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De:Bug 181

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70 — <strong>181</strong> — MANIFEST TEXT JAN WEHN<br />

BekenntnissE<br />

eines Techno-<br />

Hochstaplers<br />

/ Moritz<br />

Wehn<br />

Vom Praktikant zum Redakteur war<br />

es in der <strong>De</strong>:<strong>Bug</strong> oft kein weiter Weg,<br />

zuletzt schlug ihn Jan Wehn ein, der seit<br />

Herbst 2013 zur Redaktion gehört. Zum<br />

dicken Ende outet er sich als dreister<br />

Techno-Hochstapler: Ohne Rave-Ahnung<br />

in die Höhle der Auskenner - Oh Boy!<br />

Was reimt sich auf Moritz? Po-Schlitz. Es ist 1993.<br />

Ich stehe auf dem Pausenhof der Grundschule<br />

Hohenlimburg. Um mich herum zehn, vielleicht<br />

15 Sebastians und Noras, Philipps und Tanjas,<br />

die immer wieder "I like to Moritz Po-Schlitz!"<br />

singen und sich dabei in Sachen Phrasierung,<br />

Rhythmik und Intonation an Real 2 Reals Ragga-<br />

House-Smasher "I Like To Move It" orientieren.<br />

Moritz, das ist mein zweiter Vorname. Meine<br />

Eltern haben ihn mir extra ohne Bindestrich<br />

gegeben - damit ich mir aussuchen kann, wie<br />

ich genannt werden möchte. Moritz, das weiß<br />

ich spätestens jetzt, sicher nicht. Mittags gibt’s<br />

Milchreis mit Zimt.<br />

Danach der Anblick des nässenden Herpes<br />

eines alten Rentners, der mir und meiner<br />

Schwester das Spielen auf der Blockflöte<br />

beibringen soll. Seine krustigen Lippen saugen<br />

das rohrförmige Blasinstrument aus Holz ein.<br />

Immerhin weiß ich jetzt, wie man ein tiefes C<br />

spielt.<br />

Am Samstagmorgen staubsaugt mein<br />

Vater das Wohnzimmer. Unter das Rauschen<br />

der Miele-Maschine mischt sich ein AOR-<br />

Klangteppich erster Güte: Genesis, Chicago,<br />

Manfred Man’s Earth Band, Dieter Falk. Am<br />

Abend schauen 18 Millionen Menschen und ich<br />

Michael Jackson dabei zu, wie er bei "Wetten<br />

dass...?!" in die wackelige Gondel steigt, unters<br />

Dach der Mehrzweckhallen in Duisburg-<br />

Hamborn schwebt und, von der Nebelmaschine<br />

durchgepustet, unseren schönen aber maladen<br />

Planeten besingt.<br />

Adventszeit. Ich backe mit meiner<br />

Mutter Heidesandplätzchen. In unserem alten<br />

Küchenradio steckt das erste Tape von Bushido.<br />

Mama wollte es gern mit mir zusammenhören.<br />

Weil's ja doch was anderes als der heile<br />

Mittelstandsrap von den Beginnern ist. Ich habe<br />

mehr Angst als sie. Nach 6 Minuten "Carlo,<br />

Cokxxx, Nutten" setzen wir uns kritisch mit dem<br />

eben Gehörten auseinander. Vielleicht ging's da<br />

los.<br />

Mit Mama und Papa zu Besuch in der<br />

Hauptstadt. Im Kino in den Hackeschen Höfen<br />

schauen wir gemeinsam "Berlin Calling". Guter<br />

Film.<br />

Studium in Bonn. Mein Mitbewohner trägt<br />

lange Haare und hört Burial. Und µ-Ziq. Und<br />

Fennesz. Und Bohren & <strong>De</strong>r Club of Gore. Ich<br />

muss das jetzt gut finden. Erst mal ein Spex-Abo<br />

abschließen.<br />

<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>-Redaktion, Schwedter Straße 9,<br />

