temeswarer beiträge zur germanistik - Facultatea de Litere, Istorie şi ...
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ROXANA NUBERT (Hrsg.)<br />
TEMESWARER BEITRÄGE<br />
ZUR GERMANISTIK<br />
Band 3
Descrierea CIP a Bibliotecii NaŃionale<br />
Temeswarer Beiträge <strong>zur</strong> Germanistik / Roxana<br />
Nubert (Hrsg.). – Temeswar: Mirton, 2001<br />
3 vol.; 24. cm.<br />
Band 3. – 2001.- 478 p. – ISBN 973-578-826-8<br />
I. Nubert, Roxana (ed.)<br />
811.112.2(063)<br />
2
ROXANA NUBERT (Hrsg.)<br />
unter Mitarbeit von<br />
Alina Crăciunescu, Kinga Gáll, Karin Dittrich, Evelina Hâncu,<br />
Alvina Ivănescu, Beate Petra Kory, Marianne Marki,<br />
Grazziella Predoiu, Mihaela Şandor, Karla Sinitean-Singer,<br />
Monika Wikete<br />
TEMESWARER BEITRÄGE ZUR<br />
GERMANISTIK<br />
Band 3<br />
Mirton Verlag Temeswar<br />
2001<br />
3
Dieser Band einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Je<strong>de</strong><br />
Verwertung außerhalb <strong>de</strong>r Grenzen <strong>de</strong>s Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />
Zustimmung <strong>de</strong>s Mirton Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong>de</strong>re<br />
für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
Printed in Romania<br />
4
Peter Kottler, zum 60. Geburtstag gewidmet<br />
5
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Vorwort ...........................................................................................13<br />
VÉRONIQUE LIARD- BRANDER ...................................................15<br />
ANGERS ............................................................................................15<br />
Literaturpsychologie – eine notwendige Partialität? ..................15<br />
BEATE PETRA KORY ....................................................................21<br />
TEMESWAR........................................................................................21<br />
Paradigmenwechsel unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie.<br />
Mo<strong>de</strong>rne Strukturen in Hermann Hesses Roman Der<br />
Steppenwolf....................................................................................21<br />
ROXANA NUBERT / RODICA ZEHAN ...........................................39<br />
TEMESWAR........................................................................................39<br />
Rumänische und rumänien<strong>de</strong>utsche literarische Bezüge zu<br />
Österreich.......................................................................................39<br />
LAURA CHEIE ................................................................................49<br />
TEMESWAR........................................................................................49<br />
Zur Rezeption <strong>de</strong>s Werkes von Georg Trakl in Rumänien .........49<br />
ANNETTE DAIGGER ......................................................................55<br />
SAARBRÜCKEN ...................................................................................55<br />
Sind die Vereinigungen lesbar? ...................................................55<br />
PREDOIU GRAZZIELLA.................................................................63<br />
TEMESWAR ........................................................................................63<br />
Raumbeschreibungen in Thomas Bernhards Erzählung Der<br />
Keller...............................................................................................63<br />
ELEONORA PASCU .......................................................................71<br />
TEMESWAR ........................................................................................71<br />
Paradigmenwechsel in Michael Köhlmeiers Unfisch..................71<br />
ILEANA-MARIA RATCU .................................................................81<br />
BUKAREST..........................................................................................81<br />
Zur Geschichte <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Theaters in <strong>de</strong>r Bukowina (1825-<br />
1877), eine unveröffentlichte Arbeit <strong>de</strong>s Historikers Teodor<br />
Bălan ...............................................................................................81<br />
7
DARIA-MARIA JURCA – TONIA MARIŞESCU..............................87<br />
TEMESWAR........................................................................................87<br />
Soziale, religiöse und ethnographische Aspekte in <strong>de</strong>n Schriften<br />
von Ignaz von Born, Francesco Griselini und Jakob Johann<br />
Ehrler bezüglich <strong>de</strong>r rumänischen Bevölkerung <strong>de</strong>s Banats im<br />
18. Jahrhun<strong>de</strong>rt..............................................................................87<br />
RADEGUNDE TÄUBER................................................................105<br />
NUFRINGEN ......................................................................................105<br />
Johann Nepomuk Preyers dramatisches Werk am Beispiel <strong>de</strong>r<br />
Tragödie Hannibal........................................................................105<br />
KINGA GÁLL.................................................................................169<br />
TEMESWAR ......................................................................................169<br />
Ein Presseangebot <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts – das Temesvarer<br />
Wochenblatt .................................................................................169<br />
EDUARD SCHNEIDER .................................................................173<br />
MÜNCHEN ........................................................................................173<br />
Der Temeswarer Germanist Otto Kein (1904-1939). Spiegelungen<br />
seines Lebens und Wirkens in Presse<strong>beiträge</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit ......................................................................173<br />
BOGDAN MIHAI DASCALU .........................................................183<br />
TEMESWAR ......................................................................................183<br />
Aspekte <strong>de</strong>r Fremdheit in Herta Müllers Erzählungen..............183<br />
DUMITRU TUCAN.........................................................................193<br />
TEMESWAR ......................................................................................193<br />
The collapse of the poetical utopia ............................................193<br />
CARMEN BLAGA .........................................................................201<br />
TEMESWAR ......................................................................................201<br />
Paradigms and crisis in early Romanian mo<strong>de</strong>rnity.................201<br />
MICHAEL FERNBACH .................................................................213<br />
TEMESWAR ......................................................................................213<br />
Ästhetische Erziehung als Politikum: Friedrich Schiller und<br />
Richard Wagner……………………………………………………….213<br />
GUNDULA-ULRIKE FLEISCHER .................................................221<br />
KLAUSENBURG .................................................................................221<br />
Kulturspezifik und Übersetzerposition – anhand von zwei Faust-<br />
8
Übertragungen <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts ........................................221<br />
CLAUDIA ICOBESCU...................................................................227<br />
TEMESWAR ......................................................................................227<br />
Zur Evaluation von Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen 227<br />
TANJA BECKER...........................................................................235<br />
DAAD...............................................................................................235<br />
Die Produktion fachbezogener Texte als Schwerpunkt <strong>de</strong>s<br />
Faches “Schriftlicher Ausdruck” im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Übersetzerausbildung .................................................................235<br />
KARL STOCKER ..........................................................................245<br />
MÜNCHEN ........................................................................................245<br />
Literaturunterricht im 21. Jahrhun<strong>de</strong>rt – im Zeichen <strong>de</strong>r digitalen<br />
Medien und einer verän<strong>de</strong>rten Lehrerrolle ................................245<br />
ANGELIKA IONAS........................................................................259<br />
TEMESWAR ..................................................................................259<br />
Der Einsatz didaktischer Strategien im Literaturunterricht DaM<br />
bzw. DaZ .......................................................................................259<br />
Literatur ........................................................................................267<br />
ALINA CRĂCIUNESCU ................................................................269<br />
TEMESWAR ......................................................................................269<br />
Das Drama im Unterricht Deutsch als Muttersprache ..............269<br />
KARLA SINITEAN-SINGER..........................................................273<br />
TEMESWAR ......................................................................................273<br />
Phantasiereisen im Unterricht ....................................................273<br />
MONICA WIKETE .........................................................................287<br />
TEMESWAR ......................................................................................287<br />
Projektunterricht im DaF. Learning by doing ............................287<br />
ANDREA RITA SEVEREANU.......................................................297<br />
TEMESWAR ......................................................................................297<br />
Schwerpunkte im Unterricht von Fachsprachen:<br />
Wirtschafts<strong>de</strong>utsch und Fachsprache Jura – ein Vergleich ....297<br />
EVA MARIANNE MARKI ..............................................................303<br />
TEMESWAR......................................................................................303<br />
Die Rolle <strong>de</strong>r Grammatik in einem schüler- und<br />
situationskontextbezogenen Unterricht ....................................303<br />
9
MATHILDE HENNIG .....................................................................309<br />
DAAD...............................................................................................309<br />
Grammatik <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache im Unterricht Deutsch<br />
als Fremdsprache ........................................................................309<br />
ASTRID MEYER-SCHUBERT.......................................................323<br />
WIEN ...............................................................................................323<br />
Rhetorik in ihrer weiblichen Geschlechtsspezifik. Die<br />
feministische Linguistik ..............................................................323<br />
CORNELIA CUJBĂ.......................................................................341<br />
JASSY .............................................................................................341<br />
Zur Stellung <strong>de</strong>r Wortbildung in <strong>de</strong>r Grammatik .......................341<br />
EMILIA MUNCACIU – CODARCEA..............................................349<br />
KLAUSENBURG .................................................................................349<br />
Zum Gebrauch von Mo<strong>de</strong>wörtern im heutigen Deutsch –<br />
amerikanismen und anglizismen als Mo<strong>de</strong>wörter.....................349<br />
EVELINE HÂNCU..........................................................................365<br />
TEMESWAR ......................................................................................365<br />
Einige wortgeographische Untersuchungen in <strong>de</strong>r Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Sprachinsel................................................................365<br />
MIHAELA ŞANDOR ......................................................................371<br />
TEMESWAR ......................................................................................371<br />
Onomasiologische und semasiologische Betrachtungen <strong>zur</strong><br />
Banater <strong>de</strong>utschen Mundartlexik................................................371<br />
HANS DAMA.................................................................................379<br />
WIEN ...............................................................................................379<br />
Französische Ausdrücke und Lehnwörter am Beispiel <strong>de</strong>r<br />
Mundart von Großsanktnikolaus (GSN).....................................379<br />
ALVINA IVĂNESCU ......................................................................385<br />
TEMESWAR ......................................................................................385<br />
Einige Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Personalpronomens in <strong>de</strong>n Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Mundarten..................................................................385<br />
KARIN DITTRICH..........................................................................395<br />
TEMESWAR ......................................................................................395<br />
Zu <strong>de</strong>n morphologischen Merkmalen <strong>de</strong>s Temeswarer<br />
Stadt<strong>de</strong>utsch ................................................................................395<br />
10
ILEANA IRIMESCU .......................................................................401<br />
TEMESWAR ......................................................................................401<br />
InfluenŃa limbii germane asupra limbii române. Corecturi <strong>şi</strong><br />
completări.....................................................................................401<br />
SIGRID HALDENWANG ...............................................................411<br />
HERMANNSTADT ...............................................................................411<br />
Die Verständigungsmittel <strong>de</strong>r siebenbürgisch-sächsischen<br />
Nachbarschaftsgemeinschaft: „Zeichen“, „Nachbarzeichen“,<br />
„Nachbarstab“, „Nachbarschaftstäfelchen“..............................411<br />
CSILLA – ANNA SZABÓ ..............................................................417<br />
GROSSWARDEIN ...............................................................................417<br />
Sprachkontaktphänomene im sathmarschwäbischen Dorf<br />
Petrifeld ........................................................................................417<br />
11
Vorwort<br />
Mit diesem Band wird die Herausgabe <strong>de</strong>r Temeswarer Beiträge <strong>zur</strong> Germanistik in<br />
Zusammenarbeit mit einem wissenschaftlichen Beirat fortgesetzt. Dadurch ist die<br />
künftige editorische Planung und Realisation auf eine internationale, breite Basis<br />
gestellt. Für die Herausgabe konnten gewonnen wer<strong>de</strong>n: Professor Dr. Peter<br />
Wiesinger (Universität Wien), Professor Dr. Karl Stocker (Ludwig-Maximilians-<br />
Universität München), Dr. Annette Daigger (Universität <strong>de</strong>s Saarlan<strong>de</strong>s) und<br />
Carsten Hennig (DAAD/ West-Universität Temeswar). Den Kollegen sei für ihre<br />
Bereitschaft gedankt.<br />
Die 1997 gegrün<strong>de</strong>te Reihe erscheint in Form von Themen-Bän<strong>de</strong>n mit jeweils<br />
verantwortlichem Herausgeber. In <strong>de</strong>r Übergangszeit von einem Jahrhun<strong>de</strong>rt bzw.<br />
Jahrtausend zum an<strong>de</strong>ren steht vorliegen<strong>de</strong>r Band im Zeichen <strong>de</strong>s<br />
Paradigmenwechsels und <strong>de</strong>r Partialität.<br />
Die bei Véronique Brandner (Katholische Universität Anvers) aus <strong>de</strong>r Perspektive<br />
<strong>de</strong>r Literatupsychologie und bei Beate Petra Kory (West-Universität Temeswar),<br />
Laura Cheie (West-Universität Temeswar), Annette Daigger (Universität <strong>de</strong>s<br />
Saarlan<strong>de</strong>s), Grazziella Predoiu (West-Universität Temeswar) sowie Eleonora<br />
Pascu (West-Universität Temeswar) aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Literaturwissenschaft<br />
unternommenen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen weisen auf einen Umbruch in <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschsprachigen literarischen Mo<strong>de</strong>rne hin.<br />
Aspekte <strong>de</strong>s kulturellen Raumes <strong>de</strong>s Banats fin<strong>de</strong>n ihren Nie<strong>de</strong>rschlag in <strong>de</strong>n<br />
Arbeiten von Roxana Nubert (West-Universität Temeswar)/Rodica Zehan<br />
(Universität für landwirtschaftliche Betriebswissenschaften und Veterinätmedizin<br />
<strong>de</strong>s Banats), Daria-Maria Jurca/Tonia Marişescu (West-Universität Temeswar),<br />
Ra<strong>de</strong>gun<strong>de</strong> Täuber (Nufringen), Kinga Gáll (West-Universität Temeswar), Eduard<br />
Schnei<strong>de</strong>r (München) und Bogdan Mihai Dascălu (West-Universität Temeswar).<br />
Ileana Ratcu (Fakultät für Archivistik Bukarest) geht auf die Geschichte <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utschen Theaters in <strong>de</strong>r Bukowina ein.<br />
Über Beson<strong>de</strong>rheiten im Unterricht <strong>de</strong>s Deutschen als Fremd-, Zweit- o<strong>de</strong>r<br />
Fachsprache kann man erfahren aus <strong>de</strong>n Beiträgen von: Karl Stocker (Ludwig-<br />
Maximilians-Universität München), Angelika Ionaş (West-Universität Temeswar),<br />
Alina Crăciunescu (West-Universität Temeswar), Karla Sinitean-Singer (West-<br />
Universität Temeswar), Monica Wikete (West-Universität Temeswar), Andrea Rita<br />
Severeanu (West-Universität Temeswar), Eva Marianne Marki (West-Universität<br />
Temeswar) und Mathil<strong>de</strong> Hennig (Leipzig, <strong>zur</strong> Zeit Temeswar).<br />
Dumitru Tucan (West-Universität Temeswar) und Carmen Blaga (West-Universität<br />
Temeswar) gehen auf die Problematik <strong>de</strong>s Paradigmenwechsels in <strong>de</strong>r<br />
rumänischen literarischen Mo<strong>de</strong>rne ein.<br />
Probleme <strong>de</strong>r ästhetischen Erziehung bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Gegenstand <strong>de</strong>s Beitrags von<br />
Michael Fernbach (West-Universität Temeswar), und Astrid Meyer-Schubert (Wien)<br />
geht auf die Spezifik <strong>de</strong>r feministischen Lingusitik ein.<br />
Aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Gegenwart schenkt Gundula Ulrike Fleischer (Babeş-<br />
Bolyai-Universität Klausenburg) ihre Aufmerksamkeit Übertragungen von Goethes<br />
Faust ins Rumänische im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Claudia Icobescu (Technische<br />
13
Hochschule Temeswar) und Tanja Becker (DAAD/Technische Universität<br />
Temeswar) gehen auf Probleme <strong>de</strong>r Übersetzungsleistungen bzw. <strong>de</strong>r<br />
Übersetzerausbildung ein.<br />
Wechselstrukturen im lexikalischen Bereich untersuchen Cornelia Cujbă<br />
(Alexandru-Ioan-Cuza-Universität Jassy) und Emilia Muncaciu-Codarcea (Babeş-<br />
Bolyai-Universität Klausenburg).<br />
Im Mittelpunkt <strong>de</strong>s Beitrags von Ileana Irimescu (West-Universität Temeswar) steht<br />
<strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>s Deutschen auf das Rumänische.<br />
Ein Teil <strong>de</strong>r Arbeiten ist <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten gewidmet: Eveline<br />
Hâncu (West-Universität Temeswar), Mihaela Şandor (West-Universität<br />
Temeswar), Alvina Ivănescu (West-Universität Temeswar), Hans Dama<br />
(Universität Wien), während Karin Dittrich (West-Universität Temeswar) auf das<br />
Temeswarer Stadt<strong>de</strong>utsch eingeht.<br />
Spezifische Sprachausprägungen <strong>de</strong>s Siebenbügisch-Sächsischen haben Sigrid<br />
Hal<strong>de</strong>nwang (Institut für Geisteswissenschaften Hermannstadt) und Csilla-Anna<br />
Szabó (West-Universität Großwar<strong>de</strong>in) zum Gegenstand ihrer Untersuchungen<br />
gemacht.<br />
Dank gebührt <strong>de</strong>m Deutschen Aka<strong>de</strong>mischen Auslandsdienst für die För<strong>de</strong>rung<br />
unseres Unternehmens.<br />
Herrn Diplom.-Ing. Cătălin Raicu sind wir für die sorgfältige EDV dankbar.<br />
Temeswar, im März 2001<br />
Die Herausgeber<br />
14
VÉRONIQUE LIARD- BRANDER<br />
ANGERS<br />
Literaturpsychologie – eine notwendige Partialität?<br />
Unter <strong>de</strong>n Analysemetho<strong>de</strong>n bleibt die psychologische die am meisten<br />
angefochtene. Die Hauptkritik liegt darin, daß sie nicht nachweisbar, <strong>de</strong>mnach rein<br />
empirischer Natur sei. Im Jahre 1998 gelang es Forschern aus Frankreich durch<br />
Experimente über die subliminale Wahrnehmung, festzustellen, daß das Gehirn<br />
beim Vergleichen zweier Zahlen nicht <strong>de</strong>ren Form son<strong>de</strong>rn lediglich <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r<br />
Wörter berücksichtigt, was die immensen Möglichkeiten <strong>de</strong>s sogenannten<br />
Unbewußten im sprachlichen Bereich zeigt. 1 Es ist sogar 1999 Forschern <strong>de</strong>r<br />
Universität Tübingen gelungen, eine "Gedankenschreibmaschine" für Gelähmte zu<br />
bauen, die nur mit <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>r Gedanken, durch Verstärkung bestimmter<br />
Hirnwellen zu bedienen ist. Zahlreiche Experimente, die auf diesen neuen<br />
Erkenntnissen fußen, haben zunächst die Existenz <strong>de</strong>s "kognitiven" Unbewußten<br />
nachgewiesen, <strong>de</strong>mnach die Fähigkeit unseres Gehirns, etwas festzuhalten und zu<br />
verstehen, das wir nicht bewußt wahrgenommen haben, und es wird jetzt ernsthaft<br />
über mögliche Überschneidungen zwischen <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r Psychoanalyse und<br />
<strong>de</strong>n gewonnenen Ergebnissen nachgedacht. 2 Die Behauptung, Psychotherapien,<br />
die auf <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>r Psychoanalyse und <strong>de</strong>r analytischen Psychologie<br />
basieren, seien reine Placebos für die Seele, scheint kaum noch vertretbar.<br />
Erfolgreich angewen<strong>de</strong>t wird auch schon seit Jahren die Kunsttherapie, die das<br />
Leid <strong>de</strong>r Patienten durch Malen o<strong>de</strong>r Schreiben lin<strong>de</strong>rt bzw. heilt. Die<br />
psychologische Interpretation eines Textes, bei <strong>de</strong>ssen Erschaffung Erlebnisse,<br />
Gefühle, Wünsche eine Rolle spielen, scheint berechtigter <strong>de</strong>nn je. Schriftsteller<br />
behaupten übrigens oft, daß sie eine innere Kraft verspüren, die sie zum Schreiben<br />
zwingt. Kurt Heynicke berichtet:<br />
Ich glaube, Dichter sind Triebtäter, sie sind <strong>de</strong>r inneren Stimme, die ihnen Gedichte<br />
einspricht, hörig. Da will etwas zutage, was in uns ist. 3<br />
Henry Miller sagte in einem Interview, <strong>de</strong>r Wachzustand sei in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>r<br />
unbrauchbarste.<br />
Während <strong>de</strong>s Schreibens ringt man darum, das ans Licht zu beför<strong>de</strong>rn, was einem<br />
selbst unbekannt ist. 4<br />
1<br />
Ikonicoff Roman, „La science au pied du mur“. In: Science et Vie Nr. 975, Dezember 98,<br />
S. 70-76.<br />
2<br />
Hervé Ratel, „L'esprit libre“. In: Science et Avenir, Septembre 1999, S. 42-45.<br />
3<br />
In: Hans Daiber (Hrg.), Wie ich anfing ... 24 Autoren berichten von ihren Anfängen,<br />
Düsseldorf, 1979, S. 33.<br />
4<br />
Brooks van Wyck, Wie sie schreiben, dtv München, 1969, S. 138.<br />
15
Die neuere Forschung ist sich darüber einig, daß Subjektivität bei <strong>de</strong>r Rezeption<br />
und Interpretation eines Textes nicht vollkommen auszuschließen ist. Seitens <strong>de</strong>s<br />
Lesers gibt uns Martin Walser folgen<strong>de</strong>n Hinweis:<br />
Ich muß gestehen, ich lese nicht zu meinem Vergnügen, ich suche we<strong>de</strong>r<br />
Entspannung noch Ablenkung, noch an<strong>de</strong>re Freu<strong>de</strong>n dieser Art. Ein Buch ist für<br />
mich eine Art Schaufel, mit„ <strong>de</strong>r ich mich umgrabe. 5<br />
Was <strong>de</strong>n Schriftsteller anbetrifft, <strong>de</strong>r sein Werk interpretieren soll, sagte schon<br />
Sokrates, daß Dichter dazu nicht imstan<strong>de</strong> seien, daß Dichter nicht vom Wissen,<br />
son<strong>de</strong>rn von einer Art Instinkt gelenkt wür<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n er damals göttliche Eingebung<br />
nannte. 6 Aber auch Friedrich Dürrenmatt erklärte:<br />
Gefragt nach <strong>de</strong>m Sinn meiner Stücke, antworte ich meistens, daß, wenn ich <strong>de</strong>n<br />
Sinn meiner Geschichten wüßte, ich nur <strong>de</strong>n Sinn hinschreiben wür<strong>de</strong> ... Der Sinn<br />
eines Kunstwerkes liegt außerhalb <strong>de</strong>sselben angesie<strong>de</strong>lt, auf einer an<strong>de</strong>ren<br />
Ebene [...] 7<br />
Es gibt <strong>de</strong>mnach verschie<strong>de</strong>ne Zugänge zum Kunstwerk; <strong>de</strong>r psychologische ist<br />
einer davon, und nach<strong>de</strong>m die Schriftsteller selbst diesen Weg nicht gehen können<br />
o<strong>de</strong>r wollen, bleibt er <strong>de</strong>m Interpreten überlassen. Es gibt aber noch an<strong>de</strong>re<br />
Argumente, die für die psychologische Erschließung eines Textes sprechen. Wie<br />
bekannt, reichen die biographischen Kenntnisse über einen Autor nicht aus, um<br />
Texte zu analysieren. Abgesehen davon ist es doch recht interessant zu erkun<strong>de</strong>n,<br />
welchen Platz Erfahrungen und Erinnerungen spielen, ob bestimmte Themen<br />
immer wie<strong>de</strong>r auftauchen, inwieweit diese Autoren und Lesern gemeinsam sind.<br />
Wer fragt sich auch nicht, warum ein bestimmtes Buch solchen Eindruck auf einen<br />
macht, ein an<strong>de</strong>res wie<strong>de</strong>rum nicht? Warum hat mich dieses Buch angesprochen,<br />
was passierte in mir? Gibt es möglicherweise in erfolgreichen Büchern ein Muster,<br />
das einfach die Seele Tausen<strong>de</strong>r von Menschen anspricht und bezaubert?<br />
Bei <strong>de</strong>r psychologischen Textinterpretation gibt es vier Grundaspekte; sie setzt<br />
sich sozusagen vier Ziele:<br />
die Untersuchung <strong>de</strong>r psychologischen Wirkung <strong>de</strong>s Textes auf die Leserschaft<br />
(wobei sich <strong>de</strong>r psychologische Ansatz zu einer gesellschaftspsychologischen<br />
Perspektive erweitern kann),<br />
die Betrachtung <strong>de</strong>r Beziehung zwischen <strong>de</strong>m Dichter und seinem Text (es geht<br />
um die Darstellung von Gedanken, Gefühlen und Handlungen, die <strong>de</strong>m Dichter<br />
psychologisch notwendig o<strong>de</strong>r wahrscheinlich erscheinen),<br />
die Analyse <strong>de</strong>r psychologischen Beziehung zwischen Autor und Werk (was<br />
spiegelt das Werk wi<strong>de</strong>r, was sagt es über <strong>de</strong>n Autor aus?) und<br />
die Untersuchung <strong>de</strong>s Einflusses <strong>de</strong>r Psyche <strong>de</strong>s Lesers o<strong>de</strong>r Interpreten auf<br />
<strong>de</strong>ssen Verständnis eines Textes o<strong>de</strong>r Werkes.<br />
Die psychologische Interpretation birgt natürlich Gefahren in sich. Der Interpret<br />
wird aufgrund <strong>de</strong>s Einflusses seiner eigenen Psyche immer ein gewisses Maß an<br />
Subjektivität an <strong>de</strong>n Tag legen. Sein Urteil wird nie völlig unpersönlich sein und er<br />
wird dazu verleitet wer<strong>de</strong>n, "hineinzudichten", was sich aus ihm heraus einen Weg<br />
5<br />
Martin Walser, Liebeserklärungen, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1983, S. 9.<br />
6<br />
Plato, Apologie 22 a-b.<br />
7<br />
Friedrich Dürrenmatt, Literatur und Kunst, “Vom Schreiben”, Diogenes Verlag, Zürich,<br />
1986, S. 77.<br />
16
schaffen will o<strong>de</strong>r muß. Hier ist höchste Wachsamkeit angesagt. Es droht ferner<br />
die Überinterpretation, die Gefahr, sich <strong>de</strong>r Literatur zu bedienen, nicht um <strong>de</strong>r<br />
Erweiterung <strong>de</strong>r Analyse eines Textes zu dienen, son<strong>de</strong>rn um eine Theorie zu<br />
beweisen. So könnte man versucht sein, die Textstellen herauszusuchen, die in<br />
ein Konzept hineinpassen und so mit Gewalt die Gültigkeit einer<br />
Interpretationsmetho<strong>de</strong>, einer Theorie zu beweisen. Die dritte Gefahr besteht darin,<br />
Faktoren wie das Leben <strong>de</strong>s Autors, seinen Stil o<strong>de</strong>r die historischen<br />
Begebenheiten nicht zu berücksichtigen. Einseitigkeit ist immer <strong>de</strong>r Feind einer<br />
guten Analyse. Eine vollkommen objektive Untersuchung wird jedoch im Bereich<br />
<strong>de</strong>r Psychologie kaum möglich sein, da <strong>de</strong>r Mensch sich niemals <strong>de</strong>m Einfluß<br />
seiner inneren Welt entziehen kann. Eine literatur-psychologische Betrachtung wird<br />
immer nur EIN Erläuterungsmo<strong>de</strong>ll bleiben, sie wird immer nur EINEN Aspekt<br />
beleuchten. Aber wird bei an<strong>de</strong>ren Mo<strong>de</strong>llen etwa an<strong>de</strong>rs verfahren?<br />
Neben <strong>de</strong>r Partialität, die im allgemeinen die einseitige Analyse eines Werkes mit<br />
sich bringt, ergibt sich die Partialität im Bereich <strong>de</strong>r Psychologie aus <strong>de</strong>m<br />
Vorhan<strong>de</strong>nsein verschie<strong>de</strong>ner Schulen. Ich möchte hier nur die bei<strong>de</strong>n<br />
Hauptrichtungen anführen: die freudianische und die jungianische. In seinem<br />
Essay Der Dichter und das Phantasieren (1907) vergleicht Freud <strong>de</strong>n Dichter mit<br />
einem spielen<strong>de</strong>n Kind, das <strong>de</strong>r Realität entflieht, um in einer ernstgenommenen<br />
Phantasiewelt seine Wünsche und Affekte ausleben zu können. Dank <strong>de</strong>r Kunst<br />
sublimiert <strong>de</strong>r Autor die in <strong>de</strong>r Realität unbefriedigt gebliebenen Wünsche<br />
(ehrgeiziger Natur, wenn sie <strong>de</strong>r Erhöhung <strong>de</strong>r Persönlichkeit dienen o<strong>de</strong>r<br />
erotischer Natur, wenn sie vom natürlichen sexuellen Trieb ausgehen); er schafft<br />
sich eine Welt, wo solche Wünsche erfüllbar wer<strong>de</strong>n. Daß es sich um ein Spiel<br />
han<strong>de</strong>lt, will Freud aus <strong>de</strong>n Bezeichnungen: Lustspiel, Trauerspiel, Schauspieler<br />
bestätigt sehen. 8 Die Kunst ist somit für Freud eine Ersatzbefriedigung, Werke sind<br />
"Korrekturen <strong>de</strong>r unbefriedigten Wirklichkeit". Kunst ist ein therapeutisches<br />
Erleichterungsmittel, das <strong>de</strong>r Religion überlegen ist, weil die psychischen Zwänge<br />
wegfallen dürfen. Für Freud sind Kunstwerke durch Kastrationsangst, einen<br />
Ödipus- o<strong>de</strong>r Elektrakomplex zu erklären. Gott ist immer eine Vaterprojektion, je<strong>de</strong><br />
Höhle und je<strong>de</strong>r Brunnen ist ein Sinnbild für die Mutterbindung. Es gibt nur<br />
phallische und vaginale Motive, die sich nach Freuds Meinung über <strong>de</strong>n Umweg<br />
<strong>de</strong>s Kunstwerkes gegen die Zensur <strong>de</strong>s Über-Ich durchsetzen können. Das<br />
Künstlerische wird auf Krankes o<strong>de</strong>r Neurotisches <strong>zur</strong>ückgeführt 9 . Viele Stimmen<br />
erheben sich gegen eine solche Interpretation. Wo bleibt die Form, die Sprache?<br />
Für Freud dient <strong>de</strong>r formale Aspekt lediglich dazu, <strong>de</strong>n Leser durch einen<br />
"ästhetischen Lustgewinn" zu bestechen.<br />
Man nennt einen solchen Lustgewinn, <strong>de</strong>r uns geboten wird, um mit ihm die<br />
Entbindung größerer Lust aus tiefer reichen<strong>de</strong>n psychischen Quellen zu<br />
ermöglichen, eine Verlockungsprämie o<strong>de</strong>r eine Vorlust. 10<br />
Wo bleiben aber die politischen, sozialen, ökonomischen, historischen,<br />
8 Sigmund Freud, Bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst und Literatur – Der Dichter und das Phantasieren,<br />
Studienausgabe Bd. X, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1969, S. 172.<br />
9 Siehe z.B. Sigmund Freud, Bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst und Literatur – Eine Kindheitserinnerung<br />
von Leonardo da Vinci, Studienausgabe Bd. X, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1969.<br />
10 Ebd. S. 179.<br />
17
umweltbedingten Betrachtungen, wird man sich zu Recht fragen. Für Freud ist <strong>de</strong>r<br />
Künstler seinem sozialen Umfeld fremd. In Das Unbehagen in <strong>de</strong>r Kultur (1930)<br />
spricht Freud von <strong>de</strong>r Kunst als von einer Illusion, die <strong>de</strong>m Leser und <strong>de</strong>m Dichter<br />
die Möglichkeit gibt, von <strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n, die ihn umgeben, Abstand zu gewinnen.<br />
Das obere Ziel heißt: Lustgewinn und Glück statt Frust und Leid. Kunst gleicht für<br />
Freud einem Opiat, das für Augenblicke die frustrieren<strong>de</strong> Realität vergessen läßt.<br />
Bei Jung ist nicht das Sexuelle entschei<strong>de</strong>nd. Er bestreitet jedoch keineswegs <strong>de</strong>n<br />
Wert einer freudianischen Analyse:<br />
Die Arbeiten von Freud ermöglichen ... eine unter Umstän<strong>de</strong>n tiefergreifen<strong>de</strong> und<br />
mehr erschöpfen<strong>de</strong> Aufzeigung <strong>de</strong>r Einflüsse <strong>de</strong>r bis in die früheste Kindheit<br />
<strong>zur</strong>ückreichen<strong>de</strong>n Erlebnisse auf das künstlerische Schaffen 11 .<br />
Er bezeichnet aber Freuds Metho<strong>de</strong> als "reduktiv", als "medizinische<br />
Behandlungsmetho<strong>de</strong>, welche eine krankhafte und uneigentliche Bindung zum<br />
Objekt hat." 12 Für Jung ist ein Kunstwerk unpersönlich. Der Künstler meint, er wäre<br />
ein Schöpfer, doch <strong>de</strong>r Urgrund seiner Dichtung ist das "kollektive Unbewußte",<br />
<strong>de</strong>ssen Archetypen (Urbil<strong>de</strong>r) angeregt und zum Ausdruck gebracht wer<strong>de</strong>n. Das<br />
kollektive Unbewußte besteht nicht aus fertigen Bil<strong>de</strong>rn; es besteht aus<br />
mnemischen Bil<strong>de</strong>rn, die uns seit Urzeiten vererbt wer<strong>de</strong>n. Diese Bil<strong>de</strong>r,<br />
Vorstellungen sind nicht angeboren, sie sind nur "angeborene Möglichkeiten von<br />
Vorstellungen", die einer Belebung bedürfen, um entwickelt, gestaltet und in die<br />
Sprache <strong>de</strong>r Gegenwart übersetzt zu wer<strong>de</strong>n. Für Jung gibt es zwei Arten <strong>de</strong>s<br />
Schaffens: bei <strong>de</strong>r ersten, die er als psychologisch bezeichnet, bewegt sich <strong>de</strong>r<br />
Inhalt innerhalb <strong>de</strong>r Reichweite <strong>de</strong>s menschlichen Bewußtseins; Erfahrungen,<br />
Gefühle sind die Auslöser. Bei <strong>de</strong>r zweiten, die ihn mehr interessiert, han<strong>de</strong>lt es<br />
sich um eine visionäre Art <strong>de</strong>s Schaffens. Hier ist das Erlebnis nichts Bekanntes<br />
und kommt aus <strong>de</strong>m kollektiven Unbewußten.<br />
Auch bei Jung stellen wir Partialität fest. Das Leben <strong>de</strong>s Autors mit seinen<br />
Konflikten bleibt weitgehend unberücksichtigt, ebenso wie <strong>de</strong>r soziale Aspekt, ganz<br />
zu schweigen von <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s Textes. Alles wird auf mythische Ursituationen<br />
<strong>zur</strong>ückgeführt. Das Ziel <strong>de</strong>s Menschen ist für Jung die Individuation, ein<br />
Reifungsprozeß, <strong>de</strong>r in mehreren Etappen zum Selbst führt. Die Individuation ist<br />
ein Zentrierungsprozeß, <strong>de</strong>r <strong>zur</strong> Verwirklichung <strong>de</strong>s Selbst führt. Das Selbst ist die<br />
Ganzheit <strong>de</strong>r Psyche, die Vereinigung von Bewußtem und Unbewußtem. Das Ziel<br />
<strong>de</strong>r Individuation ist, das Selbst von <strong>de</strong>n falschen Hüllen <strong>de</strong>r Persona, (von <strong>de</strong>r<br />
Maske, die wir aufsetzen, um einer Rolle innerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft gerecht zu<br />
wer<strong>de</strong>n) zu befreien, <strong>de</strong>n Schatten (die verdrängten, uns une<strong>de</strong>l vorkommen<strong>de</strong>n<br />
Eigenschaften) und <strong>de</strong>n Animus bzw. die Anima (<strong>de</strong>n weiblichen Teil <strong>de</strong>r Psyche<br />
beim Mann und umgekehrt) zu integrieren. Es gilt schließlich, seine Zugehörigkeit<br />
<strong>zur</strong> Natur, zum Ganzen zu erkennen und durch ein erfolgreiches "Kenne Dich<br />
selbst", durch Akzeptieren seines wahren Wesens <strong>zur</strong> Entfaltung und Behauptung<br />
seiner individuellen Persönlichkeit zu kommen.<br />
Wenn man bei<strong>de</strong> Metho<strong>de</strong>n zusammenfaßt, dann fallen zunächst<br />
Gemeinsamkeiten auf. Freud billigt <strong>de</strong>r Kunst keine Selbständigkeit zu. Sie ist<br />
11 C.G. Jung, Über das Phänomen <strong>de</strong>s Geistes in Kunst und Wissenschaft, GW, Bd. 15,<br />
Walter-Verlag Olten, 1990, S. 78.<br />
12 Ebd S. 78.<br />
18
lediglich Ausdruck einer Neurose. Jung schränkt auch diese Autonomie ein, in<strong>de</strong>m<br />
er behauptet, die Werke wür<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>m Autor aufdrängen,<br />
seine Hand ist gewissermaßen ergriffen, seine Fe<strong>de</strong>r schreibt Dinge, <strong>de</strong>ren sein<br />
Geist mit Erstaunen gewahr wird. 13<br />
Die zweite Gemeinsamkeit besteht darin, daß bestimmte Bereiche unberücksichtigt<br />
bleiben, so das soziale Umfeld o<strong>de</strong>r die Form <strong>de</strong>s Kunstwerkes. Was die<br />
Unterschie<strong>de</strong> anbetrifft, so reicht <strong>de</strong>r Umfang dieses Vortrags nicht, um sie im<br />
Einzelnen aufzuzeigen. Ich möchte mich auf <strong>de</strong>n Hauptunterschied beschränken:<br />
Freuds Metho<strong>de</strong> ist kausal, in<strong>de</strong>m sie nach <strong>de</strong>r Ursache fragt, während die<br />
Jungsche Metho<strong>de</strong> eine finale ist, da sie nach <strong>de</strong>m Ziel (<strong>de</strong>m Selbst) und <strong>de</strong>ssen<br />
Erreichung fragt.<br />
Nun kann man sich fragen, ob eine solche Partialität notwendig ist. Einiges spricht<br />
dafür. Die gute Kenntnis eines Systems ermöglicht <strong>de</strong>ssen exakte Anwendung.<br />
Mehrere Systeme perfekt zu beherrschen, erweist sich schon als schwieriger. Die<br />
Partialität hat <strong>de</strong>n Vorteil, daß eine Seite <strong>de</strong>s Werkes gründlich beleuchtet wird und<br />
eine an<strong>de</strong>re, interessante Interpretation bietet. Die Deutung innerhalb eines<br />
Systems scheint auch gut zu funktionieren und bestätigt meist die Gültigkeit <strong>de</strong>r<br />
jeweiligen Theorie. Der Mensch neigt jedoch dazu, sich EINE I<strong>de</strong>ologie, EINE<br />
Sicht, EINE Vorstellung zu eigen zu machen.<br />
Gegen eine solche Partialität spricht die Einseitigkeit <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Stillstand,<br />
<strong>de</strong>r sich möglicherweise aus einer solchen festgefahrenen Metho<strong>de</strong> ergeben kann,<br />
während das Ziel <strong>de</strong>r Forschung im Weiterkommen, im Fortschritt liegt. Zu<strong>de</strong>m<br />
erkennt man, daß bei<strong>de</strong> Systeme nicht für alle Werke funktionieren. Demnach<br />
wäre die Suche nach neuen Mo<strong>de</strong>llen zu befürworten. Es wäre zum Beispiel<br />
<strong>de</strong>nkbar, die Erkenntnisse von Freud und Jung gleichzeitig zu nutzen, um zu einer<br />
neuen, reicheren Interpretation zu kommen. Ich bin <strong>de</strong>r Ansicht, daß sich bei<strong>de</strong><br />
Metho<strong>de</strong>n keineswegs ausschließen, wenn auch in manchen Fällen die eine o<strong>de</strong>r<br />
die an<strong>de</strong>re geeigneter sein kann. Es könnten auch die Märchen und Träume, die<br />
oft in literarischen Texten vorkommen, untersucht und soziologisch ge<strong>de</strong>utet<br />
wer<strong>de</strong>n. Die Form <strong>de</strong>r Dichtung könnte auch mit einbezogen wer<strong>de</strong>n, so <strong>de</strong>r<br />
Rhythmus (wobei eine Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n Musikologen <strong>de</strong>nkbar wäre) o<strong>de</strong>r<br />
die Auswahl <strong>de</strong>r Wörter (ihr ursprünglicher Sinn, die gewählten Nuancen, die<br />
Ausdrucksweise könnten in Zusammenarbeit mit Sprachforschern analysiert<br />
wer<strong>de</strong>n). Auch <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>r Geschichte, <strong>de</strong>s Zeitgeistes, <strong>de</strong>r sozialen und<br />
gesellschaftlichen Bedingungen wäre wichtig und brächte eine enge Verbindung<br />
zwischen Literaturwissenschaft und Soziologie. Wonach gesucht wer<strong>de</strong>n sollte,<br />
sind Mo<strong>de</strong>lle, die verschie<strong>de</strong>ne Interpretationsparadigmen in eine einzige<br />
Untersuchung integrieren. Paradigmenwechsel in Richtung Interdisziplinarität ist<br />
hier angesagt. Es gibt zwar bereits interessante Studien von Marie-Louise von<br />
Franz, Hedwig von Beit o<strong>de</strong>r Eugen Drewermann, die aber lediglich eine Analyse<br />
<strong>de</strong>r Märchen an sich als Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Persönlichkeitsentwicklung bieten. Auch die<br />
Untersuchungen von Gilbert Durand beschränken sich darauf, die<br />
Wie<strong>de</strong>raufnahme <strong>de</strong>r Strukturen und Elemente <strong>de</strong>r Mythen in literarischen Werken<br />
13 Ebd., S. 84.<br />
19
ohne Bezug auf <strong>de</strong>n soziologischen Kontext aufzuzeigen. 14 Ich kann mir eine<br />
Arbeit vorstellen, in welcher Freuds und Jungs Theorien kombiniert wer<strong>de</strong>n, wo <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftliche Aspekt und die Form einbezogen wer<strong>de</strong>n, um zu versuchen, <strong>de</strong>m<br />
Rätsel <strong>de</strong>s Schöpfungsaktes etwas näher zu kommen, um seine Zusammenhänge<br />
besser zu erfassen und dadurch neue Erkenntnisse zu gewinnen. Freud sprach<br />
mehrmals von einer "archaischen Erbschaft". Es ging um nicht selbst erlebte,<br />
son<strong>de</strong>rn bei <strong>de</strong>r Geburt mitgebrachte Inhalte, um Stücke von phylogenetischer<br />
Herkunft, eine Aussage, die eine Brücke zwischen Freud und Jung zu schlagen<br />
scheint. 15 Freud gab zu, daß phantasierte Erinnerungen und Vorstellungen im<br />
Leben nicht min<strong>de</strong>r wirksam seien als solche, die auf reale Erlebnisse<br />
<strong>zur</strong>ückgreifen und fragte sich, warum man bei Individuen mit unterschiedlicher<br />
Lebensgeschichte "je<strong>de</strong>smal die nämlichen Phantasien mit <strong>de</strong>m selben Inhalt" 16<br />
wie<strong>de</strong>rfän<strong>de</strong>. Auf diese Frage hat auch Jung versucht zu antworten. Und wenn<br />
Freud erklärt: "Ich meine, diese Urphantasien... sind phylogenetischer Besitz. Das<br />
Individuum greift in ihnen über sein eigenes Erleben hinaus in das Erleben <strong>de</strong>r<br />
Vorzeit", so scheint sich auch hier <strong>de</strong>r Abstand zwischen Freud und Jung zu<br />
verringern. Vielleicht wäre eine kombinierte Analyse möglich, wo Freuds kausale<br />
Metho<strong>de</strong> mit Jungs finaler Interpretation verbun<strong>de</strong>n wird. Zu<strong>de</strong>m könnte man<br />
vielleicht gleichzeitig folgen<strong>de</strong>s untersuchen: a) das angeborene Terrain<br />
(Untersuchung <strong>de</strong>r jeweiligen Motive im Laufe <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte. Gibt es<br />
Gemeinsamkeiten, ähnliche Denkstrukturen?), b) <strong>de</strong>n Platz <strong>de</strong>s Individuellen und<br />
<strong>de</strong>s Kollektiven bei wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Strukturen, c) die eventuellen Verän<strong>de</strong>rungen<br />
bei <strong>de</strong>r Darstellung von Konflikten im Laufe <strong>de</strong>r Zeit durch Vergleich <strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>r und<br />
