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Chrysanthemum Nr. 20. Oktober 2016 91<br />

Derek Ross<br />

See und Stein<br />

Die Luft ist erfüllt vom Meer. Ich spüre, wie meine Füße im Sand am Flutsaum<br />

einsinken. In meiner Hand halte ich einen Stein. Meine Augen sind geschlossen.<br />

Eine Frau hilft ihrem Kind an einem felsigen Ufer hinunterzugehen. Da, wo das<br />

Wasser beginnt, halten sie an. Vor ihnen liegt ein ganzes Meer, das sich bis hin<br />

zum Himmel erstreckt.<br />

Das Kind ist ein Junge, nicht älter als vier Jahre. Er ist voller Verwunderung.<br />

Jetzt spricht die Frau mit dem Kind, erzählt ihm von der Zeit, als ihre Mutter sie<br />

hier zum Meer hinbrachte, um es zu erleben; daß das Meer viele Gesichter zeigt;<br />

wie das Meer kommt und geht und den Mond dabei jagt; daß das Meer immer<br />

dasein wird.<br />

Die Frau bückt sich. Sie fährt mit der Hand über die Steine zu ihren Füßen; sie<br />

sucht. Sie hebt einen Stein auf, legt ihn auf ihre Handfläche und untersucht ihn<br />

eine Weile. Sie umschließt ihn mit ihrer Hand und erhebt sich. Die Frau lächelt,<br />

dann wirft sie den Stein ins Meer. Der Junge beobachtet den Bogenflug des Steins,<br />

er beobachtet das Aufplatschen, er beobachtet die sich ausbreitenden Wellenringe,<br />

die die Spiegelung des Himmels zerbrechen.<br />

Nun ist der Junge an der Reihe, sich zu bücken. Er wählt nicht nur einen Stein<br />

aus, sondern er sammelt ganze Hände voll von kleinen Kieselsteinen und Muscheln.<br />

Er richtet sich auf und macht einen Schritt auf das Wasser zu. Dann, anstelle<br />

seinen Schatz auf einmal zu werfen, streut er ihn wie Samen am Rande des<br />

Meeres aus. Seine Mutter lächelt. „Immer einen nach dem anderen", sagt sie,<br />

„Immer einen nach dem anderen". Der Junge versteht das nicht.<br />

Ich öffne meine Augen und werfe meinen Stein. Ich beobachte seinen Bogenflug, erwarte<br />

das Aufplatschen …<br />

Wellenringe<br />

versuchen das Meer zu füllen<br />

ein Stein nach dem anderen<br />

Chrysanthemum No. 20. October 2016 91

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