK PRODUKTION<br />
EIN FILM VON REINHARD BERLIN FRANK RÜTER CASTING HEDDA BERLIN ANKE HOLSTE HERSTELLUNGSLEITER WALTER SCHWENN KOSTÜMDESIGNER BJÖRN GERLACH VOLKER KAHLERT MARCUS LATTERMANN<br />
HANS-H. LILIENTHAL ANDREAS MINDERMANN MIKE REIMERS JOCHEN RUSTEDT THOMAS VIERKE ERHARD VOSSMEYER JENS WETZEL IN ZUSAMMENARBEIT MIT CHRISTIAN EWERT MARIAN KACYNA<br />
MAKE-UP IRIS KAISER-BANDMANN SCHNITT JÖRG WORTMANN PRODUKTIONSDESIGNER THOMAS BARTELS MELAHAT HALTERMANN THOMAS HARTUNG LARS JANSSEN RANDERS KÄRBER<br />
MONIKA PLOTTKE DENNY QUEDNAU MARLIES WELLBROCK FOTOGRAFIE-DIREKTOR CARSTEN HEIDMANN PRODUKTIONSLEITUNG KATJA LINDEMANN BEST GIRLS/BOYS JENS BECKEFELDT TIM BUSCHBAUM<br />
CHEVY ORLANDO FRITSCH HARIS NURCOVIC DELIA WEBER AUSFÜHRENDE PRODUZENTEN DAGMAR BAUMGARTEN SONJA CORDES HANS-JÜRGEN KULKE ECKARDT SCHULZ<br />
PRODUZENTEN KIRSTEN HINRICHS ROLF MAMMEN ANNE SWIERCZYNSKI DREHBUCH HENRIKE OTT NACH EINER IDEE VON PATRICK CALANDRUCCIO PETRA GRASHOFF REGIE ECKARD CHRISTIANI<br />
www.berlindruck.de
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impressum vorschau<br />
46 47<br />
Redaktion<br />
Benjamin Eichler<br />
Andrea Karch<br />
Marlo Mintel<br />
Wiebke Plasse<br />
Luca Pot d’Or<br />
Leo Rokita<br />
Allegra Schneider<br />
Leitung:<br />
Armin Simon<br />
redaktion@zeitschrift-der-strasse.de<br />
text<br />
Haleh Soleymani<br />
Harm Coordes<br />
Papier:<br />
Circleoffset White, 100 g / m 2<br />
hergestellt von Arjo Wiggens,<br />
vertrieben durch HANSA-PAPIER,<br />
Bremen, ausgezeichnet mit dem<br />
Blauen Umweltengel und<br />
dem EU-Ecolabel<br />
Marketing &<br />
Organisation<br />
Mareike Inselmann<br />
Anna Markelova<br />
Julia Münks<br />
Friederike Stegemann<br />
Nora Will<br />
Leitung:<br />
Prof. Dr. Michael Vogel<br />
mvogel@hs-bremerhaven.de<br />
Vertrieb<br />
Willi Albers<br />
Axel Brase-Wentzell<br />
Conny Eybe<br />
Tabbo Hankel<br />
Alexander Liske<br />
Jens Patermann<br />
Jonas Pot d’Or<br />
Reinhard „Cäsar“ Spöring<br />
Gimmy Wesemann<br />
und viele wohnungslose Menschen<br />
Leitung:<br />
Bertold Reetz<br />
reetz@inneremission-bremen.de<br />
Gestaltung<br />
Malena Bahro, Jan Charzinski,<br />
Leonie Francke, Lea Hinrichs,<br />
Eileen Jahn, Andrea Karch,<br />
Bernd Krönker, Martin Petersen,<br />
Caren Reuss, Allegra Schneider,<br />
Jasper Szlagowski, Sarah Volz,<br />
Christina Wangler,<br />
Björn Wiedenroth, Nina Wood<br />
Leitung:<br />
Jana Topel,<br />
j.topel@hfk-bremen.de<br />
Fotografie &<br />
Illustration<br />
Björn Behrens, Lilly Bosse<br />
Senya Corda, Leonie Francke<br />
Eike Harder, Caroline Nowicki<br />
Martin Petersen<br />
Leitung:<br />
Annika Nagel<br />
a.nagel@hfk-bremen.de<br />
Art Direction:<br />
Prof. Andrea Rauschenbusch<br />
a.rauschenbusch@hfk-bremen.de<br />
Lange<br />
reihe<br />
Walle lebt, doch jedes Leben hat<br />
ein Ende. Wir gucken nach beidem,<br />
vor und hinter den Gardinen.<br />
Ab Mitte März beim Straßenverkäufer<br />
Ihres Vertrauens.<br />
Herausgeber— Verein für Innere Mission in Bremen, Blumenthalstraße 10, 28209 Bremen /<br />
Partner— Gisbu, Gesellschaft für integrative soziale Beratung und Unterstützung mbH, Bremerhaven /<br />
Hochschule für Künste Bremen / Hochschule Bremerhaven / Internet— www.zeitschrift-der-strasse.de<br />
/ Kontakt— post@zeitschrift-der-strasse.de / V.I.S.D.P.— Armin Simon, JournalistInnen-Etage<br />
Bremen, Fedelhören 8, 28203 Bremen / Anzeigen: Michael Vogel, An der Karlstadt 8, 27568 Bremerhaven /<br />
LEKTORAT— Textgärtnerei, Am Dobben 51, 28203 Bremen / Typografie— Krana: Lauri<br />
Toikka, Finnland, ltoikka@gmail.com / Gill Sans Mt Pro, Akzidenz Grotesk Pro: Linotype GmbH, Deutschland<br />
/ Druck— BerlinDruck GmbH & Co KG, Oskar-Schulze-Str. 12, 28832 Achim, www.berlindruck.de /<br />
Gerichtsstand & Erfüllungsort— Bremen / Erscheinungsweise—<br />
achtmal jährlich / Auflage— 15.000 / Anzeigenverkauf— Michael<br />
Vogel, Telefon 0179 7003131, anzeigen@zeitschrift-der-strasse.de / A nzeigenpreise— Preisliste<br />
02, gültig seit 01.02.2011 / I SSN 2192-7324 / Mitglied im International Network of Street Papers (INSP) /<br />
Abo— für Firmen, Institutionen und Nicht-BremerInnen (32 € / 8 Ausgaben) : abo@zeitschrift-der-straße.de<br />
Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Die Zeitschrift<br />
der Straße und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen<br />
Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung des Herausgebers strafbar. Alle Anbieter von Beiträgen, Fotos und Illustrationen<br />
stimmen der Nutzung in den Ausgaben der Zeitschrift der Straße im Internet, auf Dvd sowie in Datenbanken zu.
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Die lesung<br />
der strasse<br />
Autorinnen und Autoren<br />
der Zeitschrift der Straße lesen aus<br />
ihren literarischen Texten:<br />
Kurzgeschichten und Fragmente,<br />
Märchen<br />
und Manifeste<br />
ort und zeit<br />
17. Februar 2012<br />
Etage 3 im kulturzentrum lagerhaus<br />
schildstrasse 12 -19, 28203 Bremen<br />
einlass ab 20.00 Uhr, beginn 20.30 uhr<br />
eintritt frei, spende erbeten