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Starnberger Bote 3 Editorial<br />
Liebe Starnberger Bürgerinnen und<br />
Bürger,<br />
es ist zum aus der Haut fahren! Haben<br />
Sie Zeit? Ich meine nicht die 5 Minuten<br />
zwischen drin, die man sich einfach<br />
nimmt, wenn der Bedarf früh genug<br />
angemeldet wurde. Nein, ich meine Zeit<br />
für Gelassenheit und Toleranz, für Leben<br />
mit Tiefgang.<br />
Ich bin ehrlich zu Ihnen, ich habe sie<br />
nicht. Kaum springe ich früh morgens<br />
aus dem Bett, da habe ich auch schon<br />
das Gefühl, spät dran zu sein. Eine<br />
schnelle Dusche, ein kurzer Kaffee, dann<br />
3 Minuten den Autoschlüssel suchen,<br />
Schuhe an und dann……<br />
„Papa was machst Du?“<br />
Na toll, ich habe es wieder nicht<br />
geschafft, aus dem Haus zu sein, bevor<br />
die Kinder wach sind. Ich sehe nun in 2<br />
fragende Kulleraugen, die sofort vermuten<br />
lassen, dass ich auch heute Morgen<br />
keinerlei Verständnis zu erwarten habe,<br />
warum ich mich in aller Herrgottsfrüh<br />
aus dem Haus stehle, anstatt mich um<br />
meinen Nachwuchs zu kümmern. Zum<br />
wahrscheinlich 73. Mal versuche ich<br />
meinem 2 jährigen Sohn zu erklären,<br />
dass das „Wurschti“ nicht von allein auf<br />
den Tisch kommt. Zum wahrscheinlich<br />
73. Mal erhalte ich die Antwort: „Nein<br />
Papa, Du Manuel spielen“. Ich will ihn<br />
nicht enttäuschen, aber, ICH HABE KEINE<br />
ZEIT! In mir steigt Unruhe auf, lasse mir<br />
aber nichts anmerken: „Geh mit Deinem<br />
Bruder spielen, der freut sich“. Keine<br />
Chance! „Papa Buhballspielen, Bayern!“<br />
(Anm.: die Zweijährigen unter uns wissen,<br />
das heißt: „Papa, ich will jetzt sofort<br />
Fußballspielen, ich bin Bayern!“)<br />
Wie komme ich ohne Gebrüll und Theater<br />
aus dieser Situation wieder raus? Ich habe<br />
jetzt keine Zeit für Leibesertüchtigungen!<br />
Mir kann jetzt nur einer helfen:<br />
SCHAAAAAAAAAAAAAAAAAATZIIIIIIIIII!!“<br />
Meine Frau kommt um die Ecke: „Immer<br />
noch da, Du hattest es doch vorhin so<br />
eilig?“<br />
In mir brodelt es nun und ich könnte<br />
jetzt ……… - keine Zeit dafür!<br />
Kommentarlos wende ich mich ab, gehe<br />
wie ein begossener Pudel in Richtung Tür<br />
und ziehe sie hinter mir zu.<br />
Wissen Sie, wie laut kleine Kinder brüllen<br />
können?<br />
Ich hörte meinen Sohn noch zwei Straßen<br />
weiter durch das offene Autofenster.<br />
Sollte ich nicht umdrehen?? Der arme<br />
Kleine! Ich tat es nicht!<br />
Wir haben nahezu alle einen eng durchgestylten<br />
Zeitplan, der leider wenig Zeit<br />
für das lässt, was wirklich wichtig ist.<br />
Wie gerne würde ich mir einfach die<br />
ein oder zwei Stunden nehmen! Einfach<br />
Sakko aus, Ball geschnappt und mit dem<br />
Kleinen durch den Garten gelaufen. Zeit,<br />
die wichtig wäre. Zeit die man nicht hat.<br />
Vermeintlich!<br />
Aber Sie interessiert sicherlich, wie es an<br />
diesem Tag weiterging:<br />
Bekanntlich hatte mein Zeitplan durch<br />
meinen Sohn schon eine erhebliche<br />
Delle. Die verlorene Zeit muss ich aufholen.<br />
Ich komme ins Büro voller Eile.<br />
Meine innere TO-DO Liste flimmert schon<br />
auf meiner Netzhaut, als mich folgende<br />
Information erreicht: „Internet ist platt!“<br />
Ich frage noch unbedarft: „Wie, was<br />
platt?“.<br />
„Ja, Internet geht nicht mehr! Router<br />
sagt, dass da draußen kein Internet mehr<br />
ist!“<br />
Das hat gerade noch gefehlt! Ich habe<br />
für sowas nun gar keine Zeit! Ich muss<br />
Mahnbescheide abschicken, Recherchen<br />
machen und E-Mails lesen und schreiben.<br />
Naja, das kann ja nicht allzu lange dauern.<br />
Wir hauen da mal ordentlich bei den<br />
Telefonfuzzis auf den Putz, dann steht<br />
sofort ein Techniker in der Tür, der den<br />