Figuren, d) die Unterstützung <strong>de</strong>r Sprache (u.a. Rolle <strong>de</strong>s Rhythmus, <strong>de</strong>r<br />
Ausdrucksweise). So wür<strong>de</strong> möglicherweise ein vollständigeres Bild <strong>de</strong>s Textes<br />
entstehen. Dazu müßten zunächst in vielen Bereichen Partialität und Mißtrauen<br />
überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, um weiter voranschreiten und neue Ergebnisse erzielen zu<br />
können.<br />
14<br />
Gilbert Durand, Figures mythiques et visages <strong>de</strong> l'oeuvre, Berg International, Coll. L'île<br />
verte, Paris, 1979.<br />
15<br />
Sigmund Freud, Studienausgabe, Ergänzungsband, Schriften <strong>zur</strong><br />
Behandlungstechnik, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1982, S. 380.<br />
16<br />
Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. XI, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1969, S. 386.<br />
20
BEATE PETRA KORY<br />
TEMESWAR<br />
Paradigmenwechsel unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie.<br />
Mo<strong>de</strong>rne Strukturen in Hermann Hesses Roman Der<br />
Steppenwolf<br />
In <strong>de</strong>r Sekundärliteratur zu Hermann Hesse ist <strong>de</strong>s öfteren unterstrichen wor<strong>de</strong>n,<br />
daß sich mit <strong>de</strong>m Jahre 1916, das <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>r analytischen Sitzungen bei<br />
Joseph Bernhard Lang markiert, die Schreibweise <strong>de</strong>s Schriftstellers grundlegend<br />
än<strong>de</strong>rt. Selbst Hesse weist in seinen Briefen mehrfach auf eine wesentliche<br />
Neuorientierung seines Weltbil<strong>de</strong>s durch die analytische Psychologie C.G. Jungs<br />
hin, die zu einem Wen<strong>de</strong>punkt in seinem künstlerischen Schaffen geführt hat. In<br />
einem Brief an Ludwig Finkh vom 5.1.1920 bekennt Hesse:<br />
Ich konnte nach <strong>de</strong>m Krieg [...] nicht wie<strong>de</strong>r da anfangen, wo ich aufgehört hatte.<br />
Inzwischen war Krieg gewesen, war mein Frie<strong>de</strong>n, meine Gesundheit, meine<br />
Familie zum Teufel gegangen, ich hatte die ganze Welt aus neuen<br />
Gesichtspunkten sehen lernen und namentlich meine Psychologie durch das<br />
Miterleben <strong>de</strong>r Zeit und durch die Psychoanalyse völlig neu orientiert. Es blieb mir<br />
nichts übrig, wenn ich überhaupt weitermachen wollte, als unter meine früheren<br />
Sachen einen Strich zu machen und neu zu beginnen. Was ich jetzt auszudrücken<br />
suche, sind zum Teil Dinge, die überhaupt noch nicht dargestellt wor<strong>de</strong>n sind, ich<br />
mußte mit Sprache und allem Neues suchen und probieren [...] Einiges von <strong>de</strong>m,<br />
was ich probierte, war in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur noch gar nicht da, noch gar nicht<br />
versucht wor<strong>de</strong>n [...] (HGB 1, 1973, S. 436-437).<br />
Auffallen<strong>de</strong>rweise wird aber diese Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Schreibweise nicht im Sinne einer<br />
Hinwendung zu mo<strong>de</strong>rnen Themen und Strukturen gewertet, was auch die<br />
Tatsache erklärt, daß Hermann Hesse in <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Werken, die sich mit<br />
<strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Romans beschäftigen, nur am Ran<strong>de</strong> (bei Jürgen<br />
Petersen Der <strong>de</strong>utsche Roman <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne) o<strong>de</strong>r gar nicht erwähnt wird (Jürgen<br />
Schramke: Zur Theorie <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Romans). Man stuft Hesse allzuoft als<br />
Nachfolger <strong>de</strong>r Romantiker ein und dies natürlich nicht ganz unbegrün<strong>de</strong>t, hat ja<br />
Hesses erster Biograph, Hugo Ball, <strong>de</strong>n Schriftsteller als „<strong>de</strong>n letzten Ritter aus<br />
<strong>de</strong>m glanzvollen Zuge <strong>de</strong>r Romantik“ gefeiert und hat auch Hesse selbst seine<br />
Vorliebe für Novalis o<strong>de</strong>r Jean Paul nie verleugnet.<br />
Obwohl einige Kritiker <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie auf<br />
Hesses Werk herausgearbeitet haben, darunter Reso Karalaschwili in seiner Arbeit<br />
Hermann Hesses Romanwelt (1986) und vor allem Günter Baumann in seiner<br />
Dissertation Hermann Hesses Erzählungen im Lichte <strong>de</strong>r Psychologie C.G. Jungs<br />
(1989), ist noch nicht ausreichend betont wor<strong>de</strong>n, daß Hesses Mo<strong>de</strong>rnität sowohl<br />
strukturell als auch inhaltlich auf die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r<br />
Tiefenpsychologie <strong>zur</strong>ückzuführen ist. Ansätze dazu sind bei Karalaschwili zu<br />
21
fin<strong>de</strong>n.<br />
Die vorliegen<strong>de</strong> Arbeit setzt sich zum Ziel, zu beweisen, daß <strong>de</strong>r<br />
Paradigmenwechsel in Hesses Werk, im wesentlichen auf <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r<br />
Tiefenpsychologie <strong>zur</strong>ückzuführen ist und als eine Hinwendung <strong>zur</strong> Mo<strong>de</strong>rnität<br />
ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n muß.<br />
Spannung zwischen Mo<strong>de</strong>rnität und Tradition. Kritische<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Stil Hermann Hesses<br />
Die wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Aussagen <strong>de</strong>r Kritiker, die <strong>de</strong>n Steppenwolf betreffen,<br />
zeigen Hesses schwanken<strong>de</strong> Position zwischen einem <strong>de</strong>r Romantik verpflichteten<br />
Autor und einem Schriftsteller, <strong>de</strong>r sich mit typisch zeitgenössischen Problemen<br />
auseinan<strong>de</strong>rsetzt, in<strong>de</strong>m er auch teilweise mo<strong>de</strong>rne Romantechniken verwen<strong>de</strong>t.<br />
Am auffälligsten wird diese Tatsache in Thomas Manns Einleitung zu <strong>de</strong>r<br />
amerikanischen Demian – Ausgabe aus <strong>de</strong>m Jahre 1947, in <strong>de</strong>r Mann folgen<strong>de</strong>s<br />
schreibt:<br />
Und ist es nötig, zu sagen, daß <strong>de</strong>r Steppenwolf ein Romanwerk ist, das an<br />
experimenteller Gewagtheit <strong>de</strong>m Ulysses, <strong>de</strong>n Faux – Monnayeurs nicht<br />
nachsteht? (Mat. Dem 2, 1997, S. 79),<br />
und dabei gleich im nächsten Satz das Lebenswerk Hesses als ein<br />
im Heimatlich-Deutsch-Romantischen wurzeln<strong>de</strong>[s] (Mat. Dem 2, 1997, S. 79)<br />
bezeichnet.<br />
Die Verankerung Hesses in <strong>de</strong>r romantischen Tradition scheint sich vor allem auf<br />
die formalen, sprachlichen Qualitäten seines Werkes zu stützen, welche auf <strong>de</strong>n<br />
ersten Blick in Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>n dargestellten Inhalten stehen. In diesem Sinne<br />
stellt Volker Michels fest:<br />
Was zunächst auffällt und insbeson<strong>de</strong>re die Literaturwissenschaftler so häufig<br />
irritiert, ist <strong>de</strong>r scheinbare Gegensatz zwischen <strong>de</strong>r traditionellen Form und <strong>de</strong>n<br />
zukunftsweisen<strong>de</strong>n Inhalten, die diese Form transportiert […] (Michels, 1973, S.<br />
244),<br />
ergreift aber gleichzeitig Partei für diese so leicht verständliche Ausdrucksform,<br />
welche die Fähigkeit hat, das Werk Hesses einem breiteren Leserpublikum<br />
zugänglich zu machen.<br />
Hier stoßen wir auf das paradoxe Phänomen, daß Hesse als vielleicht<br />
meistgelesener Autor auf <strong>de</strong>r ganzen Welt in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Universitäten kaum<br />
Beachtung fin<strong>de</strong>t, weil “das Verständliche für simpel gehalten wird”, wie sich<br />
Michels gelegentlich <strong>de</strong>r Hermann-Hesse-Tagung in Bensberg 1999 ausdrückte.<br />
So scheint die geringe Aufmerksamkeit, die man <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Strukturen in<br />
Hesses Werk schenkt, vor allem auf <strong>de</strong>r paradox zu bezeichnen<strong>de</strong>n Tatsache zu<br />
beruhen, daß Hesse in seinen Romanen zwar hochmo<strong>de</strong>rne Themen behan<strong>de</strong>lt,<br />
wie Persönlichkeitsspaltung verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätskrise <strong>de</strong>s Subjekts und<br />
<strong>de</strong>mnach auch mit <strong>de</strong>r Philosophie <strong>de</strong>s Existentialismus, die Suche nach<br />
Selbstverwirklichung, Sprachskepsis, aber diese sich bei einigen Kritikern nicht<br />
o<strong>de</strong>r bei an<strong>de</strong>ren nur begrenzt auf <strong>de</strong>r erzähltechnischen Ebene spiegeln.<br />
In diesem Sinne wäre die folgen<strong>de</strong> Meinung Helga Esselborn-Krumbiegels zu<br />
22
überprüfen:<br />
So prägt die Erfahrung <strong>de</strong>r Ich-Spaltung zwar <strong>de</strong>n Steppenwolf in seiner Wesensart<br />
und Lebensweise, die Erzählform <strong>de</strong>s Romans jedoch verän<strong>de</strong>rt sich unter dieser<br />
Erfahrung nicht tiefgreifend (Esselborn-Krumbiegel, 1988, S. 90-91).<br />
Sie stützt ihre Aussage durch einen Vergleich <strong>de</strong>r einsträngigen, chronologisch<br />
verlaufen<strong>de</strong>n Handlung <strong>de</strong>s Steppenwolfs mit jener in Rilkes Roman Die<br />
Aufzeichnungen <strong>de</strong>s Malte Laurids Brigge, wo<br />
die Auflösung <strong>de</strong>s Erzählduktus in Episo<strong>de</strong>n und Assoziationen ... mit <strong>de</strong>r<br />
Desintegration <strong>de</strong>s Individuums zugleich das Versagen konsistenten Erzählens<br />
spiegelt (Esselborn-Krumbiegel, 2 1988, S. 91).<br />
Auch wenn diese Behauptung im Grun<strong>de</strong> genommen stimmt, erweist sie sich bei<br />
einer genaueren Überprüfung <strong>de</strong>s Romans als inexakt, da man in Hesses<br />
Steppenwolf doch zwei Textstellen ausmachen kann, an <strong>de</strong>nen die Erfahrung <strong>de</strong>r<br />
Persönlichkeitsspaltung sprachlich artikuliert wird. In diesem Zusammenhang wäre<br />
auf <strong>de</strong>n Aufsatz “Narration of Consciousness in Der Steppenwolf” von Dorrit Cohn<br />
hinzuweisen, in <strong>de</strong>m sich die Autorin auf die Art <strong>de</strong>r Bewußtseinswie<strong>de</strong>rgabe im<br />
Roman konzentriert. Sie bezeichnet diese relativ selten auftreten<strong>de</strong> Art <strong>de</strong>r<br />
Bewußtseinswie<strong>de</strong>rgabe als „self-narrated monologue“ (selbsterzählter Monolog)<br />
(Cohn, 1969, S. 123), da sie eigentlich erlebte Re<strong>de</strong> (narrated monologue) in <strong>de</strong>r<br />
ersten Person ist. Der Ich-Erzähler, Harry Haller, beschäftigt sich in seinen<br />
Tagebuchaufzeichnungen ungewöhnlicherweise mit seinen vergangenen<br />
Gedanken und Gefühlen. Innerhalb <strong>de</strong>s selbsterzählten Monologs verweist Cohn in<br />
einem an<strong>de</strong>ren Kontext auf zwei Textstellen, in <strong>de</strong>nen sich Harry sozusagen von<br />
außen betrachtet, wie ein Analyst seinen Patienten. Es sei ganz kurz auf diese<br />
bei<strong>de</strong>n Stellen verwiesen:<br />
Die eine hängt mit <strong>de</strong>m Besuch beim Professor zusammen und mit <strong>de</strong>r erneut<br />
schmerzlich bewußt wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Dissoziation zwischen <strong>de</strong>r menschlichen Seite<br />
Harrys, die sich nach Gesellschaft sehnt, und <strong>de</strong>m wölfischen Aspekt, <strong>de</strong>r sich<br />
gegen alles Verlogene und Unehrliche auflehnt:<br />
Aber ein Stück von Harry spielte wie<strong>de</strong>r Theater, nannte <strong>de</strong>n Professor einen<br />
sympathischen Kerl, sehnte sich nach wenig Menschengeruch, Schwatz und<br />
Geselligkeit, erinnerte sich an <strong>de</strong>s Professors hübsche Frau [ ...] (HGW 7, 1987, S.<br />
262).<br />
Die an<strong>de</strong>re beinhaltet eine große Portion Selbstkritik, in <strong>de</strong>m Augenblick, da Harry<br />
erkennt, daß er das Goethe-Bild abscheulich fin<strong>de</strong>t, weil er in sich selbst diese<br />
bürgerliche Seite Goethes nicht annehmen kann :<br />
Er selbst, <strong>de</strong>r alte Harry, war genau solch ein bürgerlich i<strong>de</strong>alisierter Goethe<br />
gewesen, so ein Geistesheld mit allzu edlem Blick, von Erhabenheit, Geist und<br />
Menschlichkeit strahlend wie von Brillantine und beinahe über <strong>de</strong>n eigenen<br />
Seelena<strong>de</strong>l gerührt ... (HGW 7, 1987, S. 319).<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich in diesen bei<strong>de</strong>n Passagen, wie Cohn hervorhebt, um „internal<br />
analysis“ (Cohn, 1969, S. 125), das heißt um einen Bewußtseinsbericht. Bei<strong>de</strong><br />
Textstellen spiegeln die Erfahrung <strong>de</strong>r Ich-Entfremdung wi<strong>de</strong>r.<br />
Problematisch ist es auch zu behaupten, wie es Esselborn-Krumbiegel tut, daß<br />
Hesses Roman <strong>de</strong>r bis ins frühe 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt hinein wirksamen Tradition <strong>de</strong>s<br />
23
<strong>de</strong>utschen Bildungs- und Entwicklungsromans verpflichtet sei (Esselborn-<br />
Krumbiegel, 1988, S. 92), <strong>de</strong>nn schließlich vollzieht sich ja im Steppenwolf eben<br />
nicht eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Gesellschaft, wie im traditionellen<br />
Bildungsroman, son<strong>de</strong>rn eine Konfrontation mit <strong>de</strong>m innersten Kern <strong>de</strong>r<br />
Persönlichkeit, mit <strong>de</strong>m Selbst, die auf eine Absage an die gesellschaftlichen<br />
Normen beruht. Demnach ist es richtiger im Falle dieses Romans von einer<br />
typischen historischen Ausprägung <strong>de</strong>s Bildungsromans im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt zu<br />
sprechen, <strong>de</strong>r auf das innere Leben <strong>de</strong>s Individuums zentriert ist (Mayer, 1992, S.<br />
407f.).<br />
An <strong>de</strong>n Bemühungen Esselborn-Krumbiegels ist <strong>de</strong>r Versuch ablesbar, Hesses<br />
Einordnung in die Reihe <strong>de</strong>r traditionellen Autoren zu rechtfertigen. So ist auch die<br />
Schlußfolgerung zu <strong>de</strong>r sie in ihrem Buch gelangt, daß Hesses Roman Der<br />
Steppenwolf aus <strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>r bahnbrechen<strong>de</strong>n Dichtungen <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
ausgeschlossen sei (Esselborn-Krumbiegel, 2 1988, S. 113), nur mit Vorbehalt zu<br />
betrachten, es sei <strong>de</strong>nn, man faßt Mo<strong>de</strong>rnität nur in bezug auf die erzähltechnische<br />
Ebene auf und läßt <strong>de</strong>n thematischen Aspekt völlig weg.<br />
Ein beson<strong>de</strong>rs beachtenswerter Beitrag über <strong>de</strong>n Steppenwolf, in <strong>de</strong>m die Autorin<br />
auf zwei grundlegend mo<strong>de</strong>rne Aspekte <strong>de</strong>s Textes hinweist, ist jener von Mary E.<br />
Stewart The Refracted Self. Sie bringt darin das Problem <strong>zur</strong> Sprache, daß im<br />
Roman verschie<strong>de</strong>ne Perspektiven gleichberechtigt nebeneinan<strong>de</strong>rgestellt wer<strong>de</strong>n,<br />
um <strong>de</strong>m Leser zu suggerieren, daß es einem Menschen wie Haller, <strong>de</strong>r die<br />
Grundproblematik <strong>de</strong>s Seins erkannt hat, die in <strong>de</strong>r Gegensatzstruktur <strong>de</strong>s Lebens<br />
beruht, nur dann möglich ist zu leben, wenn er sich von allen Denkkonventionen<br />
loslöst und es aufgibt, die Wirklichkeit zu kategorisieren:<br />
The uncompleted, unresolved nature of both protagonist and text are ultimately<br />
mo<strong>de</strong>ls for a kind of sublime uncommittedness which overcomes the problems of<br />
making sense of reality, of somehow differentiating between true and false, real and<br />
imaginary, by proliferating them, by allowing everything that is conceivable an equal<br />
right to exist (Stewart, 1993, S. 81).<br />
(Die unvollen<strong>de</strong>te, ungelöste Natur sowohl <strong>de</strong>s Protagonisten als auch <strong>de</strong>s Textes<br />
sind letztendlich Mo<strong>de</strong>lle für eine Art erhabener Neutralität, welche die Probleme<br />
<strong>de</strong>r Sinnfindung in <strong>de</strong>r Realität, <strong>de</strong>r Differenzierung zwischen richtig und falsch,<br />
wirklich und imaginär überwin<strong>de</strong>t, in<strong>de</strong>m er diese vervielfältigt, in<strong>de</strong>m er allem, was<br />
vorstellbar ist, ein gleiches Existenzrecht zuspricht.) (in <strong>de</strong>r Übersetzung von Petra<br />
Kory)<br />
Einen zweiten mo<strong>de</strong>rnen Aspekt sieht die Autorin darin, daß sich Hesse <strong>de</strong>r<br />
Sprachproblematik <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts bewußt war, da die drei Teile <strong>de</strong>s<br />
Romans die Unzulänglichkeit aller Versuche aufzeigen, die Realität in<br />
konventioneller Sprache zu erfassen (Stewart, 1993, S. 92). Auch Theodore<br />
Ziolkowski bringt <strong>de</strong>n dreifachen Perspektivewechsel mit <strong>de</strong>r Sprachkrise in<br />
Verbindung (Ziolkowski, 1965, S. 81).<br />
Trotz dieser Bemerkungen bezüglich <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rnität <strong>de</strong>s Steppenwolfs schließt<br />
auch diese Arbeit mit <strong>de</strong>r Feststellung, daß Hesses Roman doch hauptsächlich <strong>de</strong>r<br />
traditionellen Erzählweise verpflichtet bleibe:<br />
[...] Hesses’s text comes disturbingly close to the kind of traditional narration it<br />
seems to want to eschew (Stewart, 1993, S. 93).<br />
24
Despite all, there is in<strong>de</strong>ed a sense in which Hesse’s writing claims the kind of<br />
validity – unre<strong>de</strong>emed by irony – that belongs to the nineteenth rather than the<br />
twentieth century (Stewart, 1993, S. 94).<br />
(Hesses Text nähert sich beunruhigend jener Art von traditioneller Erzählung an,<br />
die er scheinbar vermei<strong>de</strong>n will.<br />
Trotz allem , beanspruchen Hesses Texte in einer Weise jene Art von Gültigkeit,<br />
die eher zum neunzehnten als zum zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rt gehört.) (in <strong>de</strong>r<br />
Übersetzung von Petra Kory)<br />
An diesen erwähnten Arbeiten ist die Ten<strong>de</strong>nz ablesbar, Hesse trotz<br />
grundlegen<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rner Elemente im Steppenwolf meistens als einen<br />
nachromantischen Autor einzustufen, o<strong>de</strong>r bestenfalls als einen Schriftsteller,<br />
<strong>de</strong>ssen Mo<strong>de</strong>rnität in seiner Art romantische Gedanken und Techniken zu<br />
formulieren sichtbar wird (Freedmann, 1977, S. 38).<br />
Den gleichen Gedanken fin<strong>de</strong>t man auch bei Ziolkowski, <strong>de</strong>r meint, daß Hesse in<br />
seiner Sprache größtenteils konservativ geblieben sei:<br />
Auch wenn er Probleme bespricht, die spezifisch mo<strong>de</strong>rn sind, tut er dies im<br />
Wortschatz von Novalis und Goethe. Es ist kein jäher Bruch mit <strong>de</strong>r Tradition,<br />
son<strong>de</strong>rn vielmehr ein Versuch, romantische Konvention auf so eine Art zu formen,<br />
daß sie ein geeignetes Mittel wird, um die zeitgenössische Wirklichkeit<br />
auszudrücken (Ziolkowski 1965, S. 343).<br />
<strong>de</strong>r erzähltechnischen, figuralen als auch thematischen Ebene aufgezeigt wer<strong>de</strong>n<br />
und mit <strong>de</strong>n Erkenntnissen <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie in Beziehung gesetzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Ein weiterer Grund außer <strong>de</strong>r einfachen, leicht verständlichen Sprache, weshalb<br />
Hesse als mo<strong>de</strong>rnem Autor nicht die gebühren<strong>de</strong> Aufmerksamkeit geschenkt wird,<br />
ist jener, daß sich die Schlußszenen seiner Dichtungen meistens <strong>de</strong>m Traum<br />
annähern, in<strong>de</strong>m sie die Vereinigung <strong>de</strong>r Gegensätze und die Aufhebung <strong>de</strong>r Zeit<br />
im Sinne einer Erlösung von <strong>de</strong>r Paradoxie <strong>de</strong>s Alltages schil<strong>de</strong>rn.<br />
Hesse beläßt <strong>de</strong>n Leser schließlich nicht in <strong>de</strong>r Paradoxie <strong>de</strong>s Seins, son<strong>de</strong>rn<br />
bringt Vorschläge, wie diese zu überwin<strong>de</strong>n sei.<br />
Spannung zwischen Mo<strong>de</strong>rnität und Tradition. Kritische<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Stil Hermann Hesses. Die<br />
erzähltechnische Ebene<br />
Dreifacher Wechsel <strong>de</strong>r Erzählperspektive<br />
Das auffälligste Strukturmerkmal <strong>de</strong>s Steppenwolfes ist <strong>de</strong>r dreifache Wechsel <strong>de</strong>r<br />
Erzählperspektive. Es ist anzunehmen, daß diese Eigentümlichkeit <strong>de</strong>s Romans<br />
Thomas Mann dazu veranlaßt hat, ihn an experimenteller Gewagtheit mit <strong>de</strong>m<br />
Ulysses von James Joyce o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Falschmünzer von André Gi<strong>de</strong> zu vergleichen<br />
(Mat. Dem 2, 1997, S. 79).<br />
Die Geschichte Harry Hallers wird in erster Linie von <strong>de</strong>m Herausgeber <strong>de</strong>r<br />
Tagebuchaufzeichnungen, <strong>de</strong>m Neffen von Hallers Vermieterin, aus einer<br />
objektiven Perspektive dargestellt. Die Funktion <strong>de</strong>s Vorwortes ist neben jener <strong>de</strong>r<br />
Beglaubigung und <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Kontrastthemas Bürger-Außenseiter, vor<br />
25
allem jene, die zwiespältige Rezeptionshaltung <strong>de</strong>s Lesers <strong>de</strong>m Steppenwolf<br />
gegenüber vorwegzunehmen: das heißt einerseits die I<strong>de</strong>ntifikation mit Haller,<br />
an<strong>de</strong>rerseits die Verständnislosigkeit, die <strong>de</strong>r „normale Leser“ <strong>de</strong>m Steppenwolf<br />
entgegenbringt, vorauszuschicken.<br />
Nach <strong>de</strong>m Vorwort <strong>de</strong>s Herausgebers folgen die Aufzeichnungen <strong>de</strong>s<br />
Steppenwolfes in <strong>de</strong>r Ich-Erzählperspektive. Sie sind <strong>de</strong>r selbstkritische Bericht<br />
einer I<strong>de</strong>ntitätssuche. Einige Textteile, wie die Schil<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Konzertbesuchs<br />
und das Bewun<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Araukarie aus <strong>de</strong>m Tagebuch, überschnei<strong>de</strong>n sich mit<br />
<strong>de</strong>m objektiven Bericht <strong>de</strong>s Herausgebers aus <strong>de</strong>m Vorwort, um das Vorwort zu<br />
beglaubigen.<br />
Eingefügt in die Aufzeichnungen ist <strong>de</strong>r Traktat vom Steppenwolf, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Anschein einer wissenschaftlichen Abhandlung hat und aus einer übergeordneten,<br />
auktorialen Erzählperspektive die Probleme Harry Hallers behan<strong>de</strong>lt.<br />
Das Einfügen <strong>de</strong>s Vorworts und <strong>de</strong>s Traktats in die Aufzeichnungen splittert die<br />
monologische Monotonie <strong>de</strong>s Steppenwolf-Tagebuchs auf und führt zu einem pluriperspektivischen<br />
Roman.<br />
Der Wechsel <strong>de</strong>r Erzählperspektive innerhalb <strong>de</strong>s Romans spiegelt, wenn auch<br />
nicht die Erfahrung <strong>de</strong>r Ich-Spaltung <strong>de</strong>r Hauptgestalt, dann doch die Tatsache,<br />
daß auktoriales sowie monoperspektivisches Erzählen nicht mehr fähig ist, die<br />
schillern<strong>de</strong> Vielfalt <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>r menschlichen Psyche einzufangen.<br />
Daß sich Hesse für die Gleichzeitigkeit dreier Sichtweisen entschei<strong>de</strong>t, kann auch<br />
<strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie zugeordnet wer<strong>de</strong>n, da die Wahrheit <strong>de</strong>r Seele<br />
relativ bleibt und nicht an<strong>de</strong>rs als im Schnittpunkt verschie<strong>de</strong>ner Perspektiven<br />
eingefangen wer<strong>de</strong>n kann. So ergänzen und korrigieren sich diese drei<br />
verschie<strong>de</strong>nen Blickpunkte im Laufe <strong>de</strong>s Romans beständig.<br />
Einschub <strong>de</strong>s Traktats vom Steppenwolf<br />
Beda Alleman hat <strong>de</strong>n Traktat vom Steppenwolf als „eine erste Ausprägung jener<br />
szientifisch-essayistischen Einschübe“ (Allemann, 1972, S. 319) gesehen, welche<br />
im Roman <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne <strong>de</strong>n linearen Handlungsablauf aufbrechen. Das Einfügen<br />
von Essays wird später von Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften so<br />
wie von Hermann Broch im dritten Teil <strong>de</strong>r Schlafwandler zu einer literarischen<br />
Technik erhoben, welche die Desintegration <strong>de</strong>s Weltbil<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>n Zerfall <strong>de</strong>r<br />
Werte ver<strong>de</strong>utlichen soll.<br />
Bei Hesse hat das Einfügen <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Abhandlung nur die Funktion,<br />
einen zusätzlichen Blickpunkt auf das Leben Hallers zu eröffnen, <strong>de</strong>m aber auch<br />
keine absolute Wahrheit zukommt. Ganz beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich hat Esselborn-<br />
Krumbiegel diesen Gedanken herausgearbeitet, in<strong>de</strong>m sie ausführt, daß die<br />
relative wissenschaftliche Wahrheit <strong>de</strong>s Traktats dadurch suggeriert wird, daß sich<br />
<strong>de</strong>ssen Erzählstil durch die Bezeichnung „Nur für Verrückte“ und <strong>de</strong>n<br />
märchenhaften Beginn an <strong>de</strong>n populär-wissenschaftlichen Stil <strong>de</strong>r Jahrmarkthefte<br />
annähert (Esselborn-Krumbiegel, S. 84 ). So bietet <strong>de</strong>nn auch diese objektive und<br />
verallgemeinern<strong>de</strong> Perspektive auf das Leben Harry Hallers keine endgültige<br />
Darstellung <strong>de</strong>r Steppenwolf-Problematik, son<strong>de</strong>rn ergänzt vielmehr die<br />
Tagebuchaufzeichnungen.<br />
Mehr noch – selbst im Traktat wer<strong>de</strong>n, wie das auch Peter Huber unterstreicht,<br />
26
zwei verschie<strong>de</strong>ne Perspektiven <strong>de</strong>utlich: die eine vertritt „die dualistische<br />
Grundposition <strong>de</strong>s Okzi<strong>de</strong>nts“ und analysiert die Spaltung <strong>de</strong>s Steppenwolfes in<br />
Mensch und Wolf, die an<strong>de</strong>re „diejenige <strong>de</strong>r altindischen und buddhistischen<br />
Seelenlehre“ (Huber, 1994, S. 88) hebt sozusagen die erste auf, in<strong>de</strong>m sie diese<br />
als „eine grundsätzliche Täuschung“ (HGW 7, 1970, S. 239) und als „eine<br />
vereinfachen<strong>de</strong> Mythologie“ (HGW 7, 1970, S. 240) bloßstellt. Der Mensch ist<br />
diesem zweiten Blickpunkt entsprechend keine Einheit, son<strong>de</strong>rn „eine aus hun<strong>de</strong>rt<br />
Schalen bestehen<strong>de</strong> Zwiebel, ein aus vielen Fä<strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>s Gewebe“ (HGW<br />
7, 1970, S. 244f.). Diese bei<strong>de</strong>n Perspektiven relativieren sich gegenseitig<br />
(Esselborn-Krumbiegel, S. 86f. ), aber sie führen keineswegs zu einer<br />
„Invalidierung <strong>de</strong>s abendländischen Dualismus durch die östliche<br />
Religionsphilosophie“ (Huber, 1994, S. 89), wie das Huber behauptet. Bei<strong>de</strong><br />
Perspektiven haben ihre eigene Berechtigung und bieten unterschiedliche<br />
Weltbil<strong>de</strong>r, die je<strong>de</strong> für sich ihre eigene Logik haben.<br />
Die Tatsache, daß <strong>de</strong>r Traktat nur eine vorläufige Wahrheit bietet, wird auch<br />
dadurch unterstrichen, daß <strong>de</strong>r Humor in <strong>de</strong>r Abhandlung eine völlig an<strong>de</strong>re<br />
Bewertung fin<strong>de</strong>t als später im Goethe – Traum und im Magischen Theater. Der<br />
Traktat interpretiert <strong>de</strong>n Humor als bürgerlich (HGW 7, 1970, S. 237), während er<br />
im Goethe – Traum und im Magischen Theater mit <strong>de</strong>n Unsterblichen in<br />
Verbindung gebracht wird und dadurch seine anfängliche pejorative Besetzung<br />
verliert.<br />
Es wird somit ersichtlich, daß <strong>de</strong>r Traktat vom Steppenwolf, <strong>de</strong>ssen Funktion<br />
zuerst „die Objektivierung von Hallers Existenzproblem“ (Huber, 1994, S. 89) zu<br />
sein scheint, die Zahl <strong>de</strong>r möglichen Perspektiven nur noch erweitert. Durch die<br />
mehrmalige Brechung <strong>de</strong>r Perspektive trifft Hesse in das Herz <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne, in <strong>de</strong>r<br />
die verschie<strong>de</strong>nen Blickpunkte sich nicht aus- son<strong>de</strong>rn einschließen. Wenn wir die<br />
Wirklichkeit nicht verän<strong>de</strong>rn können, so än<strong>de</strong>rn wir doch wenigstens die Art sie zu<br />
sehen und stellen damit fest, daß kein noch so schwieriges Problem ausweglos ist<br />
– scheint eine <strong>de</strong>r Lösungen zu sein, die Hesse <strong>de</strong>m Steppenwolf vorschlägt.<br />
Die Ebene <strong>de</strong>r Figuren<br />
Die Persönlichkeitsspaltung<br />
Die Darstellung <strong>de</strong>r Hauptproblematik <strong>de</strong>s Steppenwolfes, seine neurotische<br />
Dissoziation in eine wölfische und eine menschliche Hälfte, mutet wie eine<br />
psychoanalytische Fallgeschichte an. Auch die Perspektive, aus welcher diese im<br />
Traktat vom Steppenwolf dargeboten wird, stimmt mit <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />
überein. Haller stellt selbst fest, daß das Bildnis<br />
mit <strong>de</strong>m Anschein hoher Objektivität gezeichnet [ist], von einem Außenstehen<strong>de</strong>n,<br />
von außen und von oben gesehen, geschrieben von einem, <strong>de</strong>r mehr und doch<br />
auch weniger wußte als ich selbst (HGW 7, 1970, S. 251).<br />
Einerseits hebt <strong>de</strong>r Traktat die Spaltung zwischen Wolf und Mensch hervor,<br />
an<strong>de</strong>rerseits aber die kritische Position zwischen Bürger und Außenseiter.<br />
Für die Zweiteilung Wolf-Mensch bietet <strong>de</strong>r Traktat zwei<br />
Verständnismöglichkeiten: Die eine scheint <strong>de</strong>r Freudschen Psychoanalyse<br />
27
entnommen zu sein und bezieht sich auf die strenge Unterscheidung von Trieb und<br />
Geist, wie das aus <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Zitat aus <strong>de</strong>m Steppenwolftraktat ersichtlich<br />
wird:<br />
Harry fin<strong>de</strong>t in sich einen ‚Menschen’, das heißt eine Welt von Gedanken,<br />
Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er fin<strong>de</strong>t daneben<br />
in sich auch noch einen ‚Wolf‘, das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von<br />
Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur (HGW, 1970, S. 240).<br />
Der Wolf verkörpert <strong>de</strong>mnach die triebhafte Seite <strong>de</strong>r Persönlichkeit Hallers,<br />
während <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>n geistigen Aspekt veranschaulicht.<br />
Eine zweite Deutungsmöglichkeit, die <strong>de</strong>m Leser <strong>de</strong>s Traktats nahegelegt wird, ist<br />
diejenige, die menschliche Seite <strong>de</strong>s Steppenwolfes als Ergebnis <strong>de</strong>r bürgerlichen<br />
Zivilisation zu verstehen. Sie ist <strong>de</strong>r gesellschaftliche Aspekt seines Wesens, seine<br />
Persona – ein Versuch <strong>de</strong>r Anpassung an die Normen und Gesetze <strong>de</strong>r Umwelt.<br />
Ansatzpunkte zu dieser Interpretationsmöglichkeit fin<strong>de</strong>n sich in folgen<strong>de</strong>m Zitat:<br />
Was er aber, im Gegensatz zu seinem ‚Wolf‘, in sich ‚Mensch‘ nennt, das ist zum<br />
großen Teil nichts andres als eben jener mediokre ‚Mensch‘ <strong>de</strong>r Bürgerkonvention<br />
(HGW, 1970, S. 246).<br />
Seine wölfische Hälfte ist <strong>de</strong>mgegenüber all das, was sich gegen eine verlogene,<br />
unechte Gesellschaft wen<strong>de</strong>t, ist seine Künstler- und Außenseiterexistenz, das<br />
innerste Wesen seiner Persönlichkeit. So weist <strong>de</strong>r Traktat darauf hin, daß <strong>de</strong>r<br />
Wolf zuzeiten <strong>de</strong>r beste Teil Hallers ist (HGW, 1970, S. 249).<br />
Diese Deutungsmöglichkeit läßt die Nähe Hesses zum Existentialismus<br />
aufscheinen, wie das auch Marga Lange in ihrem Beitrag Daseinsproblematik in<br />
Hermann Hesses Steppenwolf beweist.<br />
Sie geht davon aus, daß die Daseinsproblematik – die Frage wie wir leben sollen –<br />
<strong>de</strong>r Kern <strong>de</strong>s Existentialismus und zugleich die Hauptproblematik <strong>de</strong>r<br />
Romangestalt ist:<br />
Das Problem <strong>de</strong>s Steppenwolfes ist nicht das Fehlen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität, o<strong>de</strong>r sogar eine<br />
I<strong>de</strong>ntitätsverwirrung, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätskonflikt (Lange, 1970, S. 9).<br />
Die wölfische Hälfte Hallers ist sein wahres Gesicht und kann im Sinne Langes mit<br />
<strong>de</strong>m authentischen und subjektiven Dasein gleichgesetzt wer<strong>de</strong>n, während die<br />
menschliche Hälfte, die inauthentische ist, das heißt jene, welche versucht sich in<br />
die menschliche Gesellschaft einzuglie<strong>de</strong>rn. Der I<strong>de</strong>ntitätskonflikt Hallers beruht<br />
<strong>de</strong>mnach darauf, daß er keinen Mut hat, sich völlig von <strong>de</strong>r bürgerlichen Welt<br />
loszulösen, um nichts an<strong>de</strong>res zu sein als er selbst.<br />
Die Dichotomie zwischen Mensch und Wolf kann ausgehend von dieser<br />
existentialistischen Deutung auch als Wi<strong>de</strong>rspruch zwischen Sein und Schein, das<br />
heißt zwischen <strong>de</strong>r inneren Substanz o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Menschen und <strong>de</strong>r<br />
Maske, <strong>de</strong>r Persona, aufgefaßt wer<strong>de</strong>n. Dadurch kann Hesses Steppenwolf mit<br />
Romanen <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne in Beziehung gesetzt wer<strong>de</strong>n, welche die Aufspaltung <strong>de</strong>r<br />
Persönlichkeit in Sein und Schein behan<strong>de</strong>ln; es wären z.B. Max Frisch mit Stiller<br />
und Mein Name sei Gantenbein o<strong>de</strong>r Rainer Maria Rilkes Deutung <strong>de</strong>r Legen<strong>de</strong><br />
vom verlorenen Sohn in <strong>de</strong>n Aufzeichnungen <strong>de</strong>s Malte Laurids Brigge zu<br />
erwähnen.<br />
Die I<strong>de</strong>ntitätskrise <strong>de</strong>s Steppenwolfes entsteht dadurch, daß er sich zu keiner<br />
28
totalen Außenseiterexistenz entschließen kann und ihm auch die Einordnung in<br />
das bürgerliche Leben unmöglich ist. Er pen<strong>de</strong>lt beständig zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />
Extremen Bürger und Außenseiter.<br />
Der Traktat vom Steppenwolf zeigt auf, daß Harry nur dann erlöst wer<strong>de</strong>n kann,<br />
wenn er <strong>de</strong>n Glauben an die oberflächliche Zweiteilung in Mensch und Wolf<br />
aufgibt, <strong>de</strong>n Mut <strong>zur</strong> Selbsterkenntnis aufbringt, um festzustellen, daß kein Ich eine<br />
Einheit darstellt, son<strong>de</strong>rn vielmehr aus Tausen<strong>de</strong>n von Teilaspekten besteht, die<br />
je<strong>de</strong>r für sich unterschiedliche Möglichkeiten <strong>zur</strong> Selbstverwirklichung enthalten.<br />
Dadurch führt Hesse auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Romanfigur die Kategorie <strong>de</strong>r Möglichkeit<br />
ein, welche auch in enger Beziehung <strong>zur</strong> Tiefenpsychologie zu sehen ist, vor allem<br />
zu <strong>de</strong>r analytischen Psychologie Jungs.<br />
Die Auflösung <strong>de</strong>s Charakters und die Umwandlung <strong>de</strong>r<br />
Romangestalten in Symbole<br />
Eine Eigentümlichkeit <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Prosa auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Romangestalten, die<br />
Karalaschwili in seiner Arbeit Hermann Hesses Romanwelt hervorhebt, ist jene,<br />
daß <strong>de</strong>n Figuren nicht mehr die Bezeichnung Charakter zugeschrieben wer<strong>de</strong>n<br />
kann, weil sich <strong>de</strong>r Charakter auf das Äußere <strong>de</strong>s Menschen bezieht, während <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rne Roman sein Augenmerk auf das innere Wesen <strong>de</strong>r Gestalt richtet<br />
(Karalaschwili, 1986, S. 198).<br />
Sabine Kyora führt die Relativierung bzw. Auflösung <strong>de</strong>r Figuren, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Begriff<br />
<strong>de</strong>s Charakters nicht mehr gerecht wird, auf Freuds Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r dynamischen<br />
Prozesse innerhalb <strong>de</strong>s Unbewußten <strong>zur</strong>ück (Kyora, 1992, S. 3).<br />
Auch Schramkes Feststellung:<br />
Der Charakter gilt nicht mehr als einheitlicher, konsequenter und unverän<strong>de</strong>rlicher<br />
Ausdruck einer Persönlichkeit, son<strong>de</strong>rn als in<strong>de</strong>terminiertes, komplexes und<br />
wan<strong>de</strong>lbares Gebil<strong>de</strong> (Schramke, 1974, S. 91),<br />
kann mit <strong>de</strong>n Erkenntnissen <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie in Beziehung gesetzt wer<strong>de</strong>n<br />
und vor allem mit <strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>s Menschen als „eine aus hun<strong>de</strong>rt Schalen<br />
bestehen<strong>de</strong> Zwiebel, ein aus vielen Fä<strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>s Gewebe“ (HGW 7, 1970,<br />
S. 244f.).<br />
Karalaschwili unterstreicht, daß die Romangestalt bei Hesse zum „sinn- und<br />
werttragen<strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>r gesamten epischen Totalität“ (Karalaschwili, 1986,<br />
S. 174) wird, während in <strong>de</strong>r traditionellen Prosa die epische Gestalt noch „ihre<br />
relative Unabhängigkeit vom Ganzen“ wahrte, noch „eine eigenständige Einheit<br />
<strong>de</strong>s epischen Geschehens“ (Karalaschwili, 1986, S. 182) war.<br />
Dies wäre so zu verstehen, daß die Gestalten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Romans zu<br />
Symbolen umgearbeitet wer<strong>de</strong>n, die nicht mehr <strong>de</strong>r Wirklichkeit angehören,<br />
son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>r Fiktion angesie<strong>de</strong>lt sind und nur mehr innerhalb dieser<br />
Sphäre ihre vollständige Berechtigung haben.<br />
Sehr aufschlußreich ist es in dieser Hinsicht Karalaschwilis Definition von<br />
Charakter und Symbol einan<strong>de</strong>r gegenüberzustellen:<br />
[...] <strong>de</strong>r Charakter ist das Ergebnis einer Verallgemeinerung von einer ganzen<br />
Reihe einzelner individueller Eigenschaften. Er spiegelt die Wirklichkeit wi<strong>de</strong>r und<br />
formt sie daher nach einem von außen diktierten Prinzip (Karalaschwili1986, S.<br />
176).<br />
29
Demgegenüber reflektiert das Symbol nicht einfach die Wirklichkeit, son<strong>de</strong>rn<br />
mo<strong>de</strong>lliert sie auch (Karalaschwili, 1986, S. 176).<br />
Obwohl <strong>de</strong>r Leser keine Schwierigkeiten hat, sich Harry Hallers „menschliches“<br />
Äußere lebhaft vorzustellen, prägt sich ihm schon von <strong>de</strong>n ersten Seiten <strong>de</strong>s<br />
Romans das metaphorische Wolfsbild <strong>de</strong>s Protagonisten ein. Es wird somit<br />
verständlich, daß <strong>de</strong>r Steppenwolf in seiner leidvollen Gespaltenheit zwischen<br />
Mensch und Wolf symptomatisch für die Zerissenheit <strong>de</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rts steht, in<br />
welchem er lebt.<br />
Auch die Nebenfiguren <strong>de</strong>s Romans, Hermine, Pablo, Goethe und Mozart sind alle<br />
auf die Hauptgestalt bezogene Symbole, in <strong>de</strong>m Sinne, daß sie die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Projektionen <strong>de</strong>s Steppenwolfes ermöglichen. Hermine wird als Anima aufgefaßt,<br />
während Pablo, Goethe und Mozart das Selbst verkörpern (Baumann, 1989, S.<br />
207f.).<br />
Die erzählthematische Ebene<br />
Der Individuationsprozeß<br />
Wie Karalaschwili in seinem Buch Hermann Hesses Romanwelt aufgezeigt hat,<br />
bestimmen die Gedanken <strong>de</strong>r analytischen Psychologie in Hesses Romanen die<br />
Mo<strong>de</strong>llierung <strong>de</strong>s ganzen Menschwerdungsprozesses. Dadurch wird <strong>de</strong>r<br />
traditionelle Entwicklungs- und Bildungsroman im Sinne <strong>de</strong>r tiefenpsychologischen<br />
Erkenntnisse Hesses umge<strong>de</strong>utet: Selbsterforschung und Selbstverwirklichung, die<br />
durch <strong>de</strong>n Individuationsprozeß erreicht wer<strong>de</strong>n, sind unerläßlich für die<br />
Einordnung <strong>de</strong>s Individuums in eine Kollektivität, mehr noch sie ermöglichen erst<br />
diese Einordnung. Dies soll anhand eines Zitates von Jolan<strong>de</strong> Jacobi ver<strong>de</strong>utlicht<br />
wer<strong>de</strong>n:<br />
[...] nur diese [die Persönlichkeit] vermag auch in <strong>de</strong>r Kollektivität ihren richtigen<br />
Platz zu fin<strong>de</strong>n, nur sie besitzt auch wirkliche gemeinschaftsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kraft, d.h. die<br />
Fähigkeit, integrieren<strong>de</strong>r Teil einer Menschengruppe zu sein und nicht nur eine<br />
Nummer in <strong>de</strong>r Masse, die ja immer nur aus einer Addition von Individuen besteht<br />
und nie, wie die Gemeinschaft, zu einem lebendigen Organismus wer<strong>de</strong>n kann, <strong>de</strong>r<br />
Leben erhält und Leben spen<strong>de</strong>t (Jacobi, 1967, S. 163).<br />
Auch im Steppenwolf gestaltet Hesse, wie in allen „Seelenbiographien“ <strong>de</strong>n<br />
Individuationsprozeß <strong>de</strong>r Hauptgestalt. Dieser ist<br />
eine potentiell je<strong>de</strong>m Menschen mitgegebene Entfaltungsmöglichkeit ... und [gipfelt]<br />
in <strong>de</strong>r Ausformung <strong>de</strong>s Individuums zu seiner seelischen Ganzheit ... (Jacobi, 1965,<br />
S. 23),<br />
in<strong>de</strong>m die Erweiterung <strong>de</strong>s Bewußtseinsfel<strong>de</strong>s durch die schrittweise Integration<br />
unbewußter Inhalte angestrebt wird.<br />
Die erste Etappe <strong>de</strong>s Individuationsprozesses stellt die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit<br />
<strong>de</strong>m Schatten dar. Baumann sieht in <strong>de</strong>r schmutzigen Straße, die überquert<br />
wer<strong>de</strong>n muß, um die Steinmauer mit <strong>de</strong>r Lichtreklame zu erreichen, an welcher das<br />
Magische Theater angekündigt wird, ein Symbol <strong>de</strong>s Jungschen Schattens<br />
(Baumann, 1989, S. 193). Diese Deutung kann jedoch nicht überzeugen. Die<br />
schmutzige mit Pfützen übersäte Straße kann höchstens <strong>de</strong>n beschwerlichen Weg<br />
30
<strong>de</strong>r Individuation verkörpern, <strong>de</strong>n Haller gehen muß. Erst in seinem Beitrag Es<br />
geht bis auf’s Blut und tut weh. Aber es för<strong>de</strong>rt. Hermann Hesse und die<br />
Psychologie C.G. Jungs aus <strong>de</strong>m Jahre 1997 spricht Baumann von <strong>de</strong>m „triebhaftanarchischen<br />
Schatten“ Hallers in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Steppenwolfes (Baumann, 1997,<br />
S. 54). Der Jungsche Schatten erscheint im Steppenwolf nicht konstant auf eine<br />
Gestalt außerhalb Hallers projiziert, wie z.B. im Demian, wo Franz Kromer <strong>de</strong>n<br />
Schatten Sinclairs versinnbildlicht. Wie auch Eugene Webb feststellt, ist <strong>de</strong>r<br />
Schatten Hallers seine wölfische Hälfte, die er nicht akzeptieren kann (Webb,<br />
1971, S. 118). Ein einziges Mal erscheint <strong>de</strong>r Schatten auch hier auf Goethe<br />
projiziert, sowohl im Goethe – Bild als auch im ersten Teil <strong>de</strong>s Traumes. Der Haß<br />
auf Goethe und das bügerliche verlogene Goethe – Bild ist wie auch Baumann<br />
unterstreicht, dadurch zu erklären, daß Haller nicht fähig ist, das Bürgerliche in sich<br />
selbst anzunehmen (Baumann, 1989, S. 206f.).<br />
Nach <strong>de</strong>m Besuch bei <strong>de</strong>m Professor und <strong>de</strong>r Aufregung über das kitschige<br />
Goethe – Bild, erreicht die Verzweiflung Hallers ihren Höhepunkt. In diesem<br />
kritischen Augenblick wird er mit seiner Anima konfrontiert. Die<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Anima wird in <strong>de</strong>n Episo<strong>de</strong>n mit Hermine beschrieben.<br />
Danach folgt nach Baumann die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Archetypus <strong>de</strong>s<br />