Prenzlauer Berg. Bewerbungsgespräch zum<br />

Praktikum. "Und, wohin gehst du so aus?“. Anton<br />

Waldt quetscht Buchstaben in seine Tastatur und<br />

mich über mein Feierverhalten aus. Gute Frage.<br />

"Hm, eigentlich gar nicht so richtig." - "Gar nicht?<br />

Oh Boy!" Nee, tatsächlich gar nicht. Ich bin ohne<br />

Techno großgeworden. Interessiert mich einfach<br />

auch nicht so richtig. Drei Mal Berghain, am<br />

Wochenende lieber Frau und Hund und BaWü-<br />

Bergstraßenromantik galore. Wie um alles in der<br />

Welt bin ich hier gelandet? Völlig egal. Ich darf<br />

wiederkommen.<br />

»Über jeden französischen Techno- oder<br />

Houseact wird ein Mülleimer voller schlechtgebeugter<br />

Nasale ausgekippt, so dass der Arme sich nach<br />

spätestens zwei Artikeln für ein krosses Baguette<br />

mit Käsefüßen halten muss.«<br />

Sascha Kösch, Mai 1999, <strong>De</strong>:<strong>Bug</strong> 23<br />

Thomas German moderiert "Hit Clip" vor<br />

dem Lavalampen-Greenscreen. Meine Mutter<br />

bringt das erste Album von Take That mit<br />

nach Hause. Zum Geburtstag bekomme ich<br />

einen Michael-Jackson-Zweiteiler, mein Vater<br />

hat aus einem alten Kopfhörer das passende,<br />

obligatorische Kopfmikrofon gebastelt. Ich tanze<br />

stundenlang vor dem Spiegel.<br />

Peter Andrés Bauchmuskeln, die<br />

Bravo Hits 1, Ich mit Foto von Nick Carters<br />

Pottschnitt beim Frisör. Das macht 12 Mark,<br />

bitte. Im Konfirmandenunterricht tauschen wir<br />

schlecht kopierte Thunderdome-Kassetten mit<br />

selbstgemalten Covern unterm Tisch. Dann<br />

Bong rütteln und Beats bauen. Später: Baggys<br />

adé. Jeden Tag eine neue The-Band, den Barré-<br />

Griff bekomm ich nach drei Wochen ganz gut hin.<br />

Reicht nicht. NuRave ist doch auch ganz geil:<br />

neonfarbener Heavy Metal für die Hipster, von<br />

denen ich auch so gerne einer wäre.<br />

Paul Kalkbrenner bespielt die Pollerwiesen.<br />

Alles riecht nach Jean Paul Gaultier. In meinem<br />

Nachbericht steht folgender Absatz: "Ich bin<br />

etwas skeptisch, als die dritte Nummer gleich<br />

‚Sky and Sand‘ ist. Aber so, wie die Augustsonne<br />

langsam hinter den Wipfel verschwindet, die<br />

Nebelmaschine dampfende Fabelwesen über<br />

die Menge pustet und auf einmal alle irgendwie<br />

doch gleich aussehen, meint man fast noch das<br />

Rauschen des Rheines und den knirschenden<br />

Sand unter seinen Füßen zu spüren - der<br />

wahrscheinlich größte Moment an diesem Abend.“<br />

Drei Monate später: Alles so schön bunt<br />

hier! Und so kompliziert! Ji-Hun Kim findet<br />

Digitalism gehe gar nicht. Dabei waren das doch<br />

meine Helden! Ich sag’ besser nix. Nächstes<br />

Fettnäpfchen: Erlend Øye in einer Rezension<br />

als Waldschrat bezeichnet. Sieht Thaddeus<br />

Herrmann als großer Kings-of-Convenience-<br />

Fan gar nicht gern. Muss raus. Himmel, war<br />

das anstrengend! Vertuschen, dass man nicht<br />

alles weiß, an den richtigen Stellen nicken, aber<br />

auch mal gekonnt stirnrunzeln. Woher wissen<br />

die eigentlich alles? Die können doch gar nicht...<br />

doch können sie. Bestes Beispiel Sascha, der<br />

mir bewies, dass Promo-Stapel auch dann noch<br />

einsturzsicher sind, wenn sie höher als einen<br />

Meter gen Bürodecke ragen.<br />

Ich darf weiter schreiben. Über Smooth-<br />

Fi, Jersey Club, dreamy-sleazy Water Rap,<br />

Hipster-Horrorcore-Hybridmusik, Zukunfts-<br />

R’n’B zwischen Rapidshare-Eigenvertrieb<br />

und kokainistischen Hedonismus, Porno-Pop,<br />

Supergenres, sexelnde Samplequeens. Wo sonst<br />

geht so was bitteschön?<br />

Meine Freunde hören halt Musik. Weil sie<br />

da ist. Oder weil sie gut klingt. Die haben nie so<br />

recht verstanden was ich da mache: über Musik<br />

schreiben, Platten hören, gut oder schlecht<br />

finden, die richtigen und falschen Fragen stellen.<br />

Damit verdient man Geld? Wenig, aber es reicht.<br />

Das soll ein Job sein? Ja, es ist einer. <strong>De</strong>r beste,<br />

den ich mir vorstellen kann. Trotz ohne Techno.<br />

Besonders hier bei der <strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>. Rave on!

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