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Wiehre Magazin, Mai 2016

Bahnhofsliebe: Ludwig Quaas hat sich seinen Traum erfüllt und ist Koch sowie Inhaber der Gaststätte im Wiehre Bahnhof

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TIPPS ABDRUCK<br />

Buch-Tipp<br />

Maxim Biller<br />

Vielleicht, aber nur vielleicht wäre<br />

alles anders gekommen, wenn<br />

Noah Forlani, mein Freund und<br />

Bruder, an Silvester 2005 nicht nach<br />

Berlin geflogen wäre, wo er bei einer<br />

kleinen, verwirrenden Filmparty in der<br />

Schliemannstraße 12 erst den Tisch mit<br />

den Wasabi-Canapés und dem südafrikanischen<br />

Prosecco umwarf und danach<br />

Ethel Urmacher vor allen Leuten die linke<br />

Wange streichelte. War also alles seine<br />

eigene Schuld? Er hätte genauso zu Hause<br />

in Herzlia Pituach bleiben können, wo<br />

seine etwas zu klein geratene Frau Merav<br />

mal wieder ein<br />

Essen gab, bei<br />

dem zehn langweilige<br />

Israelis<br />

den ganzen Abend<br />

leise sprechend<br />

um ihren drei Kilometer<br />

langen<br />

Mogensen-Tisch<br />

herumstanden<br />

und Krevetten auf<br />

Rucola aßen. Ja,<br />

genau die Merav – die mit dem Nan-Goldin-Komplex,<br />

den Prada-Stilettos, dem<br />

eher warmen als kalten Herzen und der<br />

unangenehmen Angewohnheit, Noahs<br />

Freunden extra muros zu erzählen, er<br />

könne nur, wenn er sich in einem schmutzigen<br />

Hemd aufs Bett setzte, die Hände<br />

ans imaginäre Steuer legte und zu ihr<br />

sagte: »Und, Kleine, wohin soll ich dich<br />

mitnehmen?« Ich war in dieser Nacht nicht<br />

in Berlin und nicht in Herzlia Pituach, und<br />

wäre ich nicht nach Prag gefahren, um die<br />

Saunasache und alles andere zu vergessen,<br />

hätte Noah auch nicht meine Wohnung<br />

niederbrennen können – und die<br />

Shylock war hier-Datei wäre noch da und<br />

Noah nicht ein ganzes Jahr tot gewesen.<br />

Aber vielleicht wäre es, was mich angeht,<br />

Biografie<br />

Maxim Biller hat einen neuen, fulminanten Roman über zwei deutschjüdische<br />

Freunde geschrieben. Wir veröffentlichen hier einen Auszug:<br />

»<br />

in gegenwart besonders<br />

berühmter, bedrückter<br />

Leute seine eigenen Geldund<br />

Post-Holocaust-<br />

Depressionen vergessen“<br />

noch klüger gewesen, in Herzlia Pituach<br />

bei Meravs Abendessen dabei zu sein und<br />

eine von diesen Tel Aviver Cantina-Schabracken<br />

kennenzulernen, die zwar alle<br />

genug jiddische Mame in sich haben, aber<br />

trotzdem wissen, dass beim Sex die Finger<br />

der Frau nicht dazu da sind, heimlich<br />

unter der Bettdecke zu zählen, wie lange<br />

es noch dauert, bis der zukünftige Ehemalige<br />

endlich k. o. gehen wird. Während<br />

ich, der alleswissende, nichtsverstehende<br />

Solomon Karubiner, in Prag auf einem<br />

Balkon des Hotels U Dvou koček stand,<br />

auf dieses blasse frühkapitalistische Silvesterfeuerwerk<br />

über dem Hrad-<br />

Schräger Humor<br />

Maxim Biller wurde<br />

1960 in Prag geboren<br />

und lebt seit 1970 in<br />

Deutschland. Er ist Kolumnist<br />

der FAS, der Zeit<br />

und Mitglied des Literarischen<br />

Quartetts. Seine<br />

Romane beschäftigen<br />

sich in schräger, humorvoller und schonungsloser<br />

Weise mit dem Jüdischsein. „Biografie“<br />

ist die verrückte Geschichte zweier<br />

deutsch-jüdischer Freunde auf 900 Seiten.<br />

©Christian Werner<br />

schin guckte und<br />

überlegte, was<br />

der Unterschied<br />

zwischen Neoliberalismus<br />

und<br />

Kommunismus<br />

war – kommt darauf<br />

an, wer fragt<br />

–, rutschte Noah<br />

in Berlin fast aus<br />

bei dem Versuch, sich Gerry Harper zu<br />

nähern, in Brentwood und Umgebung<br />

wegen seiner sexuellen Möglichkeiten<br />

auch »El Dick« genannt. Gerry war mit<br />

Tal »The Selfhater« Shmelnyk da, dem<br />

manischen, rotgesichtigen, matzebrotdünnen<br />

Israeli, der für Noah das zweite<br />

Goebbels-Video drehen sollte, was er<br />

aber noch nicht wusste. Noah wollte<br />

Gerry ein gutes neues Jahr wünschen. Er<br />

wollte ihn auch fragen, ob sie sich nicht<br />

mal in L. A. sehen könnten – entre nous<br />

–, er habe dort wegen der Beteiligung an<br />

einem Fairtrade-Kosher-Nacho-Inn bald<br />

zu tun. Und er wollte ihm sagen, aber<br />

erst später, er könne nur in der Gegenwart<br />

besonders berühmter, bedrückter<br />

Leute seine eigenen Geld- und Post-Holocaust-Depressionen<br />

vergessen. Vor allem,<br />

wenn diese Leute wie Gerry »El Dick«<br />

Harper im letzten Bryan-Singer-Film den<br />

neuen Obernazi Tom Cruise an die Wand<br />

gespielt hatten, an der dieser zum Schluss<br />

von den anderen Gojim in gehackte Leber<br />

verwandelt wird. Noah machte, nachdem<br />

er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte,<br />

einen Schritt zu viel. Er stand jetzt so dicht<br />

vor Gerry, dass der genauso tief in seine<br />

aufgerissenen Augen blicken konnte wie<br />

ein Betrunkener in die Toilette, in die er<br />

sich übergeben wird.<br />

Leseprobe aus: „Biografie“ Maxim Biller,<br />

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, <strong>2016</strong><br />

34 | Freiburg <strong>Wiehre</strong> Stadtteilmagazin

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