Selbst. Dieser Archetypus wird durch Pablo, Mozart und Goethe verkörpert<br />
(Baumann 1989, S. 202). Sowohl Webb (Webb, 1971, S. 120) als auch Edward<br />
Abood (Abood, 1968, S. 9) sehen in Pablo <strong>de</strong>n Jungschen Archetypus <strong>de</strong>s Alten<br />
Weisen.<br />
Um entschei<strong>de</strong>n zu können, ob es sich im Steppenwolf um die Darstellung eines<br />
geglückten Individuationsprozesses o<strong>de</strong>r einer psychischen Desintegration<br />
han<strong>de</strong>lt, muß die symbolische Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Mor<strong>de</strong>s an Hermine untersucht<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Nach Webb machen Harrys Reaktionen auf seine Erfahrungen im Magischen<br />
Theater offensichtlich, daß es ihm nicht gelingt, seine eigene Person weniger ernst<br />
zu nehmen und über sich selbst zu lachen, so wie ihm das Pablo vor <strong>de</strong>m Eintritt in<br />
das Theater vorschlägt (Webb, 1971, S. 123). Die Ermordung Hermines sieht die<br />
Kritikerin als einen „symbolischen Selbstmord“ Hallers, <strong>de</strong>ssen Grund die<br />
Besessenheit von <strong>de</strong>r Anima darstellt, vor <strong>de</strong>r Jung wie<strong>de</strong>rholt warnt (Webb, 1971,<br />
S. 123).<br />
Auch Baumann bewertet <strong>de</strong>n Mord an Hermine negativ als einen<br />
„selbstzerstörerischen Akt Hallers“ (Baumann, 1989, S. 242, Anm. 42) und somit<br />
als Ausdruck „seiner fortdauern<strong>de</strong>n Weigerung, die gefor<strong>de</strong>rte Synthese von<br />
Humor und spielerischer Verselbstung zu vollziehen“ (Baumann, 1989, S. 243),<br />
doch meint er, daß am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Romans ein ausgewogenes und lebensfähiges<br />
Verhältnis zwischen Ich und Selbst hergestellt wer<strong>de</strong>:<br />
Der Roman beschreibt, wie ein neurotisch schwer gestörter Mann, <strong>de</strong>r von sich und<br />
<strong>de</strong>r Welt Unmögliches erwartet, durch Selbsterkenntnis und die<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit bestimmten archetypischen Menschentypen <strong>zur</strong> Vision<br />
einer neuen Ganzheit und Lebenstüchtigkeit fin<strong>de</strong>t (Baumann, 1989, S. 247).<br />
Diese durchwegs optimistische Deutung wird von <strong>de</strong>m fiktiven Herausgeber <strong>de</strong>r<br />
Aufzeichnungen Hallers wi<strong>de</strong>rlegt, welcher das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tagebuchs<br />
vorwegnehmend auf “eine neue schwere Depression“ hinweist, die Haller nach<br />
einer relativ glücklichen Zeit hatte, in <strong>de</strong>r er „auffallend lebendig und verjüngt,<br />
31
einige Male gera<strong>de</strong>zu vergnügt“ aussah (HGW 7, 1970, S. 202).<br />
Der Steppenwolf ist bei weitem nicht geheilt, aber es wur<strong>de</strong> ihm die Vielfalt <strong>de</strong>r<br />
Lebensmöglichkeiten vorgeführt, die in seiner Persönlichkeit verborgen liegen, so<br />
wie die Notwendigkeit, diese Vielfalt als solche zu akzeptieren und zu leben. Den<br />
Romanschluß kann man nur insoweit als optimistisch interpretieren als es auf die<br />
Möglichkeit einer zukünftigen humorvollen Lebensweise Hallers verweist:<br />
Einmal wür<strong>de</strong> ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal wür<strong>de</strong> ich das Lachen<br />
lernen. Pablo wartete auf mich. Mozart wartete auf mich (HGW 7, 1987, S. 413).<br />
So steht auch das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Romans im Zeichen <strong>de</strong>r Jungschen Psychologie, in<br />
<strong>de</strong>r das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Harmonie von Ich und Selbst nie vollständig verwirklichbar ist,<br />
<strong>de</strong>nn das Selbst verkörpert die psychische Ganzheit <strong>de</strong>s Menschen, ist das<br />
Zentrum <strong>de</strong>r Persönlichkeit und stellt ein Gleichgewicht zwischen <strong>de</strong>m Bewußten<br />
und <strong>de</strong>m Unbewußten her. Die Verwirklichung dieser seelischen Ganzheit ist nur<br />
für Augenblicke möglich und wird <strong>de</strong>mnach <strong>zur</strong> lebenslänglichen Aufgabe <strong>de</strong>s<br />
Menschen. In diesem Sinne meint Jung:<br />
Die Persönlichkeit, als eine völlige Verwirklichung <strong>de</strong>r Ganzheit unseres Wesens,<br />
ist ein unerreichbares I<strong>de</strong>al. Die Unerreichbarkeit ist aber nie ein Gegengrund<br />
gegen ein I<strong>de</strong>al; <strong>de</strong>nn I<strong>de</strong>ale sind nichts als Wegweiser und niemals Ziele (Jacobi,<br />
1967, S. 162f.).<br />
Der Begriff <strong>de</strong>r Zeit<br />
Der Begriff <strong>de</strong>r Zeiti ist bei Hesse einerseits jenem <strong>de</strong>s traditionellen Romans<br />
verhaftet, da sich das Fortschreiten <strong>de</strong>s Individuationsprozesses Harry Hallers im<br />
Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Zeit vollzieht und die Zeit folglich aus <strong>de</strong>r Handlung nicht weggedacht<br />
wer<strong>de</strong>n kann, (wie Schramke <strong>de</strong>monstriert hat, klaffen im mo<strong>de</strong>rnen Roman Zeit<br />
und Handlung unversöhnlich auseinan<strong>de</strong>r, was dazu führt, daß sich die eigentliche<br />
Handlung bloß auf ein zuständliches Geschehen reduziert, wie z.B. in Musils Mann<br />
ohne Eigenschaften), an<strong>de</strong>rerseits aber ist in <strong>de</strong>m Streben nach <strong>de</strong>r Aufhebung<br />
<strong>de</strong>r Zeit in <strong>de</strong>n Visionen und Träumen <strong>de</strong>r Hauptgestalt so wie im Magischen<br />
Theater eine enge Verbindung <strong>zur</strong> Tiefenpsychologie und damit auch zum<br />
mo<strong>de</strong>rnen Roman <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu sehen.<br />
Freuds wichtigste Demonstration bezüglich <strong>de</strong>r Zeit war nämlich die<br />
Verschmelzung <strong>de</strong>r drei zeitlichen Ebenen im Unbewußten, woraus auf die<br />
Atemporalität <strong>de</strong>s Unbewußten geschlossen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Hesses Mo<strong>de</strong>rnität in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Zeit im Steppenwolf<br />
spiegelt sich in <strong>de</strong>m Versuch, durch magische Augenblicke das Verfließen <strong>de</strong>r Zeit<br />
aufzuheben und im Leser <strong>de</strong>n Eindruck <strong>de</strong>r Simultaneität alles Geschehens zu<br />
hinterlassen.<br />
Nach Schramke setzt <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Roman an die Stelle <strong>de</strong>r chronologischen<br />
Kontinuität „eine diskontinuierliche Reihe von mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r ausge<strong>de</strong>hnten,<br />
zeitlosen Augenblicken“ (Schramke, 1974, S. 104):<br />
Ihrer mystischen Natur entsprechend sind solche Augenblicke aus <strong>de</strong>m<br />
gleichförmigen Strom <strong>de</strong>r Vergänglichkeit herausgehoben, sporadische Zeugen<br />
einer wesenhafteren, als zeitlos imaginierten Seinssphäre, und <strong>de</strong>nnoch flüchtige,<br />
eben bloß augenblickliche Illuminationen (Schramke, 1974, S. 105).<br />
32
Diese „augenblicklichen Illuminationen“ nennt Schramke Epiphanien:<br />
Das Erlebnis <strong>de</strong>r Epiphanie bewirkt [...] eine momentane, mystische Aufhebung<br />
aller Schei<strong>de</strong>wän<strong>de</strong> – Aufhebung <strong>de</strong>r Individuation und insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>s Abgrunds<br />
zwischen Bewußtsein und Außenwelt – und gewährt eine blitzartige,<br />
durchdringen<strong>de</strong> Einsicht in <strong>de</strong>n Zusammenhang <strong>de</strong>r Dinge (Schramke, 1974, S.<br />
105).<br />
Auch im Steppenwolf setzt sich die Zeiterfahrung <strong>de</strong>r Hauptgestalt aus solchen<br />
Epiphanien zusammen, was eigentlich auch Baumann feststellt. Bei ihm<br />
erscheinen diese Epiphanien als „blitzhafte Manifestationen <strong>de</strong>s Selbst, in <strong>de</strong>nen<br />
die neurotischen Spannungen Hallers sich für einen Moment in einer erlösen<strong>de</strong>n<br />
Synthese auflösen“ (Baumann, 1989, S. 192). Sie beschränken sich aber auf das<br />
Konzerterlebnis und auf die Vision <strong>de</strong>r Lichtreklame auf <strong>de</strong>r Steinmauer und<br />
wer<strong>de</strong>n nicht mit <strong>de</strong>m Goethe – Traum und <strong>de</strong>m Magischen Theater in Beziehung<br />
gesetzt. Die erste Begegnung Hallers mit <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Unsterblichen – abgesehen<br />
von <strong>de</strong>r Vorwegnahme im Traktat – ist für Baumann <strong>de</strong>mnach <strong>de</strong>r Goethe –<br />
Traum. Eigentlich sind aber auch die bei<strong>de</strong>n ersten Epiphanien Boten aus einer<br />
höheren Welt. Die erste Epiphanie Hallers vollzieht sich bei einem Konzert in <strong>de</strong>r<br />
Kirche: er hat das Gefühl, daß ihm „die Tür zum Jenseits“ aufgeht und daß „eine<br />
gol<strong>de</strong>ne göttliche Spur“ (HGW 7, 1970, S. 210) in seinem Leben aufleuchtet. Die<br />
Lichtreklame auf <strong>de</strong>r alten Steinmauer, welche das Magische Theater ankündigt,<br />
stellt bei Haller wie<strong>de</strong>r die Beziehung zu <strong>de</strong>m Konzerterlebnis her und damit auch<br />
zu <strong>de</strong>r gol<strong>de</strong>n aufleuchten<strong>de</strong>n Spur:<br />
Trotz<strong>de</strong>m war meine Traurigkeit ein wenig aufgehellt, es hatte mich doch ein Gruß<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Welt berührt, ein paar farbige Buchstaben hatten getanzt und auf<br />
meiner Seele gespielt und an verborgene Akkor<strong>de</strong> gerührt, ein Schimmer <strong>de</strong>r<br />
gol<strong>de</strong>nen Spur war wie<strong>de</strong>r sichtbar gewesen (HGW 7, 1970, S. 214).<br />
Die Beziehung dieser Epiphanien <strong>zur</strong> Zeit wird erst im Goethe-Traum <strong>de</strong>utlich, wo<br />
Goethe das Zeitproblem explizit <strong>zur</strong> Sprache bringt und Haller erklärt, daß es in <strong>de</strong>r<br />
Ewigkeit keine Zeit gebe. Auch das Magische Theater, in das Pablo Haller einlädt,<br />
ist eine zeitlose Welt, die eigentlich nur in <strong>de</strong>r Seele <strong>de</strong>s Steppenwolfes existiert.<br />
Erst in <strong>de</strong>r Schlußszene <strong>de</strong>s Romans, im Magischen Theater, wird es <strong>de</strong>utlich, daß<br />
alle Epiphanien auf dieses seelische Erlebnis hin angelegt waren und daß die<br />
höhere, transzen<strong>de</strong>nte Welt <strong>de</strong>r Unsterblichen sich in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s Unbewußten<br />
befin<strong>de</strong>t.<br />
In <strong>de</strong>m Versuch, <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r Zeitmo<strong>de</strong>llierung in Hesses Werk zu<br />
bestimmen, gelangt Karalaschwili zu <strong>de</strong>r gleichen Schlußfolgerung. Er spricht von<br />
einem poetologischen Prinzip <strong>de</strong>r Verwandlung von Zeit in Raum (Karalaschwili,<br />
1986, S. 145), das im wesentlichen darin besteht, daß sich die Zeit im Seelenraum<br />
lokalisiert und sich selbst aufhebend in Raum verwan<strong>de</strong>lt (Karalaschwili, 1986, S.<br />
152). Diese Feststellung beschränkt sich auf die Erkenntnis <strong>de</strong>r Tiefenpsychologie,<br />
daß das Unbewußte, das heißt die Seele, wie <strong>de</strong>r Traum zeitlos ist.<br />
Die Sprachskepsis<br />
Ein wichtiger Gedanke Hesses, in <strong>de</strong>m teilweise auch die Sprachskepsis <strong>de</strong>s 20.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts nachvollzogen wer<strong>de</strong>n kann und <strong>de</strong>r auch im Steppenwolf auftaucht,<br />
ist jener, daß Lebensweisheit nicht in Worten mitteilbar ist. Gottama Buddha kann<br />
33
Siddhartha eben das Wesentliche nicht durch Worte veranschaulichen, und zwar,<br />
das, was er in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erleuchtung erlebt hat. Das be<strong>de</strong>utet, daß die<br />
Sprache keinen Zugang zu <strong>de</strong>n wichtigsten Dingen <strong>de</strong>s Lebens vermitteln kann.<br />
Deshalb gelobt sich Siddhartha bei sich selbst zu lernen, weil Lebensweisheit nur<br />
erfahren o<strong>de</strong>r erlebt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Der gleiche Gedanke ist auch im Steppenwolf ausgedrückt, wenn die Verzweiflung<br />
<strong>de</strong>s Protagonisten nach <strong>de</strong>m Lesen <strong>de</strong>s Traktats ihren Höhepunkt erreicht. Die<br />
vorgeschlagenen Lösungen <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Abhandlung können Haller<br />
nicht optimistisch stimmen. Er muß die Auflösung seiner Person in eine Vielfalt von<br />
Teilaspekten im Magischen Theater unmittelbar erleben.<br />
Der Verfasser <strong>de</strong>s Traktats nennt die Sprache „unsere arme Idiotensprache“ (HGW<br />
7, 1970, S. 244), die alles vereinfacht, ähnlich wie die Gedanken <strong>de</strong>s Menschen.<br />
Auch die Gedanken können, wie die Sprache, die Vielfalt <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Psyche kaum erfassen. Dazu ist ein Denken nötig, das auch die Wi<strong>de</strong>rsprüche in<br />
sich miteinbezieht, ein Denken in Paradoxa, das auch bei Jung eine wesentliche<br />
Rolle spielt, sowie gleichzeitig auch ein magisches Denken, das die Wi<strong>de</strong>rsprüche<br />
aufhebt.<br />
Der Goethe-Traum als vereinigen<strong>de</strong>r Mittelpunkt zwischen<br />
erzähltechnischer und erzählthematischer Ebene<br />
Karalaschwili zählt Harry Hallers Goethe-Traum zusammen mit <strong>de</strong>m Traktat vom<br />
Steppenwolf und <strong>de</strong>n Szenen <strong>de</strong>s Magischen Theaters zu <strong>de</strong>n „magischen und<br />
phantastischen Ereignissen dieses Werkes, welche <strong>de</strong>n Leser unmittelbar mit <strong>de</strong>n<br />
Realitäten <strong>de</strong>s inneren Lebens <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n konfrontieren“ (Karalaschwili, 1980, S.<br />
226).<br />
Es ist bezeichnend, daß die chronologisch ablaufen<strong>de</strong> Handlung, welche in <strong>de</strong>n<br />
Steppenwolfaufzeichnungen geschil<strong>de</strong>rt wird, durch <strong>de</strong>n Einbruch einer höheren,<br />
transzen<strong>de</strong>nten Welt <strong>de</strong>r Ewigkeit unterbrochen wird. Ein erstes Zeichen dieser<br />
Welt ist die Lichtreklame auf einer alten Steinmauer, welche das Magische Theater<br />
ankündigt. Auch <strong>de</strong>r Traktat gelangt auf zufälliger Weise in <strong>de</strong>n Besitz Hallers.<br />
Der Goethe-Traum kann auch als Bote aus dieser höheren Welt ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n.<br />
Er stellt die eigentliche Verbindung zwischen <strong>de</strong>m Menschen und <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r<br />
Ewigkeit her, in<strong>de</strong>m er aus <strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>s kollektiven Unbewußten heraufsteigt.<br />
Er soll Haller <strong>de</strong>n Einblick in seine eigene Seele eröffnen, welche bestrebt ist, das<br />
gestörte Gleichgewicht durch das vereinigen<strong>de</strong> Symbol <strong>de</strong>s Selbst<br />
wie<strong>de</strong>rherzustellen und <strong>de</strong>utlich machen, daß jene höhere Welt <strong>de</strong>r Unsterblichen,<br />
in <strong>de</strong>r Zeit und Raum aufgehoben sind und in <strong>de</strong>r die Paradoxie <strong>de</strong>s Lebens in <strong>de</strong>r<br />
Einheit <strong>de</strong>r Gegensätze aufgelöst ist, sich eigentlich in seiner eigenen Seele<br />
befin<strong>de</strong>t.<br />
Der Goethe-Traum wird an einer zentralen Stelle in <strong>de</strong>n Roman eingebaut und<br />
zwar nach <strong>de</strong>m Verzweiflungsausbruch Hallers bei <strong>de</strong>m Professor und nach <strong>de</strong>r<br />
unmittelbaren Begegnung mit Hermine und er nimmt die folgen<strong>de</strong> seelische<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Hauptgestalt vorweg. Diese für Haller so notwendige seelische<br />
Entwicklung wird durch die Metamorphose <strong>de</strong>s Traum-Goethe dargestellt:<br />
Zuerst erscheint Goethe alt, klein und sehr steif (HGW 7, 1970, S. 281) und<br />
34
erinnert sowohl an das Bild, das <strong>de</strong>n Traum ausgelöst hatte, als auch an Hallers<br />
menschliche Seite, die sich an das bürgerliche Leben anzupassen versucht.<br />
Während sich Goethe die Vorwürfe Hallers anhört, beginnt er zu lächeln, wird<br />
größer, gibt seine steife Haltung auf. Sein Mund wird dabei ganz kindlich. Am En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Traumes lacht Goethe und verwan<strong>de</strong>lt sich in einen uralten Mann, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n<br />
Jungschen Archetypus <strong>de</strong>s Alten Weisen erinnert.<br />
Der Traum markiert zugleich erzähltechnisch gesehen einen Wen<strong>de</strong>punkt im<br />
Leben Hallers: im Symbol <strong>de</strong>s Skorpions, schön und gefährlich zugleich, klingt die<br />
Rolle Hermines an, welche die Funktion <strong>de</strong>r Anima als Seelenführerin Harrys<br />
annehmen wird. Die ambivalente Haltung Hallers <strong>de</strong>m Skorpion gegenüber, die<br />
sowohl Angst als auch Begehren beinhaltet, zeigt seine vom Zwiespalt geprägte<br />
Einstellung <strong>zur</strong> Sinnlichkeit, welche im Laufe <strong>de</strong>s Romans korrigiert wird.<br />
Somit erfüllt <strong>de</strong>r Traum einerseits aus <strong>de</strong>r erzähltechnischen Perspektive seine<br />
Funktion in <strong>de</strong>r Voraus<strong>de</strong>utung bestimmter Ereignisse (Hesse schließt hier an die<br />
älteste und meistverwen<strong>de</strong>te Funktion <strong>de</strong>s Traumes in <strong>de</strong>r Literatur an) und<br />
an<strong>de</strong>rerseits auch seine tiefenpsychologische prospektive Funktion im Sinne<br />
Jungs, da <strong>de</strong>utlich wird, daß tief im Unbewußten Hallers sich schon die Keime für<br />
seine zukünftigen Lebensmöglichkeiten herauskristallisieren. Hesse verbin<strong>de</strong>t also<br />
die voraus<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Funktion <strong>de</strong>s Traumes, welche in <strong>de</strong>r Literatur im allgemeinen<br />
eine leserlenken<strong>de</strong> und –stimulieren<strong>de</strong> Funktion hat, mit <strong>de</strong>n Erkenntnissen <strong>de</strong>r<br />
analytischen Psychologie.<br />
Auch die thematische Verbindung <strong>de</strong>s Traumes mit <strong>de</strong>r Hauptproblematik <strong>de</strong>s<br />
Steppenwolfs wird in <strong>de</strong>r Akzentuierung <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Humors, in <strong>de</strong>r<br />
Behandlung <strong>de</strong>r Zeitproblematik, so wie auch in <strong>de</strong>r Vergegenwärtigung <strong>de</strong>r Welt<br />
<strong>de</strong>r Unsterblichen durch die Gestalt Goethes offensichtlich.<br />
Es wird somit <strong>de</strong>utlich, daß <strong>de</strong>r einzige Traum im Steppenwolf sowohl durch<br />
erzähltechnische Stränge <strong>de</strong>r Voraus<strong>de</strong>utung in <strong>de</strong>n Handlungsablauf eingebettet<br />
wird, als auch durch zentrale Motive <strong>de</strong>s Romans. Hinzu kommt noch als typisch<br />
mo<strong>de</strong>rnes Element <strong>de</strong>r Traumbetrachtung, daß <strong>de</strong>r Traum auf seine<br />
kompensatorische Funktion hin angelegt wur<strong>de</strong>, da er durch seine humorvolle<br />
Ten<strong>de</strong>nz die bewußte, pessimistische Lebenseinstellung Hallers ausgleicht.<br />
Schlußfolgerungen<br />
Anhand dieser Arbeit wur<strong>de</strong> versucht, die mo<strong>de</strong>rnen Elemente von Hesses<br />
Steppenwolf herauszuarbeiten und ihre enge Verquickung mit <strong>de</strong>r<br />
Tiefenpsychologie aufzuzeigen. Die Arbeit versteht sich als Versuch, <strong>de</strong>n Roman<br />
entgegen <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen Ten<strong>de</strong>nz in <strong>de</strong>r Sekundärliteratur <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne<br />
zuzuordnen und damit die grundlegen<strong>de</strong> Spannung zu beleuchten, welche daraus<br />
resultiert, daß Hesse nicht nur die aktuelle Problematik <strong>de</strong>s Menschen <strong>de</strong>s 20.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts unter Zuhilfenahme mo<strong>de</strong>rner Erzähltechniken beschreibt, son<strong>de</strong>rn<br />
gleichzeitig auf die Möglichkeit einer Lösung verweist, die nirgendwo an<strong>de</strong>rs als in<br />
<strong>de</strong>r Seele <strong>de</strong>s Menschen selbst liegt.<br />
Der Steppenwolf bleibt somit ein einzigartiger Versuch in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur<br />
<strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, die gespaltene dissonante Welt <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne sowohl im<br />
Bewußtsein <strong>de</strong>s Steppenwolfes als auch <strong>de</strong>s Lesers zu einer neuen Einheit<br />
35
zusammenzufügen, um an <strong>de</strong>r Wirklichkeit nicht zu verzweifeln.<br />
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36
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37
ROXANA NUBERT / RODICA ZEHAN<br />
TEMESWAR<br />
Rumänische und rumänien<strong>de</strong>utsche literarische Bezüge zu<br />
Österreich<br />
Motto: … ich meine, daß das Habsburger Mittel- und Ostmitteleuropa ein Mo<strong>de</strong>ll<br />
gewesen ist, von <strong>de</strong>m man lernen kann. (Richard Wagner)<br />
Der südosteuropäische Kulturraum ist sowohl durch die geographischen, als auch<br />
durch die historischen Prämissen an Österreich gebun<strong>de</strong>n. Siebenbürgen, das<br />
Banat und die Bukowina haben jahrhun<strong>de</strong>rtelang <strong>de</strong>r österreichisch-ungarischen<br />
Monarchie angehört, <strong>de</strong>ren geistiges und sozial-politisches Gepräge seinen<br />
Nie<strong>de</strong>rschlag im rumänischen und <strong>de</strong>utschsprachigen Schrifttum gefun<strong>de</strong>n hat.<br />
Die Rumänen hatten einen ersten wichtigen Kontakt zu Österreich in <strong>de</strong>r zweiten<br />
Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Es han<strong>de</strong>lt sich um die literarische Gesellschaft<br />
Junimea in Jassy, zu <strong>de</strong>r in Wien ausgebil<strong>de</strong>te Persönlichkeiten, wie <strong>de</strong>r<br />
Literaturkritiker Titu Maiorescu (1840-1917), <strong>de</strong>r Schriftsteller Iacob Negruzzi<br />
(1842-1932) und <strong>de</strong>r berühmte Dichter Mihai Eminescu (1850-1889) gehören.<br />
Im Herbst <strong>de</strong>s Jahres 1869 beginnt Mihai Eminescu sein Studium an <strong>de</strong>r<br />
Universität Wien, das mit Unterbrechungen bis zum Sommer 1872 dauert. Er setzt<br />
eigentlich eine Familientradition fort, <strong>de</strong>nn seine älteren Brü<strong>de</strong>r haben auch hier<br />
studiert. Eminescu, <strong>de</strong>r die griechisch-orientalische Schule, die<br />
Nationalhauptschule und ab 1860 das Obergymnasium in Czernowitz besucht hat,<br />
fühlt sich in <strong>de</strong>r österreichischen Hauptstadt überhaupt nicht fremd. Viele seiner<br />
Klassenkollegen haben davon geträumt, sich in Wien aufzuhalten. Bekannte von<br />
ihm, wie Theodor Stefanelli, Vasile Bumbac, die Brü<strong>de</strong>r Hurmuzachi, und sogar<br />
sein Lieblingslehrer Aron Pumnul, <strong>de</strong>m er eines seiner ersten Gedichte widmet,<br />
haben in Wien ihre Ausbildung gemacht. George Călinescu, einer <strong>de</strong>r<br />
be<strong>de</strong>utendsten Kenner <strong>de</strong>s rumänischen Klassikers, weist darauf hin, daß<br />
Eminescu in Wien einem authentischen Deutschtum begegnet sei, das sein Bild<br />
von einer bloß “ver<strong>de</strong>utschten” Gesellschaft in Czernowitz entschei<strong>de</strong>nd geprägt<br />
habe 1 . Die Wiener Jahre wären die schönsten und fruchtbarsten seines Lebens<br />
gewesen, meint Călinescu 2 . Eminescus Deutsch- und Geschichtslehrer am Ersten<br />
Deutschen Staatsgymnasium in Czernowitz, Ernst Rudolf Neubauer aus Iglau in<br />
Mähren 3 , ist einer seiner ersten Wegweiser <strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Kultur überhaupt. In<br />
Wien vertieft Eminescu seine Kenntnisse über die <strong>de</strong>utschsprachige Philosophie<br />
1 Călinescu, George (1933): ViaŃa lui Mihai Eminescu, Bucureşti: Cultura NaŃională, 63.<br />
2 Anm. 1, 63.<br />
3 Wagner, Rudolf (1989): “Eminescus Schulzeit in Czernowitz und sein Lehrer Ernst Rudolf<br />
Neubauer”. In: Südost<strong>de</strong>usche Vierteljahresblätter, 2/1989, 103-104.<br />
39
und Literatur, hier nimmt er aber auch das Wesen eines multinationalen Staates<br />
wahr, zu <strong>de</strong>m auch seine Heimat, die Bukowina, gehört.<br />
Damals hat es in ganz Europa keine an<strong>de</strong>re Großstadt gegeben, in <strong>de</strong>r so viele<br />
rumänische Stu<strong>de</strong>nten (etwa 120) gelebt haben. Ihr beliebter Treffpunkt war das<br />
Café Troidl auf <strong>de</strong>r Wollzeile, nicht weit von <strong>de</strong>r Universität. Hier ist Eminescu im<br />
Jahre 1870 seinem Landsmann, <strong>de</strong>m Schriftsteller Iacob Negruzzi, begegnet. 4 Die<br />
Freundschaft mit <strong>de</strong>m aus <strong>de</strong>m Banat stammen<strong>de</strong>n realistischen Schriftsteller Ioan<br />
Slavici (1848-1925) prägt seinen Wiener Aufenthalt. Mihai Eminescu besucht<br />
regelmäßig auch die Gesellschaft rumänischer Stu<strong>de</strong>nten in Wien, Societatea<br />
Jună, <strong>de</strong>ren Sitz in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Nationalbibliothek und <strong>de</strong>s Volksgartens war, <strong>de</strong>r<br />
ihn unwillkürlich an <strong>de</strong>n gleichnamigen Park in Czernowitz erinnert:<br />
Anfangs <strong>de</strong>nkt Eminescu noch, die Hauptstadt sei im wesentlichen nichts an<strong>de</strong>res<br />
als eine vergrößerte Kopie von Czernowitz, aber er begreift bald, daß er sich geirrt<br />
hat. 5<br />
Mihai Eminescu besucht als außeror<strong>de</strong>ntlicher Hörer die Vorlesungen <strong>de</strong>s<br />
Romanisten Adolfo Mussafia, jene <strong>de</strong>s Philosophen Robert Zimmermann und er<br />
interessiert sich für Römisches Recht, das vom berühmten Professor Rudolf<br />
Ihering vorgetragen wur<strong>de</strong>, sowie für die Vorlesungen <strong>de</strong>s Professors Aschbach<br />
<strong>zur</strong> römischen Geschichte. 6 Beson<strong>de</strong>rs die Hof-Bibliothek am Josefsplatz mit etwa<br />
400.000 Bän<strong>de</strong>n und ungefähr 20.000 Handschriften interessiert ihn. Er geht aber<br />
auch in die Universitätsbibliothek, die Erzherzog-Albert-Bibliothek, die Bibliothek<br />
<strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Wissenschaften, die <strong>de</strong>r Ostaka<strong>de</strong>mie im Rathaus u.a.<br />
Zweifellos hat Eminescu fast sein ganzes Geld, das er von zu Hause bekommen<br />
hat, für Bücher ausgegeben. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die<br />
Bekanntschaft mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen Literatur. In Wien lernt <strong>de</strong>r rumänische<br />
Dichter das Werk Nikolaus Lenaus, von Platens, Emanuel Geibels, Josef Viktor<br />
Scheffels u.a. kennen. Als Bibliothekar einer Stu<strong>de</strong>ntenvereinigung nimmt er<br />
Kontakt zu Kant, Schopenhauer, Hegel, die sein späteres Werk entschei<strong>de</strong>nd<br />
beeinflussen wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Wiener Theater, beson<strong>de</strong>rs das Hofburgtheater, bieten <strong>de</strong>m ehemaligen<br />
Souffleur und Schauspieler 7 , <strong>de</strong>m Übersetzer von H. T. Rötschers Traktat Die<br />
Kunst <strong>de</strong>r dramatischen Darstellung. In ihrem organischen Zusammenhang<br />
wissenschaftlich entwickelt (Leipzig, 1864) eine große Auswahl. Er lernt die<br />
Schauspielerin Frie<strong>de</strong>rike Bognar kennen und widmet Auguste Wilbrandt-Baudius<br />
sogar Gedichte in <strong>de</strong>utscher Sprache.<br />
Die Stadt selbst ermöglicht ihm auch <strong>de</strong>n direkten Kontakt zu Volksfesten, <strong>zur</strong><br />
4<br />
Munteanu, Ştefan (1992): Scrisori vieneze, Timişoara: Editura <strong>de</strong> Vest, 83.<br />
5<br />
Friedman, F. Michail (1996): Ein Rumäne in Wien. Mihail Eminescus Stu<strong>de</strong>ntenjahre in <strong>de</strong>r<br />
österreichischen Hauptstadt. In: Marinelli-König, Gertraud/Pavlova, Nina (Hrsg.): Wien als<br />
Magnet? Schriftsteller aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa über die Stadt, Wien:<br />
Verlag <strong>de</strong>r Österreichischen Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Wissenschaften, 520.<br />
6<br />
Buşulenga-Dumitrescu, Zoe (1989): Eminescu. ViaŃa. CreaŃia. Cultura, Bucureşti:<br />
Editura Eminescu, 43-46.<br />
7<br />
Mihai Eminescu hat als Souffleur, Abschreiber von Texten und Schauspieler im Rahmen<br />
<strong>de</strong>r Truppe Pascaly gewirkt, mit <strong>de</strong>r er im Sommer <strong>de</strong>s Jahres 1868 Siebenbürgen und das<br />
Banat durchquert hat.<br />
40
Musik und aktivsten Presse in ganz Europa. Gemeinsam mit seinem Freund aus<br />
Czernowitz, <strong>de</strong>m Maler Epaminonda Bucevski, besucht er die berühmten Museen<br />
und lernt viele Meister kennen, die zum Vorbild seiner späten Malerfiguren wer<strong>de</strong>n.<br />
Eminescu behauptet <strong>de</strong>s öfteren, daß ihm Maler wegen ihrer künstlerischen<br />
Phantasie näher gestan<strong>de</strong>n hätten als Literaten.<br />
Die hervorragen<strong>de</strong> Kennerin <strong>de</strong>s Werkes von Mihai Eminescu, Zoe Dumitrescu-<br />
Buşulenga, faßt <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>nen Einfluß Wiens auf <strong>de</strong>n Dichter in folgen<strong>de</strong>n<br />
Worten zusammen:<br />
Eine unerklärliche Hast […] zwang ihn dazu, gering alle <strong>de</strong>r Erkenntnis<br />
zugänglichen Dinge zu verschlingen […] Menschliche Beziehungen, Kurse an <strong>de</strong>r<br />
Universität, Vorträge, Theateraufführungen, Konzerte, Buchhandlungen,<br />
Antiquariate – alles erwies sich als brauchbar; er befand sich quasi in einem<br />
Wettstreit mit <strong>de</strong>r Zeit […], um <strong>de</strong>n ihm zugeteilten flüchtigen Augenblick maximal<br />
zu nützen. Die verschie<strong>de</strong>nsten Kenntnisse eignete er sich wie im Fieber in<br />
ungeheueren Mengen an […] 8<br />
Ungefähr sieben Wohnungen (in <strong>de</strong>r Porzellangasse, Wie<strong>de</strong>n-<br />
Schaumburgergasse, Ra<strong>de</strong>tzkistraße, Dianagasse, Adamsgasse, Gärtnergasse,<br />
Kollergasse) hat <strong>de</strong>r bekannte Dichter während seines dreijährigen Aufenthaltes in<br />
<strong>de</strong>r österreichischen Hauptstadt gewechselt. Aber nur das in <strong>de</strong>r Kollergasse 3<br />
angeschlagene Schild erinnert noch an Mihai Eminescu, <strong>de</strong>r gern in <strong>de</strong>r<br />
Riemergasse diniert hat. 9<br />
Jahrzehntelang i<strong>de</strong>ntifiziert das rumänische Leserpublikum das Österreich-Bild mit<br />
Hugo von Hofmannsthals 10 und Rainer Maria Rilkes Werk. Die Bekanntschaft <strong>de</strong>s<br />
berühmten Dichterphilosophen Lucian Blaga (1895-1961) mit <strong>de</strong>m Verfasser <strong>de</strong>s<br />
Stun<strong>de</strong>nbuches fällt in die Zeit seines Studiums an <strong>de</strong>r Philosophischen Fakultät<br />
<strong>de</strong>r Universität Wien (1917-1920). Damals übersetzt er zum ersten Mal aus <strong>de</strong>m<br />
Buch <strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r.<br />
Die Beziehungen <strong>de</strong>s rumänischen Dichters zu Österreich sind sehr eng. Während<br />
<strong>de</strong>s Ersten Weltkrieges war Blaga gezwungen, sich in <strong>de</strong>r österreichischen<br />
Hauptstadt nie<strong>de</strong>rzulassen, weil Wien für die Rumänen in Siebenbürgen die<br />
einzige europäische Großstadt dargestellt hat, die relativ leicht erreichbar war. In<br />
seiner Selbstbiographie 11 erinnert er sich an diesen Lebensabschnitt. Im Sommer<br />
<strong>de</strong>s Jahres 1916 begleitet er seinen Bru<strong>de</strong>r nach Wien und steigt in einem Hotel<br />
auf <strong>de</strong>r Mariahilferstraße, in <strong>de</strong>r Nähe eines militärischen Krankenhauses ab. Sein<br />
zweiter Wohnsitz in Wien befin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Kirchengasse, in <strong>de</strong>rselben<br />
Umgebung. An <strong>de</strong>n Aufenthalt <strong>de</strong>s Dichters in <strong>de</strong>r österreichischen Hauptstadt<br />
erinnert heute ein Schild, das an das Haus in <strong>de</strong>r Buchleitengasse 47 angebracht<br />
wur<strong>de</strong>. Trotz <strong>de</strong>r Mängel, die sich in Wien nach <strong>de</strong>m Krieg bemerkbar gemacht<br />
8<br />
Buşulenga-Dumitrescu, Zoe (1986): Eminescu <strong>şi</strong> romantismul german, Bucureşti:<br />
Editura Eminescu, 7.<br />
9<br />
Anm. 5, 523.<br />
10<br />
Lăzărescu, Mariana-Virgilia (1996): Hofmannsthal-Rezeption in Rumänien. In: Daviau, G.<br />
Donald/Arlt, Herbert (Hrsg.), Geschichte <strong>de</strong>r österreichischen Literatur, Teil 2 (St.<br />
Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 611-633.<br />
11<br />
Blaga, Lucian (1965): Hronicul <strong>şi</strong> cântecul vârstelor, Bucureşti: Editura Tineretului,<br />
170-205.<br />
41
haben, hinterläßt ihm diese erste europäische Großstadt, die er besucht hat,<br />
einen tiefen Eindruck:<br />
CirculaŃia era haotică pentru ureche <strong>şi</strong> haotică pentru ochiul ne<strong>de</strong>prins. Am luat-o<br />
pe aleea ce alcătuia un cerc interior <strong>de</strong>-a lungul Ringului. Nimeream astfel calea<br />
pietonilor. Priveam în dreapta <strong>şi</strong> priveam în stînga. Şi mergeam fără <strong>de</strong> vreo Ńintă<br />
precisă. Îmi era cu neputinŃă să nu întorc capul după vienezele, care, toate fără<br />
<strong>de</strong>osebire, puneau în mersul lor, o vioiciune zvîcnitoare ce contrasta cu mersul<br />
Ńeapăn duminical al fetelor din Ar<strong>de</strong>al. Şi pe urmă erau toate blon<strong>de</strong>, parcă ar fi<br />
dorit ca martor al vieŃii lor numai soarele. Am ajuns în faŃa Parlamentului, <strong>de</strong>-o<br />
înfăŃişare cu amintiri greceşti, întrezării prin frunzele unor copaci profilul unei uriaşe<br />
clădiri <strong>de</strong> stil eclectic: Primăria. Apoi m-am pomenit în faŃa Burgtheater-ului. M-am<br />
oprit. Teatrul era în vacanŃă, dar un afiş anunŃa c-o lună înainte <strong>de</strong>schi<strong>de</strong>rea<br />
stagiunii cu o piesă <strong>de</strong> Grillparzer: Des Meeres und <strong>de</strong>r Liebe Wellen, ‘Ale mării<br />
<strong>şi</strong> iubirii valuri.’ Titlul piesei rezuma într-o imagine impresia ce mi-o da Viena. 12<br />
(“Der Verkehr war chaotisch sowohl für die Ohren als auch für das frem<strong>de</strong> Auge.<br />
Ich ging durch die Allee, die einen inneren Kreis <strong>de</strong>m Ring entlang bil<strong>de</strong>te. Ich<br />
blickte nach rechts und nach links und wan<strong>de</strong>rte ziellos. Es war mir unmöglich, <strong>de</strong>n<br />
Kopf nicht nach <strong>de</strong>n Wienerinnen umzudrehen, <strong>de</strong>ren Gang – ausnahmslos – ein<br />
lebendiges Zucken in sich trug, und <strong>de</strong>r sich so stark von <strong>de</strong>m Sonntagsgang <strong>de</strong>r<br />
siebenbürgischen Mädchen unterschei<strong>de</strong>t. Und sie waren alle blond, als<br />
wünschten sie sich nur die Sonne als Zeugin ihres Lebens. Ich gelangte vor das<br />
Parlament – eine Erscheinung, die die Erinnerung an Griechenland wachruft – und<br />
erblickte flüchtig zwischen <strong>de</strong>n Blättern eines Baumes das Profil eines riesigen, im<br />
eklektischen Stil errichteten Gebäu<strong>de</strong>s: das Rathaus. Dann befand ich mich<br />
plötzlich vor <strong>de</strong>m Burgtheater. Ich blieb stehen. Die Spielzeit war schon vorbei,<br />
aber ein Plakat kündigte schon ein Monat im voraus die Eröffnung <strong>de</strong>r neuen<br />
Spielzeit mit einem Stück von Grillparzer an: Des Meeres und <strong>de</strong>r Liebe Wellen.<br />
Der Titel faßte in einem einzigen Bild <strong>de</strong>n Eindruck, <strong>de</strong>n Wien in mir hinterließ,<br />
zusammen”) (in <strong>de</strong>r Übersetztung von R.N.)<br />
Ganz familiär sind Blaga die Universität, die Universitätsbibliothek und <strong>de</strong>r<br />
Maximilian-Keller in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Oper. Bemerkenswert ist die Beschreibung <strong>de</strong>r<br />
Atmosphäre in <strong>de</strong>n Wiener Kaffeehäusern Palast und Museum:<br />
[…] intram în cafeneaua ‘Museum’, nu tocmai <strong>de</strong>parte <strong>de</strong> marea Operă. Mă atrăgea<br />
boema artistică a Vienei, care-<strong>şi</strong> da întîlnire în acest local. Scrutam fizionomiile,<br />
mimica, gesturile acestor oameni, care prin modul lor căutau să sară din normă.<br />
ToŃi se ştiau <strong>şi</strong> se trecea familiar <strong>de</strong> la o masă la alta. Şi femeile, ce se abăteau pe<br />
aici, î<strong>şi</strong> aveau tipul lor: spiritualizate, neîngrijite, pătimind <strong>de</strong> vicii înalte <strong>şi</strong> joase.<br />
Veneam însă la cafeneaua aceasta <strong>şi</strong> pentru altceva. Descoperisem intru-n ungher<br />
al cafenelei, rezervat lecturii, o mulŃime <strong>de</strong> reviste <strong>de</strong> artă, printre care <strong>şi</strong> unele <strong>de</strong><br />
avangardă. 13<br />
(„ […] ich trat in das Café Museum ein, das sich in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Oper befand. Mich<br />
lockte <strong>de</strong>r Wiener Künstlerkreis an, <strong>de</strong>r sich in diesem Lokal traf. Ich forschte die<br />
Physiognomien, die Mimik, die Gesten dieser Menschen, die durch ihre Art und<br />
Weise versuchten, die Norm zu sprengen. Sie kannten sich alle und man ging<br />
unbefangen von einem Tisch zum an<strong>de</strong>ren. Auch die Frauen, die hier<br />
vorbeikamen, hatten ihre Eigenart: sie wirkten vergeistigt, ungepflegt, lasterhaft.<br />
12 Anm. 11, 171.<br />
13 Anm. 11, 182-183.<br />
42
Ich kam aber auch aus einem an<strong>de</strong>ren Grund in dieses Kaffeehaus. In einer<br />
entlegenen, für die Lektüre vorgesehene Ecke, ent<strong>de</strong>ckte ich einen Haufen<br />
Kunstzeitschriften, unter ihnen auch manche avantgardistische Publikationen.”) (in<br />
<strong>de</strong>r Übersetzung von R.N.)<br />
Es gibt keinen ein<strong>de</strong>utigeren Beweis für die Rezeption Rilkes, als die Tatsache,<br />
daß rumänische Dichter und Denker in ihm das große Vorbild, und noch mehr,<br />
eine Verkörperung <strong>de</strong>r Dichtung schlechthin gesehen haben. Die Gedichte von Ion<br />
Pillat, Vasile Voiculescu, Alexandru Phillippi<strong>de</strong>, Dan und Emil Botta, Ştefan<br />
Augustin Doinaş, Ion Alexandru, Ion Caraion und Nichita Stănescu wurzeln in<br />
<strong>de</strong>rselben Welt wie jene Rilkes. Hier ist es natürlich nicht angebracht, auf<br />
poetische Wechselbeziehungen einzugehen. Es ist aber bezeichnend, daß Rilkes<br />
beste Kenner im rumänischen Kulturraum eben die Dichter waren.<br />
Von ganz beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung sind die Erinnerungen <strong>de</strong>s Temeswarer Dichters<br />
und Übersetzers Franyó Zoltan (1887-1978) 14 , <strong>de</strong>r die wenigen Wochen festhält,<br />
die er im Jahre 1915 zusammen mit Rilke und an<strong>de</strong>ren zum Kriegsdienst<br />
eingezogenen österreichischen Schriftstellern, Alfred Polgar, Stefan Zweig, Franz<br />
Theodor Csokor, verbracht hat.<br />
Der Schriftsteller Liviu Rebreanu (1885-1944), ein Meister <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
rumänischen Romans, verfaßt im Jahre 1922 das Buch Pădurea spân<strong>zur</strong>aŃilor (Der<br />
Wald <strong>de</strong>r Gehängten). Angeregt wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Autor durch <strong>de</strong>n Tod seines eigenen<br />
Bru<strong>de</strong>rs, Emil Rebreanu, <strong>de</strong>r im Jahre 1917 als Deserteur von <strong>de</strong>n k.u.k.<br />
Militärbehör<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r rumänischen Front hingerichtet wur<strong>de</strong>.<br />
Zwei Galgen erwarten Apostol Bologa, die Hauptfigur, Oberleutnant <strong>de</strong>r<br />
österreichisch-ungarischen Armee. Zu <strong>de</strong>m einen geht er als Richten<strong>de</strong>r, zum<br />
an<strong>de</strong>ren als Verurteilter. Im Herbst 1916 stimmt Bologa als Mitglied eines<br />
Kriegsgerichts für <strong>de</strong>n Tod eines Kamera<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>s tschechischen Leutnants<br />
Swoboda. Ein Jahr später wird er selbst als Überläufer gestellt. Dazwischen liegen<br />
Monate seelischer Unruhen, fällt eine Entscheidung, die ihn zwingt, alles zu<br />
opfern, die Familie, die Karriere, selbst seine Liebe zu Ilona:<br />
Niemand fällt leichten Herzens ein Urteil, sagte Apostol nach<strong>de</strong>nklich. Wenn die<br />
Schuld jedoch so offen zutage liegt, ist man dazu gezwungen. Denn über <strong>de</strong>m<br />
Menschen und seinen persönlichen Interessen steht <strong>de</strong>r Staat! 15<br />
Das, was sich im Innern <strong>de</strong>r Hauptfigur abspielt, wurzelt in <strong>de</strong>r komplizierten sozialpolitischen<br />
Struktur <strong>de</strong>s Vielvölkerstaates, <strong>de</strong>r zahlreiche ethnische Gruppen in <strong>de</strong>n<br />
Krieg getrieben hat, wobei die tschechischen, rumänischen, ruthenischen o<strong>de</strong>r<br />
ungarischen Soldaten gegen ihre eigenen Brü<strong>de</strong>r gekämpft haben:<br />
Der Krieg an sich ist schon ein ungeheures Verbrechen, beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Krieg, <strong>de</strong>n<br />
Österreich führt. Wenn ein Volk gleichen Blutes die Waffen ergreift, ob nun zu<br />
Recht o<strong>de</strong>r zu Unrecht, so wissen doch alle, daß <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>m Volke zugute<br />
kommen wird. Je<strong>de</strong>r Soldat kann daher in <strong>de</strong>m guten Glauben sterben, sich für das<br />
Wohl <strong>de</strong>s ganzen Volkes geopfert zu haben. Wir jedoch wer<strong>de</strong>n von verhaßten<br />
Herren wie Sklaven in <strong>de</strong>n Tod gejagt, damit sie unsere Ketten noch fester<br />
schmie<strong>de</strong>n können! Was wiegt <strong>de</strong>nn inmitten eines solchen Wusts von Verbrechen<br />
dieses eine, winzig kleine, das dir die Seele abdrückt? Wer kümmert sich <strong>de</strong>nn hier<br />
14<br />
Zoltán, Franyó (1967): “Mit Rainer Maria Rilke vor 50 Jahren”. In: Rumänische Revue,<br />
1/1967, 5.<br />
15<br />
Rebreanu, Liviu (1966): Der Wald <strong>de</strong>r Gehängten, Berlin: Aufbau, 61.<br />
43
überhaupt noch um unsere Seelen? 16<br />
Die nationalen Wi<strong>de</strong>rspüche verschärfen sich durch <strong>de</strong>n Krieg und diese absur<strong>de</strong><br />
Situation wird <strong>de</strong>r Hauptfigur, wie einst <strong>de</strong>m Bru<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Schriftstellers, zum<br />
Verhängnis:<br />
Seht euch um! Du bist Ju<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Herr Hauptmann ist Tscheche, <strong>de</strong>r Doktor dort<br />
Deutscher, Tscherwenko Ruthene, Bologa Rumäne, ich bin Ungar. 17<br />
Der Titel <strong>de</strong>s Romans wur<strong>de</strong> Rebreanu durch ein Fotoalbum suggeriert, in <strong>de</strong>m<br />
grauenhafte Kriegsszenen festgehalten wur<strong>de</strong>n, darunter ein Wald, an <strong>de</strong>ssen<br />
Bäumen die Menschen aufgehängt wor<strong>de</strong>n waren. Ein solcher grotesker Wald<br />
erhebt sich zum Symbol für <strong>de</strong>n ungarisch-österreichischen Staat, <strong>de</strong>m es nicht<br />
gelungen ist, das Nationalitätenproblem zu lösen, und <strong>de</strong>r sich im Gegenteil in ein<br />
Gefängnis umgewan<strong>de</strong>lt hat. Die Monarchie hat Verständnis für <strong>de</strong>n Haß zwischen<br />
<strong>de</strong>n einzelnen Völkern, regt diesen sogar an, um so das Gleichgewicht <strong>de</strong>s<br />
Systems zu sichern.<br />
Im Jahre 1968, als sich parallel mit Ceauşescus Öffnungspolitik <strong>de</strong>r allmähliche<br />
Durchbruch in <strong>de</strong>r rumänischen Nachkriegsliteratur vollzogen hat, erscheint eine<br />
Sammlung österreichischer Epik, die Auszüge aus <strong>de</strong>m Prosawerk von 53 Autoren<br />
aus Österreich umfaßt. Aufschlußreich ist das Österreich-Bild, das <strong>de</strong>r<br />
Herausgeber <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r rumänien<strong>de</strong>utsche Schriftsteller Dieter Schlesak<br />
(1934 geb.), im Vorwort 18 entwirft. Er geht auf die Makrostruktur dieses Lan<strong>de</strong>s<br />