Ernst der Lage erkennt und sofort die<br />
Fehler behebt.<br />
Träum weiter, Forster! Wissen Sie, was<br />
demütig macht?<br />
Ich kann es Ihnen sagen: Wenn man als<br />
Kunde zwei Telekommunikationsriesen<br />
über 5 Wochen machtlos zusieht, wie<br />
sie die Verantwortung für einen nicht<br />
funktionierenden Anschluss hin und her<br />
schieben, ohne dass die desaströsen<br />
Auswirkungen für die Betroffenen irgendwo<br />
eine ernstgenommene Rolle spielen.<br />
Die Krönung war nach geschlagenen<br />
4 Wochen die Aussage von<br />
einem „Service-“ Mitarbeiter: „Ich<br />
habe Sie nochmal in eine höhere<br />
Dringlichkeitsstufe befördert“! „Nach 4<br />
Wochen Existenzbedrohung gibt es noch<br />
eine höhere Dringlichkeitsstufe, wollt<br />
Ihr mich ver………… ?“ Bei solchen<br />
Erfahrungen bekommt selbst der rechtstreueste<br />
Bürger<br />
Mordphantasien. Ich hörte mich sogar<br />
denken: „Sollte das Internet jemals wieder<br />
gehen, beschäftige ich mich mit dem<br />
Darknet…“.<br />
Aber solange wollte ich nicht warten:<br />
Der Mitarbeiter eines ostdeutschen<br />
Callcenters bekam von mir zu hören, dass<br />
ich für so einen Dilettantismus keine Zeit<br />
habe. Ich will keine Dringlichkeitsstufe,<br />
ich will einen Fachmann in Fleisch und<br />
Blut der morgens kommt und erst wieder<br />
geht, wenn alles funktioniert.<br />
Der Herr auf der anderen Seite der<br />
Leitung fragte mich zwar nicht direkt, von<br />
welchem Stern ich denn käme, machte<br />
aber unmissverständlich klar, dass längere<br />
Aufenthalte des technischen Vorort<br />
-Services völlig unrealistisch seien.<br />
Ich wurde zornig: Wenn er nicht sofort<br />
dafür sorge, dass ein fähiger Mitarbeiter<br />
hierher komme und uns wieder an die<br />
Außenwelt anklemmt, dann, ja dann…<br />
„Nu, was is dann?“ hörte ich den<br />
Fernmelder am anderen <strong>End</strong>e mit sächsischer<br />
Klangfarbe sagen.<br />
Da wurde es mit bewusst: Nix ist dann!<br />
Wir sind verdammt, solange zu warten,<br />
bis es wieder geht. Wir leben in der<br />
Generation „Hotline“. Der Kundenservice<br />
von heute beschränkt sich auf ein einfaches<br />
Verhaltensmuster und wir Kunden<br />
machen das millionenfach mit: Nummer<br />
ziehen, Klappe halten und abwarten!<br />
Man kann sich jetzt bis zum Platzen<br />
darüber aufregen, man kann es aber<br />
auch einfach sein lassen. Wenn es mal<br />
wieder länger dauert…, dann dauerts<br />
halt einfach länger. Das können wir<br />
sowieso nicht ändern! Das ist nun mal<br />
unser Schicksal. What ever!<br />
Und heute: Nun läuft das Internet wieder.<br />
Irgendwann klingelte es tatsächlich an<br />
der Tür und ein Techniker fummelte so<br />
lange rum, bis der Anschluss wieder<br />
ging.<br />
Ich habe meine Sachen aufgearbeitet,<br />
und sowohl ich wie meine Mandanten<br />
sind allesamt vergnügt und unaufgeregt.<br />
Letztendlich ist in den fast 6 Wochen<br />
nichts Wirkliches angebrannt.<br />
Resümierend:<br />
Es klingt sicher irgendwie komisch, wenn<br />
ich am <strong>End</strong>e meines Editorials behaupte,<br />
meine Erfahrungen mit zwei völlig ignoranten<br />
Telekommunikationsriesen haben<br />
mich dazu gebracht, über mein Verhältnis<br />
zur Zeit nachzudenken. Es ist aber so!<br />
Wir könnten viel lockerer leben und uns<br />
mehr Zeit für die wichtigen und oftmals<br />
unwiederbringlichen Dinge nehmen, und<br />
zwar genau in dem Moment, in dem sie<br />
passieren. Nur in den seltensten Fällen<br />
sprechen wirklich unverrückbare Gründe<br />
dagegen.<br />
Letztendlich haben wir es nur verlernt,<br />
genau das zu wollen!<br />
Ihr<br />
Michael Forster<br />
1. Vorsitzender Bund der Selbstständigen<br />
/ Gewerbeverband Starnberg<br />
Ortsgruppe des BDS Bayern e.V.