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Beate Conrad<br />

Chrysanthemum Nr. 20. Oktober 2016 59<br />

„Vom Erinnern weiß“ — Gedanken zum Lese- und Formverständnis zum<br />

Gedicht von Werner Reichhold<br />

Beim Betrachten des deutschen Gedichts „Vom Erinnern weiß“ auf Seite 57 hier bringen<br />

wir als Haikuinteressierte eine bestimmte Vorstellung mit, das insbesondere im Rahmen<br />

dieses Journals für Formen moderner Dichtung in der Tradition japanischer Kurzlyrik. Mit<br />

seiner gegebenen Form erkennen wir das Gedicht jedoch nicht als ein Haiku und auch<br />

nicht als eine andere ihm verwandte Form. Stattdessen sehen wir fünf Verspaare oder<br />

Couplets. Das aus der französischen Dichtung stammende Couplet versteht sich als ein<br />

zusammen-gehörendes, metrisches und reimendes, also ein recht musisch-lyrisches<br />

Zeilenpaar. Derartig ist das Couplet auch in der Ghasele 1 zu finden. Jedes Gedicht ist<br />

eingebettet in einen kulturellen Kontext innerhalb einer gewachsenen Tradition, die die<br />

Entwicklung der Gedichtformen und -stile mit einschließt. Die Tradition ist wesentlich, um<br />

ein Gedicht richtig zu verstehen und einzuordnen. Zwar setzt sich Werner Reichholds<br />

Gedicht aus Vers-paaren zusammen, doch sind es Paare ohne Reim und ohne reguläre<br />

Metrik, die eher an den freien Vers mit leicht der Prosa ähnelndem Charakter erinnern. So<br />

wie Werner Reichhold die Form stilistisch modern 2 gestaltet, entspricht sie einem ghaselenartigen,<br />

fünfstrophigen 3 deutschen Gedicht.<br />

Auf den ersten Blick handelt diese neue Ghasele von der Erinnerung an Wintererlebnisse,<br />

die hauptsächlich einen weißen Eindruck hinterlassen haben. Am gedruckten Text fällt<br />

auf, daß jeder einzelne Vers von weißen Leerstellen unterbrochen ist, die den Vers in kleinere<br />

Segmente aufteilen. Dieser Freiraum zwischen den einzelnen Segmenten stellt, ähnlich<br />

wie bei der konkreten Poesieform, eine akustische und eine optische Leseanweisung<br />

dar. Visuell verstärkt der Freiraum eine Unterteilung innerhalb des Verses in kleinere Einheiten<br />

und unterstreicht durch sein Weiß den winterlichen Eindruck. Dabei könnten diese<br />

__________________<br />

1. Ursprünglich kommt die aus einer Folge von Verspaaren bestehende Ghasele aus dem vorislamischen Arabien.<br />

Sie fand mit ihrer komplizierten und strengen Form und dem besonderen Reimschema Eingang auch in<br />

die westliche Lyrik. In die deutsche Lyrik wurde sie erst relativ spät übernommen, wurde aber durch Rükkerts<br />

Übersetzungen und Goethes West-Östlichen Divan im 19. Jahrhundert sehr populär. Traditionell behandelt<br />

die Ghasele in außergewöhnlich abwechslungsreicher Variation die romantische Liebe, die mystische<br />

Gottesliebe und den Verlust einer Liebe mit seiner darin verborgenen Schönheit trotz des Schmerzes.<br />

Während der Adaption der Ghasele an die deutsche Kultur wurde die komplizierte und strenge Form voll<br />

übernommen, die der verbreiteten französischen Kunstauffassung der l'art pour l'art (Kunst um der Kunst<br />

willen) des 19. Jahrunderts entsprach. Die inhaltliche Tradition wurde allerdings nicht übernommen. An<br />

ihre Stelle treten etwa die Stimmungsbilder von Platens und Rückerts. Wegen ihrer Nähe zum Sonett finden<br />

sich unter dem Einfluß A. W. Schlegels auch Ghaselen mit zwei Quartetten und zwei Terzetten, die etwa dem<br />

italienischen Sonett entsprechen.<br />

2. Die moderne Poesie übernahm einige Besonderheiten des Imagismus, die teilweise durch das japanische<br />

Haiku geprägt wurden: Konventionelle Grenzen der poetischen Inhalte und des Versbaus wurden aufgegeben<br />

zugunsten freier Themenwahl mit eigenen Rhythmen (freie Verse), zugunsten der Verwendung von Umgangssprache<br />

sowie zugunsten einer klaren und prägnanten Bilddarstellung ausgehend von der sinnlichen Wahrnehmung.<br />

3. Einige Literaturwissenschaftler betrachten nur Gruppierungen von vier oder mehr Zeilen als eine Strophe.<br />

Die Anwendung dieses Begriffs für drei- und zweizeilige Anordnungen ist jedoch ebenfalls weit verbreitet.<br />

Dafür spricht auch das Druckbild des Gedichts mit seinem regelmäßig wiederkehrenden weißen Zwischenraum<br />

zwischen den Verspaaren.<br />

Chrysanthemum No. 20. October 2016 59

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