<strong>zur</strong>ück, das Ludwig Börne “Europas China” genannt hat, und das 1867 “kaiserlich<br />
und königlich” gewor<strong>de</strong>n ist. So ähnlich wie das Reich <strong>de</strong>r Zaren bei Dostoevskij<br />
ähnele das Reich von Franz Joseph eher einem Staat <strong>de</strong>r Nachtwächter. Als<br />
mitteleuropäisches Land öffne Österreich seine Tore sowohl <strong>de</strong>n romanischen als<br />
auch <strong>de</strong>n slawischen Völkern und erinnere abwechselnd an Byzanz, Rom, an das<br />
mo<strong>de</strong>rne Italien, an das in alten Traditionen verwurzelte Spanien o<strong>de</strong>r an<br />
Frankreich. Eben in diesem Raum habe sich ein Lebensstil entwickelt, <strong>de</strong>r eng mit<br />
<strong>de</strong>m Habsburger Mythos verbun<strong>de</strong>n ist.<br />
Das Symbol dieses Lebensstils, das von Franz Werfel und Joseph Roth<br />
festgehalten wur<strong>de</strong>, ist <strong>de</strong>r pünktliche und korrekte Beamte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schein<br />
erweckt, daß er so ähnlich wie <strong>de</strong>r Kaiser Franz Joseph, das Heilmittel für alle<br />
Schmerzen dieser Welt besitzen wür<strong>de</strong>. Zahlreiche Gestalten aus <strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>nen sozialen Medien i<strong>de</strong>ntifizieren sich mit <strong>de</strong>r Figur <strong>de</strong>s Kaisers.<br />
Dessen “hel<strong>de</strong>nhafte Mediokrität” erhebe sich zu einer Art Religion <strong>de</strong>r<br />
Beamtenschaft, die sich einem absur<strong>de</strong>n Ordnungssystem unterordnet. Franz<br />
Josephs Untergang und jener <strong>de</strong>r Monarchie erfolgen parallel. Österreich wird<br />
zum “Land ohne Eigenschaften,” das in einem veralteten sozial-politischen System<br />
wurzelt.<br />
Ein ähnliches Bild Wiens <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> entwirft in <strong>de</strong>n 70er Jahren <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschsprachige Banater Schriftsteller Andreas Alois Lillin (1915-1985) :<br />
Wien in <strong>de</strong>n ersten Jahren nach <strong>de</strong>m fatalen Ausgang <strong>de</strong>s Österreichisch-<br />
16 Anm. 15, 92.<br />
17 Anm. 15, 65.<br />
18 Schlesak, Dieter (Hrsg.) (1968): PrefaŃă. In: Amurgul imperiului. Proză austriacă<br />
mo<strong>de</strong>rnă, Bd. 1, Bucuresti: Editura pentru Tineret, V.<br />
44
Preußischen Krieges, Regierungsmanöver, die <strong>de</strong>n Staatskarren noch tiefer<br />
verfahren, politische Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen in <strong>de</strong>n Führungsspitzen, Geldmangel,<br />
soziale Unruhen. Selbst das Stadtbild än<strong>de</strong>rt sich: Der Ring gewinnt mit je<strong>de</strong>m Tag<br />
an Pracht und Ausmaßen, die Vorstädte fin<strong>de</strong>n baulich ihren Anschluß an die alte<br />
gotische und barocke Stadtmitte.<br />
Die Ring-Palais gehören freilich <strong>de</strong>r Finanz-Oligarchie, die fortan die Schicksale <strong>de</strong>r<br />
Doppel-Monarchie leiten wird. Gleich hinter <strong>de</strong>n prächtigen Fassa<strong>de</strong>n, die<br />
Verbindungsbrücke <strong>zur</strong> alten Wie<strong>de</strong>ner-, Lerchenfel<strong>de</strong>r- und Währungsstraße<br />
entlang und zwischen <strong>de</strong>r Marxer Gasse und <strong>de</strong>m Donaukanal, zieht in rasch<br />
aufgeführte Familien- und Zinshäuser ein wahres Heer von Beamten und Händlern<br />
ein. Das kleinbürgerliche Wien <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> nimmt damit seinen<br />
eigentlichen Anfang. 19<br />
Der Aufschwung <strong>de</strong>r Monarchie fin<strong>de</strong>t seinen ersten be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rschlag<br />
im Werke <strong>de</strong>s Banater Schriftstellers Karl Wilhelm von Martini (1821-1885). Er gilt<br />
als Vorläufer Adam Müller-Guttenbrunns, als Bahnbrecher <strong>de</strong>s Banater<br />
geschichtlichen Heimatromans, <strong>de</strong>r zum ersten Mal die Ansiedlung <strong>de</strong>r<br />
Banat<strong>de</strong>utschen im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt literarisch gestaltet. Sein Meisterwerk, <strong>de</strong>r<br />
Roman Pflanzer und Soldat. Bil<strong>de</strong>r und Gestalten aus <strong>de</strong>m Banat (1854), ist die<br />
Geschichte seiner Vorfahren, die sich in <strong>de</strong>r Regierungszeit Maria Theresias und<br />
Joseph II. inmitten rumänischer, türkischer und serbischer Völkergruppen in <strong>de</strong>r<br />
neuen Heimat nie<strong>de</strong>rgelassen haben. Es ist das erste banat<strong>de</strong>utsche Buch, in <strong>de</strong>m<br />
das Erwachen <strong>de</strong>s Donauschwabentums zum Selbstbewußtsein festgehalten wird.<br />
Die Anwesenheit <strong>de</strong>r Österreicher mit <strong>de</strong>m Prinzen Eugen von Savoyen an <strong>de</strong>r<br />
Spitze wirkt als ein geistiger Katalysator auf die <strong>de</strong>utsche Gemeinschaft <strong>de</strong>s<br />
Banats.<br />
Adam Müller-Guttenbrunns (1852-1923) Trilogie Von Eugenius bis Josephus ist<br />
vor <strong>de</strong>m Erscheinen einer wissenschaftlich begrün<strong>de</strong>ten Geschichte <strong>de</strong>s Banats<br />
entstan<strong>de</strong>n. Auf die Frage, warum die Schwaben ins Banat gekommen sind, gibt<br />
<strong>de</strong>r erste Teil, Der große Schwabenzug (1913), Antwort:<br />
Es sei schandbar, wie es die Franzosen dort getrieben […] Von <strong>de</strong>n Ackerfel<strong>de</strong>rn<br />
und <strong>de</strong>n Erntearbeiten weg, haben sie die <strong>de</strong>utschen Knaben gefangen und<br />
fortgeschleppt … Je<strong>de</strong>r Hase im Feld sei mehr geestimiert als ein Mensch [ …] Nie<br />
wußten sie, wem ihre nächste Ernte gehören wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r französischen Soldateska<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r eigenen, <strong>de</strong>n Schwe<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Kaiserlichen […] Und mit <strong>de</strong>r Religion war<br />
es auch gotteslästerlich. 20<br />
Die Romane Barmherziger Kaiser (1916) und Joseph <strong>de</strong>r Deutsche (1917) sind<br />
als eine Art Fortsetzung <strong>de</strong>s ersten Buches <strong>de</strong>r Trilogie gedacht. Der Verfasser<br />
schreibt im Juli 1915 in seinem Tagebuch:<br />
Ich habe mir die Sache viel zu schwer gemacht, in<strong>de</strong>m ich mich an die historische<br />
Hauptperson selbst wagte. 21<br />
19<br />
Lillin, A. Andreas (1979): Ein Leben auf Wahrhaftigkeit gestellt. In: Nikolaus Berwanger<br />
(Hrsg.): Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben und Werk im Bild, Bukarest: Kriterion,<br />
23.<br />
20<br />
Müller-Guttenbrunn, Adam (1913): Der große Schwabenzug, Leipzig: L. Staackmann,<br />
19, 21, 52.<br />
21<br />
Adam Müller-Guttenbrunn, Der Roman meines Lebens (Aus <strong>de</strong>m Nachlaß<br />
zusammengestellt von seinem Sohn), Leipzig, 279.<br />
45
Das Geschehen spielt 30-40 Jahre später, zum Teil in Wien und dann im Banat,<br />
hauptsächlich in Temeswar. Im Vor<strong>de</strong>rgrund stehen die Krönung Josephs II. und<br />
<strong>de</strong>ssen Fahrt ins Banat, wo er das elen<strong>de</strong> Schicksal hiesiger Völker wahrnimmt.<br />
Der Kaiser bemüht sich, die Situation im Banat zu än<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>n meisten<br />
Mißstän<strong>de</strong>n gegenüber bleibt er jedoch machtlos.<br />
Adam Müller-Guttenbrunn schätzt das beson<strong>de</strong>re Verdienst seines Werkes selbst<br />
ein:<br />
Der dichterische Wert <strong>de</strong>s Buches ist gering, <strong>de</strong>n kulturgeschichtlichen setze ich<br />
hoch an. 22<br />
Einzigartig ist <strong>de</strong>r Entwurf <strong>de</strong>r Großstadt Wien aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s aus<br />
Rumänien stammen<strong>de</strong>n Schriftstellers Richard Wagner, <strong>de</strong>r 1952 in Lowrin (Kreis<br />
Temesch) geboren ist und seit 1987 in West-Berlin lebt.<br />
Sein Roman Die Muren von Wien erscheint im Jahre 1990 im Luchterhand<br />
Literaturverlag (Frankfurt/Main). Er behan<strong>de</strong>lt, wie frühere Texte von Wagner, die<br />
Erfahrung <strong>de</strong>s autoritären Regimes und <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r Banater Heimat. Der<br />
Verfasser setzt sich mit <strong>de</strong>r ihm so vertrauten Problematik <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>r<br />
schwierigen Nachwirkungen <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung auseinan<strong>de</strong>r. Im Vergleich zu<br />
an<strong>de</strong>ren rumänien<strong>de</strong>utschen Autoren, wie Herta Müller, hält Richard Wagner nicht<br />
nur die rumänische kommunistische Realität und die Konfrontation <strong>de</strong>r<br />
Auswan<strong>de</strong>rer mit West-Deutschland fest, son<strong>de</strong>rn geht auch auf die Rolle ein, die<br />
Wien als Brückenschlag zwischen <strong>de</strong>m Osten (Rumänien) und <strong>de</strong>m Westen (<strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland) spielt. Für die Rumänien<strong>de</strong>utschen stellt nämlich<br />
<strong>de</strong>r Wiener Westbahnhof <strong>de</strong>n ersten Kontakt mit <strong>de</strong>r “an<strong>de</strong>ren,” “frem<strong>de</strong>n,”<br />
“kapitalistischen” Welt dar, von <strong>de</strong>r sie seit Jahrzehnten geträumt haben. Was<br />
eigentlich die Hauptfigur Benda erlebt, <strong>de</strong>r <strong>zur</strong> Zeit <strong>de</strong>s Geschehens in München<br />
wohnhaft ist, könnte <strong>de</strong>r Erfahrung <strong>de</strong>r eben in Wien angekommenen<br />
rumänien<strong>de</strong>utschen Auswan<strong>de</strong>rer gleichgesetzt wer<strong>de</strong>n. Die häufigen<br />
Überschneidungen sind auffallend, weil das Banat-Bild als leiten<strong>de</strong>s Motiv <strong>de</strong>s<br />
öfteren im Roman wie<strong>de</strong>rkehrt, und <strong>de</strong>r im Banat geborene und aufgewachsene<br />
Benda hat die “fixe I<strong>de</strong>e,” “nirgends dazuzugehören.” 23 Aus diesem Grund wird<br />
bald ersichtlich, daß das eigentliche Thema <strong>de</strong>s Buches nicht <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>r<br />
angeblich geliebten Frau, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>r angeblich gehaßten Heimat ist:<br />
Der Zug hielt in Wien, im Westbahnhof, Benda stand auf <strong>de</strong>m Bahnsteig. Er ging<br />
durch die Halle. […] Er überquerte <strong>de</strong>n Bahnhofsvorplatz, ging in die<br />
Mariahilferstraße hinein. […] Er bog in eine weitere Seitenstraße ein. Im selben<br />
Augenblick bemerkte er das Schild am Gebäu<strong>de</strong> gegenüber: HOTEL PENSION. Er<br />
überquerte die Straße. Er stand vor <strong>de</strong>m Eingang: Bitte klingeln. Benda klingelte. Er<br />
hörte <strong>de</strong>n Türsummer, er betrat die Pension. Eine Frau kam ihm lächelnd<br />
entgegen. Sie sagte: Grüß Gott. 24<br />
Das Selbstbildnis <strong>de</strong>s Auswan<strong>de</strong>rers war vollständig verwirrt. In dieser<br />
unmittelbaren Übergangszeit waren nämlich alle betroffen, die meisten aufgewühlt.<br />
Man blickte nach oben auf einen gewissen Wohlstand <strong>de</strong>r westlichen Gesellschaft<br />
22 Anm. 21, S. 300.<br />
23 Wagner, Richard (1992): Die Muren von Wien, Frankfurt/Main: Luchterhand<br />
Literaturverlag, 18.<br />
24 Anm. 23, 32.<br />
46
und nahm die Ausweglosigkeit <strong>de</strong>s Schicksals <strong>de</strong>s Rumänien<strong>de</strong>utschen wie ein<br />
unabwendbares Fatum auf:<br />
Er hatte lange gezögert, über die Grenze zu gehen. Man könnte sagen, es hatte<br />
ihm <strong>de</strong>r Mut gefehlt, aber das wäre eine Vereinfachung. Es gehörte mehr Mut dazu.<br />
Er hatte zuviel darüber nachgedacht, mehr als die meisten seiner Freun<strong>de</strong>. Die<br />
schrieben schräge Karten aus <strong>de</strong>m Westen: Hau doch ab, Alter, ce faci/was machst<br />
Du/. Sie schrieben das rumänien<strong>de</strong>utsche Kau<strong>de</strong>rwelsch. Hier ist<br />
distracŃie/Unterhaltung/, schrieben sie, was sitzt Du dort am Arsch <strong>de</strong>r Welt. Wir<br />
erwarten Dich, das Bier ist schon kaltgestellt. 25<br />
Die Konfrontation <strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>m Banat stammen<strong>de</strong>n und jetzt in München leben<strong>de</strong>n<br />
Ingenieurs mit <strong>de</strong>m Wiener Alltag wurzelt in erster Linie in <strong>de</strong>n sprachlichen<br />
Verschie<strong>de</strong>nheiten <strong>de</strong>s Österreichischen. Von dieser Perspektive aus nimmt<br />
Benda die österreichische Realität als West<strong>de</strong>utscher, nicht nur als<br />
Rumänien<strong>de</strong>utscher wahr:<br />
In Wien war er fast immer mit Vergnügen Auslän<strong>de</strong>r. Er ließ sich zufrie<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r<br />
Verkäuferin korrigieren, als er eine Wurst falsch benannt hatte. Auf die nächste<br />
zeigte er nur noch stumm mit <strong>de</strong>m Finger, und die junge Verkäuferin erklärte <strong>de</strong>m<br />
Frem<strong>de</strong>n mit künstlich lauter Stimme, während sie die Wurst wog, es handle sich<br />
um eine Plattenseer Rohwurst. 26<br />
Wiens Sehenswürdigkeiten bleiben auch von Benda nicht unbemerkt. Eine<br />
gewisse Ironie begleitet aber seine schroffe Haltung <strong>de</strong>m Dargebotenen<br />
gegenüber:<br />
Er fuhr ziellos durch die Stadt. Er stand vor <strong>de</strong>m Stephansdom und dann vor <strong>de</strong>m<br />
Riesenrad. Er sah auf das Wasser <strong>de</strong>r Donau, sein Blick streifte die Schaufenster<br />
<strong>de</strong>s Grabens. Er sah die Leute durch die Kaffeehausscheiben. Er las Zeitungen, die<br />
er sonst nie las, schlechte österreichische Zeitungen. Er mischte sich unter die<br />
Fotografieren<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m Hun<strong>de</strong>rtwasser-Haus, er hatte das Klingeln <strong>de</strong>r<br />
Straßenbahnen im Ohr, die Stimme, die die Haltestellen ansagte, die Stimme wenn<br />
sie ‘Schwarzspaniergasse’ sagte. Er saß im Votiv-Kino, er war im Uhrenmuseum:<br />
Schlachtenuhr, Augenuhr. Er war in <strong>de</strong>r Mariahilferstraße, und er war im<br />
Westbahnhof. 27<br />
Trotz <strong>de</strong>r scharf kritischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r österreichischen<br />
Hauptstadt, wirkt diese durch die Tatsache, daß die Heimat <strong>de</strong>s Protagonisten,<br />
das Banat, einst Teil <strong>de</strong>r k. u. k. Monarchie war, familiär auf Benda. Wo er sich<br />
immer auch aufhält, <strong>de</strong>nkt er unwillkürlich an seine Heimat, <strong>de</strong>r ständige<br />
Ortswechsel läßt die Reise nach Wien austauschbar wer<strong>de</strong>n. Alles, was die<br />
Hauptfigur wahrnimmt, ist bloß ein Verweis auf ein An<strong>de</strong>res, Vergangenes:<br />
Das Bild <strong>de</strong>s Franz Joseph, Entwurf A. Scharff, Stich Professor Tautenhayn, war<br />
ihm aus <strong>de</strong>r Briefmarkensammlung seiner Kindheit vertraut. Neben <strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>s<br />
Kaisers war auf gelbem Grund die Kaiserhymne abgedruckt. In altertümlichem<br />
Rumänisch. 28<br />
Das Vertrautsein mit Österreich ist als etwas Selbstverständliches aufzufassen:<br />
25 Anm. 23, 33.<br />
26 Anm. 23, 55.<br />
27 Anm. 23, 61.<br />
28 Anm. 23, 54.<br />
47
Ja, sagte er, Vorarlberg und das Burgenland waren meine liebsten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r.<br />
Ich hatte sie nie gesehn, und ich wußte, daß ich sie wahrscheinlich auch nie sehen<br />
wer<strong>de</strong>. Immer aber, wenn ein Brief von <strong>de</strong>n Verwandten aus Österreich kam,<br />
schnitt ich die Briefmarke aus, löste sie mit warmem Wasser vom Papier, trocknete<br />
sie und klebte sie in ein Heft. Österreich war mein Briefmarkenland.<br />
Briefmarkenlän<strong>de</strong>r sind fern, sie haben unnahbare Rän<strong>de</strong>r. 29<br />
Wien i<strong>de</strong>ntifiziert sich in diesem Zusammenhang mit Bendas Kindheit schlechthin:<br />
Wien ist ein Wort <strong>de</strong>r Vergangenheit [ …] Du sagst ‘Wien’, und schon befin<strong>de</strong>st du<br />
dich in <strong>de</strong>iner Kindheit, obwohl du in <strong>de</strong>iner Kindheit nie in Wien gewesen bist.<br />
Wien ist die erdabgewandte Seite <strong>de</strong>iner Kindheit. Du kannst nicht lachen in Wien,<br />
weil <strong>de</strong>in Lachen ein Echo hat und dieses Echo ein Kin<strong>de</strong>rlachen ist. 30<br />
Zwischen Temeswar, wo Richard Wagner selbst die Hochschule besucht und<br />
längere Zeit gelebt hat, und <strong>de</strong>r österreichischen Hauptstadt gibt es große<br />
Ähnlichkeiten. Jahrzehntelang war Temeswar als “Klein Wien” bekannt:<br />
Wien war die unerreichbare Stadt, die Stadt, die das Bekannte enthielt. Selbst die<br />
Vorstädte Temeswars trugen Wiener Namen. Nicht mehr offiziell, aber für die<br />
Einheimischen. Sie sagten nicht ‘PiaŃa Unirii’, son<strong>de</strong>rn ‘Domplatz’, nicht ‘Ştefan<br />
Furtună’, son<strong>de</strong>rn ‘Küttl’. In <strong>de</strong>n Zeitungen, auch in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschsprachigen, stand<br />
‘PiaŃa Unirii’, Platz <strong>de</strong>r Vereinigung […] Aber die Einheimischen sagten:<br />
‘Domplatz’. 31<br />
Rumänische und <strong>de</strong>utschsprachige Autoren <strong>de</strong>s 19. und 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
beschreiben aus südosteuropäischer Perspektive ihre Erfahrungen mit Österreich.<br />
Von Erinnerungen (Ştefan Munteanu, Franyó Zoltán), Monographien (George<br />
Călinescu, Zoe Dumitrescu-Buşulenga), von <strong>de</strong>r Darstellung historischer<br />
Ereignisse (Karl Wilhelm von Martini, Adam Müller-Guttenbrunn, Liviu Rebreanu),<br />
von autobiographisch geprägten Werken (Richard Wagner, Liviu Rebreanu), von<br />
<strong>de</strong>r kritischen Rezeption (Dieter Schlesak, Andreas A. Lillin) bis zum introvierten<br />
literarischen Reagieren (Liviu Rebreanu) faßt vorliegen<strong>de</strong> Arbeit die wesentlichen<br />
Aspekte einer südosteuropäischen Konfrontation mit einem “Land mit<br />
Eigenschaften” zusammen.<br />
29 Anm. 23, 62-63.<br />
30 Anm. 23, 44.<br />
31 Anm. 23, 67.<br />
48
LAURA CHEIE<br />
TEMESWAR<br />
Zur Rezeption <strong>de</strong>s Werkes von Georg Trakl in Rumänien<br />
Angesichts <strong>de</strong>r ziemlich spät ansetzen<strong>de</strong>n breiteren Trakl-Rezeption im<br />
österreichischen und binnen<strong>de</strong>utschen Kulturraum (Rilkes 1915, also ein Jahr nach<br />
Trakls Tod gestellte Frage: “Wer mag er gewesen sein?” 1 , die bis auf <strong>de</strong>n heutigen<br />
Tag noch in <strong>de</strong>r Fachliteratur gespenstert, bestätigt, daß <strong>de</strong>r stille Dichter <strong>de</strong>s<br />
Helian zu Lebzeiten eher im engen Freun<strong>de</strong>skreis gefeiert wur<strong>de</strong>, sonst aber bis<br />
spät nach seinem Ableben kaum die verdiente Anerkennung gefun<strong>de</strong>n hatte), also<br />
<strong>de</strong>r verspäteten literarischen Wahrnehmung von Trakls Werk wur<strong>de</strong> dieses auf<br />
rumänischem Bo<strong>de</strong>n zunächst von <strong>de</strong>utschsprachigen Autoren früh und<br />
enthusiastisch gelesen.<br />
Am 15. Oktober 1925 schrieb schon <strong>de</strong>r damals 27jährige Oscar Walter Cisek von<br />
Bukarest aus an Ludwig von Ficker, <strong>de</strong>m Leiter <strong>de</strong>s Innsbrucker Brenner – Kreises<br />
und Trakl – För<strong>de</strong>rer:<br />
Sehr geehrter Herr von Ficker!<br />
Theodor Däubler, <strong>de</strong>r sich vor drei Wochen noch hier in Rumänien befand, sandte<br />
Ihnen eine Karte, auf <strong>de</strong>r mein Name stand. Wir sprachen nämlich von Trakl; und<br />
so wur<strong>de</strong> auch von Ihnen gesprochen, <strong>de</strong>r Sie für <strong>de</strong>n Dichter alles taten, was in<br />
Ihren Kräften stand. Hier in Rumänien ist Trakl ziemlich bekannt gewor<strong>de</strong>n;<br />
vielleicht weil es auch einen rumänischen Dichter gibt, mit <strong>de</strong>m er innerlich<br />
irgendwie verwandt scheint. Er heißt Bacovia, Trakl ist <strong>de</strong>r weitaus größere.<br />
Vor ungefähr zwei Jahren erlaubte ich mir, nach<strong>de</strong>m mir Theodor Däubler Ihre<br />
Adresse gegeben hatte, Ihnen zwei Hefte <strong>de</strong>r rumänischen Monatsschrift Cugetul<br />
Românesc zu sen<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen sich ein Aufsatz von mir über Trakl und 17 ins<br />
Rumänische übertragene Gedichte befan<strong>de</strong>n. Die Übertragungen habe ich<br />
gemeinsam mit <strong>de</strong>m wertvollen rumänischen Lyriker Ion Pillat besorgt. Nun weiß<br />
ich nicht, ob Sie die Hefte erhalten haben. Es gibt hier in Bukarest und auch in<br />
Siebenbürgen eine ganze Reihe von Menschen, die in Trakls Werk eine Gabe von<br />
seltener Herrlichkeit erblicken. Übrigens hat meine Heimat – und diese ist, wenn ich<br />
auch <strong>de</strong>utsch empfin<strong>de</strong>, doch Rumänien – so viel von <strong>de</strong>r Eigenheit herbstlich<br />
vergeistigter Landschaft an sich, daß man Trakl leichter näher kommt. Dem<br />
Deutschen <strong>de</strong>s Nor<strong>de</strong>ns ist dies doch im ersten Augenblick frem<strong>de</strong>r. Meine Frau<br />
Hortense Mateescu-Cisek, <strong>de</strong>ren Name auch auf Däublers Karte stand, – hat<br />
übrigens als erste hier in Bukarest Trakl für uns ent<strong>de</strong>ckt. Dies war vor ungefähr<br />
acht Jahren 2 .<br />
Der Brief Ciseks ist <strong>de</strong>r früheste bekannte und in verschie<strong>de</strong>nen Hinsichten<br />
aufschlußreichste Beleg <strong>de</strong>r Trakl-Rezeption in Rumänien. Nach <strong>de</strong>n Angaben, die<br />
hier brieflich festgehalten wer<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> Trakl in Rumänien schon 1917 gelesen,<br />
wobei 1923 die ersten Übertragungen ins Rumänische vorlagen und<br />
komparatistisch angelegte Erläuterungen <strong>de</strong>n schließlich geglückten Versuch<br />
49
machten, auch das rumänische Leserpublikum auf <strong>de</strong>n Geschmack <strong>de</strong>r Traklschen<br />
Dichtung zu bringen. Mit <strong>de</strong>m eben erwähnten Aufsatz zum Werk Georg Trakls,<br />
<strong>de</strong>r zum ersten Mal auf die “innere” aber auch literarische Verwandtschaft von<br />
Trakl und Bacovia verweist, leitete <strong>de</strong>r junge Cisek eine nachhaltige vergleichen<strong>de</strong><br />
Perspektive <strong>de</strong>r Bacovia-Forschung ein. Diese rekurriert seit Cisek, wenn es darum<br />
geht, eine internationale Vergleichsgröße für Bacovias Dichtung zu fin<strong>de</strong>n,<br />
wie<strong>de</strong>rholt und vorzugsweise auf Georg Trakl 3 . In seinem nächsten Brief an Ficker,<br />
am 12. November 1925, nimmt Cisek diese ihm wichtige Verwandtschaft <strong>de</strong>r zwei<br />
Dichterseelen, die einan<strong>de</strong>r nie kennengelernt haben, aber durch ihre Ähnlichkeit<br />
brückenschlagend wirken konnten, erneut und diesmal eingehen<strong>de</strong>r auf.<br />
Außer<strong>de</strong>m bringt <strong>de</strong>r zweite Brief auch an<strong>de</strong>re Daten über das Ausmaß <strong>de</strong>r<br />
rumänischen Trakl-Rezeption:<br />
Sehr geehrter Herr Ficker!<br />
Ich erhielt schon vor einer Woche das schöne Brenner-Heft und heute Ihren so<br />
freundlichen Brief, <strong>de</strong>r mich viel Neues, das mit Trakl in Verbindung steht, erfahren<br />
ließ. [ ...] Ich freue mich schon auf Ihre Veröffentlichung über Trakl, um so mehr als<br />
man ja <strong>de</strong>utlich fühlt, daß es ja um sein Werk stiller wird, obgleich die Welt vorläufig<br />
nicht von seinem unvergleichlichen Wert überzeugt wur<strong>de</strong>. So möchte ich Ihnen<br />
diesbezüglich ein nicht zu erfreuliches Beispiel geben: Im Frühjahr dieses Jahres<br />
hielt ich in <strong>de</strong>r Bukarester Universität zu Ehren <strong>de</strong>r österreichischen Hochschüler<br />
und Professoren, die unser Land besuchten, einen Vortrag über das Wesen <strong>de</strong>r<br />
rumänischen Kunst. Selbstverständlich in <strong>de</strong>utscher Sprache. Ich hob da auch<br />
hervor, daß Trakl in Rumänien durch einige Übertragungen bekannt gewor<strong>de</strong>n sei.<br />
Aber zu meinem Erstaunen wußte kein Österreicher, kein Hochschüler und kein<br />
Professor, etwas über Österreichs größten Lyriker.<br />
Sie teilten mir mit, daß Sie meinen Brief im Brenner wie<strong>de</strong>rzugeben gedächten.<br />
Hätte ich dies gewußt, so wäre ich in meinen kurzen Mitteilungen nicht so flüchtig<br />
gewesen.<br />
Es wäre nämlich – in Verbindung mit Trakl – noch hervorzuheben, daß <strong>de</strong>r Dichter<br />
sogar ziemlich stark auf die neueste rumänische Lyrik eingewirkt hat, und zwar<br />
beson<strong>de</strong>rs auf die bei<strong>de</strong>n letzten Gedichtbän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s bekannten Lyrikers Camil<br />
Baltasar. In meinem kurzen Aufsatz über Trakl, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Zeitschrift Cugetul<br />
Românesc erschien, habe ich auf die auffällige innere Verwandtschaft mit G.<br />
Bacovia, <strong>de</strong>m rumänischen Dichter <strong>de</strong>s Herbstes, <strong>de</strong>r Traurigkeit <strong>de</strong>s<br />
Soldatenlebens und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s hingewiesen. Wie Trakl das Braun und das Blau so<br />
liebt und immer wie<strong>de</strong>r nennt, schreibt auch Bacovia wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r vom<br />
Violett. Bacovia greift jedoch niemals so sehr wie Trakl ins Transzen<strong>de</strong>ntale, er<br />
sprengt auch die äußere Form <strong>de</strong>r Dichtung – im althergebrachten, klassischen<br />
Sinne! – nicht so sehr. Des rumänischen Dichters Werk wirkt enger, und in ihm ist<br />
auch <strong>de</strong>r Tod weniger durchsichtig. Kurz: er ist viel kleiner als Trakl.<br />
Damit Sie aber auch sonst erkennen, wie ehrlich man sich hier um die Dichtung<br />
Trakls kümmerte, wie sehr man ihn liebte, lege ich meiner Sendung auch einen<br />
Aufsatz bei, <strong>de</strong>n ich vor ungefähr 6 Jahren schrieb und in <strong>de</strong>r siebenbürgischen<br />
Tageszeitung Deutsche Tagespost veröffentlichte. Er enthält viel Unreifes und ich<br />
halte sehr wenig von ihm, aber er wird Ihnen doch sagen: Dort in Rumänien gibt es<br />
auch einige Menschen, die Trakl bald erkannten und ihn lieben 4 .<br />
Beziehungen zum Brenner hatten auch die Mitarbeiter <strong>de</strong>r Siebenbürgischen<br />
Zeitschrift Klingsor, in erster Linie <strong>de</strong>ren Leiter und Begrün<strong>de</strong>r, Heinrich Zillich, <strong>de</strong>r<br />
ebenfalls mit Ludwig von Ficker im Briefwechsel stand und I<strong>de</strong>en austauschte.<br />
50
Ich möchte Ihnen sagen, daß mir Ihre Zeitschrift gut gefällt. [ ... ] Die wenigen<br />
Hefte, die mir vorliegen, haben mir wirklich Achtung eingeflößt für die Art und<br />
Weise, mit <strong>de</strong>r Sie auf so exponiertem und entlegenem Posten Ihre Aufgabe<br />
anpacken. Ja, für die beson<strong>de</strong>ren Verhältnisse und Bedürfnisse einer Stadt und<br />
eines Lan<strong>de</strong>s, die so weit vom <strong>de</strong>utschen Mutterbo<strong>de</strong>n abgesprengt sind wie die<br />
Stätte Ihres Wirkens, scheint mir Ihre Zeitschrift ein beinahe vorbildlich geglückter<br />
Versuch 5 ,<br />
schrieb Ludwig von Ficker 1924 an Heinrich Zillich, worauf <strong>de</strong>r Schriftsteller aus<br />
Kronstadt seinerseits <strong>de</strong>r Achtung vor <strong>de</strong>m im Leben und auf <strong>de</strong>m Kulturbo<strong>de</strong>n<br />
wesentlich Erfahrenen Ausdruck verleiht:<br />
Zufällig ist mir bekannt [ ...] daß Sie viel älter sind als ich. Lassen Sie mich diesen<br />
Unterschied an Jahren zum Anlaß einer noch größeren Dankbarkeit nehmen, weil<br />
in die Freu<strong>de</strong>, die Sie mir bereitet haben, die Genugtuung sich mischt, von einem<br />
wirklich reifen und von einem Mann, wie Sie es sind, anerkannt wor<strong>de</strong>n zu sein 6 .<br />
Der Klingsor wur<strong>de</strong> in Innsbruck gelesen, so wie <strong>de</strong>r Brenner, die Zeitschrift, die<br />
Trakl bekannt machte, in Kronstadt seine Leser fand 7 .<br />
1925 erschien in <strong>de</strong>n Seiten <strong>de</strong>s Klingsor ein bahnbrechen<strong>de</strong>r Aufsatz von Adolf<br />
Meschendörfer mit <strong>de</strong>m einfachen Titel „Trakl und Rimbaud“. Es sollte die erste<br />
Studie sein, die die Beziehungen Trakls zu Rimbaud aufgrund einer von<br />
Meschendörfer ent<strong>de</strong>ckten <strong>de</strong>utschen Übersetzung (jene <strong>de</strong>s K. L. Ammer) <strong>de</strong>s für<br />
Trakl wichtigen französischen Autors in ihren Grundzügen auf<strong>de</strong>ckte. Auf <strong>de</strong>n<br />
Erkenntnissen dieses Aufsatzes baute dann die nachkommen<strong>de</strong> vergleichen<strong>de</strong><br />
Trakl-Forschung, die Trakls Verhältnis zu Rimbaud weitgehen<strong>de</strong>r recherchierte 8 .<br />
Adolf Menschendörfers Aufsatz ist wohl <strong>de</strong>r bis auf <strong>de</strong>n heutigen Tag bekannteste<br />
aus Rumänien stammen<strong>de</strong> Beitrag <strong>zur</strong> internationalen Trakl-Forschung.<br />
Die Dichtung Georg Trakls wur<strong>de</strong> in Rumänien zwar früh von mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />
vereinzelten Literaten rezipiert, doch eines breiteren Publikumserfolgs erfreute sich<br />
die ins Rumänische übertragene sanft-düstere Poesie <strong>de</strong>s österreichischen<br />
Lyrikers trotz <strong>de</strong>r frühzeitig erkannten Affinitäten zu Bacovia und <strong>de</strong>r später<br />
nachgewiesenen zu Lucian Blaga kaum. Es mag auch daran gelegen haben, daß<br />
das eher frankophile rumänische Leserpublikum nur allmählich in <strong>de</strong>n Genuß <strong>de</strong>r<br />
neueren Literatur <strong>de</strong>utschsprachiger Autoren kam. Dann aber wie<strong>de</strong>rum mit einem<br />
scheinbar alle Erwartungen übertreffen<strong>de</strong>n Enthusiasmus.<br />
1967 erscheint im Bukarester Verlag für Weltliteratur (Editura pentru Literatură<br />
Universală) ein umfassen<strong>de</strong>res Trakl-Buch mit 59 Übertragungen Traklscher<br />
Gedichte in <strong>de</strong>r Übersetzung <strong>de</strong>s bekannten zeitgenössischen Dichters Petre<br />
Stoica, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Band auch ein klären<strong>de</strong>s und gut dokumentiertes Vorwort zu<br />
Trakls Leben, Werk und Rezeption in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Fachliteratur voranstellte 9 . Der<br />
Band macht <strong>de</strong>n rumänischen Leser aber nicht nur mit <strong>de</strong>r Dichtung Trakls und<br />
ihrer damaligen Einschätzung vertraut, son<strong>de</strong>rn bringt auch eine ebenfalls<br />
rumänisch übersetzte Auswahl von Briefen Trakls (14), <strong>de</strong>ren Anwesenheit und<br />
Be<strong>de</strong>utung in einem Trakl-Buch vom Übersetzer folgen<strong>de</strong>rmaßen motiviert wird:<br />
Sie beinhalten fast immer Äußerungen bezüglich seiner Existenz, die ein<br />
beson<strong>de</strong>rs wertvolles Material für die Leser darstellen, die sein Leben und Werk<br />
näher kennenlernen wollen 10 .<br />
Es wur<strong>de</strong>n tatsächlich einige <strong>de</strong>r bekanntesten und für die Forschung<br />
relevantesten Trakl-Briefe übersetzt. Das komplexe Unternehmen Petre Stoicas<br />
51
wollte eigentlich jenen höheren Leseransprüchen genügen, auf <strong>de</strong>ren Existenz er<br />
vielmehr hoffte, als daß er mit ihr rechnete. Wie es sich bald nach <strong>de</strong>r Herausgabe<br />
<strong>de</strong>r 5.165 Exemplare <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s herausstellen sollte, waren Stoicas Hoffnungen<br />
alles an<strong>de</strong>re als verfrüht. Das Buch war schon kurz nach seiner Herausgabe<br />
vergriffen.<br />
14 Jahre später reagierte Petre Stoica mit einem neuen, umfangreicheren Band<br />
von Übertragungen aus Trakls Werk auf die unerwartete Trakl-Begeisterung<br />
rumänischer Leser. Der 1981 im Temeswarer Facla-Verlag herausgegebene Band<br />
umfaßt nun beinahe 100 Gedichte, 25 Briefe, 3 Prosatexte (Verwandlung <strong>de</strong>s<br />
Bösen, Offenbarung und Untergang, Traum und Umnachtung) und die zweite<br />
Fassung <strong>de</strong>s späten Dramenfragments Trakls 11 . Auch diesem Band wur<strong>de</strong> ein<br />
einleiten<strong>de</strong>s Vorwort <strong>de</strong>s Übersetzers vorangestellt, das unter an<strong>de</strong>rem auch auf<br />
die 1969 erschienene, von <strong>de</strong>n Göttinger Philologen Walther Killy und Hans<br />
Szklenar herausgegebene historisch-kritische Ausgabe <strong>de</strong>s Gesamtwerkes von<br />
Georg Trakl (kurz: HKA), Bezug nimmt. Von <strong>de</strong>n Fun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r HKA profitiert auch<br />
Stoicas Band vor allem was die Korrespon<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Dichters anbelangt.<br />
Von <strong>de</strong>r Übertragung einer Auswahl von Gedichten bis <strong>zur</strong> Übersetzung <strong>de</strong>s<br />
Gesamtwerkes von Georg Trakl, einschließlich <strong>de</strong>r Varianten, Fragmente und<br />
an<strong>de</strong>rer Texte aus <strong>de</strong>m Trakl-Nachlaß, die nicht zu Trakls Lebzeit gedruckt<br />
wur<strong>de</strong>n, war es nur ein Schritt von sieben Jahren. 1988 wur<strong>de</strong> im Bukarester<br />
Minerva-Verlag eine vollständige Übersetzung Traklscher Werke nach <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r<br />
HKA bestimmten und von <strong>de</strong>r rumänischen Übertragung möglichst genau<br />
eingehaltenen Anordnung <strong>de</strong>r Texte durch Mihail Nemeş herausgegeben 12 . Auch<br />
in dieser Ausgabe wird <strong>de</strong>m Korpus von Texten ein darstellend-<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s Vorwort,<br />
dazu noch eine Zeittafel mit <strong>de</strong>n wichtigsten Daten <strong>de</strong>s Traklschen Lebenslaufs,<br />
zusammengestellt von Mihai Mangiulea, vorangestellt. Es ist wohl das bisher<br />
be<strong>de</strong>utendste Dokument <strong>de</strong>r Trakl-Rezeption in Rumänien und zugleich ein Buch,<br />
das Trakl <strong>de</strong>n Rumänen nicht nur ans Herz legen will, nicht nur eine zusätzliche,<br />
noch komplexere Bestätigung <strong>de</strong>r Größe dieser dunklen Dichtung bringen möchte,<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Spezialisten wie auch <strong>de</strong>n Laien Einblick in das Dichten selbst<br />
gewährleistet. Den hohen Ansprüchen dieser Übersetzung könnte die künftige<br />
rumänische Trakl-Forschung mit verän<strong>de</strong>rten, neuartigen Erklärungsmo<strong>de</strong>llen<br />
entgegenkommen.<br />
Seine schönste Würdigung erfährt aber <strong>de</strong>r Dichter wie<strong>de</strong>r durch das Dichterwort,<br />
so wie das in <strong>de</strong>m von Trakl-Bil<strong>de</strong>rn angeregten und Trakl gewidmeten Gedicht<br />
Petre Stoicas <strong>de</strong>r Fall ist:<br />
52
Georg Trakl<br />
Zilnic<br />
a trecut prin iad <strong>şi</strong> paradis<br />
pe cărări cunoscute numai <strong>de</strong> el.<br />
Aripa <strong>de</strong> beton a oraşelor<br />
nu i-a strivit<br />
pleoapele calm umbrite.<br />
Iar sufletul îi era frumos:<br />
o creangă <strong>de</strong> brad<br />
arcuită sub povară moale <strong>de</strong> nea.<br />
Spunându-<strong>şi</strong> cu muŃenie durerea<br />
gura i s-a întipărit<br />
în ceara toamnei molatece.<br />
Clopotele serii<br />
încă bat pentru sufletul său<br />
<strong>de</strong> copil cu spice în palmă.<br />
De atâta iubire<br />
pentru umili <strong>şi</strong> peisaje adormite-n<br />
amurg<br />
trupul lui s-a prefăcut<br />
în treapta focului mare<br />
înaintea căreia<br />
se topeşte<br />
fruntea <strong>de</strong> ghiaŃă a nopŃii.<br />
FericiŃi sunt acei ce-l aud.<br />
53<br />
Georg Trakl<br />
(Übertragung aus <strong>de</strong>m Rumänischen von Laura Cheie)<br />
LITERATUR<br />
Täglich<br />
ging er durch Himmel und Hölle<br />
auf Pfa<strong>de</strong>n nur ihm bekannt.<br />
Der Betonflügel <strong>de</strong>r Städte<br />
zerbrach<br />
seine ruhig beschatteten Li<strong>de</strong>r nicht.<br />
Und schön war ihm die Seele<br />
Ein Tannenzweig<br />
gebogen unter <strong>de</strong>r weichen Last <strong>de</strong>s<br />
Schnees.<br />
Seinen Schmerz mit Schweigen<br />
sagend<br />
prägte sich sein Mund<br />
im weichen Herbstewachs.<br />
Die Abendglocken<br />
läuten noch immer für seine<br />
Kin<strong>de</strong>rseele mit Ähren in <strong>de</strong>r Hand.<br />
Der vielen Liebe voll<br />
für Demut und für Landschaften im<br />
Abend ruhend<br />
wur<strong>de</strong> sein Leib<br />
<strong>zur</strong> Stufe <strong>de</strong>r großen Flamme<br />
davor<br />
die vereiste Stirne <strong>de</strong>r Nacht<br />
zerrinnt.<br />
Glücklich sind jene welche ihn hören.<br />
1 Ludwig von Ficker, Briefwechsel 1914 – 1925, hrsg. von Ignaz Zangerle, Walter<br />
Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher, Brenner-Studien, Bd.VIII, Innsbruck,<br />
1988, S. 90-91.<br />
2 I<strong>de</strong>m, Ibi<strong>de</strong>m, S. 438. Auf Trakls Rezeption durch Oscar Walter Cisek geht auch
Roxana Nubert ein. Siehe: Roxana Nubert, Oscar Walter Cisek als Mittler<br />
zwischen <strong>de</strong>utscher und rumänischer Kultur, Regensburg: Ro<strong>de</strong>rer 1994, S. 76,<br />
117-119, 181.<br />
3 Cf. Mihail Petroveanu, George Bacovia, Bucureşti: Editura pentru Literatură<br />
1969; Ştefan Augustin Doinaş, George Bacovias dichterische Welt, Vorwort zu<br />
George Bacovia. Versuri, EdiŃie bilingvă, trad. <strong>de</strong> Wolf Aichelburg, Bucureşti:<br />
Albatros 1972; Ion Caraion, Sfâr<strong>şi</strong>tul continuu, Bucureşti: Cartea Românească<br />
1977; Dinu Flămând, Introducere în opera lui George Bacovia, Bucureşti: Minerva<br />
1979; Daniel Dimitriu, Bacovia, Ia<strong>şi</strong>: Junimea 1981; Dumitru Micu, Mo<strong>de</strong>rnismul<br />
românesc, Bd.I, Bucureşti: Minerva 1984; V. Fanache, Bacovia. Ruptura <strong>de</strong> utopia<br />
romantică, Cluj: Dacia 1994; Nicolae Manolescu, G. Bacovia. In: DicŃionarul<br />
scriitorilor români, Bd. I: A-C, Bucureşti: FundaŃia Culturală Române, 1995.<br />
4 Ludwig von Ficker, Briefwechsel 1914 – 1925 ..., S. 444 – 445.<br />
5 I<strong>de</strong>m, Ibi<strong>de</strong>m, S. 383.<br />
6 I<strong>de</strong>m, Ibi<strong>de</strong>m, S. 384.<br />
7 Siehe dazu <strong>de</strong>n weiterführen<strong>de</strong>n Aufsatz von Walter Methlagl „Der Klingsor und<br />
Der Brenner“. In Südost<strong>de</strong>utsche Semesterblätter, H. 17/18, München 1967, S. 7<br />
– 31.<br />
8 Vgl. Reinhold Grimm, „Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud“. In Germanistisch-<br />
Romanische Monatsschrift, Bd. IX, Hei<strong>de</strong>lberg, 1959; Bernhard Böschenstein,<br />
“Wirkungen <strong>de</strong>s französischen Symbolismus auf die <strong>de</strong>utsche Lyrik <strong>de</strong>r<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>“. In: Euphorion, Bd. 58, Hei<strong>de</strong>lberg 1964.<br />
9 Georg Trakl, 59 poeme, traducere, prefaŃă <strong>şi</strong> note <strong>de</strong> Petre Stoica, Bucureşti:<br />
Editura pentru Literatură universală, 1967.<br />
10 I<strong>de</strong>m, Ibi<strong>de</strong>m, S. 135.<br />
11 Georg Trakl, Tânguirea mierlei, traducere, prefaŃă <strong>şi</strong> note <strong>de</strong> Petre Stoica,<br />
Timişoara: Facla, 1981.<br />
12 Georg Trakl, Poezii, tălmăcire <strong>de</strong> Mihail Nemeş, prefaŃă <strong>şi</strong> tabel cronologic <strong>de</strong><br />
Mihai Mangiulea, Bucureşti: Minerva 1988.<br />
54
ANNETTE DAIGGER<br />
SAARBRÜCKEN<br />
Sind die Vereinigungen lesbar?<br />
Die Redaktion <strong>de</strong>r Erzählungen Die Vollendung <strong>de</strong>r Liebe und Die Versuchung <strong>de</strong>r<br />
stillen Veronika, die unter <strong>de</strong>m Titel Vereinigungen 1911 im Müller Verlag München<br />
erschienen sind, zeugt von einem sehr ehrgeizigen Vorhaben seitens Musils. Sein<br />
erster Roman Die Verwirrungen <strong>de</strong>s Zöglings Törleß erntet seitens <strong>de</strong>r Kritiker<br />
großes Lob. 1908 – gera<strong>de</strong> als Doktor <strong>de</strong>r Philosophie in Berlin promoviert – erhielt<br />
er von Franz Blei <strong>de</strong>n Auftrag, eine Novelle für die literarische Zeitschrift Hyperion<br />
zu schreiben. Der Text Das verzauberte Haus wur<strong>de</strong> völlig überarbeitet und<br />
erschien 1911 als Die Versuchung <strong>de</strong>r stillen Veronika. Musil erwartete sehr viel<br />
von dieser Veröffentlichung, die seine ganze Energie drei Jahre lang in Anspruch<br />
nahm und ihn an <strong>de</strong>n Rand eines Nervenzusammenbruches führte. Das Buch<br />
wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Kritikern mißverstan<strong>de</strong>n und sehr schlecht aufgenommen, was<br />
Musil tief verletzte.<br />
Man braucht gar keine Sinne zu haben, um ihn zu lesen; Blindgeborene sind das<br />
geborene Publikum für ihn. Es ist keine Form gedichtet, son<strong>de</strong>rn alles zu Dunst und<br />
Nebel getrachtet 1<br />
Hirn- und Rückenmark Erotik, mit einer unsinnigen Verschwendung feinster und<br />
sehr wahrer Beobachtungen aufgetischt. Die Form: Rilkesche Lyrik. Aber<br />
wesenloser und allzu gehäuft in <strong>de</strong>n Vergleichen, ohne die Möglichkeit für uns,<br />
sich im Normalen <strong>zur</strong>echtzufin<strong>de</strong>n, wie ein Gedicht von Rilke schon allein durch<br />
seine Kürze <strong>de</strong>m Leser sie gibt:<br />
Die zwei Novellen zu schreiben, muß ziemlich wonnevoll gewesen sein; sie zu<br />
lesen, wird wenigen gelingen. 2<br />
Die bei<strong>de</strong>n Texte <strong>de</strong>r Vereinigungen zeigen <strong>de</strong>nn auch,<br />
wie die eigentümlich verbohrte und ins abson<strong>de</strong>rlich Sexuelle verbissene Begabung<br />
<strong>de</strong>s Verfassers <strong>zur</strong> Erfassung von Charakteren und Ereignissen über das exakt<br />
wie<strong>de</strong>rgegebene subjektive Erlebnis hinaus nicht hinreicht, son<strong>de</strong>rn sich in<br />
psychologische Erörterung und nebelhafte Spekulation über Seelenzustän<strong>de</strong><br />
verliert. 3<br />
11 Schaffner, Jakob: „Neue Bücher: Vereinigungen, Erzählungen von Robert Musil“. In: Die<br />
Neue Rundschau, Berlin, Jg. 22, Bd. 2, H. 12/1911, S. 1770-1771.<br />
2 Heine, Anselma: „Vereinigungen. Novellen. Von Robert Musil“. In: Zeitschrift für<br />
Bücherfreun<strong>de</strong>, Leipzig, N.F. Bd.2, 1911/12, S. 286-287.<br />
3 Stoessl, Otto: „Erzählen<strong>de</strong> Literatur: Romane“. In: Österreichische Rundschau, Wien,<br />
Bd. 32, 1912, S. 71 – 76.<br />
55
Rezeption 1950 – 1990<br />
Die negative o<strong>de</strong>r gleichgültige Rezeption, die diesen Text über Jahrzehnte<br />
begleitete, wird auch nach <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung Musils in <strong>de</strong>n 50er Jahren die<br />
Erzählungen Vereingungen belasten. Das behan<strong>de</strong>lte Thema und das Fehlen einer<br />
Kontinuität zwischen Ursache und Wirkung innerhalb <strong>de</strong>r Erzählungen haben viele<br />
Leser irritiert. Zu diesen Schwierigkeiten kam noch <strong>de</strong>r Versuch Musils hinzu, die<br />
Sprache bis an <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s Unsagbaren zu führen:<br />
[…] und es kam ein ganz kalter, stiller Augenblick, wo sie sich selbst hörte wie ein<br />
kleines, unverständliches Geräusch an <strong>de</strong>r ungeheuren Fläche und dann an einem<br />
plötzlichen Verstummen merkte, wie leise sie gesickert war und wie groß und voll<br />
grauenhaft vergessener Geräusche dagegen die steinerne Stirn <strong>de</strong>r Leere. 4<br />
Und er sagte oft zu Veronika, daß es wirklich nicht Furcht sei o<strong>de</strong>r Schwäche, was<br />
in ihm war, son<strong>de</strong>rn nur so, wie Angst manchmal bloß das Rauschen um ein noch<br />
nie gesehenes und noch nicht gesichtetes Erlebnis ist, o<strong>de</strong>r wie man manchmal<br />
ganz bestimmt und ganz unverständlich weiß, daß Angst etwas von einer Frau an<br />
sich haben o<strong>de</strong>r Schwäche einmal ein Morgen in einem Landhaus sein wer<strong>de</strong>, um<br />
das die Vögel schrillen. 5<br />
In <strong>de</strong>n 60er Jahren erschienen die ersten kritischen Arbeiten über diesen Text. Der<br />
psychologische Aspekt, die Entwicklung <strong>de</strong>r weiblichen Gestalten, die im Text<br />
auftreten<strong>de</strong> psycho-sexuelle Verwirrung, ein Raum ohne Zeit wer<strong>de</strong>n von Burton<br />
