Chrysanthemum Nr. 20. Oktober 2016 64 Gestaltungsprinzip. Als solches steuert und erstellt es die innere Ordnung, die innere Dynamik, die Akzente, die Darstellung des zentralen Gegenstands mit seinen Teilaspekten sowie deren emotionale Wirkung. Die Form prägt also die strukturellen, d. h., die gestaltenden Elemente eines Gedichts zu einem Ganzen. Infolgedessen stellen die poetischen Bilder der Einzelverse den Verlauf des Winters in drei Stufen dar: Die erste beginnt mit dem sachten Einzug des Winters. Er wird gefolgt vom ernsten, kontrastierenden und sich spielerisch vertiefenden Winter, der wiederum mit der vorfrühlingsweisenden Schneeschmelze endet. Diese Bildfolge ist von der japanischen Kurzlyrik in Stil und Sujet inspiriert. Dabei entstehen vielfältige Wintererfahrungen auch im sich erinnernden Leser, die mit denen deutscher Kulturgeschichte erweitert werden. Auf der nächsten Ebene entfalten die evozierten Parallelbilder die Aspekte des Winters als Metapher für das Vergängliche und das Bleibende: seinen sanften Beginn, die lebensbedrohenden Momente, die Verluste, die guten Zeiten, die menschliche Haltung und schließlich die Hoffnung des Frühlings. Mit den Mitteln des Concetto und des Parallelismus, des Kontrasts und der Gegenüberstellung werden diese Aspekte des Winters mit den parallel verlaufenden Stadien des Erinnerns konfrontiert: das Unbekannte und Vergessene, das Angenommene und Prognostizierte, der Aberglaube und die Behauptungen, das angelesene und das intuitive Wissen, das Ererbte und Überlieferte. Grob dem strukturellen Inhaltsverlauf eines Sonetts mit These, Antithese und implizierter Synthese folgend, — wie es sich auch in westlichen Ghaselen findet, vor allem in der Art der deutschen Ghasele wie sie unter dem Einfluss Schlegels entstanden ist — verbinden die fünf imaginierten Bilder den Sinninhalt der parallel angelegten Verlaufsprozesse des Erinnerns und des Winter(n)s. Das geschieht auch auf farblicher Ebene im gegenseitigen Durchdringen von Schwarz, Lila und Weiß. Die sinninhaltliche Synthese schließt zyklisch an den Ghaselenbeginn an und führt das Erinnern, das ebenso Teil des Flüchtigen und des Bleibenden in der Zeit darstellt, in ein Erwachen, — und noch einmal wandelt sich Sicht zu Einsicht. Die vielfältigen, haiku-inspirierten neuen Wechsel in den Themen, die Bauart mit den genutzten konventionellen Variationen in Struktur, Inhalt und interkulturellem Kontext dieser deutschen Ghasele überzeugen in ihrer Erlebnisintensität und Dynamik. Sie spiegeln auf spielerisch experimentelle Weise die Kunstfertigkeit der Ghasele als ein Gespinst wider, die der Kunstauffassung l'art pour l'art ganz entspricht. Eine frühe Version von „Vom Erinnern weiß“ erschien in konkreter Präsentation in 2006 6 . Es zeigt eine von Haiku- und Tankaform inspirierte Textfolge in konkreter Sprache: eine Säule aus Wörtern mit weißen Zwischenräumen, die einen Schneefall mit deutlicher Abwärtsbewegung andeuten, der mit der anhäufenden Tankaform endet. Dieses vorgestellte Gedicht in Ghaselenform ist Werner Reichholds neuestem Buch Labyrinthe. Poesie im 21. Jahrhundert entnommen. Das Buch hält fünfundsechzig, recht verschiedene, labyrinthische Lyrikabenteuer für den versierten und entdeckungsfreudigen Leser bereit. _____________ 6. Haiku heute, Januar 2006, online: www.haiku-heute.de/Archiv/Vom_Erinnern_Werner_Reichhold/vom_ _erinnern_werner_reichhold.html Literatur & Quellen: siehe Seite 73 Chrysanthemum No. 20. October 2016 64
Chrysanthemum Nr. 20. Oktober 2016 65 Foto-Haiku Adelaide Shaw an open window the cool green scent of morning ein offnes Fenster der kühle grüne Duft des Morgens Chrysanthemum No. 20. October 2016 65