Pike, Hans Geulen, Gerhart Baumann unterstrichen. Nach Jürgen Schrö<strong>de</strong>r<br />
interpelliert das hermetisch Verschlossene <strong>de</strong>s Textes <strong>de</strong>n Leser. Die Sprache,<br />
bela<strong>de</strong>n mit Metaphern, Gleichnissen und Bil<strong>de</strong>rn ist wie eine mathematische<br />
Gleichung, die <strong>de</strong>r Leser zu lösen hat.<br />
Karl Corino untersucht in seinem Buch: Robert Musils Vereinigungen (1974) die<br />
verschie<strong>de</strong>nen Textstufen <strong>de</strong>r Novelle und stellt fest, daß Musil die vergebliche<br />
Schlacht gegen die Psychoanalyse verloren habe. Der Einfluß von Freud und<br />
Breuer mit ihren Studien über Hysterie ist unleugbar. Die Kritik erhellt die<br />
Phänomene <strong>de</strong>s geistigen Prozesses, die Annäherung an diese Phänomene von<br />
innen her und die Fusion zwischen erzählerischem und bildhaftem Bewußtsein.<br />
Durch die räumlichen Metaphern sucht Musil ein Diagramm <strong>de</strong>r Tiefe <strong>de</strong>s<br />
Bewußtseins an die Oberfläche <strong>de</strong>s Bewußtseins zu bringen. In <strong>de</strong>n 70er Jahren,<br />
im Zuge <strong>de</strong>r feministischen Bewegung, ent<strong>de</strong>ckt Lisa Appignanesi (1973) einen<br />
positiven und befreien<strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>s Textes wegen seiner einfühlsamen<br />
Feminität:<br />
Sie sah ihren Körper unter <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n liegen, mit einer Deutlichkeit <strong>de</strong>r<br />
Vorstellung, die wie kleines Gerinnsel in alle Einzelheiten floß, sie fühlte ihr<br />
Blaßwer<strong>de</strong>n und die erröten<strong>de</strong>n Worte <strong>de</strong>r Hingabe und die Augen <strong>de</strong>s Menschen,<br />
nie<strong>de</strong>rhaltend über ihr stehend, gespreitet über ihr stehend, gesträubte Augen wie<br />
Raubvogelflügel. 6<br />
Peter Henninger hat 1980 die Rolle <strong>de</strong>s Unbewußten in <strong>de</strong>m Prozeß <strong>de</strong>r<br />
4 Musil, Robert: Gesammelte Werke, hrsg. von Adolf Frise, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg:<br />
Rowohlt 1981, S. 166.<br />
5 Ebd, S. 195.<br />
6 Ebd., S. 189 ff.<br />
56
Textgestaltung analysiert, dabei auch auf die Einflüsse von Breuer und Freud<br />
hinweisend. Eine von Andrea Köhler, Christine Adam, Horst Hamm und Joachim<br />
Pfeiffer gemeinsam erstellte Studie sieht, immer noch in Freudscher Sehweise, in<br />
Veronika das Bild <strong>de</strong>r Mutter Musils zwischen zwei Männern: <strong>de</strong>m Vater und <strong>de</strong>m<br />
Familienfreund (Heinrich Reiter). Diese Studie zeigt das Ringen <strong>de</strong>s Schriftstellers<br />
auf, seine präodipale Fixierung auf regressive narzistische I<strong>de</strong>ntifikation zu<br />
übertragen.<br />
Eine philosophische und metaphysische Reorientierung sind die Merkmale <strong>de</strong>r<br />
Interpretation <strong>de</strong>r Novelle in <strong>de</strong>n 80er Jahren. Die Untersuchung <strong>de</strong>s ästhetischen<br />
Konzepts, das Problem <strong>de</strong>r Motivierung, die Art <strong>de</strong>r vorgestellten Liebe und<br />
Gefühle ziehen die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Forscher wie Goltschnigg, Willemsen, Mae<br />
und Magnou auf sich. In seinem Essay, <strong>de</strong>r die Auflage von Vereinigungen 1990<br />
im Suhrkamp Verlag begleitet, bringt Hartmut Böhme eine ganz neue Sichtweise<br />
<strong>de</strong>r Novelle. Poetik ist die säkularisierte Form <strong>de</strong>s mythischen Erlebens.<br />
Vereinigungen for<strong>de</strong>rt ein mythisches Vorgehen, wo das Urtrauma <strong>de</strong>r Trennung<br />
versucht, eine Einheit <strong>de</strong>s menschlichen Zustan<strong>de</strong>s wie<strong>de</strong>rzufin<strong>de</strong>n. Die Metapher<br />
<strong>de</strong>r zwei Hälften, die sich wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, kommt mehrmals in <strong>de</strong>r Novelle Die<br />
Vollendung <strong>de</strong>r Liebe vor. 7<br />
Böhme evoziert die berühmte Re<strong>de</strong> von Aristophanes in Platons Gastmahl<br />
(Symposion-Mythos):<br />
Dies sind die Schmerzen <strong>de</strong>s ‘harten, aufrechten Ganges’, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Novelle wie<br />
im Symposion-Mythos nicht das Attribut <strong>de</strong>s Selbstbewußten und welterobern<strong>de</strong>n<br />
Menschen ist, son<strong>de</strong>rn Folge <strong>de</strong>s Verlustes <strong>de</strong>r Kugelgestalt, Zeichen <strong>de</strong>r<br />
einsamen Suchbewegung <strong>de</strong>s Subjekts in <strong>de</strong>r Welt. 8<br />
Für Die Versuchung <strong>de</strong>r stillen Veronika ist <strong>de</strong>r Schlüssel <strong>zur</strong> Interpretation <strong>de</strong>r<br />
Novelle schon im Titel gegeben „vera ikon / wahres Bild“. Die Novelle ist eine<br />
Worttheologie, <strong>de</strong>r Versuch, eine Kongruenz von Bild und Abgebil<strong>de</strong>tem<br />
herzustellen:<br />
Die Novelle bezieht sich hierauf und wen<strong>de</strong>t das Problem <strong>de</strong>r Bildauthentizität vom<br />
ikonischen Zeichen zu <strong>de</strong>n sprachlichen. 9<br />
Die Sprache breitet sich als „das Tuch“ (Gewand Christi) über Veronika, die in ihrer<br />
unteilbaren Selbstbezüglichkeit zum wahren Bild <strong>de</strong>r Poesie wird. In dieser<br />
mythischen und poetischen Annäherung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Novellen wer<strong>de</strong>n zwei<br />
Grundgedanken Musils dargelegt: Die Ungetrennte und nicht Vereinte (Titel eines<br />
Kapitels <strong>de</strong>s Romans Der Mann ohne Eigenschaften), die Konstellation <strong>de</strong>s<br />
Bru<strong>de</strong>rs und <strong>de</strong>r Schwester, Ulrich und Agathe, nicht getrennt und nicht vereint;<br />
und das Dilemma <strong>de</strong>r Sprache im Versuch, das Unsagbare zu sagen. Aber wie<br />
immer bei Musil, im Magma <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en, in <strong>de</strong>r Atomisierung <strong>de</strong>r Möglichkeiten <strong>de</strong>s<br />
Denkens und <strong>de</strong>s Lebens einen Fa<strong>de</strong>n zu fin<strong>de</strong>n, hängt mehr mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />
Richtungsweisen<strong>de</strong>r zu sein zusammen als etwas festlegen zu wollen („wir irren<br />
vorwärts").<br />
7 Siehe: Musil, Robert: Die Vereinigungen, Frankfurt a.M: Suhrkamp, 1990.<br />
8 Böhme, Hartmut: Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle. (Nachwort). In: Musil,<br />
Robert: Die Vereinigungen, S. 204.<br />
9 Siehe: Die Vereinigungen, S. 211.<br />
57
In <strong>de</strong>n Tagebüchern wie in seinen Essays wird Musil mehrmals die zwei Novellen<br />
evozieren und sich darüber beklagen, daß die Kritik sein Buch mißverstan<strong>de</strong>n hat.<br />
Denn Vereinigungen ist das einzige seiner Bücher, das er bereit ist, wie<strong>de</strong>r zu<br />
lesen.<br />
Es ist das Einzige meiner Bücher, worin ich heute noch manchmal lese. Ich ertrage<br />
keine großen Stücke. Aber ein bis zwei Seiten nehme ich reduziert – abgesehen<br />
von bestimmten schmerzlichen Ausdrucksmängeln – gern wie<strong>de</strong>r in mir auf. 10<br />
Einige Zeilen weiter wird Musil in einer These erklären, was er unter Dichtung<br />
versteht.<br />
Dichtung gibt Sinnbil<strong>de</strong>r. Sie ist Sinngebung, sie ist Aus<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Lebens. Die<br />
Realität ist für sie Material. 11<br />
Natürlich sollte man nicht wortwörtlich verfolgen, was Musil sagt. Aber es ist<br />
interessant, diese Hinweise zu untersuchen, die eventuell eine Lesehilfe für die<br />
bei<strong>de</strong>n Novellen geben könnten.<br />
Die Realität, die zu dieser Zeit Musil umgibt, war, obwohl er sich zu ihr sehr kritisch<br />
verhielt, doch reich an intellektuellen und sentimentalen Impulsen. Alle seine<br />
erotischen Fantasmen fokussieren sich um die Gestalt Valeries („Fernliebe“) und<br />
die tragische Episo<strong>de</strong> von Herma Dietz/Tonka und wur<strong>de</strong>n durch die Begegnung<br />
mit Martha, seiner zukünftigen Frau, überwun<strong>de</strong>n. Robert Musil wird die<br />
persönliche Erinnerungen Marthas verwen<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n Hintergrund <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Novellen zu gestalten. Sie wird ihn intellektuell reizen und zu einer existenziellen<br />
Reflexion und einem Lebensexperiment anregen. Die narzistische Seite Musils,<br />
sehr <strong>de</strong>utlich zu erkennen in <strong>de</strong>n Tagebüchern dieser Zeit, wird durch die<br />
Liebeserfahrung mit Martha erschüttert. Durch sie tritt er aus sich selbst heraus<br />
und nähert sich <strong>de</strong>m Gegenüber („<strong>de</strong>r Erweckte“). Durch Martha wird er persönlich<br />
mit <strong>de</strong>n schmerzlichen Problemen <strong>de</strong>r Eifersuchts-Erfahrung konfrontiert, die er<br />
dann in diesen bei<strong>de</strong>n Novellen bearbeiten wird. Musil wird wenig darüber<br />
persönlich sagen. Ein Brief von Martha an Armin Kesser vom 8. November 1945<br />
offenbart die volle Problematik <strong>de</strong>r Eifersucht:<br />
Der 6. XI und <strong>de</strong>r 7. XI sind für mich schwere Tage, Roberts Geburtstag und Fritz<br />
To<strong>de</strong>stag, <strong>de</strong>r immer einen Schatten auf <strong>de</strong>n 6. XI warf: ich konnte nie <strong>de</strong>n<br />
nächsten Tag vergessen und konnte das Robert nicht sagen – er wußte nicht, was<br />
mir war. Das Verhältnis ist auch zu schwach im M.o.E. geschil<strong>de</strong>rt und nicht ganz<br />
zutreffend in <strong>de</strong>n Schwärmern, vielleicht weil Fritz <strong>de</strong>r einzige war, auf <strong>de</strong>n Robert<br />
eifersüchtig war. 12<br />
Auch in dieser Korrespon<strong>de</strong>nz wird Martha ihr Einssein mit Robert Musil<br />
offenbaren:<br />
Ich will nicht von Robert unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, ich fühle mich – eins – mit ihm und<br />
i<strong>de</strong>ntifiziere mich, soweit es mit einem so Überragen<strong>de</strong>n möglich ist. Ich bestehe<br />
fast nur aus Fehlern, es ist wahr, daß er auch das geliebt hat: ‘Es kommt nicht<br />
darauf an, was man tut, son<strong>de</strong>rn was man daraus macht.’ 13<br />
10 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 969.<br />
11 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 969.<br />
12 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 151-152..<br />
13 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 58.<br />
58
Es ist eine Einladung, an <strong>de</strong>m Ich teilzunehmen, an <strong>de</strong>m was es erlebt, und die<br />
Frage ist nicht, „was soll ich tun?“, son<strong>de</strong>rn „wer bin ich?“, „welchen Sinn soll ich<br />
meinem Leben geben?“. Es ist die Musilsche Ethik, die die Person und ihre<br />
Möglichkeiten im Leben in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund stellt, es ist die Utopie <strong>de</strong>s motivierten<br />
Lebens.<br />
In <strong>de</strong>r Berliner Zeit been<strong>de</strong>t Musil sein Studium <strong>de</strong>r Philosophie und Psychologie.<br />
Beson<strong>de</strong>rs die Erkenntnis-Theorien, die Beziehung Wissenschaft und Philosophie<br />
sowie die experimentale Psychologie interessieren ihn. Seine Promotionsarbeit<br />
über <strong>de</strong>n Physiker und Philosophen Ernst Mach beschließt seine<br />
Universitätslaufbahn. Die experimentale Psychologie in Berlin um Karl Stumpf und<br />
Hermann Ebbinghaus wird eine Flut von be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Psychologen ausbil<strong>de</strong>n:<br />
Wolfgang Köhler, Max Wertheimer, Kurt Koffka, Kurt Lewin und Erich Moritz von<br />
Hornbostel. Karl Stumpf widmete sich zunächst <strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>r Raumvorstellung.<br />
Intensiv beschäftigten ihn dann Probleme <strong>de</strong>r akustischen Wahrnehmung. Im<br />
Rahmen dieser Forschungen interessierten ihn auch die psychologischen<br />
Probleme <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit und <strong>de</strong>s Urteilsverhaltens. Gegenstand <strong>de</strong>r<br />
Psychologie waren für Stumpf „die psychischen Funktionen“, bei <strong>de</strong>nen er die<br />
intellektuellen und die emotionalen Funktionen unterschied. Die intellektuellen<br />
Funktionen unterteilte er in „Bemerken“ (Unterschei<strong>de</strong>n), „Zusammenfassen“,<br />
„Begriffsbildung“ und „Urteilen“ – die emotionalen Funktionen in „passive“<br />
(Gefühle) und „aktive“ (Wille). Für die Gestaltpsychologie sind es [ihrem<br />
vorherrschen<strong>de</strong>n Psychologie- und Wissenschaftsverständnis gemäß stets die<br />
Erscheinungen, das heißt] die Phänomene, die <strong>de</strong>n Ausgangspunkt je<strong>de</strong>r<br />
wissenschaftlichen Analyse bil<strong>de</strong>n müssen und nicht die ihnen zu Grun<strong>de</strong><br />
liegen<strong>de</strong>n Reizbedingungen. Diese Theorien fin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Novellen ihren<br />
literarischen Nie<strong>de</strong>rschlag.<br />
Die Verwirrungen <strong>de</strong>s Zöglings Törleß, die von <strong>de</strong>r Kritik sehr gut aufgenommen<br />
wur<strong>de</strong>n, waren, wenn man an <strong>de</strong>n Konformismus <strong>de</strong>r damaligen Gesellschaft<br />
<strong>de</strong>nkt, schon eine provokante Schrift, durch die Behandlung <strong>de</strong>r Homosexualität.<br />
(Ähnliches gilt für Frühlingserwachen von Franz We<strong>de</strong>kind). Mit <strong>de</strong>n zwei Novellen<br />
Vereinigungen geht er einen Schritt weiter, nicht nur in <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>s<br />
Erzählungsstoffes, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r Novellen. Sie entsprechen<br />
überhaupt nicht <strong>de</strong>m Kanon <strong>de</strong>r Gattung Novelle und wi<strong>de</strong>rsetzen sich <strong>de</strong>r<br />
traditionellen Erzählweise von Ursache und Wirkung. Die klassischen Elemente<br />
<strong>de</strong>r Erzählung, chronologische Zeit, Kausalität sind fast nicht vorhan<strong>de</strong>n. Unter <strong>de</strong>n<br />
analytischen Impulsen <strong>de</strong>r Introspektion verschiebt sich das Zentrum <strong>de</strong>s<br />
Erzählens von außen nach innen, es ist die Verinnerlichung <strong>de</strong>s Textes. Für<br />
Claudine wie für Veronika ereignet sich fast alles in ihrem Bewußtsein, auf <strong>de</strong>r<br />
Höhe einer extremen Verinnerlichung – ihre Selbstbezogenheit wird nur von sehr<br />
starken sexuellen Aufwallungen unterbrochen. Die erlebte Realität wird durch <strong>de</strong>n<br />
Gedanken in Gestalt gesetzt. Jacqueline Magnou <strong>de</strong>finiert die Musilsche<br />
Imagination als die Fähigkeit, die Oberfläche <strong>de</strong>r Dinge durch die I<strong>de</strong>e zu<br />
durchqueren, in <strong>de</strong>r Realität etwas an<strong>de</strong>res zu sehen als das, was man gewöhnlich<br />
sieht (Hinterexistenz). Man weist auf Möglichkeiten hin, ohne sie festzulegen, man<br />
kommt zu einem vollkommenen Ich und lebt in einem „bewegen<strong>de</strong>n<br />
Gleichgewicht“.<br />
Die Analyse aller Erschütterungen eines Ich, das in und außerhalb <strong>de</strong>r Welt steht,<br />
59
das die Umkehrung <strong>de</strong>s inneren und äußeren Raumes akzeptiert, wo wir an <strong>de</strong>r<br />
Metamorphose <strong>de</strong>s Sehen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>s Sichtbaren teilnehmen, war schon das<br />
Motiv zweier Erzählungen <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>: Der Tod Georgs von Richard<br />
Beer-Hofmann und Leutnant Gustl von Arthur Schnitzler. In <strong>de</strong>r Erzählung von<br />
Richard Beer-Hofmann ist:<br />
<strong>de</strong>r Gang <strong>de</strong>r Erzählung: die Schil<strong>de</strong>rung eines einzigen lebensverwan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
Ereignisses, in <strong>de</strong>m sich Traum und Wirklichkeit, Tod und Leben ineinan<strong>de</strong>r<br />
schlingen. Das Ereignis entrollt sich aus einem Traum von Sterben, <strong>de</strong>r geweckt<br />
war durch die Konfrontation eines ungelebten, rein selbstbezogenen Lebens mit<br />
einem wirklichen, engagierten Leben, und weitergetrieben, ins Bewußtsein<br />
getrieben durch <strong>de</strong>n Schock <strong>de</strong>r darauffolgen<strong>de</strong>n Erfahrung eines wirklichen<br />
To<strong>de</strong>s. 14<br />
Das Bewußtwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Lebens durch <strong>de</strong>n Tod, die Befreiung eines durch die<br />
Erfahrung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s auf sich selbst bezogenen Wesens sind die Themen von Der<br />
Tod Georgs. Veronika, in <strong>de</strong>r Novelle Musils, wünscht sich auch <strong>de</strong>n Tod von<br />
Johannes, um wie<strong>de</strong>r zum Leben erweckt zu wer<strong>de</strong>n. Musil wird in einem Brief an<br />
Kurt Levin vom 31.12.23 folgen<strong>de</strong>s über die Vereinigungen schreiben:<br />
Die führen<strong>de</strong> Novelle darin ist die erste; man hat das für einen ‘Exzeß an<br />
Psychologie’ gehalten, das durchlaufen<strong>de</strong> Prinzip ist aber im Gegenteil die<br />
Entwertung alles Kausalen, daher auch sogenannter psychologischer Erklärung.<br />
Sie kennen gewiß das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s „Lebens aus <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e“, wo je<strong>de</strong>r Schritt nicht aus<br />
kausaler Notwendigkeit erfolgt, son<strong>de</strong>rn einer inneren Lichtausbreitung gleicht: das<br />
wäre wahrscheinlich verstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n, wenn ich es als Figur projiziert hätte, ich<br />
wollte es aber zum Prinzip <strong>de</strong>s Erzählens selbst machen, zum eigentlichen<br />
Leitfa<strong>de</strong>n. 15<br />
Das Bild hat für <strong>de</strong>n Schriftsteller einen konstitutiven Wert in <strong>de</strong>m Sinn, wo man<br />
ihm eine kategorische Dimension geben muß und keine symbolischen o<strong>de</strong>r<br />
allegorischen Werte. Nur Bil<strong>de</strong>r sind Träger <strong>de</strong>r Signifikation, zum Beispiel die<br />
Teezeremonie am Anfang <strong>de</strong>r Novelle Die Vollendung <strong>de</strong>r Liebe, wo man <strong>de</strong>n<br />
Eindruck einer vollkommenen Harmonie hat, wo alles zum Paar zusammenströmt,<br />
in <strong>de</strong>r Vereinigung von Leib und Geist. Zu dieser Szene kontrastiert die<br />
Schlußszene <strong>de</strong>r Novelle, eine totale Disharmonie, in <strong>de</strong>r Leib und Gefühle nicht<br />
im Einklang stehen. Fast auf je<strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r Novelle fin<strong>de</strong>n wir ungebräuchliche<br />
Bil<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>n Leser ansprechen.<br />
Ihr war als lebte sie mit ihrem Mann in <strong>de</strong>r Welt wie in einer schäumen<strong>de</strong>n Kugel<br />
voll Perlen und Blasen und fe<strong>de</strong>rleichter, rauschen<strong>de</strong>r Wölkchen. Sie schloß die<br />
Augen und gab sich <strong>de</strong>m hin. 16<br />
… und wenn sie sich erinnerte, wie sie sich selbst, so von innen heraus, spürte,<br />
war das früher wie ein run<strong>de</strong>r, gespannter Wassertropfen und jetzt längst wie eine<br />
kleine, weichgerän<strong>de</strong>rte Lache, so ganz breit und schlaff und spannungslos war<br />
dies Empfin<strong>de</strong>n. 17<br />
Musil rechtfertigt diese Fülle von Bil<strong>de</strong>rn in seinem Essay von 1913 Über Robert<br />
14<br />
Kahler, Erich von: „Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs“. In: Mo<strong>de</strong>rn Austrian<br />
Literature, Bd. 17, Nr. 2, 1984, S. 54.<br />
15<br />
Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 332.<br />
16<br />
Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 162.<br />
17<br />
Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 206.<br />
60
Musils Bücher.<br />
So ließ ich mich nur noch einmal nie<strong>de</strong>r, um meine Eindrücke zusammenzufassen.<br />
Rechts von mir lag die Stelle <strong>de</strong>r Verwirrungen <strong>de</strong>s Zöglings Törleß, sie war schon<br />
eingesunken und mit grauer Rin<strong>de</strong> überwachsen; zu meiner an<strong>de</strong>rn Seite hatte ich<br />
die kleine, seltsam intarsierte Doppelpyrami<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Vereinigungen. Eigensinnig kahl<br />
in <strong>de</strong>r Linie, glich sie, von einer engen Bil<strong>de</strong>rschrift be<strong>de</strong>ckt, <strong>de</strong>m Mal einer<br />
unbekannten Gottheit, in <strong>de</strong>m ein unverständliches Volk die Erinnerungszeichen an<br />
unverständliche Gefühle zusammengetragen und aufgeschichtet hat. 18<br />
Diese von Musil vermittelte Interpretation zeigt, daß die Novellen wie eine<br />
fortlaufen<strong>de</strong> Linie erscheinen, über<strong>de</strong>ckt von einer metaphorischen Schrift, und die<br />
von ihm erwähnten Intarsien bieten ein Ineinan<strong>de</strong>rgreifen von Gedanken und<br />
Gefühlen, durch verschie<strong>de</strong>ne dichte Schichten ausgedrückt, was das Lesen nicht<br />
gera<strong>de</strong> erleichtert. Musil notiert in seinem Tagebuch:<br />
Im Törleß habe ich meine Gedanken, wie ich sie so jetzt in <strong>de</strong>n Zetteln notiere, zu<br />
Verbindungen, Erklärungen und Dergleichen benützt, in <strong>de</strong>n Novellen suchte ich<br />
daraus das Erzählte selbst aufzubauen. 19<br />
In einem Brief an Franz Blei, im Juli 1914, gibt Musil zu, daß die Bil<strong>de</strong>r und die<br />
Vergleiche, die er einsetzte, <strong>de</strong>n literarischen und poetischen Kanons nicht<br />
entsprechen wür<strong>de</strong>n. Die Bil<strong>de</strong>r sind die primären Elemente <strong>de</strong>s Erzählens, die<br />
konstitutiven Elemente <strong>de</strong>s Psychischen. Und die Gefühle gehen durch diese<br />
konstitutiven Elemente. Das Bild sagt aus, erzählt, und die erzählte Gestalt sieht<br />
sich nicht in diesen Bil<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn ist in <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn. Die Bil<strong>de</strong>r in diesem Text<br />
ersetzen die Realität nicht, aber führen zu einer an<strong>de</strong>ren komplexeren Realität. Die<br />
Metapher ist das Zeichen von etwas und nicht für etwas. Eine extreme<br />
Radikalisation <strong>de</strong>r poetischen Sprache wird dadurch erreicht. Das Zeichen („von<br />
etwas“) versucht etwas Unerreichbares, Unsagbares zu formulieren. Es bietet die<br />
Möglichkeit, zum Beispiel das obskure, formlose Ich Veronikas einzukreisen.<br />
Claudine befin<strong>de</strong>t sich in einer Welt <strong>de</strong>r Metapher, wo nichts festgelegt, an einen<br />
Sinn geknüpft ist, und wo die Zwei<strong>de</strong>utigkeit, das Schweben und das Zweifelhafte<br />
die Sprache <strong>de</strong>r Gefühle sind, die es ermöglichen, <strong>de</strong>n „an<strong>de</strong>ren Zustand“<br />
auszudrücken. Die Erfahrung <strong>de</strong>s „an<strong>de</strong>ren Zustan<strong>de</strong>s“ ermöglicht Claudine, sich<br />
ihres Ich bewußt zu wer<strong>de</strong>n, jeglichen rationalen Ausdruck auszusperren. Bei<strong>de</strong>,<br />
Claudine und Veronika, versuchen nicht mehr zu <strong>de</strong>uten, was sie in ihrem<br />
Innersten ent<strong>de</strong>cken, son<strong>de</strong>rn ganz einfach es zu erleben. In dieser Erfahrung<br />
versuchen sie nicht mehr ihr Wissen zu vermitteln, sie stehen im direkten inneren<br />
Ausdruck <strong>de</strong>s Unbewußten. Sie bemühen sich nicht um eine Synthese zwischen<br />
<strong>de</strong>r Realität, wie <strong>de</strong>r Möglichkeit, diese zu erkennen, und <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s „an<strong>de</strong>ren<br />
Zustan<strong>de</strong>s“. Bei<strong>de</strong> befin<strong>de</strong>n sich vollkommen im Nicht-Ratioi<strong>de</strong>n:<br />
Es gelingt mir nicht, dieses Gebiet besser zu kennzeichnen als darauf hinweisend,<br />
daß es das Gebiet <strong>de</strong>r Reaktivität <strong>de</strong>s Individuums gegen die Welt und die an<strong>de</strong>ren<br />
Individuen ist, das Gebiet <strong>de</strong>r Werte und Bewertungen, das <strong>de</strong>r ethischen und<br />
ästhetischen Beziehungen, das Gebiet <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>e. 20<br />
18<br />
Musil. Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 996.<br />
19<br />
Musil, Robert: Tagebuch I, hrsg. von Adolf Frise, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1976,<br />
S. 234.<br />
20<br />
Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 1028.<br />
61
Claudines Reise unterbricht <strong>de</strong>n Alltag und eröffnet ihr neue Lebensmöglichkeiten.<br />
Die Welt, die sie aus <strong>de</strong>m Zug erblickt, verän<strong>de</strong>rt die starre Realität. Durch ein<br />
doppeltes Sehen durchdringt sie die Verbindung einer Realität zu einer an<strong>de</strong>ren,<br />
bestehend aus Tausen<strong>de</strong>n von Möglichkeiten. Diese I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Möglichkeit gibt ihr<br />
die Fähigkeit, sich eine an<strong>de</strong>re Gefühlsbewegung vorzustellen. Der Akt <strong>de</strong>r<br />
Untreue, <strong>de</strong>m sie in einer gewissen Gleichgültigkeit begegnet – sie bezeichnet sich<br />
sogar als „dumme Gans“ – vermittelt ihr trotz allem einen sexuellen Genuß. Aber<br />
im gleichen Moment, als ob sich ihr Geist von ihrem Körper entfernen wür<strong>de</strong>, sieht<br />
sie sehr weit in <strong>de</strong>r Ferne die Vorstellung ihrer Liebe. Zu ihrem Gefühl am Anfang<br />
<strong>de</strong>r Novelle, wo sie meinte, ohne <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nicht leben zu können, gehört nun<br />
die Tatsache, daß Untreue möglich ist, und daß diese Handlung nicht unbedingt<br />
die Zerstörung <strong>de</strong>r Liebe be<strong>de</strong>utet, son<strong>de</strong>rn im Gegenteil ihre letzte Steigerung.<br />
Sie sei eine komplexere Realität als die reine und einfache Realität. Und wenn das<br />
Bild Gottes zum Schluß evoziert wird, geschieht dies wohl, um zu unterstreichen,<br />
daß das Akzeptieren <strong>de</strong>r Untreue als letzte Steigerung <strong>de</strong>r Liebe wohl im Bereich<br />
<strong>de</strong>r Gedanken sich ansie<strong>de</strong>le, wie Gott, <strong>de</strong>n man wissenschaftlich nicht erklären<br />
könne. Veronika ist auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>m absoluten Gefühl und wird mit<br />
Johannes eine mystische Vereinigung erleben bei <strong>de</strong>m Gedanken, er hätte sich<br />
eben getötet. Ihr Gefühl wird durch das Ablehnen je<strong>de</strong>r körperlichen Berührung<br />
sowie je<strong>de</strong>r Ausgerichtetheit auf ein Ziel gekennzeichnet. Veronika, in ihrem<br />
Zimmer eingesperrt, sucht nach einer tieferen I<strong>de</strong>ntität:<br />
Und es kam die Nacht, diese eine Nacht ihres Lebens, wo das, was sich unter <strong>de</strong>r<br />
Dämmer<strong>de</strong>cke ihres langen Krankendaseins gebil<strong>de</strong>t hatte und durch eine<br />
Hemmung von <strong>de</strong>r Wirklichkeit abgehalten, wie ein fressen<strong>de</strong>r Fleck zu seltsamen<br />
Figuren unvorstellbarer Erlebnisse auswuchs, die Kraft hatte, sich endlich bewußt<br />
in ihr emporzuheben. 21<br />
Veronika und Claudine verharren in ihrer Entfremdung <strong>zur</strong> Welt, obwohl sie ein<br />
gewisses erotisches Empfin<strong>de</strong>n zum an<strong>de</strong>ren hinzieht, zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren:<br />
Um ihn [Veronikas Körper] stan<strong>de</strong>n Männer mit rascheln<strong>de</strong>n und leis wie von<br />
Haaren knistern<strong>de</strong>n Flügeln. 22<br />
Claudine evoziert ähnliche Bil<strong>de</strong>r, und bei<strong>de</strong> bleiben hinter einer Tür, auf <strong>de</strong>r Lauer<br />
nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>m Mann, und bei<strong>de</strong> fühlen, wie die Lust in ihnen aufsteigt.<br />
Diese Mischung aus Eros und Weltentsagung lösen einen Abstieg in das tiefste<br />
Innere <strong>de</strong>s Ich aus. Musil versucht die Verdoppelung eines Wesens zu verstehen<br />
und in Sprache auszudrücken. Diese sensitive, von ihm gesehene Annäherung an<br />
die Welt kann nur in <strong>de</strong>r Literatur ein Echo fin<strong>de</strong>n. Denn nur die Literatur kann<br />
Probleme lösen, zu <strong>de</strong>nen die Wissenschaft keinen Zugang hat. Die Literatur<br />
eröffnet Wege zu einer besseren Bewältigung <strong>de</strong>r wechselseitigen Beziehung<br />
zwischen geistiger Fähigekit und <strong>de</strong>m Pulsieren <strong>de</strong>r Gefühle.<br />
21 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 158.<br />
22 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 171.<br />
62
PREDOIU GRAZZIELLA<br />
TEMESWAR<br />
Raumbeschreibungen in Thomas Bernhards Erzählung Der<br />
Keller<br />
Ziel dieser Arbeit ist, die Dimensionen <strong>de</strong>s Raumes in einer autobiographischen<br />
Erzählung Thomas Berhards zu umreißen. Dabei gehen wir in einem ersten Schritt<br />
von Definitionen <strong>de</strong>s Begriffes „Raum“ aus, um dann spezifische Raumarten<br />
ausfindig zu machen. Der Raum wird als <strong>de</strong>r Handlungsschauplatz eines<br />
„erzählten Geschehens“ (Lämmert: 1995, 23), als die Welt „<strong>de</strong>r Begebenheiten“<br />
(Ebd: 20) <strong>de</strong>finiert, die <strong>de</strong>r Autor in einer von ihm aufgebauten Fiktionswelt<br />
projiziert.<br />
In <strong>de</strong>r Erzähltextanalyse wird zwischen erzählten Räumen/Erzählraum und<br />
Raumkonzept unterschie<strong>de</strong>n. Den erzählten Raum <strong>de</strong>finiert Kahrmann/Reiß als<br />
„die Gesamtheit <strong>de</strong>r erzählten Räume, die das erzählte Geschehen als einen Welt-<br />
und Wirklichkeitszusammenhang rezipierbar machen“ (Reiß: 1986, 158), <strong>de</strong>n<br />
Erzählraum als „räumliche Dimension einer fiktiven Re<strong>de</strong>situation“ (Ebd: 159), und<br />
das Raumkonzept als „<strong>de</strong>n Entscheidungszusammenhang, auf <strong>de</strong>n Erzählraum<br />
und erzählte Räume <strong>zur</strong>ückgehen“ (Ebd: 159).<br />
In Thomas Bernhards autobiographischen Erzählungen dominiert jeweils eine<br />
an<strong>de</strong>re Räumlichkeit: in chronologischer Reihenfolge ist es Wien, Seekirchen am<br />
Wallersee und Henndorf, Traunstein und Ettendorf in Österreich. Danach wird die<br />
Familie für längere Zeit in Salzburg verweilen. Wichtige Momente im<br />
Zusammenhang mit dieser Stadt sind <strong>de</strong>r Besuch <strong>de</strong>r Hauptschule und <strong>de</strong>s<br />
Gymnasiums, die Lehre im Lebensmittelgeschäft; die nächsten Aufenthaltsorte im<br />
Leben <strong>de</strong>s Protagonisten sind das Erholungsheim in Großgmain und die<br />
Lungenheilstätte Grafenhof. Es muß bemerkt wer<strong>de</strong>n, daß sich in diesen Räumen<br />
Institutionen befin<strong>de</strong>n, in die das Ich verpflichtet ist, hineinzutreten. Der einzige<br />
bewußt ausgewählte und ausgesuchte Ort, <strong>de</strong>r Nützlichkeit verspricht, ist <strong>de</strong>r<br />
Keller <strong>de</strong>s Herrn Podlaha, Schauplatz <strong>de</strong>r Handlung in <strong>de</strong>r gleichnamigen<br />
Erzählung, <strong>de</strong>m auch unsere Aufmerksamkeit gelten wird.<br />
Spricht man über <strong>de</strong>n topographischen Hintergrund von Bernhards Erzählung, so<br />
muß man in erster Linie <strong>de</strong>n Makrokosmos – Österreich im allgemeinen und<br />
Salzburg insbeson<strong>de</strong>re hervorheben. Aus einer „verboßenen Haß-Liebe“ (Van<br />
Ingen: 1989, 1141) Haltung seiner Heimatstadt gegenüber, bewertet sie Bernhard<br />
negativ wie folgt:<br />
Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine To<strong>de</strong>skrankheit, in welche ihre Bewohner<br />
hineingehen und hineingezogen wer<strong>de</strong>n, und gehen sie nicht in <strong>de</strong>m<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Zeitpunkt weg, machen sie direkt o<strong>de</strong>r indirekt, früher o<strong>de</strong>r später<br />
unter allen diesen entsetzlichen Umstän<strong>de</strong>n entwe<strong>de</strong>r urplötzlich Selbstmord o<strong>de</strong>r<br />
gehen direkt o<strong>de</strong>r indirekt langsam und elendig auf diesem Grun<strong>de</strong> durch und<br />
63
durch menschenfeindlichen architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katholischen<br />
To<strong>de</strong>sbo<strong>de</strong>n zugrun<strong>de</strong>. (Ursache: 51)<br />
Die düstere Perspektive, die auf seiner Geburtsstadt Salzburg lastet, die<br />
Umstän<strong>de</strong>, daß <strong>de</strong>r Protagonist dort an einer lebensgefährlichen Lungenkrankheit<br />
erkrankt ist, bedingen die subjektive Ausrichtung in <strong>de</strong>m Zitat, die negative<br />
Beschaffenheit <strong>de</strong>s Handlungsortes.<br />
In <strong>de</strong>r Forschungsliteratur ist man sich darüber einig, daß die Räume in Thomas<br />
Bernhards Texten keinen realistischen Verweischarakter bergen, son<strong>de</strong>rn auf einer<br />
symbolischen Ebene zu <strong>de</strong>uten sind: „Es han<strong>de</strong>lt sich nicht um eine realistische<br />
Beschreibung und eine objektive Darstellung, son<strong>de</strong>rn um die Wie<strong>de</strong>rgabe von<br />
betont subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen. (Ingen: 1989, 1142)<br />
Im Keller wer<strong>de</strong>n oft die Namen <strong>de</strong>r Orte und <strong>de</strong>r Straßen genannt (Blin<strong>de</strong>nanstalt,<br />
Taubstummenanstalt, Lehener Post, Scherzhauserfeldsiedlung, Pfeifergasse), so<br />
daß <strong>de</strong>r Leser leicht nachvollziehen könnte, wo sich diese Orte befin<strong>de</strong>n. Doch die<br />
von Bernhard aufgebaute Welt ist eine Fiktionswelt, die nicht <strong>de</strong>r Wirklichkeit<br />
gleichzusetzen ist, eine Kunstwelt, die <strong>de</strong>n Stempel <strong>de</strong>r Bernhardschen<br />
Individualität trägt. Schmidt-Dengler bezieht sich gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n fehlen<strong>de</strong>n Bezug<br />
<strong>de</strong>r Räume <strong>zur</strong> gelebten Realität, wenn er meint, daß die Namen <strong>de</strong>r Ortschaften<br />
und <strong>de</strong>r Räume als „Wirklichkeitsfallen“ (Schmidt-Dengler: 1995, 104) fungieren.<br />
Obwohl man meint, so Schmidt-Dengler, „sie mit unserem Alltag, unserer<br />
Lebenswelt rückkoppeln zu können“, stellt „sich alles jedoch plötzlich als freie<br />
Assoziation o<strong>de</strong>r Denk-Erfindung heraus.“ (Ebd: 115) Bernhard täuscht mit Hilfe<br />
geographischer Daten vor, eine Wirklichkeitswelt aufzubauen, doch die Räume<br />
erweisen sich als Kunstmittel.<br />
Im Keller richtet sich <strong>de</strong>r Blickpunkt, wie es <strong>de</strong>r Titel schon angibt, auf <strong>de</strong>n Keller,<br />
in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Protagonist, nach<strong>de</strong>m er sich für einen Lebenswan<strong>de</strong>l, für die<br />
„entgegengesetzte Richtung“ entschlossen hat, eine Lehrstelle bei <strong>de</strong>m<br />
Lebensmittelwarenhändler Podlaha gefun<strong>de</strong>n hat. Wenn in <strong>de</strong>m ersten Band das<br />
Internat, die Schuhkammer in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund stan<strong>de</strong>n, so ist es nun <strong>de</strong>r Keller,<br />
wobei von Band zu Band eine „Verengung <strong>de</strong>s Raumes, eine Isolation in <strong>de</strong>n<br />
allerengsten Kammern“ (Schmidt-Dengler: 1995, 230) bemerkbar wird.<br />
Was die Merkmale dieses Raumes, <strong>de</strong>r Scherzhauserfeldsiedlung anbelangt, wird<br />
wie<strong>de</strong>rholt darauf hingewiesen, daß er in <strong>de</strong>r „entgegengesetzten Richtung“, am<br />
Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Stadt situiert ist, „in <strong>de</strong>m absoluten Schreckensviertel“ (Bernhard:1998,<br />
7). Bevölkert wird diese Welt von Säufern, Gescheiterten, Kriminellen und vom<br />
Krieg Zerstörter, von Außenseiterexistenzen, die ein verkümmertes Leben führen<br />
und sinnlos ihr Dasein fristen. Der Raum wird explizite negativ konnotiert und als<br />
Hölle bewertet. Die Kritik <strong>de</strong>s Autors richtet sich gegen die Regierung, die<br />
Stadtmächtigen, wenn er wie folgt sagt:<br />
Die Stadt hat genau in <strong>de</strong>m Abstand von ihr, <strong>de</strong>r ihr notwendig erschien, eine billige<br />
und menschentöten<strong>de</strong> Siedlung in diese Wiesen hineingebaut, eine Siedlung für<br />
ihre Ausgestoßenen, für ihre Ärmsten und Verwahrlosesten und Verkommensten,<br />
für ihren Menschenausschuß. (Bernhard: 1998, 26)<br />
Zwischen <strong>de</strong>n monotonen Bauten dieses Viertels, <strong>de</strong>ssen Inneneinrichtungen auch<br />
unter die Lupe genommen wer<strong>de</strong>n, mußte man einfach „verkommen und<br />
absterben und zugrun<strong>de</strong>gehen“ (Bernhard: 1998, 10), es ist <strong>de</strong>mzufolge ein<br />
64
Raum, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Krankheit, <strong>de</strong>r Verwesung geprägt ist. Die Schil<strong>de</strong>rungen dieser<br />
Topographie <strong>de</strong>r Armut und Auswegslosigkeit übertreffen einan<strong>de</strong>r, sie erhalten<br />
hyperbolische Ausmaße, wenn <strong>de</strong>r Protagonist notiert, daß das Viertel mit einem<br />
sibirischen Straflager vergleichbar wäre. (Bernhard: 1998, 29) Häufig ist im<br />
Zusammenhang mit diesem Raum die Verwendung <strong>de</strong>s Superlativs bemerkbar. So<br />
zum Beispiel sagt die Dame im Arbeitsamt über die Scherzhauserfeldsiedlung,<br />
diese sei „das Schlechtestmögliche, Verachtenswerte, Fürchterlichste, ja<br />
Entsetzlichste.“ (Bernhard: 1998, 19) Schmidt-Dengler meint dazu, daß sobald „<strong>de</strong>r<br />
Zustand einer Person, die Lage eines Ortes, die klimatische Bedingung einer<br />
Gegend usw. ange<strong>de</strong>utet (ist), auch schon <strong>de</strong>r Prozeß <strong>de</strong>r Verabsolutierung<br />
einsetzt, in<strong>de</strong>m das Gemeinte mit einem Superlativ o<strong>de</strong>r einem Ausdruck <strong>de</strong>r<br />
Totalität o<strong>de</strong>r Anschaulichkeit bedacht wird. (Schmidt-Dengler:1990, 36) Die<br />
Technik <strong>de</strong>r Übertreibung ist ein wesentliches Merkmal <strong>de</strong>s Autors. Obermayer<br />
spricht sogar von zu Zeichen stilisierten Schauplätzen, die durch einen Superlativ<br />
eine kontextuelle Be<strong>de</strong>utung erhalten. (Obermayer: 1981, 217)<br />
Was <strong>de</strong>n inneren Raum anbetrifft, <strong>de</strong>r sich auf <strong>de</strong>n Zustand, auf das Befin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Ich auswirkt, ist Obermayer zuzustimmen, wenn er schreibt, daß „<strong>de</strong>r Schauplatz in<br />
fast allen bernhardschen Prosawerken nicht als ein Ort zu begreifen ist, wo<br />
Geschehen statthat, <strong>de</strong>r etwa von <strong>de</strong>m tatsächlich existieren<strong>de</strong>n Ort gleichen<br />
Namens Atmosphäre borgt“, „vielmehr han<strong>de</strong>lt es sich immer um einen Un-Ort,<br />
gleichsam um eine Umkehrung <strong>de</strong>s Topos vom locus amoenis in einen locus<br />
terribilis.“ (Obermayer: 1981, 215)<br />
Je<strong>de</strong>r Raum wird bei Bernhard dualistisch ge<strong>de</strong>utet, er zeigt sich von einer<br />
retten<strong>de</strong>n und einer verhängnisvollen Seite. Einerseits gibt es <strong>de</strong>n Raum, so Ingen,<br />
als „beglücken<strong>de</strong>s arbeitsnotwendiges zeit-räumliches Refugium <strong>de</strong>s <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n<br />
Geistes“, an<strong>de</strong>rerseits erscheint <strong>de</strong>r Raum als Einsamkeitshölle „für <strong>de</strong>n zu lange<br />
isolierten Geist.“ (Ingen: 1989, 1147) So wird <strong>de</strong>r „anfänglich bergen<strong>de</strong>, retten<strong>de</strong><br />
Ort zu einem Ort <strong>de</strong>r körperlichen und geistigen Zerstörung.“ (Ebd: 1148)<br />
Versuchen wir die therapeutische Seite <strong>de</strong>s Kellers herauszuarbeiten, so läßt sich<br />
sagen, daß <strong>de</strong>r Ausweg aus intellektueller und emotionaler Isolation hinein in eine<br />
temporäre gesellschaftliche Nützlichkeit führt. Obwohl die Anstellung bei Herrn<br />
Podlaha eine von sozialer Schwäche gekennzeichnete Position, auf <strong>de</strong>m untersten<br />
Niveau <strong>de</strong>r sozialen Hierarchie mit sich bringt, entspricht sie <strong>de</strong>m Wunsch <strong>de</strong>s<br />
Protagonisten, <strong>de</strong>r „Lernfabrik und Lernmaschine“ (Bernhard: 1998, 10), <strong>de</strong>n<br />
Unterrichtszwängen zu entkommen und sich zu retten:<br />
Der Keller war meine einzige Rettung gewesen, die Vorhölle meine einzige Zuflucht<br />
(Bernhard: 1998, 50),<br />
heißt es im Text. Der Schulraum, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Ursache beleuchtet wur<strong>de</strong>, bil<strong>de</strong>t eine<br />
Station auf <strong>de</strong>m Bildungswege <strong>de</strong>s Protagonisten. Das Lei<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>n Zwängen<br />
<strong>de</strong>r Schule, die Anonymität in <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n, die<br />
Un<strong>zur</strong>echnungsfähigkeit <strong>de</strong>s nationalsozialistischen Lehrers Grünkranz und <strong>de</strong>s<br />
späteren Katholiken Franz wer<strong>de</strong>n akut von <strong>de</strong>m Ich empfun<strong>de</strong>n. Es distanziert<br />
sich von <strong>de</strong>r Schule und sucht Auswege in <strong>de</strong>r Kunst. Daß sein Verhalten kein<br />
Einzelfall ist, daß die Schule auch von an<strong>de</strong>ren als repressiv empfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>,<br />
beweist die hohe Selbstmordrate unter <strong>de</strong>n Internatslehrlingen.<br />
Die Phase im Keller bewertet <strong>de</strong>r Protagonist als „Läuterungsphase“. Er schil<strong>de</strong>rt<br />
65
nicht ohne Stolz seine Fähigkeit, mit <strong>de</strong>n einfachen Menschen umzugehen, ihre<br />
Sprache zu sprechen, sich Respekt zu verschaffen. Lesen wir laut Reinhard<br />
Tschapke die Räume als „Prüfungs- und Angststationen“ (Tschapke: 1984, 90-<br />
111), die in Verbindung <strong>zur</strong> Initiation <strong>de</strong>r Hauptgestalt stehen, da sie eine<br />
Trennung vom Herkömmlichen und eine Konfrontation mit <strong>de</strong>m Neuen bewirken –<br />
sie tragen <strong>zur</strong> Initiation durch die Schule, <strong>de</strong>n Krieg und die Krankheit bei – so<br />
kann <strong>de</strong>r Aufenthalt in <strong>de</strong>m Keller als eine Initiation in das Elend, in die mühsame<br />
körperliche Anstrengung gelesen wer<strong>de</strong>n. Der Protagonist bewertet das<br />
Einweihungsszenarium als ein positives, wenn es in <strong>de</strong>m Text heißt, er „existierte<br />
in <strong>de</strong>r Gegenwart“ (Bernhard: 1998, 11) o<strong>de</strong>r an einer an<strong>de</strong>ren Stelle „auf einmal<br />
existierte ich intensiv, naturgemäß, nützlich.“ (Bernhard: 1998, 12) Am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Zivilisation, in <strong>de</strong>m Abgrund ent<strong>de</strong>ckt das Ich das Leben, die Faszination:<br />
Der Keller be<strong>de</strong>utete für mich Faszination, Zugehörigkeit, Inständigkeit, ich fühlte<br />
mich diesem Keller und diesen Menschen zugehörig, während ich mich <strong>de</strong>r Welt<br />
<strong>de</strong>r Schule niemals zugehörig gefühlt hatte. (Bernhard: 1998, 18)<br />
Wenn laut Ansicht <strong>de</strong>s Großvaters ein Krankenhaus als existenznotwendiger<br />
Denkbezirk für <strong>de</strong>n Künstler ist, kann auch <strong>de</strong>r Keller als „Denkbezirk“ verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n, da in ihm <strong>de</strong>r Protagonist ein Refugium für sein Denken fin<strong>de</strong>t. Somit<br />
erwächst <strong>de</strong>r anfänglich „locus terribilis“ zu einem „locus meditationis.“<br />
Der Protagonist sammelt seine Erfahrungen in <strong>de</strong>n jeweiligen Räumen. Je<br />
wichtiger die Räume für ihn sind, <strong>de</strong>sto stärker ist die Bewußtwerdung <strong>de</strong>s<br />
Protagonisten. Der Keller als notwendiges Aufenthaltsstadium kann <strong>de</strong>swegen<br />
auch als Bewußtseinsstufe verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Durch die Erfahrung <strong>de</strong>r Arbeit<br />
bekommt <strong>de</strong>r Protagonist ein „höheres Bewußtsein.“<br />
Wenn sich die Kunst für <strong>de</strong>n Protagonisten als Rettung erwiesen hatte und schon<br />
in <strong>de</strong>m „Isolationsraum“ <strong>de</strong>r Schuhkammer als Alternative zum Selbstmord<br />
betrieben wur<strong>de</strong>, so wird sich auch <strong>de</strong>r Keller für geeignet erweisen, um ein<br />
„Musikstudium“ zu gewährleisten. Obwohl dieser Raum die Attribute <strong>de</strong>s Dunklen,<br />
<strong>de</strong>s Finsteren trägt, ent<strong>de</strong>ckt <strong>de</strong>r Kaufmannslehrling hier seine Stimme und singt<br />
„in <strong>de</strong>r beinahe völligen Finsternis <strong>de</strong>s Magazins o<strong>de</strong>r im Nebenzimmer o<strong>de</strong>r auf<br />
<strong>de</strong>m Mönchsberg.“ (Bernhard: 1998, 95) In <strong>de</strong>m gescheiterten Musiker Podlaha,<br />
<strong>de</strong>r wegen <strong>de</strong>s Krieges sein Studium unterbrechen mußte und dann als<br />
Lebensmittelhändler in einem als faszinierend empfun<strong>de</strong>nen Viertel gearbeitet hat,<br />
sieht das Ich einen Ebenbürtigen, zu <strong>de</strong>m er sich hingezogen fühlt. Offiziellen<br />
Gesang- und Musikunterricht erhält <strong>de</strong>r Protagonist in einem an<strong>de</strong>ren Raum, in <strong>de</strong>r<br />
Pfeifergasse, die als Gegenwelt zum Keller angesehen wird:<br />
Es war alles im Wi<strong>de</strong>rspruch, (Bernhard: 1998, 103),<br />
schreibt Bernhard. Wie oben betont, ist <strong>de</strong>r Raum bei Bernhard ambivalent, <strong>de</strong>r<br />
retten<strong>de</strong> Ort wird zu einem Ort <strong>de</strong>r körperlichen Zerstörung. Der Aufenthalt in <strong>de</strong>m<br />
Keller wirkt sich verheerend auf die Gesundheit <strong>de</strong>s Protagonisten aus, zumal<br />
dieser sich beim Abla<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Kartoffeln eine Rippenfellentzündung heimholt, die<br />
zu seiner Einlieferung ins Sanatorium und in die Lungenheilstätte führen wird.<br />
Negativ wird <strong>de</strong>r Keller auch im Gegensatz <strong>zur</strong> Schule konnotiert. Der Autor betont<br />
mehrmals, daß sich die Lehre im Elendsviertel nicht nur in eine „an<strong>de</strong>re Richtung“<br />
als in seiner bisherigen Lebensweise, son<strong>de</strong>rn in eine „entgegengesetzte<br />
Richtung“ situiert habe. In diesem Sinne ist auch ein Text<strong>de</strong>tail wichtig: Es heißt,<br />
66
daß <strong>de</strong>r Protagonist die Schultasche „in die Ecke“ geschleu<strong>de</strong>rt habe, daß er sich<br />
bewußt vom Studium abgewandt habe.<br />
In <strong>de</strong>r Raumphilosophie Bachelards, die sich auf Beobachtungen Jungs stützt,<br />
steht <strong>de</strong>r Keller symbolisch als ein Ort <strong>de</strong>r Kontaktaufnahme mit <strong>de</strong>m Irrationalen<br />
im Gegensatz zum Rationalen <strong>de</strong>r Schule und <strong>de</strong>s Dachbo<strong>de</strong>ns: „Fast<br />
kommentarlos läßt sich die Rationalität <strong>de</strong>s Daches <strong>de</strong>r Irrationalität <strong>de</strong>s Kellers<br />
entgegensetzen. Der Keller ist das dunkle Wesen <strong>de</strong>s Hauses, das Wesen, das an<br />
<strong>de</strong>n unterirdischen Mächten teilhat.“ (Bachelard: 1960, 50) Der Abstieg in <strong>de</strong>n<br />
Keller <strong>de</strong>r Elendssiedlung entspricht einer Konfrontation mit <strong>de</strong>r von Familie,<br />
Schule, Kunst über<strong>de</strong>ckten drohen<strong>de</strong>n Schattenseite <strong>de</strong>r Gesellschaft. Erst durch<br />
die direkte Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Krankheit, Laster und Elend, <strong>de</strong>m Wahnsinn<br />
unter <strong>de</strong>r Decke <strong>de</strong>r Normalität ist für <strong>de</strong>n Protagonisten ein Neubeginn möglich. In<br />
diesem Sinne ist <strong>de</strong>r Aufenthalt <strong>de</strong>s Lehrlings in <strong>de</strong>r Scherzhauserfeldsiedlung ein<br />
notwendiges Durchgangsstadium zum Erwachsensein, <strong>zur</strong> Initiation, die die<br />
Selbstmordi<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Jugendlichen been<strong>de</strong>n.<br />
Ein an<strong>de</strong>rer Raum, <strong>de</strong>r für die Entwicklung <strong>de</strong>s Protagonisten von Wichtigkeit ist,<br />
ist <strong>de</strong>r Familienraum, das Daheim, das sich als eine Fortsetzung <strong>de</strong>s<br />
Schreckensaufenthalts in <strong>de</strong>r Scherzhauserfeldsiedlung erweisen wird. Es gibt<br />
zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Räumen keine Kontraste, bei<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n vom Autor<br />
bewußt auf <strong>de</strong>rselben Skala situiert. Der Blickpunkt pen<strong>de</strong>lt dabei zwischen <strong>de</strong>m<br />
Keller und <strong>de</strong>n damit im Zusammenhang treten<strong>de</strong>n Reflexionen und <strong>de</strong>m<br />
Familienraum, <strong>de</strong>r von Armut, Hunger, <strong>de</strong>m Beieinan<strong>de</strong>rhausen auf knappstem<br />
Raume gekennzeichnet ist. Die Position <strong>de</strong>s unehelichen Kin<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Familie,<br />
das vom Stiefvater nie adoptiert wur<strong>de</strong>, ist durch die Lage seines Bettes ein<strong>de</strong>utig<br />
charakterisiert: „im Vorzimmer, gleich neben <strong>de</strong>r Eingangstür.“ (Bernhard: 1998,<br />
61) Als scheinbare Rettung aus <strong>de</strong>r Bedürftigkeit dieses Zustands erweist sich die<br />
Scherzhauserfeldsiedlung, <strong>de</strong>r Arbeitsplatz:<br />
Mein Zuhause war meine Hölle gewesen, und an je<strong>de</strong>m Tag war ich durch meinen<br />
Weg in die Scherzhauserfeldsiedlung, die ich jetzt wie<strong>de</strong>r als Vorhölle bezeichne,<br />
gerettet gewesen. (Bernhard: 1998, 61)<br />
Das Haus ist für das Ich kein trostspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Raum im Sinne Bachelards, es<br />
verbin<strong>de</strong>t damit kein Gefühl <strong>de</strong>r Geborgenheit. Bachelard <strong>de</strong>finierte <strong>de</strong>n Wohnort<br />
als Ort <strong>de</strong>r Ruhe:<br />
„Denn das Haus ist unser Winkel <strong>de</strong>r Welt, unser erstes All. Erinnerungen an<br />
Geborgenheit kommen mit <strong>de</strong>m Traum <strong>de</strong>s Hauses“ (Bachelard: 1960,39), wobei<br />
diese Dominante bei Bernhard abhan<strong>de</strong>n kommt.<br />
Aufmerksamkeit schenkt <strong>de</strong>r Lehrling <strong>de</strong>r Behausung <strong>de</strong>s Großvaters, jenem<br />
kleinen, karg eingerichteten Zimmer, das für <strong>de</strong>n Großvater als Arbeitsstätte<br />
fungierte. Hier hat er sich eingeschlossen, um in <strong>de</strong>r völligen Isolation sein<br />
Lebenswerk zu been<strong>de</strong>n. Leben und Tod stehen in diesem Raum nebeneinan<strong>de</strong>r:<br />
zum einen das Leben personifiziert durch <strong>de</strong>n Großvater, <strong>de</strong>r an ein Überleben<br />
durch die Schrift, durch das geschriebene Wort sinnt und zum an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r Tod,<br />
<strong>de</strong>r durch die gela<strong>de</strong>ne Pistole auf <strong>de</strong>m Arbeitstisch symbolisiert wird. Deutlich ist<br />
auch dieser Ort, wie alle Bernhardschen Schauplätze, ambivalent aufzufassen. Für<br />
<strong>de</strong>n Protagonisten, <strong>de</strong>r sich zeitlebens zum Großvater hingezogen gefühlt hatte,<br />
zumal ihm dieser die fehlen<strong>de</strong> Vaterinstanz ersetzt hatte, ist die Kammer kein<br />
67
„locus terribilis“ im Sinne Obermayers, son<strong>de</strong>rn eher ein arbeitsnotwendiges<br />
Refugium, ein Isolationsraum <strong>de</strong>s Denkens. Zwischen <strong>de</strong>m Denken und <strong>de</strong>m<br />
Raum besteht eine innige Verbun<strong>de</strong>nheit: in <strong>de</strong>r Schuhkammer o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m<br />
Sterbezimmer <strong>de</strong>s Krankenhauses kann sich das Ich mit sich selbst<br />
auseinan<strong>de</strong>rsetzen und dadurch zu sich selbst fin<strong>de</strong>n.<br />
Die Negativbewertung <strong>de</strong>r Räume entspricht einer Unwirtlichkeit <strong>de</strong>r Natur bei<br />
Bernhard, die nicht als heile Welt dargestellt wird. Beziehen wir uns auf <strong>de</strong>n<br />
Mönchsberg und auf die Symbolik <strong>de</strong>s Weges im Keller, so können wir die Natur<br />
als Raum bewerten. Im Unterschied zu <strong>de</strong>n Romanen Frost, Verstörung, in <strong>de</strong>nen<br />
von einer unheilen Landschaft, von einer <strong>de</strong>m Protagonisten feindlich gesinnten<br />
Natur die Re<strong>de</strong> ist, trägt im Keller die Landschaft nicht die Attribute <strong>de</strong>s<br />
Untergangs, sie wird nicht als bedrohlich empfun<strong>de</strong>n.<br />
Der Erzähler macht am Wochenen<strong>de</strong> Spaziergänge mit <strong>de</strong>m Großvater auf <strong>de</strong>n<br />
Mönchsberg. Er rettet sich sozusagen aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s elen<strong>de</strong>n Zuhause in die<br />
Natur. Auf <strong>de</strong>m Mönchsberg widmet er sich <strong>de</strong>r Kunst, schreibt Gedichte und<br />
zeichnet (Bernhard: 1998, 70), er entkommt sozusagen <strong>de</strong>m bedrücken<strong>de</strong>n Alltag.<br />
Während <strong>de</strong>n Proben zu Glucks Orpheus und Mozarts Zauberflöte besteigt er <strong>de</strong>n<br />
Mönchsberg:<br />
An <strong>de</strong>n Aben<strong>de</strong>n stieg ich auf <strong>de</strong>n Mönchsberg hinauf und setzte mich unter eine<br />
Baumkrone und dachte an nichts und beobachtete und war glücklich. (Bernhard:<br />
1998, 106)<br />
Die Nähe <strong>de</strong>s Gipfels weist auf die Geistesentwicklung, auf die von <strong>de</strong>r Kunst<br />
bewirkten Sensibilisierung <strong>de</strong>s Protagonisten. Die wenigen Glücksmomente<br />
entspechen jenen <strong>de</strong>r Kunstausübung und wer<strong>de</strong>n auf Textebene durch das<br />
Bergbesteigen, durch das In-die-Höhe-Blicken veranschaulicht. Daß <strong>de</strong>r<br />
Mönchsberg als Aufstieg, als Aufwärtsentwicklung aufzufassen ist, belegt auch das<br />
folgen<strong>de</strong> Zitat, in <strong>de</strong>m es heißt, daß <strong>de</strong>r Weg vom elterlichen Zuhause in Salzburg<br />
zum Keller „ein angenehmer, leicht bergab führen<strong>de</strong>r Weg gewesen ist“ (Bernhard:<br />
1998, 70), zumal er in <strong>de</strong>n Abgrund, zu <strong>de</strong>n sozial Deklassierten führt.<br />
Häufig sind im Keller Wegbeschreibungen anzutreffen. Es han<strong>de</strong>lt sich um Wege,<br />
die eine Verbindung zwischen zwei manchmal gegensätzlichen Welten darstellen<br />
und oft schwer zugänglich sind. Die schwierigen Zugangswege stehen für eine<br />
Darstellung <strong>de</strong>r Hin<strong>de</strong>rnisse zu einem bestimmten Ziel. Der Weg in die<br />
„entgegengesetzte Richtung“ ist ein an<strong>de</strong>rer als <strong>de</strong>r ins Internat:<br />
Nicht auf <strong>de</strong>m Weg durch die wil<strong>de</strong>n Gärten und an <strong>de</strong>n kunstvollen Villen vorbei in<br />
die Hohe Schule <strong>de</strong>s Bürgers- und <strong>de</strong>s Kleinbürgers, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n- an<br />
<strong>de</strong>r Taubstummenanstalt vorbei und über die Eisenbahndämme und durch die<br />
Schrebergärten und an <strong>de</strong>n Sportplatzplanken in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Lehener<br />
Irrenhauses vorbei in die Hohe Schule <strong>de</strong>r Außenseiter und Armen, in die Hohe<br />
Schule <strong>de</strong>r Verrückten und <strong>de</strong>r für verrückt Erklärten in <strong>de</strong>r<br />
Scherzhauserfeldsiedlung, in <strong>de</strong>m absoluten Schreckensviertel <strong>de</strong>r Stadt.<br />
(Bernhard: 1998, 7)<br />
Der Weg in das Elendsviertel ist für <strong>de</strong>n Protagonisten eine Initiation, es ist ein<br />
Weg, <strong>de</strong>r zu ihm selbst führt. Horst Daemmrich unterstreicht, daß <strong>de</strong>r Weg im<br />
Zusammenhang mit „Bewährungs- und Entscheidungssituationen“ gelesen wer<strong>de</strong>n<br />
soll. (Daemmrich: 1987, 40)<br />
So wie die Räume in konkretem und symbolischem Sinn ihre Be<strong>de</strong>utung haben, so<br />
68
läßt sich das auch anhand <strong>de</strong>r Wegbeschreibungen beweisen. Die Beschreibung<br />
<strong>de</strong>s Weges ist mit einer bestimmten Sinneswahrnehmung, <strong>de</strong>m Geruchssinn<br />
verbun<strong>de</strong>n. Der Weg zum Keller wird als ein Weg „in guter, freiher würziger Luft“<br />
(Bernhard: 1998, 70) beschrieben. Die Strecke führt „durch eine Unzahl von<br />
Naturgerüchen, die es auf diesem Wege heute gar nicht mehr gibt, <strong>de</strong>n<br />
Grasgeruch und <strong>de</strong>n Erdgeruch und <strong>de</strong>n Tümpelgeruch da, wo heute nur mehr<br />
noch <strong>de</strong>r menschenverblö<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gestank <strong>de</strong>r Auspuffgase ist.“ (Bernhard: 1998,<br />
28) Der Geruch am Ziel <strong>de</strong>r Strecke ist ein an<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r Geruch, <strong>de</strong>rer „die in <strong>de</strong>r<br />
Scherzhauserfeldsiedlung bei lebendigem Leibe verfaulten.“<br />
In letzter Linie bewerten wir auch die Sprache als Raum, da sie, in ähnlicher Weise<br />
wie auch die Räume, als Kerker empfun<strong>de</strong>n wird. Schmidt-Dengler sieht die<br />
Sprache bei Bernhard als einen Kerker, <strong>de</strong>nn sie verbin<strong>de</strong>t die Menschen nicht,<br />
son<strong>de</strong>rn trennt diese. (Schmidt-Dengler: 1980, 70) Bernhard thematisiere die<br />
Unzulänglichkeit <strong>de</strong>r Sprache als Kommunikationsmittel, die schon im Chandos-<br />
Brief ihre Ausprägung gefun<strong>de</strong>n hatte. „Es ist alles Lüge, was gesagt wird, das ist<br />
die Wahrheit, geehrter Herr, die Phrase ist unser lebenslänglicher Kerker“,<br />
exemplifiziert Schmidt-Dengler mit einer Stelle aus Watten. In <strong>de</strong>m Keller entspricht<br />
dieser I<strong>de</strong>e: „Ich habe mich schon lange nicht mehr nach <strong>de</strong>m Sinn <strong>de</strong>r Wörter<br />
gefragt, die alles immer nur noch unverständlicher machen.“ (Bernhard: 1998, 19)<br />
Daß sich die Sprache verselbständigt, neu erlernt wer<strong>de</strong>n muß, bezeugt auch das<br />
Zitat, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Protagonist die „neue“ Sprache <strong>de</strong>s Elendsmilieus erlernen muß.<br />
Er schafft sich in <strong>de</strong>r Sprache einen eigenen Raum:<br />
Ich spreche die Sprache, die nur ich allein verstehe, sonst niemand, wie je<strong>de</strong>r nur<br />
seine eigene Sprache versteht, und, die glauben, sie verstün<strong>de</strong>n, sind Dummköpfe<br />
o<strong>de</strong>r Scharlatane. (Bernhard: 1998,110)<br />
Lesen wir Bernhards fünfbändigen Zyklus als Autobiographie, so hat er sich „aus<br />
<strong>de</strong>r Trostlosigkeit <strong>de</strong>r Jugend in die Sprache gerettet“, die ihm zum<br />
„Rettungsanker“ gewor<strong>de</strong>n ist. (Paulsen: 1991,184)<br />
Die erzählten Räume sind für <strong>de</strong>n Protagonisten von Wichtigkeit, zumal dieser<br />
seine Erfahrungen in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Räumen sammelt. Die Konfrontation mit<br />
<strong>de</strong>m Elend zu Hause und in <strong>de</strong>r Schule bewirkt, daß er sich für die Kunst<br />
entschei<strong>de</strong>t.<br />
Das Raumkonzept ist in <strong>de</strong>n Texten Thomas Bernhards durchaus negativ. Eine<br />
mögliche Erklärung für die düstere Sichtweise wäre sein individuelles Schicksal,<br />
die zerrissene Familie, seine uneheliche Geburt, die ihm keine günstigen<br />
Voraussetzungen für eine optimistische Weltansicht geboten haben.<br />
Literatur<br />
Kahrmann/Reiß/Schluchter (1986): Erzähltextanalyse. Eine Einführung, München:<br />
Athenäum.<br />
Bernhard, Thomas (1991): Die Ursache/Eine An<strong>de</strong>utung, München: dtv.<br />
Bernhard, Thomas (1998): Der Keller, Salzburg: Resi<strong>de</strong>nz.<br />
Daemmrich, Horst u. Ingrid (1987): Themen und Motive in <strong>de</strong>r Literatur. Ein<br />
Handbuch, Tübingen: Francke.<br />
Lämmert, Eberhard (1995): Bauformen <strong>de</strong>s Erzählens, Stuttgart: Metzler.<br />
69
Nubert, Roxana (1998): Krankheit und Raumerfahrung im österreichischen<br />
Gegenwartsroman. In: Raum- und Zeitbeziehungen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen<br />
Literatur, Temeswar: Mirton, S. 151-170.<br />
Obermayer, August: Der locus terribilis in Thomas Bernhards Prosa. In: Jürgensen,<br />
Manfred<br />
(Hrsg ) (1981): Bernhard. Annäherungen, Bern und München: Francke, S. 215-<br />
229.<br />
Paulsen, Wolfgang (Hrsg.) (1991): Das Ich im Spiegel <strong>de</strong>r Sprache.<br />
Autobiographisches Schreiben in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur <strong>de</strong>s 20 Jahrhun<strong>de</strong>rts,<br />
Tübingen: Niemeyer.<br />
Schmidt-Dengler, Wen<strong>de</strong>lin: Der Tod als Naturwissenschaft neben <strong>de</strong>m Leben,<br />
leben. In: Über Thomas Bernhard, Frankfurt: Suhrkamp, S 35-40.<br />
Schmidt-Dengler, Wen<strong>de</strong>lin (1998): Auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sicherheit und <strong>de</strong>r<br />
Gleichgültigkeit. Zu Thomas Bernhards Autobiographie Der Keller. In: Amann,<br />
Klaus (Hrsg) (1998): Autobiographien in <strong>de</strong>r österreichischen Literatur von Franz<br />
Grillparzer bis zu Thomas Bernhard, Innsbruck/Wien: Studien Verlag, S. 217-239.<br />
Van Ingen, Ferdinand: Der einsame Ort in Thomas Bernhards Prosawerk. In:<br />
Zeman, Herbert (Hrsg.) (1989): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von <strong>de</strong>r<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> bis <strong>zur</strong> Gegenwart, Graz: Aka<strong>de</strong>mische Druck- und<br />
Verlagsanstalt, S. 1141-1163.<br />
Teerhuis, Maria (1987): Die Zeit- und Raumgestaltung in <strong>de</strong>n fünf<br />
autobiograpischen Schriften, Vrije Universiteit Amsterdam.<br />
70
ELEONORA PASCU<br />
TEMESWAR<br />
Paradigmenwechsel in Michael Köhlmeiers Unfisch<br />
Michael Köhlmeier gehört im Moment zu <strong>de</strong>n erfolgreichsten österreichischen<br />
Gegenwartsautoren, <strong>de</strong>ssen Prosawerke von <strong>de</strong>r Antike bis über die Schwelle <strong>de</strong>s<br />
anklingen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rts und Jahrtausends alle Ebenen <strong>de</strong>s menschlichen<br />
Daseins recherchieren, und die mit viel Humor und leichter Ironie gefärbt, mit<br />
tiefem Ernst und warnen<strong>de</strong>m Ton geschrieben sind.<br />
Michael Köhlmeier, bekannt als "formidabler" Erzähler, erweist sich mit seinem<br />
Prosawerk Der Unfisch (UF), das er als Erzählung betrachtet, erneut als großer<br />
zeitgenössischer Narrator, <strong>de</strong>ssen Wortmächtigkeit und Fabulierlust seinem Text<br />
einen Sog verleiht, <strong>de</strong>m man sich nicht so leicht entziehen kann.<br />
Eine biographische Klammer<br />
Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Hard am Bo<strong>de</strong>nsee, studierte Germanistik<br />
und Politikwissenschaften in Marburg/Lahn sowie Philosophie und Mathematik in<br />
Gießen. Er ist unter an<strong>de</strong>rem Träger <strong>de</strong>s Rauriser Literaturpreises, <strong>de</strong>s J.-P.-<br />
Hebel-Preises, <strong>de</strong>s Manés-Sperber-Preises und lebt als freier Schriftsteller in<br />
Hohenems in Vorarlberg. Mit seinen Erzählwerken, darunter Telemach (1995), Das<br />
große Sagenbuch <strong>de</strong>s klassischen Altertums (1996), Calypso (1997), Dein Zimmer<br />
für mich allein (1997), Calling (1998), Der traurige Blick in die Weite (1999) ist er im<br />
Moment <strong>de</strong>r meist begehrte lesen<strong>de</strong> Autor, <strong>de</strong>r seine Texte mit beson<strong>de</strong>rem<br />
Einfühlungsvermögen inszeniert. Die märchenhafte Erzählung Der Unfisch ist<br />
eigentlich als Drehbuchtext für <strong>de</strong>n gleichnamigen Film von Robert Dornhelm<br />
gedacht gewesen, letztendlich auch als selbständiges Erzählwerk im Deuticke<br />
Verlag, Wien-München, 1997, herausgegeben.<br />
Robert Dornhelm, 1947 in Temeswar geboren, emigrierte 1960 nach Wien,<br />
besuchte die Filmaka<strong>de</strong>mie in Wien, drehte über 100 Dokumentarfilme für <strong>de</strong>n<br />
ORF, wur<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Film Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Theaterstraße (1976) mit Grace Kelly für <strong>de</strong>n<br />
Oscar nominiert, verfilmte das Leben von Kyra Nijinski – She Dances Alone<br />
(1979), chokierte die westliche Welt mit <strong>de</strong>m Semidokumentar, <strong>de</strong>r unsere jüngste<br />
Geschichte erzählt – Requiem für Dominic (1990), <strong>de</strong>r mehrere Auszeichnungen<br />
erhielt – Gol<strong>de</strong>n Globe, Oscar Nominierung, RAI-Preis in Venedig (alle 1990). Der<br />
Unfisch, 1996/97 verfilmt, mit Maria Schra<strong>de</strong>r, Eva Herzig, Andrea Lust und Karl<br />
Merkatz in <strong>de</strong>n Titelrollen, wur<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>n Internationalen Filmfestspielen in Berlin<br />
und Montreal gezeigt und hatte eine sehr gute Presse in Amerika.<br />
71
Vorgeschichte<br />
Der Schriftsteller und Drehbuchautor Michael Köhlmeier erinnert sich:<br />
Zehn Jahre sitzen Robert Dornhelm, Harald Kloser und ich an diesem Projekt, und<br />
ich kann sagen, es gab keine Verlockung, von <strong>de</strong>r wir uns nicht hätten verführen<br />
lassen. [... ] Die Geschichte von <strong>de</strong>r Zauberin im Walfisch schien wie geschaffen.<br />
[...] Wir setzten einen Erzähler ein, <strong>de</strong>r nicht nur am Anfang und am Schluß re<strong>de</strong>t,<br />
wie sich das gehört, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r ein wirklicher Erzähler ist, einer <strong>de</strong>r seine<br />
Kundschaft an <strong>de</strong>r Hand nimmt. Wir ließen zu, daß sich die Handlung verwickelt.<br />
[...] In dieser Geschichte steht ein Wun<strong>de</strong>r im Mittelpunkt, und Wun<strong>de</strong>r sind nun<br />
einmal verwickelt, und wenn sie es nicht sind, dann sind es die Folgen. (Dornhelm:<br />
Materialien, ohne Seitenangaben)<br />
Der Regisseur Robert Dornhelm liefert folgen<strong>de</strong>s Statement:<br />
Der Unfisch war lange Zeit ein 'Traumprojekt' über das sich sehr gut plau<strong>de</strong>rn und<br />
phantasieren ließ. [...] Die Vorstellung, <strong>de</strong>n Stoff konkret umzusetzen, hat mich in<br />
Panik versetzt. Können literarische Phantasien filmisch transportiert wer<strong>de</strong>n, ohne<br />
völlig banal zu wirken? Ich wollte mich hüten, einen Special-Effect-Film zu drehen,<br />
weil die Darstellung von Wun<strong>de</strong>rn mehr Mut benötigt als ich imstan<strong>de</strong> bin zu bieten,<br />
komme ich doch aus einer vom Realismus beeinflußten Schule. [...] Ich beschloß<br />
keiner <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>r vor laufen<strong>de</strong>r Kamera zu zeigen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Schnitt und die<br />
Phantasien einzusetzen. (Dornhelm: Materialien, ohne Seitenangaben)<br />
Damit ergibt sich die doppelte Perspektive: Schriftsteller – Regisseur, bei<strong>de</strong><br />
Künstler im wahren Sinne <strong>de</strong>s Wortes und ihre Produkte: Text – Film, die<br />
<strong>de</strong>nselben Stoff zu bewältigen haben, aber mit ganz an<strong>de</strong>ren Mitteln operieren.<br />
Erzählweisen und Erzählmuster<br />
Das Spannungskonnex zwischen <strong>de</strong>m Muster <strong>de</strong>s bekannten Märchens<br />
(Volksmärchens) vom Wünschen, das in vielen Variationen aufzufin<strong>de</strong>n ist, und <strong>de</strong>r<br />
Wirklichkeit, atemporal betrachtet, richtet sich auf das Paradigma Schein und Sein,<br />
fiktive und reale Welt, in <strong>de</strong>r es weiterhin scheinbare Grenzen gibt. Die innovative<br />
Neuerung besteht aus Köhlmeiers Vorschlag, die Wirklichkeit aus <strong>de</strong>r Perspektive<br />
<strong>de</strong>r Märchenwelt zu <strong>de</strong>uten, in<strong>de</strong>m er das Paradigma <strong>de</strong>s Goldfisches mit <strong>de</strong>n drei<br />
Wünschen <strong>zur</strong> Wal/Unfisch-Story, in <strong>de</strong>r nur noch ein einziger Wunsch erfüllt wird,<br />
mutiert. Der Rückgriff auf das Märchen, auf <strong>de</strong>n Mythos ist in <strong>de</strong>n letzten<br />
Jahrzehnten eine produktive Erzähl- und Schreibweise gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nken wir nur<br />
an Peter Handkes Märchen Die Abwesenheit, Adolf Muschgs Roman Der rote<br />
Ritter die Romane <strong>de</strong>s Nobelpreisträgers Günter Grass – um nur einige<br />
be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Namen aus <strong>de</strong>r Literaturbranche zu nennen.<br />
Der auktoriale Erzähler betrachtet die reale Welt durch das Prisma <strong>de</strong>s Märchens –<br />
erzählt die mo<strong>de</strong>rne Zeitgeschichte am Beispiel einer mythisch-archaisch<br />
anmuten<strong>de</strong>n Dorfwelt mittels <strong>de</strong>r bekannten Wertmaßstäbe. Die rekonstruierte<br />
Welt bewegt sich zwischen traditionellen Mustern und sie erinnert <strong>de</strong>n Rezipienten<br />
immer wie<strong>de</strong>r an das "jetzt" mittels <strong>de</strong>r Zeichen, die ständig die technisierte,<br />
zivilisierte Welt <strong>de</strong>s "heute" signalisieren. Der literarische Fluchtraum, das Medium<br />
<strong>de</strong>r Phantasie erlauben <strong>de</strong>m Rezipienten, <strong>de</strong>n tiefen Sinn <strong>de</strong>s neugeschriebenen<br />
Märchens wahrzunehmen.<br />
72
Die Erzählansätze, <strong>de</strong>ren es mehrere gibt, blinken wie Signale, die <strong>de</strong>n Diskurs<br />
einerseits unterbrechen, nicht ohne Ironie, aber an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>s<br />
Fiktiven sprengen, um einen neuen vorzutäuschen. Der Erzähler verwen<strong>de</strong>t die<br />
traditionsgebun<strong>de</strong>ne Erzählweise <strong>de</strong>s Märchenerzählens, die auf Oralität baut und<br />
<strong>de</strong>n Zuhörer mittels Unterbrechungen, Kommentaren bzw. Neuansätzen zu einem<br />
dynamischen Zuhören zwingt. Schon <strong>de</strong>r erste Satz verunsichert <strong>de</strong>n Leser:<br />
"Wun<strong>de</strong>rbar, rätselhaft, vorweltlich." (UF, 5) Diese Signale weisen explizit auf die<br />
Märchenwelt hin, auf die mythischen Wurzeln <strong>de</strong>s Erzählten. Dabei konstruiert <strong>de</strong>r<br />
Schriftsteller seinen Diskurs auf <strong>de</strong>m Hintergrund eines romantisch anmuten<strong>de</strong>n<br />
Bil<strong>de</strong>s – Wasserfälle, Regenbogen, Nebel und schräg fallen<strong>de</strong>s Licht – es sollte,<br />
nach Dornhelms Aussage, die Atmosphäre eines Bil<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s Romantikers par<br />
excellance – Caspar David Friedrich – rekonstruieren. (Vgl. Dornhelm, 116) Dann<br />
fällt die Personifizierung <strong>de</strong>r Vögel auf, die ebenfalls am Start <strong>de</strong>r Erzählung, ihre<br />
Blicke auf zwei sich streiten<strong>de</strong> Menschen richten. Also Tiere beobachten das<br />
menschliche Verhalten, wie<strong>de</strong>rum eine Umkehrung <strong>de</strong>s Gewohnten wie viele<br />
an<strong>de</strong>re Überraschungseffekte und Techniken dieser Art, die <strong>de</strong>n Text strukturieren.<br />
Erzählansätze wie:<br />
An <strong>de</strong>m Tag, an <strong>de</strong>m unsere Geschichte beginnt […] (UF, 9)<br />
Beginnt hier nun die Geschichte? (UF, 11)<br />
Aber wartet ab, noch hat die Geschichte gar nicht richtig begonnen! (UF, 15)<br />
Hier beginnt nun das Märchen. Das Märchen von <strong>de</strong>r Gier. (UF, 68)<br />
<strong>de</strong>uten auf die spielerische Erzählweise, die die Fiktion in die Fiktion einbettet und<br />
die sich gleichzeitig nach <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r Dekonstruktion orientiert. Das<br />
funktioniert insbeson<strong>de</strong>re mittels <strong>de</strong>r Hinterfragung bzw. Ironisierung <strong>de</strong>r erzählten<br />
Fakten. Beispielsweise:<br />
o<strong>de</strong>r<br />
Alle waren da. Alle? (UF, 12)<br />
Das klang so schüchtern, so hilflos, daß wir ihn beinahe mögen. Aber nur beinahe.<br />
(UF, 18)<br />
Letztendlich wird auch das Medium Film angesprochen, das sich für die<br />
Darstellung <strong>de</strong>r märchenhaften Situation am besten eignet:<br />
Es ist eine Geschichte fürs Kino. (UF, 94)<br />
Auffallend ist auch die Tatsache, daß eine kollektive Erzählperspektive mehrere<br />
Male erscheint, die zugleich einen impulsionieren<strong>de</strong>n Ton im Weitererzählen<br />
aufweist:<br />
Erzählen wir! (UF,11).<br />
Der allwissen<strong>de</strong> Erzähler wirkt oft als gutgesinnter Kommentator <strong>de</strong>s gesamten<br />
Geschehens, <strong>de</strong>r alles in Frage stellt, ironisiert und auch hier und da manches<br />
vorwegnimmt. Damit gibt er auch eine Lesart vor, die das Märchen/die Erzählung<br />
als Zerrspiegel <strong>de</strong>r Wirklichkeit gelten läßt, um damit vor <strong>de</strong>r verzerrten Wirklichkeit<br />
zu warnen, die in uns und um uns herum herrscht. Ein daraus abgeleiteter<br />
Gedanke wür<strong>de</strong> aussagen: Wenn es noch nicht so weit ist, gäbe es noch eine<br />
73
Rettungsmöglichkeit, dies Malheur zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />
Der Erzähler <strong>de</strong>monstriert an diesem beispielhaften Märchen, in <strong>de</strong>m alltägliche<br />
Protagonisten auftauchen, welche Lebensmuster gültig wären. Die Botschaft heißt:<br />
<strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> Ursprünglichkeit, <strong>zur</strong> Einfachheit, <strong>zur</strong> Beschei<strong>de</strong>nheit, <strong>zur</strong><br />
Menschlichkeit. Eine Nostalgie nach Träumen und Liebe, Freundschaft und<br />
Mitmenschengefühl spricht aus <strong>de</strong>m Text wie auch aus <strong>de</strong>m Drehbuch und Film.<br />
Die Gemeinschaftsarbeit <strong>de</strong>r zwei Kunstmenschen, Köhlmeier und Dornhelm,<br />
intendiert das Urbild <strong>de</strong>r Menschlichkeit zu hinterfragen, ob es von <strong>de</strong>m zivilisierten<br />
bzw. überzivilisierten Menschen noch wahrgenommen wird. Die Wirklichkeit geht<br />
ins Märchenhafte über mit <strong>de</strong>m Ziel, eine Lehre zu erteilen und zu warnen. Die<br />
Frage ergibt sich, ob auch die Fiktion in die Wirklichkeit übergeht und ob das<br />
positive Muster funktionstüchtig sein kann? Was ist paradigmatisch, was ist neu an<br />
dieser Betrachtungsweise?<br />
Paradigmen <strong>de</strong>s menschlichen Denkens, Fühlens, Empfin<strong>de</strong>ns seit Adam und Eva<br />
bzw. seit <strong>de</strong>r Existenz aller Zivilisationen in <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte, die als<br />
Muster gelten, wie<strong>de</strong>rholen sich ad infinitum, wobei ein Teil sich <strong>de</strong>n Zeiten anpaßt<br />
und im En<strong>de</strong>ffekt nur noch <strong>de</strong>r Kern <strong>de</strong>r Urbil<strong>de</strong>r zu erkennen ist. Anthropologie<br />
und Mythenstudien untersuchen diese Aspekte und sind stets bemüht, die<br />
Verän<strong>de</strong>rungen zu erkennen bzw. die neuen Konnotationen zu untersuchen. Den<br />
Urkern <strong>de</strong>s Unfisch-Textes stellt das Wünschen dar, das im Zusammenspiel mit<br />
<strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>r eine komplizierte Wunsch-Wun<strong>de</strong>r-Geschichte <strong>de</strong>r Menschen<br />
poetisiert und unzählige Verhaltensmuster aufkommen läßt. Köhlmeiers Erzählung<br />
spricht diese menschlichen Verhaltensmuster an und zeigt sich zugleich an <strong>de</strong>n<br />
moralischen Facetten interessiert. Um die Allgemeingültigkeit hervorzuheben, läßt<br />
er die Handlung in einem idyllischen Raum spielen, ohne jedwelche Zeit- o<strong>de</strong>r<br />
Raumkomponente anzu<strong>de</strong>uten. Im Gegensatz zum zeitlos wirken<strong>de</strong>n Erzähltext<br />
wird das Filmgeschehen in <strong>de</strong>n 50er Jahren, in die Zeit <strong>de</strong>s Wirtschaftswun<strong>de</strong>rs,<br />
angesie<strong>de</strong>lt. (Vgl. Dornhelm, 124). Die einzigen, sowohl im Buch als auch im Film<br />
ange<strong>de</strong>uteten Raumebenen, sind Dorf und Stadt. Das Mikro-Universum <strong>de</strong>s Dorfes<br />
spielt eine zentrale Rolle in bei<strong>de</strong>n Kunstmedien, wobei das Wun<strong>de</strong>r, vertreten<br />
durch <strong>de</strong>n Unfisch und das sich in seinem Inneren abspielen<strong>de</strong> Wahr – wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Wun<strong>de</strong>r, ins Zentrum mutiert wird.<br />
Das Wun<strong>de</strong>r war zum Mittelpunkt <strong>de</strong>s Dorfes gewor<strong>de</strong>n. (UF, 69)<br />
stellt eine Aussage dar, die diese Tatsache feststellt, <strong>de</strong>r noch an<strong>de</strong>re folgen.<br />
Nun stand <strong>de</strong>r Wal, <strong>de</strong>r Unfisch, also in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Platzes. (UF, 71)<br />
Der Unfisch wird zum Paradigma <strong>de</strong>s "Glücks", das sich ebenfalls im Zentrum <strong>de</strong>s<br />
Dorfes installiert hat. Die Ortung <strong>de</strong>s Wal-Wun<strong>de</strong>rs (Wun<strong>de</strong>r-Wales) entspricht <strong>de</strong>n<br />
festgeschriebenen Strukturen, <strong>de</strong>nzufolge die Dorfmitte als zentrale Stelle <strong>de</strong>s<br />
Geschehens und <strong>de</strong>s Dorflebens betrachtet wird.<br />
Märchenerlebnisse wer<strong>de</strong>n ins Dorfleben hineinprojiziert – <strong>de</strong>r Übergang aus <strong>de</strong>r<br />
realen Welt in die unheimliche Welt <strong>de</strong>s Märchens bzw. auf die Ebene <strong>de</strong>r<br />
Phantasie läßt die "neu" gesehene Welt "absurd" erscheinen, ein <strong>zur</strong> Chiffre<br />
gewor<strong>de</strong>nes Wort, das bei<strong>de</strong> Welten charakterisiert. Der sich wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong> Satz:<br />
Das ist absurd. (UF, S.7)<br />
74
Der Satz "Es ist absurd" <strong>de</strong>utet in seiner leicht verän<strong>de</strong>rten Aussage auf zwei<br />
verschie<strong>de</strong>ne Ebenen, die Reales und Irreales darstellen. Es ist einerseits die Welt<br />
<strong>de</strong>r zwei Hauptprotagonisten Carl und Maria, an<strong>de</strong>rerseits das sich vor ihren<br />
Augen abspielen<strong>de</strong> unheimliche Spektakel mit <strong>de</strong>m durch die Berge "fliegen<strong>de</strong>n"<br />
Wal, <strong>de</strong>r das Märchenhafte <strong>de</strong>s Erzählten anklingen läßt. Realistisch gezeichnete<br />
Wun<strong>de</strong>rwelt – märchenhaft beschriebene Wirklichkeit wären die zwei Extremen,<br />
die <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rbaren Wunsch-Geschichte umfassen. Die<br />
Inszenierung <strong>de</strong>r Fiktion erfolgt schon am Anfang <strong>de</strong>s Erzähltextes, in <strong>de</strong>m<br />
Moment, wo zwei Varianten ausgeklügelt wer<strong>de</strong>n: "Es war einmal ein Liebespaar,<br />
das brachte ein seltsames Wesen ins Dorf?" – O<strong>de</strong>r: "Es war einmal <strong>de</strong>r Unfisch,<br />
<strong>de</strong>r besuchte ein Dorf in <strong>de</strong>n Bergen." (UF,11)<br />
Diese zwei ange<strong>de</strong>uteten Erzählstränge sind von <strong>de</strong>r Anwesenheit <strong>de</strong>s Seltsamen<br />
markiert. Das seltsame Wesen, <strong>de</strong>r Unfisch, d.h. <strong>de</strong>r präparierte Wal wird zum<br />
Auslöser <strong>de</strong>r verwirren<strong>de</strong>n Situationen, die alle <strong>de</strong>m Wünschen untergeordnet sind.<br />
Das Wünschen verwan<strong>de</strong>lt sich in eine trivial-mystische Affäre, die alles Normale<br />
verän<strong>de</strong>rt. Aus <strong>de</strong>r intendierten Rettungsaktion Sophies wird ein absur<strong>de</strong>s Treiben<br />
<strong>de</strong>r egoistischen Triebe <strong>de</strong>r zu Un-Menschen gewor<strong>de</strong>nen Dorfbewohner. Die<br />
Gefahr <strong>de</strong>r Robotisierung <strong>de</strong>r Welt, die sich nur nach künstlichen Lebensregeln<br />
orientiert, wird ange<strong>de</strong>utet, durch groteske Situationen parodiert, die meisterhaft<br />
beschrieben wer<strong>de</strong>n. Fiktion und Realität überlappen sich in einem irrsinnigen<br />
Wetteifern <strong>de</strong>r schildbürgerähnlichen Verhaltensmuster. Schmunzeln und Lachen<br />
wären Stichworte für die ersten, ganz spontanen und normalen Reaktionen <strong>de</strong>s<br />
Rezipienten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n "Schmäh" <strong>de</strong>s Autors durchschaut, aber zugleich sich <strong>de</strong>ssen<br />
bewußt wird, daß diese Technik <strong>de</strong>r Leichtfüßigkeit viel mehr verbirgt.<br />
Der zentrale Satz:<br />
Wenn man nicht an Wun<strong>de</strong>r glaubte, dann sollte man sie nicht auf die Probe<br />
stellen. Das haben Wun<strong>de</strong>r gar nicht gern (UF, 45)<br />
<strong>de</strong>utet durch <strong>de</strong>n darauf folgen<strong>de</strong>n Kommentar <strong>de</strong>s Erzählers auf die intendierte<br />
Lehre, die <strong>de</strong>n noch sich Fragen<strong>de</strong>n und Staunen<strong>de</strong>n vermittelt wer<strong>de</strong>n kann. Für<br />
Sophie je<strong>de</strong>nfalls ist diese "Einsicht" zu spät gekommen und die Konsequenzen<br />
sind katastrophal.<br />
Die verborgene Welt <strong>de</strong>s Wals – die Märchenwelt – imitiert die Wirklichkeit. Der<br />
erste Tag nach <strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>r (UF, 52) empfängt <strong>de</strong>n Leser mit Ernst und Komik.<br />
Auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r Wirklichkeit spielen sich märchenhafte Situationen ab, die<br />
an <strong>de</strong>r Grenze <strong>de</strong>r fiktionalen Wirklichkeit liegen. Beispielsweise die Umkehrung<br />
<strong>de</strong>r Normalität durch das Zusammenbringen <strong>de</strong>s Liebespaares Carl und Maria in<br />
verschie<strong>de</strong>nen Hypostasen bewirkt Mitleid, Sympathie, aber auch Lachreize. Carl,<br />
wegen Mordverdacht auf <strong>de</strong>r Flucht, <strong>de</strong>r sich in einer idyllischen Berglandschaft<br />
<strong>zur</strong>ückzieht und Maria als Hund, die bei <strong>de</strong>m Menschen Carl Geborgenheit sucht<br />
und auch fin<strong>de</strong>t, stellen Bil<strong>de</strong>r dar, die verschie<strong>de</strong>ne Lesarten zulassen. (Vgl: UF,<br />
52) Märchen – Fabel – Satire o<strong>de</strong>r Groteske?<br />
Carl ist <strong>de</strong>r einzige Protagonist, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n "Wahnsinn" <strong>de</strong>s Dorftreibens durchschaut<br />
und dafür wird er sanktioniert. Sogar <strong>de</strong>r Dorfpfarrer, (die Stimme und das<br />
Bewußtsein <strong>de</strong>r ländlichen Gemeinschaft), <strong>de</strong>r anfangs vor <strong>de</strong>n am Dorfbild<br />
"sehbaren" Sün<strong>de</strong>n warnt, wird <strong>de</strong>r Versuchung <strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>rwünschens nicht<br />
wi<strong>de</strong>rstehen können, auch wenn er sich nur ein unschuldiges "sichtbares Zeichen<br />
75
von Heiligkeit" (UF, 89) wünscht. Das Ausschließen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r vom<br />
"Wahnsinnstreiben" nach <strong>de</strong>m Glück, bezeugt einerseits, daß sie von <strong>de</strong>r<br />
herabgekommenen Welt <strong>de</strong>r Erwachsenen gerettet wer<strong>de</strong>n und an<strong>de</strong>rerseits, daß<br />
sie selbst eine potentielle Rettung vor <strong>de</strong>m Bösen darstellen. Die Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<br />
vom Wahrwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "geizigen" Glücks fern gehalten, ein bewußtes Manöver <strong>de</strong>r<br />
Erwachsenen, die als Folge dieses Verhaltens in ein noch negativeres Licht<br />
rücken, da ihr korruptes Sein in Kontrast <strong>zur</strong> Unschuld ihrer Kin<strong>de</strong>r gesteigert wird.<br />
Diesbezüglich erscheint die Szene <strong>de</strong>r Prozession <strong>de</strong>s sakralisierten Wenzel,<br />
Retter und Hoffnung <strong>de</strong>r Dorfgemeinschaft, in grotesk-ironischen Zügen<br />
beschrieben (UF, 91-92).<br />
Worin besteht das "Wahnsinnstreiben", das <strong>de</strong>n Rezipienten und <strong>de</strong>n Erzähler<br />
erschüttert? Im Dorf wur<strong>de</strong>n Termine festgelegt, Listen angelegt,<br />
Anmel<strong>de</strong>formulare ausgestellt, Prioritäten gesetzt, um die Organisierung <strong>de</strong>s<br />
Glücks zu bewirken. Demokratie soll als Funktionsprinzip im Dorfleben Ordnung<br />
schaffen, Toleranzgedanken hervorrufen, <strong>de</strong>n Weltfrie<strong>de</strong>n sichern etc. Die<br />
Organisierung <strong>de</strong>s spektakulären Glücks führt die Dorfbewohner zu <strong>de</strong>n<br />
extremsten Reaktionsformen: Sortieren <strong>de</strong>r Wünsche nach Kriterien wie privates<br />
bzw. öffentliches Interesse, Verlust <strong>de</strong>r Nächstenliebe, <strong>de</strong>s Verständnisses, <strong>de</strong>s<br />
Mitleids – in einem Wort, <strong>de</strong>r Menschlichkeit (Vgl. UF, 71-72). Der<br />
Verwandlungsprozeß in Un-Menschen mittels <strong>de</strong>r Glücksmaschine, die sich als ein<br />
diabolisches Ding entpuppt, erinnert an Dürrenmatts Besuch <strong>de</strong>r alten Dame.<br />
Unheimlich und originell die I<strong>de</strong>e, daß nur ein einziger Wunsch, und nicht drei, wie<br />
in <strong>de</strong>n tradierten Märchenmustern, verwirklicht wer<strong>de</strong>n kann. Die Reduktion auf<br />
einen Wunsch, Tatsache, die <strong>de</strong>n Wünschen<strong>de</strong>n unbekannt ist, verhin<strong>de</strong>rt eine<br />
zeitlang, daß sich die Wunschaktion in eine Kette von Un-Wünschen verwan<strong>de</strong>lt.<br />
Das Unternehmen <strong>de</strong>s Wünschens und die Verwirklichung <strong>de</strong>r verborgensten<br />
Wunschträume kann sehr gefährlich sein, insbeson<strong>de</strong>re wenn das Positive sich in<br />
Negatives verwan<strong>de</strong>lt. Es ergibt sich ein Vergleich mit Tarkowskis The Stalker, mit<br />
<strong>de</strong>m Wunsch-Raum aus <strong>de</strong>r verbotenen "Zone", <strong>de</strong>r vom Wissenschaftler<br />
gesprengt wird, um das negative Denken und die damit verbun<strong>de</strong>nen Katastrophen<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn. Dieser Vergleich leitet <strong>de</strong>n Übergang zum Auftritt <strong>de</strong>s<br />
"Weltverbesserers" ein, ein Protagonist, <strong>de</strong>r im Gegensatz zu seinem Beinamen<br />
auf <strong>de</strong>n "Weltfrie<strong>de</strong>n" pfeift (Vgl. UF, 88) und <strong>de</strong>n Brandstiftern von Max Frisch<br />
nacheifert.<br />
In Köhlmeiers Erzähl-Märchen wer<strong>de</strong>n am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r verworrenen Situation, die die<br />
Dorfwelt auf <strong>de</strong>n Kopf gestellt hat, nur noch Egoismus und Irrationalität dominieren.<br />
Der Satz:<br />
Man macht Irrsinnn mit Irrsinn nicht wie<strong>de</strong>r gut (UF, 85),<br />
klingt wie ein Ultimatum und erschüttert <strong>de</strong>n Rezipienten, <strong>de</strong>r die hoffnungslose<br />
Situation wahrnimmt und sie eventuell mit <strong>de</strong>m zeitgenössischen Dasein<br />
vergleicht. Das bewußte Aufnehmen <strong>de</strong>r Botschaft und auch die lockere<br />
Endlösung, die im märchenhaften Happy-End mün<strong>de</strong>t, ist ein Beweis, daß es<br />
<strong>de</strong>nnoch Hoffnung gibt, die Vernunft walten zu lassen, und daß die Menschheit<br />
sich nicht <strong>de</strong>m Unwesen bzw. <strong>de</strong>m Bösen fügt.<br />
Überraschend ist das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geschichte auch wegen <strong>de</strong>r Flucht aus <strong>de</strong>r<br />
Realität – <strong>de</strong>r Unfisch wird aus <strong>de</strong>m leblosen Schaustück zum lebendigen Wal, <strong>de</strong>r<br />
76
in <strong>de</strong>m Gebirgssee märchenhaft verschwin<strong>de</strong>t. Fiktion in <strong>de</strong>r Fiktion?<br />
Zur Symbolik <strong>de</strong>s Unfisches<br />
Eine an<strong>de</strong>re Frage ist, ob nicht in je<strong>de</strong>m von uns ein Unfisch steckt ??? Seine<br />
Moral ist je<strong>de</strong>nfalls keine Unmoral, son<strong>de</strong>rn eine Lehre für alle!!! Je<strong>de</strong>r sollte <strong>de</strong>n<br />
Unfisch in sich selbst erkennen – Ausgangspunkt wäre die Symbolik vom "Fisch",<br />
<strong>de</strong>r Glaube versinnbildlicht, wobei <strong>de</strong>r Un-Fisch als Un-Glaube sich mit<br />
Unglaubwürdigkeit in Beziehung setzen ließe.<br />
Der Unfisch ist am Anfang ein Schau-Objekt, das bestaunt wer<strong>de</strong>n soll – ein<br />
ausgefallenes, unnatürliches, abnormales Ding. Die Beschreibung <strong>de</strong>s Wales klingt<br />
in Köhlmeiers Version anfangs "entzaubert".<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich um einen vergessenen, alten, präparierten, grau gewor<strong>de</strong>nen Wal.<br />
(UF, 8)<br />
Es gilt auch die einfache Unterscheidung: ein Wal ist kein Fisch, also ein Un-Fisch,<br />
Bemerkung, die im Text explizit schon am Anfang <strong>de</strong>r Geschichte markiert wird<br />
(UF, 8). Das Präfix "Un-" <strong>de</strong>utet auf das Abweichen von <strong>de</strong>r Norm und auch auf<br />
<strong>de</strong>n antithetischen Begriff, auf das Gegensätzliche zum Normalen.<br />
Der Unfisch ist ein unnützliches Objekt, das gar nicht in <strong>de</strong>n Kontext <strong>de</strong>r Dorfwelt<br />
hineinpaßt. Er wird einem Monstrum gleichgestellt, ein Etikett, das sich in diesem<br />
Fall eher auf sein Volumen bezieht und auf seine Unbrauchbarkeit:<br />
Und trotz aller poetischer Schönheit, was kann letztlich ein Dorf wie dies damit<br />
anfangen? (UF, 24).<br />
Zugleich wird das Ding in mil<strong>de</strong>ren Worten beschrieben, als "Merkwürdigkeit", die<br />
entproblematisiert wer<strong>de</strong>n muß. (UF, 25)<br />
Der Unfisch wird auch "urzeitliches Ungetüm" genannt (UF, 32), auf <strong>de</strong>m Tonband<br />
von Onkel Roberto, <strong>de</strong>ssen Stimme wie aus einer an<strong>de</strong>ren Welt hinüberprojiziert<br />
wird, in die Welt, die sich im Inneren <strong>de</strong>s "wun<strong>de</strong>rbaren Tieres" offenbart. (UF, 34)<br />
Mythen und mystische Elemente scheinen sich hier, an diesem Ort im Inneren <strong>de</strong>s<br />
Nirgendwo zu treffen. Eine Textstelle wie noch an<strong>de</strong>re, die eine genauere<br />
Untersuchung erfor<strong>de</strong>rn.<br />
Das Objekt "Unfisch" steht auch für Magie, Zauber, Wun<strong>de</strong>r, das aus <strong>de</strong>m Inneren<br />
<strong>de</strong>s Un-Dings ausstrahlt. Gleichzustellen ist es einerseits mit einer Reise ins<br />
Unbekannte, Rätselhafte, Mysteriöse, Mystische, an<strong>de</strong>rerseits mit <strong>de</strong>m<br />
Unterbewußtsein als Spiegelbild für das "Verborgene" im Menschen, für seine<br />
Traum- und Wunschwelt. Gera<strong>de</strong> dieser Innenraum könnte mit <strong>de</strong>r verborgenen<br />
Wunschwelt <strong>de</strong>s Individuums verglichen wer<strong>de</strong>n, mit jener freudianischen Welt <strong>de</strong>s<br />
Unterbewußtseins, das sich <strong>de</strong>r Ratio entzieht. Daß sich das Unheimliche im<br />
Bauch <strong>de</strong>s Wales/<strong>de</strong>s Unfisches abspielt, in <strong>de</strong>m konstruierten Raum, <strong>de</strong>r als<br />
verborgene innere Welt erscheint, in <strong>de</strong>r alles möglich ist, entspricht vom<br />
psychoanalytischen Standpunkt <strong>de</strong>r Bedrohung <strong>de</strong>r Außenwelt durch die Welt <strong>de</strong>s<br />
Unterbewußtseins, die in materialisierter Form, sichtbar gewor<strong>de</strong>n, monströs wirkt.<br />
Der Bauch <strong>de</strong>s Unfisches ist <strong>de</strong>r Raum, in <strong>de</strong>m sich Mann und Frau vereinigen, <strong>de</strong>r<br />
Raum in <strong>de</strong>m sich das Verborgene abspielt, auf physischer und mentaler Ebene.<br />
Es ist die Welt <strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>rs, <strong>de</strong>r Ekstase, <strong>de</strong>s Selbstvergessens, <strong>de</strong>s Anfangs und<br />
77
<strong>de</strong>s En<strong>de</strong>s.<br />
Überraschen<strong>de</strong>rweise wird <strong>de</strong>r gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erzählung zum Fabelwesen<br />
verwan<strong>de</strong>lte Unfisch zu Maria, die verzweifelt noch in ihrer Hun<strong>de</strong>haut steckt,<br />
sprechen: "Ist es <strong>de</strong>nn so schlecht, ein Tier zu sein?", eine Frage, die auf eine<br />
neue I<strong>de</strong>ntität hinweist, die eines Lebewesens. Interessant ist die<br />
Gegenüberstellung Wal – Unfisch bzw. Maria – Unhund, eine Opposition, die auf<br />
zwei Existenzmöglichkeiten die Aufmerksamkeit lenkt, gera<strong>de</strong> durch ihre<br />
Negierung. Auf <strong>de</strong>r realen (wirklichen) Ebene existiert <strong>de</strong>r Wal – Besitztum von<br />
Roberto und Erbstück von Sophie bzw. Maria – Verlobte von Carl und zugleich<br />
Hauptheldin <strong>de</strong>r Geschichte. Auf <strong>de</strong>r irrealen (unwirklichen) Ebene sind <strong>de</strong>r Unfisch<br />
und <strong>de</strong>r Unhund anzutreffen, Wesen, die als Resultat <strong>de</strong>r Phantasiewelt betrachtet<br />
wer<strong>de</strong>n können.<br />
Der Unfisch ist letztendlich ein "Lebewesen", das die "normale" Welt verläßt, sich<br />
davon abwen<strong>de</strong>t, um als Märchenwesen in die Fiktion <strong>zur</strong>ückzukehren. Der<br />
Rückzug aus <strong>de</strong>r unheimlichen Bergwelt legitimiert sich auch aus <strong>de</strong>r Perspektive<br />
<strong>de</strong>r absur<strong>de</strong>n Geschichte, <strong>de</strong>ren Geschehnisse alles an<strong>de</strong>re als "normal"<br />
erscheinen.<br />
Das Buch wie auch <strong>de</strong>r Film versuchen in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>r realistisch zu<br />
bleiben und bei<strong>de</strong> verlangen <strong>de</strong>m Rezipienten ein beson<strong>de</strong>res<br />
Einfühlungsvermögen und <strong>de</strong>n Einsatz <strong>de</strong>r Phantasie. Die trügerische erotische<br />
Oberflächenstruktur <strong>de</strong>r Kunstproduktionen, ob nun in Worte o<strong>de</strong>r in Bil<strong>de</strong>rn<br />
realisiert, drängt die moralischen Untertöne wahrzunehmen und auch alle an<strong>de</strong>ren<br />
subjektiven Signale, die je<strong>de</strong>n einzelnen auf eine an<strong>de</strong>re Art ansprechen. Die<br />
Pluralität <strong>de</strong>r Lesarten ergibt sich aus <strong>de</strong>m Zusammenwirken von <strong>de</strong>n zwei<br />
ungewöhnlichen Erzählungen, i.e. die Entstehung <strong>de</strong>s Unfisch-Textes und die<br />
Geschichte seiner Realisierung als Film. (Vgl. Dornhelm, S.113f)<br />
Märchenwesen und Menschentypen<br />
Köhlmeier gelingt es, <strong>de</strong>n Figuren aus seinem Zauber-Wun<strong>de</strong>rmärchen markante<br />
Konturen zu verleihen und läßt sie "wun<strong>de</strong>rbare" Dialoge führen. Der Unfisch wirkt<br />
polarisierend, da um ihn herum sich das kollektive Geschehen, ob real o<strong>de</strong>r "un"real,<br />
strukturiert.<br />
Paare wer<strong>de</strong>n aufgestellt, die auf Gegenseitigkeit o<strong>de</strong>r auf Oppositionen bauen:<br />
Carl – Maria, das komplizierte Liebespaar; Maria/Hund – Hun<strong>de</strong>mann (Herr<br />
Landauer); Hun<strong>de</strong>mann – Sophie; Sophie – Unfisch; Unfisch – Dorfbewohner. Die<br />
Kette <strong>de</strong>r Gruppierungen setzt sich jeweils aus an<strong>de</strong>ren Komponenten zusammen.<br />
Die Gegensätzlichkeit bil<strong>de</strong>t dabei das dominante Prinzip. Wesentliche<br />
Oppositionen fügen sich generell <strong>de</strong>m Paradigma <strong>de</strong>r Märchenwelt: gut-böse. Die<br />
Charaktere erscheinen in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s entlegenen Bergdorfes typisiert, <strong>de</strong>nnoch<br />
wür<strong>de</strong>n sie in jedwelcher Umgebung glaubwürdig wirken. Die angewandten<br />
Typenregister bewegen sich zwischen Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit, vertreten<br />
das Prinzip <strong>de</strong>s Guten und <strong>de</strong>s Bösen, umspannen die wesentlichen<br />
Erscheinungen <strong>de</strong>r menschlichen Welt. Köhlmeiers märchenhafter Erzähltext<br />
appelliert an menschliche Wesen, an die Bewohner eines Mikro-Universums, <strong>de</strong>s<br />
entlegenen Bergdorfes, das von zwei frem<strong>de</strong>n Wesen in <strong>de</strong>n Wahnsinn getrieben<br />
78
wird. Die zwei Außenseiter sind vertreten durch <strong>de</strong>n "präparierten" Wal, <strong>de</strong>r<br />
anfangs als unnützes Objekt im Dorf aufbewahrt wird, und Sophie, eine nette,<br />
junge Frau aus Berlin, die ihre merkwürdige Erbschaft entgegennehmen sollte.<br />
Erst das Zusammenwirken dieser zwei Fremdlinge versetzt die Dorfwelt auf die<br />
Ebene <strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>rbaren. Sophie erscheint unter <strong>de</strong>n neuen Umstän<strong>de</strong>n als<br />
Zauberin und zuletzt sogar als Hexe. Die Aufhebung <strong>de</strong>r Kausalgesetze, die<br />
Transfererscheinungen von einer Welt in die an<strong>de</strong>re, beispielsweise Maries<br />
Verwandlung, wie auch das Wahrwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wunschträume <strong>de</strong>r Dorfbewohner<br />
mittels magischer Kräfte legitimieren <strong>de</strong>n märchenhaften Charakter <strong>de</strong>r<br />
Geschichte, die sich sonst auf <strong>de</strong>r realen Ebene abzuspielen scheint. An<strong>de</strong>rerseits<br />
führt <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>r einzelnen Hel<strong>de</strong>n vom Bewußtsein ins Unterbewußtsein, ins<br />
Innere je<strong>de</strong>s einzelnen Indiviuums, in <strong>de</strong>n eigenen "Unfisch". Anthropologischen,<br />
psychoanalytischen Studien, Märchen<strong>de</strong>utungen von Freud, Jung, Lacan und<br />
Steiner zu folgen, wären an<strong>de</strong>re Ansätze, die komplexe Struktur und Symbolik <strong>de</strong>r<br />
Märchen-Erzählung Der Unfisch zu untersuchen. Rudolf Steiners Auffassung <strong>de</strong>s<br />
Märchens als Überbleibsel aus <strong>de</strong>r Zeit, da die Menschen in Bil<strong>de</strong>rn, die<br />
Geheimnisse <strong>de</strong>r Welt und <strong>de</strong>r Überwelt zu erfassen versuchten, eröffnet neue<br />
Wege <strong>de</strong>r Deutung, die sich in die Reihe möglicher Lesarten einglie<strong>de</strong>rt, die je<br />
nach Einfühlungsvermögen, Phantasie und Kompetenz <strong>de</strong>r Rezipienten<br />
eingeschlagen wer<strong>de</strong>n können: fiktive Gesellschaftsdiagnose, erzählerische<br />
Korrektur <strong>de</strong>r (Un-)Wirklichkeit, mo<strong>de</strong>rnes Märchen, Parabel <strong>de</strong>s (Un-)Glücks,<br />
märchenhafte Moralgeschichte, zeitlose Lehr-Erzählung, metaphorische Wunsch-<br />
Geschichte, didaktisches Zauber-Wun<strong>de</strong>rmärchen.<br />
Literatur<br />
Michael Köhlmeier (1997): Der Unfisch, Wien/München : Deuticke (Sigle: UF).<br />
Robert Dornhelm (1997): Der Unfisch, Terra-Film Produktion, Wien.<br />
Robert Dornhelm (1997): Solche Sachen spornen mich natürlich an. Gespräch mit<br />
Christian Seiler. In: Michael Köhlmeier, Der Unfisch, Wien/München: Deuticke, S.<br />
113-125.<br />
Bemerkung<br />
Die Autorin bedankt sich bei Herrn Robert Dornhelm für die ihr <strong>zur</strong> Verfügung<br />
gestellten Unterlagen.<br />
79
ILEANA-MARIA RATCU<br />
BUKAREST<br />
Zur Geschichte <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Theaters in <strong>de</strong>r Bukowina (1825-<br />
1877), eine unveröffentlichte Arbeit <strong>de</strong>s Historikers Teodor<br />
Bălan<br />
Einleitung<br />
Den Anlaß zu diesem Beitrag bil<strong>de</strong>n zum einen meine Beschäftigung mit <strong>de</strong>r<br />
Geschichte und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bukowina im Rahmen meiner Dissertation über<br />
die Persönlichkeit und Tätigkeit <strong>de</strong>s Historikers Teodor Bălan, zum an<strong>de</strong>ren aber<br />
auch die Anregungen, die ich 1997 durch die Fachtagung Inter-und Multikulturalität<br />
in Südosteuropa <strong>de</strong>s Temeswarer Germanistiklehrstuhls empfangen habe.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich auf eine unveröffentlichte Arbeit <strong>de</strong>s Historikers Teodor<br />
Bălan eingehen, die im Bukarester Nationalarchiv aufbewahrt wird.<br />
Teodor Bălan wur<strong>de</strong> in Gura Humorului geboren, besuchte aber die Grundschule<br />
und das Staatsgymnasium Nr. 1 in Czernowitz, das später <strong>de</strong>n Namen Aron-<br />
Pumnul tragen wird. Weiter studierte er Geschichte und Geographie an <strong>de</strong>n<br />
Universitäten Czernowitz und Wien. 1908 been<strong>de</strong>te er das Studium <strong>de</strong>r<br />
Geschichte; im selben Jahr wird er stellvertreten<strong>de</strong>r Geschichtslehrer <strong>de</strong>s Dragoş-<br />
Vodă-Gymnasiums in Câmpulung-Moldovenesc. Zwischen 1910-1912 war er am<br />
Lehrstuhl für Geschichte <strong>de</strong>r Realhochschule in Czernowitz tätig und zwischen<br />
1912-1918 besetzte er die Stelle eines Geschichtslehrers im Ştefan-cel-Mare-<br />
Gymnasium in Suceava. 1918 kam Teodor Bălan von <strong>de</strong>r Front – er hatte sich an<br />
<strong>de</strong>n Kämpfen in Italien beteiligt – und setzte seine Tätigkeit an <strong>de</strong>m Aron-Pumnul-<br />
Gymnasium in Czernowitz bis 1940 fort. Während <strong>de</strong>r sowjetischen Besetzung <strong>de</strong>r<br />
Bukowina entfaltete er ein Jahr lang seine Lehrtätigkeit im Gheorghe-Lazăr-<br />
Lyzeum in Hermannstadt. Zwischen 1941-1945 wur<strong>de</strong> er als Direktor <strong>de</strong>r<br />
Czernowitzer Bibliothek auβeror<strong>de</strong>ntlicher Universitätsprofessor. Er beteiligte sich<br />
auch an <strong>de</strong>r Einrichtung <strong>de</strong>s Czernowitzer Archivs, da er ein guter Kenner und<br />
lei<strong>de</strong>nschaftlicher Forscher <strong>de</strong>r Archivalien war 1 .<br />
Die fruchtbarste Perio<strong>de</strong> seiner wissenschaftlichenTätigkeit stellt <strong>de</strong>r Zeitraum<br />
1919-1945 dar, als er die meisten seiner Artikel, Studien, Bücher und<br />
Urkun<strong>de</strong>nsammlungen veröffentlichte, die Promotion machte (1930), zum Lektor<br />
(1931) und dann zum Dozenten (1938) beför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>. Nach 1945 zog er nach<br />
Gura Humorului um, wo er weitere Arbeiten verfaßte, ohne sie veröffentlichen zu<br />
dürfen. Deswegen geriet er für die rumänische Geschichtsschreibung fast in<br />
Vergessenheit.<br />
81
Zum Bestand <strong>de</strong>s Teodor- Bălan-Archivs<br />
Zum Glück wer<strong>de</strong>n 20 unveröffentlichte Arbeiten <strong>de</strong>s Historikers im Bukarester<br />
Nationalarchiv aufbewahrt – zwei davon wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>utscher Sprache verfaßt. Es<br />
geht um die historische Arbeit Bukowina im Jahre 1848 und um die Studie Zur<br />
Geschichte <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Theaters (1825-1877). Auβer<strong>de</strong>m publizierte Teodor<br />
Bălan 1919 eine Geschichte <strong>de</strong>r Rumänen – ein Lehrbuch für die oberste Klasse<br />
<strong>de</strong>r Mittelschule 2 – in <strong>de</strong>utscher Sprache. Die Handschrift seiner Dissertation über<br />
<strong>de</strong>n Aufstand <strong>de</strong>r Rumänen in Siebenbürgen in <strong>de</strong>n Jahren 1848/1849 befin<strong>de</strong>t<br />
sich an <strong>de</strong>r Wiener Universität 3 .<br />
Wie schon erwähnt, ist die Arbeit Zur Geschichte <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Theaters im<br />
Bukarester Nationalarchiv aufbewahrt und gehört zum Archivbestand, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Namen <strong>de</strong>s Historikers trägt 4 .<br />
Teodor Bălan wur<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r österreichischen Geschichtsschule ausgebil<strong>de</strong>t, die<br />
die Präzision und die Verwertung <strong>de</strong>r urkundlichen Informationen pries. Die<br />
bekannte Akribie <strong>de</strong>s Historikers ist auch dadurch ersichtlich, daß je<strong>de</strong> seiner<br />
Arbeiten in zwei o<strong>de</strong>r sogar drei Exemplaren verfaßt wur<strong>de</strong>. Es gibt im Bukarester<br />
Nationalarchiv zwei handgeschriebene Exemplare <strong>de</strong>r Arbeit. Ich wer<strong>de</strong> aber das<br />
zweite Exemplar (74 Seiten) vorstellen, da es vollständiger ist.<br />
Die Arbeit umfaßt <strong>de</strong>n eigentlichen, nicht in Kapitel eingeteilten Beitrag und einen<br />
Anhang, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nz verschie<strong>de</strong>ner Theaterdirektoren mit <strong>de</strong>n<br />
Bukowinaer Behör<strong>de</strong>n und aus Zeitungsartikeln besteht. Lei<strong>de</strong>r stammen die<br />
Zeitungsartikel aus <strong>de</strong>m 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt, sie sind also keine zeitgenössischen<br />
Schil<strong>de</strong>rungen, aber sie bringen neue Informationen <strong>zur</strong> Geschichte <strong>de</strong>s<br />
Czernowitzer Theaters und <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Theaters in Ungarn, Siebenbürgen,<br />
Galizien, in <strong>de</strong>r Bukowina und in <strong>de</strong>n Rumänischen Län<strong>de</strong>rn. Es ist schwer<br />
festzustellen, wann die Arbeit eigentlich verfaßt wur<strong>de</strong>. Einige Zeitungsartikel<br />
mögen nachher beigefügt wor<strong>de</strong>n sein, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>rjenige von 1951, <strong>de</strong>r über<br />
die Amateurebewegung in Czernowitz berichtet 5 .<br />
Der Inhalt <strong>de</strong>r Arbeit<br />
1825 gab es in Czernowitz rege Gespräche über einen Theaterbau. Als Historiker<br />
gibt Teodor Bălan auch die Erklärung dafür: In <strong>de</strong>r ersten Hälfte <strong>de</strong>s 19.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts war Czernowitz eine Kleinstadt, die aber die Hauptstadt eines <strong>de</strong>m<br />
Lan<strong>de</strong>sgubernium von Lemberg unterstehen<strong>de</strong>n Kreises, und zwar <strong>de</strong>r Bukowina,<br />
darstellte:<br />
Als solches besaβ Czernowitz eine angemessene Anzahl von Beamten, die <strong>de</strong>n<br />
Geschäftsbetrieb im Kreisamt, im Gericht und in <strong>de</strong>r Stadtgemein<strong>de</strong> besorgten.<br />
Ferner war Czernowitz auch <strong>de</strong>r Sitz <strong>de</strong>s Bukowinaer griechisch-orientalen Bistums<br />
mit <strong>de</strong>r nötigen Anzahl von Priestern. Es beherbergte auβer<strong>de</strong>m zwei Volksschulen<br />
und ein Gymnasium mit einer beträchtlichen Anzahl von Schülern, Lehrern und<br />
Gymnasial-Professoren. Auch stan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m in Czernowitz stationierten Militär die<br />
nötige Anzahl von Offizieren vor. Ebenso wohnten hier zahlreiche A<strong>de</strong>lige mit ihren<br />
Familien 6 .<br />
Es ist also ersichtlich, daß es in Czernowitz ein ziemlich breites Milieu gab, das<br />
82
sich nach einem Theater sehnte. Manche Hin<strong>de</strong>rnisse stan<strong>de</strong>n aber diesem<br />
Wunsch im Wege. Zwar gab es einige Säle, in <strong>de</strong>nen “Nobel-und Bürgerbälle”<br />
veranstaltet wur<strong>de</strong>n, aber ein eigenes Theatergebäu<strong>de</strong> besaβ die Stadt nicht.<br />
1825 wandten sich zwei Czernowitzer Bürger an das Gemein<strong>de</strong>gericht mit je<br />
einem Gesuch, in <strong>de</strong>m sie mitteilten, daß sie ein Theatergebäu<strong>de</strong> zu errichten<br />
beabsichtigten. Es geht um Mathias Mondschein, <strong>de</strong>r schon einen recht<br />
geräumigen Tanzsaal mit Galerien aufgebaut hatte, und um Wilhelmine Fürst, die<br />
behauptete, daß sie “von mehreren angesehenen Einwohnern und<br />
Stan<strong>de</strong>spersonen” angesprochen wor<strong>de</strong>n sei, ein Theatergebäu<strong>de</strong> zu errichten.<br />
Die bei<strong>de</strong>n beabsichtigten nicht nur das Theatergebäu<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch einen<br />
“Redoutensaal” mit Orchesterraum und Galerien und ein Schank-und Einkehrhaus<br />
mit Kammern, Küchen und Keller zu bauen. We<strong>de</strong>r Mondschein, noch Wilhelmine<br />
Fürst, die die Gattin eines Gerichtsbeamten war, verfügten über kein groβes<br />
Kapital, so daß die bei<strong>de</strong>n ein Darlehen vom Gemei<strong>de</strong>amt verlangten, um ihre<br />
Pläne in Erfüllung zu bringen. In einer Gemein<strong>de</strong>sitzung wur<strong>de</strong>n Mondscheins und<br />
Wilhelmine Fürsts Gesuche besprochen. Obwohl Frau Wilhelmine Fürst<br />
vorgezogen wur<strong>de</strong>, da Mondschein als “roh, unverträglich und als ein leichtsinniger<br />
Schul<strong>de</strong>nmacher” bekannt war, wur<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n Gesuche von <strong>de</strong>m Lemberger<br />
Gubernium durch <strong>de</strong>n Beschluß vom 1. Dezember 1826 wegen <strong>de</strong>r<br />
bevorstehen<strong>de</strong>n groβen Auslagen <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> abgewiesen.<br />
Teodor Bălan stellt in seiner Arbeit nur die Wan<strong>de</strong>rtruppen und<br />
Theatergesellschaften vor, die in Czernowitz, aber auch in Suceava und in<br />
kleineren Städten <strong>de</strong>r Bukowina, wie RădăuŃi und Siret, zwischen 1825 und 1877<br />
Vorstellungen gaben. 1825 ist das Jahr, als es in Czernowitz – wie schon erwähnt<br />
– das Projekt <strong>de</strong>s Theaterbaus gab, und 1877 wur<strong>de</strong> das erste Stadttheater<br />
aufgebaut.<br />
Damals waren die Theatergesellschaften verpflichtet, vom Lemberger Gubernium<br />
o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n in Czernowitz die Bewilligung für Aufführungen zu<br />
erhalten. Aus <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nz verschie<strong>de</strong>ner Theaterdirektoren mit <strong>de</strong>n<br />
österreichischen Behör<strong>de</strong>n erfahren wir zahlreiche Informationen: welche Truppen<br />
die Bukowina besuchten, wie die Schauspieler hieβen, welche Rollen sie<br />
darboten, was für Theaterstücke ihr Repertoire umfaßte und welches <strong>de</strong>r<br />
Geschmack <strong>de</strong>s Publikums war.<br />
Teodor Bălan behan<strong>de</strong>lt nur die Zeitspanne zwischen 1825-1877, aber aus <strong>de</strong>m<br />
Artikel <strong>de</strong>r Wiener Zeitung unter <strong>de</strong>m Titel „Zur Geschichte <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Theaters in <strong>de</strong>n Karpathenlän<strong>de</strong>rn“ (1913), <strong>de</strong>r von einem <strong>de</strong>r berühmtesten<br />
Historiker aus Czernowitz, Raimund Friedrich Kaindl, verfaßt wur<strong>de</strong>, erfahren wir,<br />
daß schon 1784 ein italienischer Schattenspieler seine Vorstellungen gab, und<br />
1795 eine “Sprech-Maschine” vorgeführt wur<strong>de</strong>. Zwischen 1803-1805 wur<strong>de</strong><br />
Czernowitz von <strong>de</strong>m Direktor Philipp Bernt besucht, <strong>de</strong>r, wie es in einem Bericht<br />
heißt, “ein gutes Beispiel <strong>zur</strong> Verbesserung <strong>de</strong>r Sitten” gab. R. F. Kaindl erwähnt<br />
auch eine seit 1823 handgeschriebene Kritik über die Ahnfrau, <strong>de</strong>nn es gab<br />
damals keine Zeitung in Czernowitz. Etwas jünger war eine ähnliche Kritik einer<br />
Aufführung <strong>de</strong>s Freischütz.<br />
1838-1839 erhielt Czernowitz ein privates Theatergebäu<strong>de</strong>.<br />
Es war scheinbar ein hölzernes Haus, das von <strong>de</strong>m Besitzer namens Leon Beck in<br />
83
<strong>de</strong>r Rathhausstraβe Nr. 1 aufgebaut wor<strong>de</strong>n ist. Es hatte aber keinen langen<br />
Bestand, <strong>de</strong>nn schon im September brannte es ab. Es entstand ein Groβfeuer,<br />
welches die Nacht taghell machte. ‘Die Balken krachten wie aus Ofenrachen’<br />
berichtet ein Augenzeuge 7 .<br />
Teodor Bălan meint, daß <strong>de</strong>r Brand zu einem groβen Verlust für das kunstlieben<strong>de</strong><br />
Publikum führte.<br />
Theatervorstellungen wur<strong>de</strong>n fernerhin im Hotel Moldavie veranstaltet, das <strong>de</strong>r<br />
Familie Mikuli gehörte.<br />
Der Autor erwähnt ungefähr 20 Wan<strong>de</strong>rtruppen, darunter auch die Truppe <strong>de</strong>s<br />
Direktors Franz Urbany, die 1844 und 1853 in Czernowitz auftrat. Er verfügte über<br />
die besten Schauspieler, und aus einem Verzeichnis <strong>de</strong>r Theaterstücke von 1854<br />
ist ersichtlich, daß sein Unternehmen ein ernstes war. Er hatte vor, 52<br />
Theaterstücke bekannter Schriftsteller aufzuführen, unter <strong>de</strong>nen Die Räuber von<br />
Friedrich Schiller, Der böse Geist, Lumpacivagabundus o<strong>de</strong>r das lie<strong>de</strong>rliche<br />
Kleeblatt, Die verhängnissvolle Faschingsnacht von Johann Nestroy, Der arme<br />
Poet, Das Geständnis, Die eifersüchtige Frau – Verlegenheit und List, Die<br />
Erbschaft, Das Kind <strong>de</strong>r Liebe von August von Kotzebue erwähnenswert wären.<br />
Deswegen war es unverständlich, warum das Bukowinaer Lan<strong>de</strong>spräsidium o<strong>de</strong>r<br />
die Czernowitzer Gemein<strong>de</strong> Urbany nicht entgegengekomen sind, als er die<br />
Bewilligung verlangte, Theatervorstellungen zu veranstalten.<br />
Eine an<strong>de</strong>re Theatergesellschaft, die 1864 zum ersten Mal in Czernowitz auftrat,<br />
gehörte <strong>de</strong>m Theaterdirektor Gustav Sinnmayer, <strong>de</strong>m Sohn <strong>de</strong>s gewesenen<br />
Czernowitzer Stadtphysikus. Er bat die Behör<strong>de</strong>n um die Bewilligung, <strong>de</strong>utsche<br />
und polnische Stücke aufführen zu dürfen. Sinnmayer zeichnete sich im Laufe <strong>de</strong>r<br />
Zeit durch <strong>de</strong>n ungünstigen Gang seiner Geschäfte aus. Seine finanzielle Lage war<br />
immer schlechter, er hatte eine Schul<strong>de</strong>nlast von 1500 Fl. Deswegen versuchte er<br />
auch in Galizien, dann in <strong>de</strong>r Moldau, und zwar in Jassy, Theatervorstellungen<br />
aufzuführen.<br />
Obwohl Franz Urbany ein ziemlich gutes Angebot hatte und in einem<br />
Theateralmanach von 1851 die Gesellschaft <strong>de</strong>s Direktors Friese erwähnt wird, die<br />
Maria Stuart, Don Carlos, Die Räuber, Hamlet vorführte, wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Czernowitzer<br />
Publikum eher Lustspiele und Possen dargeboten. In <strong>de</strong>n 70er Jahren <strong>de</strong>s 19.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts konnte man aber in Czernowitz eine Umwandlung <strong>de</strong>s Geschmacks,<br />
was das Theater anbelangt, feststellen. Leo Flinker bemerkt in <strong>de</strong>m Artikel aus<br />
<strong>de</strong>m Tagblatt (1937) unter <strong>de</strong>m Titel „Reminiszenz aus Alt-CernăuŃi. Die Erbauung<br />
und Eröffnung <strong>de</strong>s Alten Stadttheaters vor 60 Jahren“ folgen<strong>de</strong>s:<br />
Auch muß sich ein, wenn anfangs kleiner, Kreis fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n unvergänglichen<br />
Schönheiten Goethes, Schillers, Grillparzers, Shakespeares lauschen und auch<br />
<strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s Lebens auf <strong>de</strong>r Bühne wertschätzen soll 8 .<br />
Im Jahre 1877 beschloß die Gemein<strong>de</strong>verwaltung, ein Theatergebäu<strong>de</strong> zu<br />
errichten. Der Bauplan stammte vom Architekten Gregor und die Bauleitung wur<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>m Stadtbauadjunkten Fröschel anvertraut. Die Innen<strong>de</strong>koration besorgte <strong>de</strong>r<br />
Wiener Maler Jobst.<br />
Die Theaterkommission fand für <strong>de</strong>n Bau <strong>de</strong>s Theaters <strong>de</strong>n Turnplatz von <strong>de</strong>r<br />
Schulgasse als einen geeigneten Platz,<br />
weil <strong>de</strong>rselbe mitten in <strong>de</strong>r Stadt von allen Richtungen auf Trottoiren zugänglich<br />
84
und das Gebäu<strong>de</strong> als unmittelbar in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Türkenbrunnes gelegen für <strong>de</strong>n<br />
Fall eines Bran<strong>de</strong>s leicht zu löschen wäre 9 .<br />
Am 11. Juli 1877 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r erste Spatenstich beim Bau <strong>de</strong>s Theaters gemacht,<br />
und am 27. November 1877 fand die feierliche Eröffnung statt. Die Chronik<br />
berichtet, daß schon lange vor <strong>de</strong>r angesetzten Stun<strong>de</strong> das Theater voll war.<br />
Als sich <strong>de</strong>r Vorhang hob, konnte man auf <strong>de</strong>r Bühne die Damen und die Herren<br />
<strong>de</strong>r Theatergesellschaft und <strong>de</strong>n ersten Direktor <strong>de</strong>s Theaters, Dietz, sehen.<br />
Fräulein Blume sprach einen von Herrn Strele verfaßten Prolog aus, und<br />
Kapellmeister Krechl leitete die Volkshymne und führte eine Festouvertüre auf.<br />
Dargeboten wur<strong>de</strong>n die dramatische Anekdote Gustl von Blasewitz, ferner das<br />
Lustspiel Wenn man nicht tanzt und die Operette Zehn Mädchen und kein Mann.<br />
Die Theaterkarten zu dieser Eröffnungvorstellung wur<strong>de</strong>n auf Sei<strong>de</strong> gedruckt.<br />
Nach <strong>de</strong>m groβen Brand in Chicago im Frühjahr 1904 verfügte <strong>de</strong>r damalige<br />
Lan<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nt Prinz Hohenlohe wegen Feuergefahr die Schlieβung <strong>de</strong>s<br />
Theaters. Das Gebäu<strong>de</strong> diente eine Zeit lang als Fleischhalle, und nach baulichen<br />
Umän<strong>de</strong>rungen wur<strong>de</strong>n hier Kinovorstellungen gegeben. 1904/1905 wur<strong>de</strong> das<br />
mo<strong>de</strong>rne Theatergebäu<strong>de</strong> errichtet. Davor steht ein Schiller-Denkmal 10.<br />
Schluβfolgerungen<br />
Die Arbeit von Teodor Bălan stellt einen interessanten Beitrag <strong>zur</strong> Geschichte <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utschen Theaters in <strong>de</strong>r Bukowina dar, insbeson<strong>de</strong>re dadurch, daß sie die<br />
Czernowitzer Gesellschaft, ihren Geschmack und die Mentalität <strong>de</strong>r Epoche in <strong>de</strong>n<br />
Mittlepunkt stellt. Da diese Arbeit einem Historiker zu verdanken ist, enthält sie<br />
eher geschichtliche als literarische Informationen, aber diese Tatsache vermin<strong>de</strong>rt<br />
ihren kulturellen Wert nicht.<br />
Anmerkungen<br />
1 Hurmuzache, Ştefan (1975): “Teodor Bălan”. In: Revista Arhivelor, 1/1975, S.<br />
66-69; Văcaru, Silviu (1999): “Sever Zotta în corespon<strong>de</strong>nŃa dintre Teodor Bălan <strong>şi</strong><br />
Constantin Turcu”. In Arhivele Moldovei, III-IV/ 1996-1997, Ia<strong>şi</strong>, S. 151.<br />
2 Geschichte <strong>de</strong>r Rumänen, Lehrbuch für die oberste Klasse <strong>de</strong>r Mittelschule von<br />
Teodor Bălan, Professor am Liceul “Aron Pumnul” in CernăuŃi, Genehmigt vom<br />
“Secretariatul <strong>de</strong> serviciu pentru instrucŃiunea publică a Bucovinei” mit <strong>de</strong>m Erlasse<br />
vom 15. September 1919, Zl. 2381, CernăuŃi, 1919.<br />
3 Oberschelp, Reinhard (Hrsg.) (1976): Gesamtverzeichnis <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschsprachigen<br />
Schrifttums (GV) 1911-1965, Band 7. Bearbeitet unter <strong>de</strong>r Leitung von Willi<br />
Gorzny. Mit einem Geleitwort von Wilhelm Totok, Verlag Dokumentation München,<br />
S. 317.<br />
4 Arhivele NaŃionale Istorice Centrale, Bestand Teodor Bălan, Akte Nr. 18, 165<br />
Seiten.<br />
5 Die Zeitungsartikel <strong>de</strong>s Anhangs und <strong>de</strong>ren Autoren sind: Leo Flinker,<br />
„Czernowitzer Theater. Reminiszenz aus Alt-CernăuŃi. Die Erbauung und<br />
Eröffnung <strong>de</strong>s alten Stadttheaters vor 60 Jahren“. In: Tagblatt, Nr. 691 und 692<br />
85
vom 28. und 30. November 1937; Raimund Friedrich Kaindl, „Zur Geschichte <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utschen Theaters in <strong>de</strong>n Karpathen-Län<strong>de</strong>rn“. In: Wiener Zeitung, Nr. 80, 1913;<br />
Stefan Rubasch, „Ich blättere in <strong>de</strong>r Czernowitzer Theatergeschichte“. In: Die<br />
Stimme, 12. Jahrgang, Nr. 71, 72, 1956, Tel-Aviv.<br />
6 Arhivele NaŃionale Istorice Centrale, Bestand Teodor Bălan, Akte 18, S. 91.<br />
7 Ebenda, S. 96.<br />
8 Ebenda, S. 152.<br />
9 Ebenda.<br />
10 Ebenda, S. 153.<br />
86
DARIA-MARIA JURCA – TONIA MARIŞESCU<br />
TEMESWAR<br />
Soziale, religiöse und ethnographische Aspekte in <strong>de</strong>n Schriften<br />
von Ignaz von Born, Francesco Griselini und Jakob Johann<br />
Ehrler bezüglich <strong>de</strong>r rumänischen Bevölkerung <strong>de</strong>s Banats im<br />
18. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
Die Reise im Europa <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
In <strong>de</strong>r europäischen Geschichte stellt das 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt eine Epoche dar, die<br />
sich durch wesentliche Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>n gesellschaftlichen und kulturellen<br />
Bereichen kennzeichnet. Ein grundlegen<strong>de</strong>s Merkmal dieser Zeitspanne bezieht<br />
sich auf die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Unbekannten. Der Wunsch, neue<br />
Kenntnisse zu erwerben, veranlaßt die Menschen dazu, aus <strong>de</strong>r Erstarrung in ihre<br />
Umwelt herauszutreten. Paul Hazards Forschungen auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r<br />
europäischen Aufklärung heben die Tatsache hervor, daß es sich um eine<br />
Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Reiselust handle. 1<br />
In diesem Zusammenhang sei das Herausgeben zahlreicher Reiseführer,<br />
Landkarten sowie die Veröffentlichung literarischer Werke erwähnenswert, in<br />
<strong>de</strong>nen die Motive <strong>de</strong>r Reise, <strong>de</strong>s Kennenlernens <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n im Mittelpunkt<br />
stehen 2 . Die Fahrt ins Unbekannte setzt, laut Romul Munteanu, eine Beziehung zu<br />
einem imaginären (Swift―Gulliver´s Travels, 1726) o<strong>de</strong>r wirklichen Raum voraus.<br />
Der rumänische Literaturwissenschaftler unterschei<strong>de</strong>t zwischen Reisen, die nur in<br />
<strong>de</strong>r Phantasie eines Schriftstellers stattfin<strong>de</strong>n (Montesquieu ― Lettres persanes,<br />
1722) und Reisen, die in <strong>de</strong>r Realität unternommen wer<strong>de</strong>n 3 . Nicht nur berühmte<br />
Autoren <strong>de</strong>r Weltliteratur (Her<strong>de</strong>r―Journal meiner Reise 1769; Goethe ―<br />
Italienische Reise, 1816-1817), son<strong>de</strong>rn auch Gelehrte, Missionare, Kaufleute,<br />
Seeleute folgen <strong>de</strong>m Drang nach <strong>de</strong>r Ferne. So entsteht eine große Zahl von<br />
Berichten, Beschreibungen und Briefen, die sowohl die geographische Lage, als<br />
auch die Geschichte, die Gesetze, die Bräuche und die religiösen Vorstellungen<br />
frem<strong>de</strong>r Völker bekannt machen. In diesem Kontext ist es sinnvoll, die Eindrücke<br />
dreier Aufklärer zu erwähnen, die sich zwischen 1770-1777 im Banat aufgehalten<br />
haben: In <strong>de</strong>r Auffassung von Ignaz von Born, Francesco Griselini und Jakob<br />
Johannes Ehrler zählt dieser Raum zu <strong>de</strong>n eigenartigsten Regionen ihrer Zeit.<br />
1<br />
Hazard, Paul (1973): Criza conştiinŃei europene, Bucureşti: Univers, 5.<br />
2<br />
Hazard, Paul: Criza conştiinŃei europene , 9.<br />
3<br />
Munteanu, Romul (1974): Cultura europeană în epoca luminilor Bucureşti: Univers, 271.<br />
87
Das Banat im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
Im Rahmen <strong>de</strong>r gespannten Verhältnisse zwischen <strong>de</strong>m Ottomanischen Reich und<br />
<strong>de</strong>n Habsburgern wird das Banat 1718 durch <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>nschluß von Passarovitz<br />
in die österreichische Monarchie eingeglie<strong>de</strong>rt. Demzufolge verbreitet sich<br />
hierzulan<strong>de</strong> sowohl die einheimische, als auch die abendländische Kultur. Als<br />
Eigentum <strong>de</strong>s Habsburger Kaisers, <strong>de</strong>r das sogennante “dominium secundum<br />
terrestrae” ausübt 4 , nimmt das Banat eine beson<strong>de</strong>re Stellung im<br />
südosteuropäischen Raum ein.<br />
Da dieses Randgebiet <strong>de</strong>s Österreichischen Reiches eine in mittelalterlichen<br />
Vorstellungen verankerte Region darstellt, versuchen die Habsburger, eine Reform<br />
im Sinne <strong>de</strong>r sozialen und erzieherischen I<strong>de</strong>ale <strong>de</strong>r Aufklärung im Banat<br />
durchzusetzen. Vor allem <strong>zur</strong> Zeit Maria Theresias, die “das Wohl ihrer<br />
Unterthanen zu beför<strong>de</strong>rn” 5 beabsichtigt, zielt die Kaiserliche Banater<br />
Lan<strong>de</strong>sadministration darauf, die Lebensbedingungen und die Denkweise <strong>de</strong>r<br />
Walachen 6 zu verän<strong>de</strong>rn.<br />
Als Voraussetzung <strong>de</strong>r Reformdurchführung erweist sich eine genaue Kenntnis <strong>de</strong>r<br />
Umwelt und <strong>de</strong>r Auffassungen <strong>de</strong>r einheimischen Bevölkerung als unentbehrlich.<br />
Ignaz von Born, Francesco Griselini und Jakob Johannes Ehrler wer<strong>de</strong>n damit<br />
beauftragt, Berichte über die reellen Sachverhalte im Banat abzufassen.<br />
Die ersten Studien über das Banat<br />
Ignaz von Born<br />
Im Jahre 1770 unternimmt <strong>de</strong>r Bergrat und Hüttenfachmann Ignaz von Born eine<br />
Studienreise ins Banat und nach Siebenbürgen, um die dortigen Bergwerkgebiete<br />
zu erforschen. Seine Eindrücke und Überlegungen teilt Born in <strong>de</strong>n Briefen an <strong>de</strong>n<br />
Gelehrten Johann Jakob Ferber mit, <strong>de</strong>r sie 1774 unter <strong>de</strong>m Titel Des Hrn. Ignaz,<br />
Edler von Born, Ritters, K. K. Berg Raths etc. Briefe über Mineralogische<br />
Gegenstän<strong>de</strong> auf seiner Reise durch das Temeswarer Bannat, Siebenbürgen,<br />
Ober- und Nie<strong>de</strong>r-Hungarn, an <strong>de</strong>n Herausgeber <strong>de</strong>rselben, Johann Jakob Ferber<br />
herausgibt. Es han<strong>de</strong>lt sich um das Werk eines bahnbrechen<strong>de</strong>n Wissenschaftlers,<br />
<strong>de</strong>r die Gegebenheiten im Banat <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts zum ersten Mal erforscht.<br />
Die <strong>de</strong>utschen, französischen und englischen Fassungen seiner Schriften<br />
berichten über ein Land und <strong>de</strong>ssen Bevölkerung, von <strong>de</strong>r „nur durch ein recht<br />
unbestimmtes Hörensagen irgen<strong>de</strong>ine Kun<strong>de</strong> zu beschaffen” 7 ist.<br />
4<br />
Bocşan, Nicolae (1986): ContribuŃii la istoria iluminismului românesc,Timişoara: Facla,<br />
53.<br />
5<br />
Lăzărescu, A. Dan (1985): Imaginea României prin călători, Timişoara: Facla, 267.<br />
6<br />
Born, Griselini und Ehrler verwen<strong>de</strong>n die Bezeichnung „Wallachen” (Walachen) in bezug<br />
auf die rumänische Bevölkerung <strong>de</strong>s Banats.<br />
7<br />
Liebhard, Franz (1967): „Griselini ― <strong>de</strong>r erste wissenschaftliche Erforscher <strong>de</strong>s Banats”.<br />
In: Neuer Weg, 9. September 1967, 4.<br />
88
Francesco Griselini<br />
Als Ergebnis eines vierjährigen Aufenthaltes im Banat (1774-1777) läßt <strong>de</strong>r<br />
Italiener Francesco Griselini ein „auf <strong>de</strong>r damaligen Höhe <strong>de</strong>r Wissenschaftlichkeit<br />
stehen<strong>de</strong>s Werk” 8 erscheinen. So haben die Leser <strong>de</strong>r Zeitschrift Nuovo Giornale<br />
d´Italia im Juli 1779 die Möglichkeit, die Lebensbedingungen und die Umwelt <strong>de</strong>r<br />
Menschen in einem Randgebiet <strong>de</strong>s Österreichischen Reiches kennenzulernen.<br />
Die <strong>de</strong>utsche Ausgabe mit <strong>de</strong>m Titel Versuch einer politischen und natürlichen<br />
Geschichte <strong>de</strong>s Temeswarer Banats in Briefen an Stan<strong>de</strong>spersonen und Gelehrte<br />
wird ein Jahr später in Wien veröffentlicht. Franz Liebhard bezeichnet <strong>de</strong>n Autor<br />
als einen „typischen Sohn <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts” 9 , <strong>de</strong>r, „einem Grundzug <strong>de</strong>s<br />
Zeitalters <strong>de</strong>r Aufklärung folgend”, sich <strong>de</strong>n Naturwissenschaften zuwen<strong>de</strong>t.<br />
Jakob Johannes Ehrler<br />
Im Unterschied zu <strong>de</strong>n zwei angeführten Schriften ist Ehrlers Bericht <strong>de</strong>n<br />
abendländischen Wissenschaftlern lange Zeit unbekannt geblieben. Erst im 20.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt ist das Manuskript in Budapest ent<strong>de</strong>ckt wor<strong>de</strong>n 10 . Als hoher Beamter<br />
<strong>de</strong>r Kaiserlichen Banater Lan<strong>de</strong>sadministration ist Ehrler 1774 vom Baron Joseph<br />
von Brigido beauftragt wor<strong>de</strong>n, die komplexe Lage <strong>de</strong>s Banats aus allen<br />
Gesichtspunkten zu untersuchen. Die eingehen<strong>de</strong>n Kenntnisse, die Ehrler auf<br />
seiner Forschungsreise gewonnen hat, spiegeln sich in <strong>de</strong>m Titel: Das Bannat, von<br />
Ursprung bis jetzto, nebst <strong>de</strong>r Nationalisten Sitten, Gebräuche, Religion,<br />
Kin<strong>de</strong>rzucht, Hauswirtschaft, Vermögen, Nahrungs- und Han<strong>de</strong>lsstön<strong>de</strong>s,<br />
Gebrechen, Obriegentheit <strong>de</strong>r Beamten, <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Merkwürdigkeiten, <strong>de</strong>ssen<br />
Grösse im Grun<strong>de</strong>, in Städten, Dörfern, Prädien, Menschen und Vieh, mit <strong>de</strong>m<br />
Anhang <strong>de</strong>r verbesserten Marsch-Route wi<strong>de</strong>r. Diese Studie ist ― laut Feneşans<br />
Bemerkungen im Vorwort <strong>zur</strong> rumänischen Fassung ― im Jahre 1775 bei <strong>de</strong>r<br />
kaiserlichen Reformdurchführung in Betracht gezogen wor<strong>de</strong>n 11 .<br />
Die Schil<strong>de</strong>rung Temeswars und seiner Umgebungen<br />
Am 14. Juni 1770 trifft Ignaz von Born in Temeswar ein. In seinem zweiten Brief an<br />
Ferber berichtet er über diesen Teil <strong>de</strong>s Banats folgen<strong>de</strong>rweise:<br />
Die Hauptstadt und gleichsam <strong>de</strong>r Mittelpunkt <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s ist Temeswar, ein<br />
regelmäßiger feiner und sehr fester Ort, welcher aber, wegen seiner tiefen und<br />
morastigen Lage, ziemlich ungesund ist. Fieber- und Entzündungskrankheiten von<br />
allen Gattungen, herrschen hier beständig, und verschaffen <strong>de</strong>n Ärzten eine<br />
immerwähren<strong>de</strong> Praxis.[…] Die ganze östliche Seite <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s ist gebirgig, und<br />
mehr bewohnt, die westliche Seite aber platt und sehr morastig. Auf dieser Seite<br />
gibt es große unbewohnte Ebenen, die man mit <strong>de</strong>utschen Colonien aus <strong>de</strong>m<br />
8 Liebhard, Franz: “Griselini ― <strong>de</strong>r erste wissenschaftliche Erforscher <strong>de</strong>s Banats”, 4.<br />
9 Liebhard, Franz: “Griselini ― <strong>de</strong>r erste wissenschaftliche Erforscher <strong>de</strong>s Banats”, 4.<br />
10 Lăzărescu, A., Dan: Imaginea României prin călători, 245.<br />
11 Ehrler, J. J.(1982): Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774): Timişoara: Facla, 8.<br />
89
Schwäbisch- und Rheinischen Kreisen zu besetzen versucht. 12<br />
Da Temeswar eine Garnisonstadt ist, wer<strong>de</strong>n hier Schulen für Offiziere eröffnet,<br />
die sich an „die <strong>de</strong>utsche Art“ gewöhnen müssen. Sowie das ganze Banat ist die<br />
Hauptstadt ein multikulturell geprägtes Gebiet, wo die Einwohner „Raizen<br />
(Serben), Walachen (Rumänen) und Deutsche“ sind 13 . Als gemeinsames Merkmal<br />
dieser Bevölkerungsschichten betrachtet <strong>de</strong>r Autor die Tatsache, daß sie <strong>de</strong>n<br />
schädlichen Einflüssen <strong>de</strong>r Umwelt ausgesetzt seien. Auf <strong>de</strong>n Straßen erblickt er<br />
überall „blasse, gelbgefärbte, eingefallene Gesichter“, die aus <strong>de</strong>n „schöngebauten<br />
Häusern“ hervorkommen. In <strong>de</strong>r Jahreszeit, in <strong>de</strong>r sich Born im Banat befin<strong>de</strong>t,<br />
steht Temeswar im Zeichen <strong>de</strong>r Krankheit:<br />
Die Frauen und Mädchen hatten dickgeschwollene Bäuche, die ihnen das Fieber<br />
<strong>zur</strong>ück ließ. Ich glaubte, im Reich <strong>de</strong>r Toten einherzuwan<strong>de</strong>ln; wo ich die Menschen<br />
für Leichen, und ihre Wohnungen für übertünchte Grabmäler ansehen könnte. 14<br />
Diese auf ausschließlich subjektiven Wahrnehmungen beruhen<strong>de</strong>n Äußerungen<br />
Borns geben keinen Aufschluß über die konkreten wirtschaftlichen und sozialen<br />
Gegebenheiten. Im Gegenteil dazu, stellt Ehrler diese Aspekte ausführlich dar. Zu<br />
seinen wichtigsten Feststellungen gehört diejenige, daß Temeswar sowohl von<br />
österreichischen, als auch von serbischen Behör<strong>de</strong>n verwaltet wird. In <strong>de</strong>r gut<br />
versorgten Burg herrscht Ordnung, was auch an <strong>de</strong>n schönen Häusern zu<br />
bemerken sei. Die Bevölkerung, die hauptsächlich aus Beamten, Soldaten und<br />
Offizieren, Kaufleuten und Handwerkern besteht, habe die besten<br />
Lebensbedingungen im Vergleich zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Bewohnern <strong>de</strong>s Banats, meint<br />
Ehrler. Der Wohlstand sei <strong>de</strong>r vorteilhaften geographischen Lage an <strong>de</strong>r Bega zu<br />
verdanken. 15 Ehrler fin<strong>de</strong>t die gesamten Verhältnisse Temeswars<br />
zufrie<strong>de</strong>nstellend. Nur <strong>de</strong>r gesundheitliche Zustand seiner Einwohner ließe zu<br />
wünschen übrig, <strong>de</strong>r auf schlechte Eß- und Trinkgewohnheiten <strong>zur</strong>ückzuführen<br />
wäre. 16<br />
Im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt ist Temeswar — wie Nicolae Bocşan erklärt — nicht nur das<br />
wirtschaftlich-politische, son<strong>de</strong>rn auch das kulturelle und kirchliche Zentrum <strong>de</strong>s<br />
Banats. 17 Hier befin<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Sitz zweier Bischöfe—eines katholischen und<br />
eines serbischen. Der serbische Bischof ist <strong>de</strong>r Seelsorger einer Hälfte <strong>de</strong>r Banater<br />
orthodoxen Gläubigen. Die an<strong>de</strong>ren wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m Bischof aus VârşeŃ betreut.<br />
Aus <strong>de</strong>r Schrift Ehrlers erhalten wir wichtige Informationen über die Temeswarer<br />
Gotteshäuser in dieser Epoche: es gibt zwei katholische Klöster <strong>de</strong>r Franziskaner<br />
12<br />
Horwath, Peter (1992) „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“. In: Donauschwäbische Forschungs-und Lehrblätter, 3/1992,<br />
59.<br />
13<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 60.<br />
14<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 59.<br />
15<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774):, 80.<br />
16 Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774): 81.<br />
17 Bocşan, Nicolae: ContribuŃii la istoria iluminismului românesc , 47.<br />
90
und eine Abtei <strong>de</strong>r Minoriten, sieben katholische und drei orthodoxe Kirchen. 18 .<br />
Diese Aufzählung unterstreicht die Tatsache, daß es sich um ein<br />
multikonfessionelles Gebiet han<strong>de</strong>lt. Eine interessante Bemerkung Ehrlers betrifft<br />
die Temeswarer Synagoge, wo Ju<strong>de</strong>n spanischer und <strong>de</strong>utscher Herkunft die<br />
Messe zelebrieren. Nicht zu vergessen ist <strong>de</strong>r prachtvolle katholische Dom, <strong>de</strong>r<br />
laut Ehrler zu <strong>de</strong>n schönsten in Ungarn gehöre und <strong>de</strong>r nur dank <strong>de</strong>r Großzügigkeit<br />
<strong>de</strong>r Kaiserin errichtet wor<strong>de</strong>n sei. 19<br />
Im Rahmen <strong>de</strong>r Reisebeschreibungen von Born und Ehrler durch das Banat stellt<br />
die Hauptstadt nur die erste Station dar. Auch Francesco Griselini, <strong>de</strong>r im<br />
September 1774 in Temeswar ankommt 20 , schreibt seine Eindrücke in einem Brief<br />
nie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ssen Übersetzung aber in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Fassung seines Saggio di<br />
Storia Civile e Naturale <strong>de</strong>l Bannato di Temeswar nicht vorhan<strong>de</strong>n ist. Es ist <strong>de</strong>r<br />
Beginn einer Fahrt, auf <strong>de</strong>r sie eine Welt ent<strong>de</strong>cken, die keineswegs einer<br />
mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft im Sinne <strong>de</strong>r Aufklärung entspricht.<br />
Der Glaube und die religiösen Vorstellungen <strong>de</strong>r Walachen<br />
In ihren Berichten über die rumänische Bevölkerung <strong>de</strong>s Banats richtet sich die<br />
Aufmerksamkeit von Born, Griselini und Ehrler auf die Darstellung <strong>de</strong>r<br />
einheimischen Auffassung von <strong>de</strong>r Religion. Ein gemeinsames Merkmal ihrer<br />
Schriften ist die kritische Äußerung über <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Walachen. So zum<br />
Beispiel sagt Ignaz von Born folgen<strong>de</strong>s:<br />
Sie bekennen sich zu <strong>de</strong>njenigen, die wir Graeci Ritus non Unitorum nennen. In <strong>de</strong>r<br />
That haben sie aber kaum mehr Religion, als ihr Vieh. Außer einem viermaligen<br />
Fasten, das beynahe die Hälfte <strong>de</strong>s Jahres einnimmt, und oft so streng ist, daß sie<br />
we<strong>de</strong>r Fleisch, noch Fisch, noch Eyer o<strong>de</strong>r Milch essen dürfen, haben sie keinen<br />
Begriff von an<strong>de</strong>ren Religionspflichten. Dies Geboth <strong>de</strong>r Fasten ist ihnen so heilig,<br />
daß sie es selbst zu <strong>de</strong>r Zeit, wo sie alle göttliche und weltliche Gesetze außer Acht<br />
lassen, unverbrüchlich halten. 21<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich um das Urteil <strong>de</strong>s Aufklärers über eine Bevölkerung, die<br />
hauptsächlich aus ungebil<strong>de</strong>ten Bauern besteht.<br />
Während <strong>de</strong>s Aufenthaltes in einem unbekannten Randgebiet <strong>de</strong>s<br />
Österreichischen Reiches ent<strong>de</strong>cken die Reisen<strong>de</strong>n eine Welt, die im Vergleich<br />
zum westlichen Teil Europas als primitiv anzusehen ist. Die Lebensweise und die<br />
Mentalität <strong>de</strong>r Einheimischen sind noch im Mittelalter erstarrt: „Ihnen mangelt<br />
Religion, Künste und Wissenschaften“ 22 , schreibt Ignaz von Born 1770, in einem<br />
Brief aus Temeschburg. „Diese Leute“, erklärt er,<br />
18<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774): 81.<br />
19<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774): 82.<br />
20<br />
Lăzărescu, A., Dan: Imaginea României prin călători, 261.<br />
21<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
22<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 60.<br />
91
haben keinen ächten Begriff von Gott und <strong>de</strong>r Seele: wie können sie welche von<br />
<strong>de</strong>n Pflichten <strong>de</strong>s Menschen und <strong>de</strong>s Bürgers haben? Alle natürlichen<br />
Erscheinungen, wovor sie die Ursache nicht einsehen, erklären sie durch<br />
Wun<strong>de</strong>rwerke. 23<br />
Als Sohn <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts ist Born davon überzeugt, daß die Walachen ein<br />
falsches Bild von <strong>de</strong>r Gottheit und von ihrer Umwelt gewonnen hätten.<br />
Sowohl <strong>de</strong>r berühmte Bergrat als auch Francesco Griselini und Johannes Ehrler<br />
lernen eine Vorstellungswelt kennen, die von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>r europäischen<br />
Aufklärung wesentlich abweicht. Immanuel Kants Ausruf — „Habe Mut, dich <strong>de</strong>ines<br />
eigenen Verstan<strong>de</strong>s zu bedienen!“ — ist <strong>de</strong>r Banater Bevölkerung im 18.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt noch unbekannt. Sogar <strong>de</strong>n hiesigen Geistlichen mangelt es an<br />
Kenntnissen:<br />
Nicht je<strong>de</strong>r dieser Popen kann fertig lesen, was wird er seiner Gemein<strong>de</strong> lehren? 24<br />
Die Unwissenheit und <strong>de</strong>r Aberglaube sind Begriffe, mit <strong>de</strong>nen sich die<br />
europäische Aufklärung kritisch auseinan<strong>de</strong>rsetzt. Die Gelehrten <strong>de</strong>s 18.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts, zu <strong>de</strong>nen auch die erwähnten Forscher gehören, ersetzen <strong>de</strong>n<br />
Offenbahrungsglauben durch eine Vernunftsreligion. Dadurch wer<strong>de</strong>n sie zugleich<br />
zu Anhängern <strong>de</strong>s Deismus:<br />
Gott habe die Welt zwar erschaffen und ihr die Naturgesetze gegeben, er greife<br />
aber in die Entwicklung <strong>de</strong>r Welt nicht mehr ein. Die Aufgabe <strong>de</strong>s Menschen sei es,<br />
die vernünftige Ordnung <strong>de</strong>r Naturgesetze zu erkennen und nach ihnen zu<br />
han<strong>de</strong>ln. 25<br />
Der Gegensatz zwischen <strong>de</strong>r von Rötzer erklärten aufklärerischen Haltung und<br />
<strong>de</strong>r Realität im Banat kommt in <strong>de</strong>n erwähnten Berichten <strong>de</strong>utlich zum Ausdruck.<br />
Johannes Ehrler bezeichnet die Einheimischen als ein Volk, das statt eines<br />
richtigen religiösen Bekenntnisses einen ausgeprägten Hang zum Aberglauben<br />
habe. 26 Als Illustrationsfaktum nennt er <strong>de</strong>n Schwur auf das Kreuz, Brot und Salz. 27<br />
An<strong>de</strong>rerseits ist Ignaz von Born <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r eine Erklärung für <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s<br />
„Kreuzbru<strong>de</strong>rs“ fin<strong>de</strong>t:<br />
Wenn zwey o<strong>de</strong>r mehrere eine unverbrüchliche Freundschaft errichten, so daß sie<br />
einan<strong>de</strong>r im Leben und im To<strong>de</strong> nicht verlassen wollen, pflegen sie ein Kreuz in das<br />
Geschirr zu legen, woraus sie essen und trinken, wobey sie sich ewige Treue<br />
zuschwören. 28<br />
Der siebenbürgische Schrifsteller glaubt zu wissen, daß es sich im Falle eines<br />
solchen Bun<strong>de</strong>s um „Vorboten von Räubereyen“ handle. Diese seien in seiner<br />
23<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 98.<br />
24<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
25<br />
Rötzer, Hans Gerd (1992): Geschichte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur. Epochen, Autoren,<br />
Werke, Bamberg: C. C. Buchner, 67.<br />
26<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 45.<br />
27 Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774): 46.<br />
28 Horwath, Peter: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 98.<br />
92
Sicht auf die mangelhafte erzieherische Rolle <strong>de</strong>r Kirche <strong>zur</strong>ückzuführen:<br />
Ihre Cannonischen Gesetze sind ganz an<strong>de</strong>rs als unsere; <strong>de</strong>r Diebstahl und <strong>de</strong>r<br />
Ehebruch wird für nichts geachtet; ein Mädchen um ihre Ehre zu bringen, ist<br />
hingegen eine viel größere Sün<strong>de</strong>; und eine Mordthat kann von ihren Pfaffen nicht<br />
nachgelassen wer<strong>de</strong>n. Nur Gott kann sie vergeben. 29<br />
Als Ausdruck <strong>de</strong>s falschen Glaubens <strong>de</strong>r Walachen gilt für Born auch die<br />
Tatsache, daß es für sie ein Vergehen be<strong>de</strong>utet, eine katholische Kirche zu<br />
betreten:<br />
Sie gehen nie in unsere Kirche, und wenn sie doch zuweilen dahin gehen müssen,<br />
so wer<strong>de</strong>n sie sich davon zu Hause mit Wasser reinigen. Am meisten scheuen sie<br />
das Weihwasser, so mit einem Sprengwe<strong>de</strong>l von Schweinsborsten angesprengt<br />
wird. Dies macht sie höchst unrein, o<strong>de</strong>r nach ihrer Sprache: Sporcat. Sie wer<strong>de</strong>n<br />
sogar die Klei<strong>de</strong>r waschen, auf welche solches Wasser gefallen ist. Ihr Pope theilt<br />
es mit einem zusammengebun<strong>de</strong>nen Strausse von Ysop aus. 30<br />
Im selben Kontext berichtet Born über die Kirchenbräuche, die ihm beson<strong>de</strong>rs<br />
aufgefallen sind:<br />
Die Kirchengebräuche o<strong>de</strong>r Ceremonien dieses Volkes riechen mehr nach <strong>de</strong>m<br />
Hey<strong>de</strong>n- und Ju<strong>de</strong>nthum, als nach jener Religion, zu <strong>de</strong>r sie sich bekennen. So<br />
tödtet z. E. bey ihnen das Weibsvolk kein Vieh, es sey von was für einer Gattung es<br />
wolle.[…] Das Weibsvolk ist in <strong>de</strong>r Kirche von <strong>de</strong>n Mannespersonen abgeson<strong>de</strong>rt.<br />
31<br />
Aus <strong>de</strong>n untersuchten Schriften kann man entnehmen, daß <strong>de</strong>r Glaube <strong>de</strong>r<br />
Walachen eher zu Hause als in <strong>de</strong>r Kirche zum Ausdruck kommt. Laut Ehrler<br />
wür<strong>de</strong>n eigentlich nur die älteren Personen <strong>zur</strong> Messe gehen, während nur die<br />
Fastenzeit von allen eingehalten wer<strong>de</strong>. 32 Die Menschen seien fest davon<br />
überzeugt, daß sie selig wür<strong>de</strong>n, wenn sie sich an dieses „Gesetz“ halten und<br />
einmal im Jahr beichten wür<strong>de</strong>n. 33 Sonst wüßten sie nichts von an<strong>de</strong>ren<br />
Religionspflichten und sogar die Räuber wür<strong>de</strong>n eher jeman<strong>de</strong>n umbringen als das<br />
Gebot zu mißachten. 34 Born schreibt, daß ein Räuber während seiner Raubtat das<br />
Fasten ganz gewiß nicht breche, noch „sich mit seinem Weibe vermische“; <strong>de</strong>nn<br />
sonst wür<strong>de</strong> Gott sein Unternehmen nicht segnen. 35 Diese sind Beobachtungen,<br />
die uns heute in Erstaunen versetzen, so daß wir uns die Frage stellen, ob sie<br />
nicht übertrieben sind. Es ist nämlich zu vermuten, daß we<strong>de</strong>r Born noch Ehrler<br />
29<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 98.<br />
30<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 98.<br />
31<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
32<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 37.<br />
33<br />
Griselini, Francesco (1984): Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului<br />
Timişoarei, Timişoara: Facla, 177.<br />
34<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 38.<br />
35<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
93
sich während <strong>de</strong>s Aufenthaltes im Banat mit <strong>de</strong>m Mitglied einer „Räuberban<strong>de</strong>“<br />
unterhalten haben.<br />
Die orthodoxen Geistlichen<br />
Unwissenheit und Aberglauben<br />
Born, Griselini und Ehrler sind <strong>de</strong>r Meinung, daß <strong>de</strong>r Aberglauben <strong>de</strong>s Volkes auf<br />
die Unkenntnis <strong>de</strong>r Pfarrer <strong>zur</strong>ückzuführen sei. Am meisten entsetzt über die<br />
Unbelesenheit <strong>de</strong>s Priestertums zeigt sich Ignaz von Born:<br />
Die Unwissenheit und <strong>de</strong>r Aberglaube <strong>de</strong>r Bonzen [buddhistischer Priester] kann<br />
unmöglich größer seyn, als die Unwissenheit und <strong>de</strong>r Aberglaube <strong>de</strong>r hiesigen<br />
Popen. Nicht je<strong>de</strong>r dieser Popen kann fertig lesen, was wird er seiner Gemein<strong>de</strong><br />
lehren? Er bestellt das Feld, hütet das Vieh. Wie je<strong>de</strong>r Bauer, schachert mit allem,<br />
wie ein Ju<strong>de</strong>, und zecht auf Kosten seiner dummen Gemein<strong>de</strong>, die ihm ihre Sün<strong>de</strong>n<br />
verkauft, und sich selig <strong>de</strong>nkt, wenn er ihre o<strong>de</strong>r ihrer verstorbenen Verwandten<br />
Sün<strong>de</strong>n, gegen eine billige Taxe übernimmt. 36<br />
In <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r drei Aufklärer können die walachischen Gottesdiener die<br />
Menschen im Sinne <strong>de</strong>r wahren Bekenntnis nicht erziehen, weil sie über keine<br />
theologische Bildung verfügen. Ihr Wissen beschränkt sich meistens auf die<br />
Fähigkeit <strong>de</strong>s Lesens und auf das Kennen <strong>de</strong>r Rituale. 37 Sie erscheinen als<br />
„verklei<strong>de</strong>te Bauern“, die unter <strong>de</strong>nselben Bedingungen wie die Mitglie<strong>de</strong>r ihrer<br />
Gemeinschaft leben und diesen von Wun<strong>de</strong>rwerken, Hexerei und<br />
Geisterbeschwörung erzählen. 38 Zur gleichen Zeit wer<strong>de</strong>n aber die Priester trotz<br />
ihrer Unbelesenheit von <strong>de</strong>n Gläubigen in <strong>de</strong>m Maße verehrt, daß letztere ihre<br />
Hand und ihr Gewand küssen. 39 Die „heilsamsten Verordnungen“ Maria Theresias<br />
seien laut Ignaz von Born nicht fähig, „<strong>de</strong>m gemeinen Manne <strong>de</strong>n Geist, <strong>de</strong>r<br />
Sclaverey zu benehmen“, mit <strong>de</strong>m er seinen geistlichen Vorgesetzten unterworfen<br />
sei.“ 40<br />
Die angeführten Beobachtungen in bezug auf die beschei<strong>de</strong>ne Lebensweise und<br />
auf das geringe Wissensvermögen <strong>de</strong>r orthodoxen Kleriker im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
lassen sich anhand einheimischer historischer Urkun<strong>de</strong>n nachweisen. Die Diener<br />
<strong>de</strong>r Kirche arbeiten tatsächlich wie die Bauern und bezahlen dieselben Abgaben 41 .<br />
Die meisten von ihnen können lesen, schreiben und die kanonischen Gebete<br />
36<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
37<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
177.<br />
38<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 37.<br />
39<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
179.<br />
40<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
41<br />
Păcurariu, Mircea (1996): Istoria Bisericii ortodoxe române, GalaŃi: Editura Episcopiei<br />
Dunării <strong>de</strong> Jos, 319.<br />
94
verrichten. Nur eine geringe Zahl <strong>de</strong>rjenigen, die von gelehrten Mönchen o<strong>de</strong>r<br />
gebil<strong>de</strong>ten Bischöfen in Klöstern unterrichtet wer<strong>de</strong>n, erweitern ihre Kenntnisse. 42<br />
Eine höhere theologische und humanistische Bildung ist für die orthodoxen<br />
Seelsorger erst gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts möglich, in<strong>de</strong>m die<br />
österreichische Verwaltung <strong>de</strong>s Banats spezielle Priesterseminare grün<strong>de</strong>n läßt. 43<br />
Der Bischof <strong>de</strong>r Walachen<br />
Ein an<strong>de</strong>rer Aspekt, <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>n Schriften von Ehrler und Griselini zum<br />
Ausdruck kommt, weist auf die Beziehung zwischen <strong>de</strong>n Priestern und <strong>de</strong>m<br />
Bischof hin. Die Gelehrten verurteilen die Haltung <strong>de</strong>r Geistlichen gegenüber ihren<br />
kirchlichen Vorgesetzten, <strong>de</strong>nen sie mit Leib und Seele unterworfen seien. 44 In<br />
humorvoll-ironischen Zügen beschreibt Johannes Ehrler <strong>de</strong>n Besuch <strong>de</strong>s Bischofs<br />
in einer Gemein<strong>de</strong>. Bei <strong>de</strong>r Ankunft <strong>de</strong>s Prälaten kämen ihm die Dorfbewohner mit<br />
Geschenken entgegen, um seine Gunst zu gewinnen. Nach <strong>de</strong>r Messe fin<strong>de</strong> ein<br />
reichliches Essen statt, wobei die Gäste so berauscht und pathetisch wür<strong>de</strong>n, daß<br />
sie <strong>de</strong>m Bischof ihre Pfer<strong>de</strong> und ihr Vieh unentgeltlich gäben, was sie natürlich am<br />
nächsten Tag bereuen wür<strong>de</strong>n. 45 Diese Information aus Ehrlers Briefen über das<br />
Banat kann durch rumänische Urkun<strong>de</strong>n bezeugt wer<strong>de</strong>n. So lesen wir im Werk<br />
Monografia Mitropoliei Banatului von Suciu, daß sowohl <strong>de</strong>r Seelenhirte als auch<br />
die Gläubigen die Prälaten mit Stoffen, Honig, Kerzen, Geld o<strong>de</strong>r Vieh beim<br />
Besuch ihrer Gemeinschaft beschenken wür<strong>de</strong>n. 46<br />
Im Banat <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts ist <strong>de</strong>r orthodoxe Bischof die einzige Person, die<br />
einen Geistlichen vor Gericht bringen darf. Die kirchlichen Vorgesetzten<br />
bestimmen die Strafe mit Berücksichtigung <strong>de</strong>r Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
Priester einen Fehltritt begangen hat. Manchmal wird er ― wie Păcurariu erwähnt<br />
― seines Amtes enthoben o<strong>de</strong>r man schnei<strong>de</strong>t ihm nur <strong>de</strong>n Bart und die Haare<br />
ab. 47 In seinem Brief über die Religion <strong>de</strong>r Walachen versucht Johannes Ehrler ein<br />
solches kanonisches Gericht zu schil<strong>de</strong>rn. Der schuldbelastete Pfarrer stehe im<br />
Gotteshaus inmitten seiner Gläubigen, während die Versammlung sich über seine<br />
„Unwürdigkeit“ äußere. Danach wer<strong>de</strong> er vor <strong>de</strong>n Altar geführt, wo <strong>de</strong>r Prälat ihm<br />
das heilige Gewand abreiße und ihn unter <strong>de</strong>n Schlägen seines Bischofsstabes<br />
aus <strong>de</strong>r Kirche vertreibe. 48<br />
Aus Ehrlers Schrift erfahren wir noch, daß <strong>de</strong>r ausgewählte Bischof ein Mönch<br />
sei. 49 Wenn seine Frau sterbe, könne laut Griselini auch ein Pfarrer in einem<br />
42<br />
Păcurariu, Mircea: Istoria Bisericii ortodoxe române, 318.<br />
43<br />
Suciu, I. D. (1977): Monografia Mitropoliei Banatului, Timişoara: Editura Mitropoliei<br />
Banatului, 118.<br />
44<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
177.<br />
45<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 38.<br />
46 Suciu, I. D.: Monografia Mitropoliei Banatului, 320.<br />
47 Păcurariu, Mircea: Istoria Bisericii ortodoxe române, 32.<br />
48 Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 40.<br />
49 Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 44.<br />
95
Kloster leben, weil er das zweite Mal nicht heiraten dürfe. 50 Heutzutage wird diese<br />
Regel in <strong>de</strong>r orthodoxen Kirche noch befolgt.<br />
Die untersuchten aufklärerischen Schriften sind eine zuverlässige Quelle für die<br />
heutige Forschung <strong>de</strong>s Banats im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt, obwohl sie die religiösen<br />
Vorstellungen und das Leben <strong>de</strong>r orthodoxen Priester meistens verachtungsvoll<br />
darstellen.<br />
Die Bräuche <strong>de</strong>r Walachen<br />
In ihren Schriften lenken Born, Griselini und Ehrler die Aufmerksamkeit auf die<br />
mit <strong>de</strong>r Hochzeit, <strong>de</strong>r Geburt, <strong>de</strong>r Taufe und <strong>de</strong>m Tod im Zusammenhang<br />
stehen<strong>de</strong>n Bräuche <strong>de</strong>r Walachen. Laut Du<strong>de</strong>n Universalwörterbuch ist <strong>de</strong>r Brauch<br />
die „innerhalb einer Gemeinschaft fest gewor<strong>de</strong>ne und in bestimmten Formen<br />
ausgebil<strong>de</strong>te Gewohnheit.“ 51 , <strong>de</strong>mzufolge erweist sich das Brauchtum <strong>de</strong>r<br />
Einheimischen als eines <strong>de</strong>r wichtigsten Elemente, die die rumänische<br />
Bevölkerung aus <strong>de</strong>m Banat kennzeichnet und sie zugleich als eine selbständige<br />
Gemeinschaft i<strong>de</strong>ntifiziert. In <strong>de</strong>m Kapitel über die Merkwürdigkeiten <strong>de</strong>s Banats<br />
meint Ehrler, daß die Sitten <strong>de</strong>r Einheimischen mit <strong>de</strong>njenigen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Völker<br />
nicht verglichen wer<strong>de</strong>n können. 52<br />
Was die Haltung <strong>de</strong>r drei Reisen<strong>de</strong>n gegenüber <strong>de</strong>n Bräuchen <strong>de</strong>r Walachen aus<br />
<strong>de</strong>m Banat betrifft, ist es angebracht, zwei gegensätzliche Aspekte zu<br />
unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Einerseits üben sowohl Born als auch Griselini und Ehrler Kritik an <strong>de</strong>r<br />
Unwissenheit <strong>de</strong>r Menschen und an ihrem Aberglauben. Folglich wer<strong>de</strong>n sehr oft<br />
die Tatsachen aus einer ironischen Perspektive betrachtet. Die abendländischen<br />
Gelehrten meinen, daß viele Bräuche <strong>de</strong>r Einheimischen aus <strong>de</strong>m Banat etwas<br />
Lächerliches seien. In dieser Hinsicht halten Born, Griselini und Ehrler die<br />
Walachen für ein ungebil<strong>de</strong>tes, einfaches Volk, das im Sinne <strong>de</strong>r aufklärerischen<br />
von <strong>de</strong>r Habsburger Monarchie durchgeführten Reformen erzogen wer<strong>de</strong>n müsse.<br />
Auf diese Weise können die von <strong>de</strong>r Regierung getroffenen, gegen die Denkweise<br />
und die Bräuche <strong>de</strong>r walachischen Bauern stoßen<strong>de</strong>n Maßnahmen 53 rechtfertigt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
An<strong>de</strong>rerseits ist es nicht zu übersehen, daß Born, Griselini und Ehrler die Sitten<br />
<strong>de</strong>r einheimischen Bevölkerung mit Interesse beobachten, erforschen und<br />
beschreiben. In seiner Untersuchung bezüglich <strong>de</strong>r europäischen Aufklärung<br />
betont Paul Hazard, daß im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt das Ent<strong>de</strong>cken frem<strong>de</strong>r Völker und<br />
<strong>de</strong>ren bis dahin unbenannten Weltauffassungen im Mittelpunkt <strong>de</strong>r<br />
50<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
187.<br />
51<br />
Drosdowski,G.(1996) (Hrsg.): Du<strong>de</strong>n – Deutsches Universalwörterbuch A-Z,<br />
Mannheim; Leipzig, Wien, Zürich: Du<strong>de</strong>nverlag, 280.<br />
52<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 122.<br />
53 Bocşan, Nicolae: ContribuŃii la istoria iluminismului românesc, 33.<br />
96
naturwissenschaftlichen Beschäftigung stehe. 54 Man kann schlußfolgern, daß auch<br />
das Banat als eine „neue Welt“ innerhalb <strong>de</strong>s Habsburger Herrschaftsgebietes<br />
betrachtet wird. 55 Die Mentalität und die Sitten <strong>de</strong>r Bevölkerung rufen die<br />
Bestürzung <strong>de</strong>r Gelehrten, die sich im Banat aufhalten, hervor, weil sie eine<br />
außergewöhnliche Welt in ihrer unmittelbaren Nähe ent<strong>de</strong>cken. In einem gewissen<br />
Maße üben also diese frem<strong>de</strong>n Bräuche eine Faszination auf die abendländischen<br />
Männer aus.<br />
In <strong>de</strong>n Augen Borns, Griselinis und Ehrlers ist das Erfahrene durch die Neuheit und<br />
Ursprünglichkeit etwas Einzigartiges.<br />
Trotz<strong>de</strong>m ver<strong>de</strong>utlicht die erwähnte zwiespältige Haltung, daß Born, Griselini und<br />
Ehrler das An<strong>de</strong>rssein, die Vorstellungen eines verschie<strong>de</strong>nen Volkes nicht<br />
akzeptieren können. Sie lehnen <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r meisten Bräuche <strong>de</strong>r Walachen ab.<br />
Im Vor<strong>de</strong>rgrund stehen also die Vorurteile, die Überzeugung davon, daß nur die<br />
aufklärerische Denkart und die abendländische Kultur wertvoll seien. Sie<br />
betrachten die Sitten <strong>de</strong>r Einheimischen als etwas Merkwürdiges und<br />
Unverständliches und sind <strong>zur</strong> gleichen Zeit <strong>de</strong>r Meinung, daß das Brauchtum <strong>de</strong>r<br />
Walachen unvernünftig sei. Für die Einheimischen haben aber alle Bräuche einen<br />
Sinn und einen logischen Zusammenhang. Im Ablauf <strong>de</strong>r Trauerzeremonie, zum<br />
Beispiel, spielt je<strong>de</strong>r Vorgang eine sehr wichtige Rolle und eine Verän<strong>de</strong>rung ist<br />
nicht möglich, ohne üble Folgen nach sich zu ziehen.<br />
Einerseits verstehen Born, Griselini und Ehrler diese Tatsachen nicht, weil sie nicht<br />
zu <strong>de</strong>r walachischen Gemeinschaft gehören. An<strong>de</strong>rerseits messen sie diesen<br />
Sitten keine Be<strong>de</strong>utung bei, weil sie das An<strong>de</strong>re nicht für wertvoll halten. Die<br />
Schlußfolgerung Borns ist ausschlaggebend:<br />
Die Lebensart dieser Leute ist sehr rauh, und ihre Sitten wild. 56<br />
Bezüglich <strong>de</strong>s Aberglaubens <strong>de</strong>r einheimischen rumänischen Bevölkerung äußert<br />
sich Ignaz von Born auf folgen<strong>de</strong> Weise:<br />
Da <strong>de</strong>r Aberglaube eine Tochter <strong>de</strong>r Dummheit ist, so können sie aus <strong>de</strong>m, was ich<br />
hier erzähle, leicht urtheilen, in was für einen hohen Gra<strong>de</strong> diese Nation unwissend<br />
sey. 57<br />
Aus diesem Gesichtspunkt sind die drei Reisen<strong>de</strong>n keine “Exoten“ 58 .<br />
Um mehrere Einzelheiten über das Brauchtum und über das Leben <strong>de</strong>r<br />
Einheimischen zu erfahren und diese ausreichend zu erläutern, betreiben die drei<br />
Reisen<strong>de</strong>n selbst Forschungen. Die Untersuchungen Ehrlers bezeugen zum ersten<br />
Mal das Vorhan<strong>de</strong>nsein zweier walachischen Bräuche, und zwar <strong>de</strong>s „Zerbrechens<br />
54 Hazard, Paul: Criza conştiinŃei europene, 13-15.<br />
55 He<strong>de</strong>şan, Otilia (1998): Şapte eseuri <strong>de</strong>spre strigoi, Timişoara: Marineasa, 22.<br />
56<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 60.<br />
57<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 99.<br />
58<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
97
<strong>de</strong>s Backofens“ und <strong>de</strong>s „Wegwerfens <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s“. 59<br />
In <strong>de</strong>n meisten Fällen wer<strong>de</strong>n die Sitten wahrheitsgetreu wie<strong>de</strong>rgegeben. Da aber<br />
zwei unterschiedliche Denkweisen aufeinan<strong>de</strong>rstoßen (die mittelalterlichen<br />
Vorstellungen <strong>de</strong>r Walachen gegenüber <strong>de</strong>njenigen <strong>de</strong>r abendländischen<br />
Gelehrten), übertreiben und entstellen Born, Griselini und Ehrler einige Tatsachen<br />
(z.B. wenn sie sich auf die „Vampyre“ beziehen). 60<br />
Ignaz von Born schil<strong>de</strong>rt die Bräuche <strong>de</strong>r Rumänen sehr knapp. Im Unterschied zu<br />
Born stellt Griselini die Sitten ausführlich dar, weil er seine Behauptungen<br />
überzeugend belegen will. Francesco Griselini gewährt <strong>de</strong>m Leser einen Einblick in<br />
die Ereignisse. Ehrler geht nicht auf viele Einzelheiten ein, aber er verschafft einen<br />
Überblick über die Bräuche <strong>de</strong>r Walachen.<br />
Die Briefe und die Berichte Borns, Griselinis und Ehrlers sind von<br />
ethnographischer Be<strong>de</strong>utung, trotz <strong>de</strong>r manchmal strengen Beurteilung mehrerer<br />
Aspekte <strong>de</strong>r walachischen Bräuche und Denkart. Sie liefern <strong>de</strong>m heutigen Leser<br />
und <strong>de</strong>n Fachleuten Informationen bezüglich <strong>de</strong>s Brauchtums <strong>de</strong>r Bevölkerung im<br />
Banat <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Diese Schriften zählen zu <strong>de</strong>n wenigen Quellen, die<br />
über die rumänischen Sitten dieser Epoche Auskunft geben können. Zur gleichen<br />
Zeit aber, um die Genauigkeit <strong>de</strong>r Beschreibung dieses Brauchtums zu prüfen, ist<br />
es angebracht, Vergleiche zu <strong>de</strong>n Sitten, die es heutzutage noch gibt, anzustellen.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wird <strong>de</strong>r Versuch unternommen, die Wi<strong>de</strong>rspiegelung <strong>de</strong>r<br />
einheimischen Bräuche in <strong>de</strong>n Werken Borns, Griselinis und Ehrlers zu erläutern.<br />
Gleichzeitig wird auch an die seit <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt bis heute <strong>zur</strong>eichend<br />
bezeugten Bräuche <strong>de</strong>r Rumänen angeknüpft.<br />
Die Hochzeit<br />
Griselini und Ehrler beschreiben <strong>de</strong>n Ablauf <strong>de</strong>r Hochzeit mit vielen Einzelheiten,<br />
von <strong>de</strong>r Verlobung und Entführung <strong>de</strong>s Mädchens bis <strong>zur</strong> Trauungsfeierlichkeit und<br />
Feier.<br />
Die Verlobung<br />
Die abendländischen Gelehrten betrachten die Verlobung <strong>de</strong>r Walachen als etwas<br />
Abenteuerliches und Einzigartiges. Zugleich aber werten sie diesen Brauch ab.<br />
Ehrler, z.B., verwen<strong>de</strong>t in bezug auf die Verlobung <strong>de</strong>r Einheimischen das Wort<br />
„lächerlich“. 61 Die Verlobung wird bei Griselini und Ehrler als ein Heiratsvertrag<br />
angesehen. Der Vater <strong>de</strong>s Mädchens müsse vom Vater <strong>de</strong>s künftigen Bräutigams<br />
Geld bekommen, damit seine Tochter <strong>de</strong>n Jungen heiraten könne. In <strong>de</strong>r<br />
übertriebenen Schil<strong>de</strong>rung Ehrlers wür<strong>de</strong>n sich die Eltern über <strong>de</strong>n Preis einig,<br />
59<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 42 („spartul cuptoarelor), 44<br />
(„lepădatul copilului”).<br />
60<br />
In seinem Werk: Imaginea românilor în spaŃiul lingvistic german, Bucureşti:<br />
Univers,1995, 247 bemerkt Klaus Heitmann, daß viele Reisen<strong>de</strong> und abendländische<br />
Gelehrten, die die Sachverhalte in Rumänien beschreiben, die Bräuche und <strong>de</strong>n Glauben<br />
<strong>de</strong>r eingesessen Bevölkerung entstellen.<br />
61<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 43.<br />
98
nach<strong>de</strong>m sie mehrere Liter “Rakie“ getrunken und sich mehrmals umarmt hätten. 62<br />
Griselini <strong>de</strong>utet darauf hin, daß man zwei Wochen nach <strong>de</strong>r Verlobung die<br />
Hochzeit feiere. 63 Diese Art <strong>de</strong>r Verlobung gibt es auch heute noch in vielen<br />
rumänischen Dörfern.<br />
Die Entführung<br />
Griselini und Ehrler stellen fest, daß ― vor <strong>de</strong>r Hochzeit ― <strong>de</strong>r Junge mit Hilfe<br />
seiner Freun<strong>de</strong> seine zukünftige Braut entführe und sie im Wald verstecke. Was<br />
diesen Brauch betrifft, gehen die Meinungen Griselinis und Ehrlers auseinan<strong>de</strong>r.<br />
Griselini weist darauf hin, daß das Mädchen nur manchmal entführt wer<strong>de</strong>, u.zw.<br />
dann, wenn ihre Eltern mit <strong>de</strong>r Heirat nicht einverstan<strong>de</strong>n seien. Der Junge wer<strong>de</strong><br />
mit <strong>de</strong>m von ihm bestochenen Pfarrer und mit <strong>de</strong>n Eltern <strong>de</strong>r jungen Frau<br />
„Verhandlungen“ führen. Meistens kommt es zu einer Einigung. Sonst wür<strong>de</strong>n die<br />
Verliebten in ein weit entferntes Dorf übersie<strong>de</strong>ln müssen. 64 Ehrler meint aber, daß<br />
das heimliche Fortschaffen <strong>de</strong>s Mädchens aus <strong>de</strong>m Haus ihrer Familie vor <strong>de</strong>r<br />
Hochzeit etwas Gewöhnliches sei. Die Eltern <strong>de</strong>s Mädchens wüßten, was<br />
geschehen sei, sie wür<strong>de</strong>n aber das Geheimnis nicht lüften, damit sie und die<br />
Verlobten vom Pfarrer und vom Richter nicht verurteilt wür<strong>de</strong>n. 65 Die Entführung<br />
<strong>de</strong>r Verlobten zählt zu <strong>de</strong>n rumänischen Bräuchen, die heute noch immer gepflegt<br />
wer<strong>de</strong>n, wobei es sich selbstverständlich um eine Vortäuschung, um die<br />
sogenannte „falsche Entführung“ han<strong>de</strong>lt.<br />
Die Trauungsfeierlichkeit und die Hochzeitsfeier<br />
Mit sehr vielen Einzelheiten schil<strong>de</strong>rt Griselini die kirchliche Trauung <strong>de</strong>r<br />
Walachen. Dem von ihren Freun<strong>de</strong>n begleiteten Mädchen „stürzen die Tränen aus<br />
<strong>de</strong>n Augen“ 66 , weil sie jetzt Abschied von <strong>de</strong>n Eltern und von <strong>de</strong>n Verwandten<br />
nehme. Sowohl im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt, als auch heutzutage be<strong>de</strong>utet die Heirat für<br />
eine junge Frau <strong>de</strong>n Anfang eines Lebens unter frem<strong>de</strong>n Menschen.<br />
In <strong>de</strong>r Kirche wür<strong>de</strong>n die Verlobten vor <strong>de</strong>m Altar knien. Der Priester setze <strong>de</strong>n<br />
Neugetrauten Kränze aus wohlriechen<strong>de</strong>n Kräutern und Blumen auf, und die Eltern<br />
wür<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Kirche Münzen und Nüsse ausstreuen. 67<br />
Es ist notwendig zu unterstreichen, daß die Hochzeitsbräuche ― im Unterschied<br />
zu <strong>de</strong>r Trauerzeremonie ― nicht genau festgelegt sind, daß also im Laufe <strong>de</strong>r Zeit<br />
Schwankungen vorkommen. Aus diesem Grund beschrieben die drei Forscher<br />
62<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 43.<br />
63<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
173.<br />
64<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
173.<br />
65<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 43.<br />
66<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
173.<br />
67<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
173.<br />
99
auch Sitten, die im 19. und im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt von <strong>de</strong>n Fachleuten nicht belegt<br />
wer<strong>de</strong>n konnten. Griselini und Ignaz von Born drücken die Tatsache aus, daß die<br />
Braut am ersten Hochzeitstag verschleiert bleiben müsse. Griselini meint, daß die<br />
Braut und die Frauen in einem an<strong>de</strong>ren Zimmer, nicht zusammen mit <strong>de</strong>n<br />
Männern, feiern wür<strong>de</strong>n. Die Frau bleibe inzwischen verschleiert. 68 Ignaz von Born<br />
betont, die Braut müsse <strong>de</strong>mjenigen, <strong>de</strong>r ihr <strong>de</strong>n Schleier wegziehe, einen Kuß<br />
geben. Dafür habe sie das Recht, ein Geschenk von ihm zu for<strong>de</strong>rn. 69 Griselini<br />
<strong>de</strong>utet darauf hin, daß die Frau von je<strong>de</strong>m Gast geküßt wer<strong>de</strong>, wenn dieser sich<br />
von ihr verabschie<strong>de</strong>.<br />
Was die Dauer <strong>de</strong>r Hochzeitsfeier anbelangt, sind Griselini und Ehrler<br />
verschie<strong>de</strong>ner Meinungen. Griselini äußert sich, daß die Walachen ― sowohl die<br />
Frauen, als auch die Männer, zusammen mit <strong>de</strong>m Richter und <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n ― die<br />
Hochzeit zwei Tage lang feiern wür<strong>de</strong>n. 70 Ehrler übertreibt, wenn er berichtet, das<br />
Hochzeitsfest dauere acht Tage. In dieser Zeit wür<strong>de</strong> auch in an<strong>de</strong>ren Dörfern, bei<br />
<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n, eine Feier veranstaltet. 71 Die neueren Forschungen heben hervor,<br />
daß die Braut und ihr Ehemann eine Woche nach <strong>de</strong>r Hochzeit das Dorf nicht<br />
verlassen dürfen, weil die Frau als unrein angesehen wird. Sie befin<strong>de</strong>t sich<br />
nämlich in einer Übergangszeit vom Mädchen <strong>zur</strong> Frau.<br />
Ehrler beschreibt auch an<strong>de</strong>re Bräuche, z.B. das „Zerbrechen <strong>de</strong>s Backofens“. 72<br />
Die Schwiegereltern wür<strong>de</strong>n hoch geschätzt, aber wenn sie nicht ausreichen<strong>de</strong><br />
Speisen zubereiten wür<strong>de</strong>n, zerbreche man ihre Backöfen.<br />
Griselini erklärt auch, daß nach <strong>de</strong>r Hochzeitsfeier die Braut in das Haus <strong>de</strong>r<br />
Schwiegereltern und <strong>de</strong>s Ehemannes einziehe. Bei dieser Gelegenheit bekomme<br />
sie von ihren Eltern die Mitgift, die aus Vieh, Schafen, Schweinen, Hem<strong>de</strong>n,<br />
Geschirr, aus einem Spinnrad und einem Webstuhl bestehe. 73 Die letzten zwei<br />
Gegenstän<strong>de</strong> symbolisieren ihre neue Rolle als verheiratete Frau und zukünftige<br />
Mutter, in <strong>de</strong>r sie sich allein <strong>zur</strong>echtfin<strong>de</strong>n muß.<br />
Die Geburt<br />
Griselini bewun<strong>de</strong>rt die jungen Frauen, die ohne Geburtshelferinnen entbin<strong>de</strong>n. Die<br />
Hebamme wer<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Großmutter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s vertreten. Am vierten Tag nach<br />
<strong>de</strong>r Geburt seien die Frauen wie<strong>de</strong>r imstan<strong>de</strong>, ihren Hausgeschäften<br />
nachzugehen. 74<br />
68<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
173.<br />
69<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 60.<br />
70<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
174.<br />
71<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 44.<br />
72<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774),44.<br />
73<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
174.<br />
74<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
100
Die Taufe<br />
Ehrler ist <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r sein Augenmerk auf die Taufe richtet. Er weist darauf<br />
hin, daß nur die Buben getauft wür<strong>de</strong>n. Die Eltern, Verwandten und die Freun<strong>de</strong><br />
wür<strong>de</strong>n eine Feier veranstalten. Es ist sinnvoll hervorzuheben, daß <strong>de</strong>r Beamte<br />
<strong>de</strong>n Brauch „das Wegwerfen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s“ zum ersten Mal beschreibt. Wenn die<br />
Mutter in <strong>de</strong>r Vergangenheit ein gestorbenes Kind <strong>zur</strong> Welt gebracht habe, wer<strong>de</strong><br />
sie so tun, als ob sie das neugeborene Kind hassen wür<strong>de</strong>. Das Kind wer<strong>de</strong> von<br />
<strong>de</strong>n Gästen auf <strong>de</strong>r Gasse verlassen. Sie wür<strong>de</strong>n glauben, daß Gott das Kind<br />
nehme, weil die Mutter es nicht liebe. Nach ein paar Minuten wer<strong>de</strong> das Kind von<br />
einem Nachbarn <strong>de</strong>r Mutter <strong>zur</strong>ückgebracht. Er wer<strong>de</strong> auf diese Weise <strong>de</strong>r Pate<br />
<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. 75 Dieser Brauch ist auch heute in <strong>de</strong>r Maramuresch, im Nord-Westen<br />
Rumäniens, und in <strong>de</strong>r Moldau anzutreffen. Es han<strong>de</strong>lt sich um das sogenannte<br />
„Verkaufen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s“, um einen Versuch, <strong>de</strong>n Tod zu täuschen.<br />
Die Verehrung <strong>de</strong>s Gestorbenen und die Trauerzeremonie<br />
Sowohl Born, als auch Griselini und Ehrler beziehen die Trauerzeremonie in ihre<br />
Berichte ein. Es geht um ein Ereignis, das die Teilnahme <strong>de</strong>r ganzen<br />
Gemeinschaft aus einem Dorf voraussetzt. Die drei Aufklärer teilen die Ansicht,<br />
daß die Walachen <strong>de</strong>m Verstorbenen beson<strong>de</strong>re Ehre erweisen wür<strong>de</strong>n. Das<br />
beeindruckt die abendländischen Gelehrten, die darauf hin<strong>de</strong>uten, daß die<br />
rumänische Bevölkerung <strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Tod im Zusammenhang stehen<strong>de</strong>n<br />
Bräuchen eine sehr große Be<strong>de</strong>utung beilege.<br />
Es muß ange<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n, daß die Darstellung <strong>de</strong>r Trauerfeierlichkeit bei Born,<br />
Griselini und Ehrler <strong>de</strong>r Wahrheit entspricht. Das Berichtete verdient Vertrauen,<br />
weil es durch die Ergebnisse <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong> vielfach bestätigt wor<strong>de</strong>n ist. Die<br />
Trauerfeierlichkeit gehört zu <strong>de</strong>n Bräuchen, die keinen Verän<strong>de</strong>rungen ausgesetzt<br />
wor<strong>de</strong>n sind.<br />
Der Verstorbene wer<strong>de</strong> mit seinen besten Klei<strong>de</strong>rn angezogen. 76 Man dürfe über<br />
ihn nicht übel sprechen, man müsse sich nur an seine guten Taten erinnern. Sogar<br />
die Fein<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Verstorbenen müßten zum Begräbnis kommen, sonst wer<strong>de</strong>n sie<br />
diesen als „Vampyr“ plagen. 77<br />
Griselini stellt fest, daß, wenn ein Mensch sterbe, die Familie ein weißes Tuch an<br />
die Haustür hänge. Er bemerkt, daß die Verwandten und die Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Verstorbenen im Zimmer, wo <strong>de</strong>r Sarg liegt, Wache halten wür<strong>de</strong>n. Wenn man<br />
etwas esse o<strong>de</strong>r trinke, streue und gieße man davon auch auf <strong>de</strong>n Sarg. 78 Ehrler<br />
weist darauf hin, daß an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Sarges, wo <strong>de</strong>r Kopf liege, ein Loch sei. Um<br />
die Erklärung dafür zu fin<strong>de</strong>n, sammelt er selbst Informationen. Ehrler erfährt, daß<br />
174.<br />
75<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 42.<br />
76<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 41.<br />
77<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
187.<br />
78<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
187.<br />
101
es sich um einen uralten Brauch handle: <strong>de</strong>r Verstorbene bleibe so in Verbindung<br />
mit <strong>de</strong>n Lebendigen. 79<br />
Born, Griselini und Ehrler beschreiben, was auf <strong>de</strong>m Weg zum Friedhof geschieht.<br />
Die Verwandten trügen <strong>de</strong>n Sarg und die Frauen wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Verstorbenen<br />
beweinen und klagen. 80 Ignaz von Born berichtet:<br />
Sie bringen <strong>de</strong>n Todten unter erbärmlichen Gehäule zu Grabe. Sobald <strong>de</strong>r Pope<br />
mit seinen Sprüchen fertig ist, senkt man ihn in die Grube. Hier erheben die<br />
Befreundten und die Bekannten ein gräßliches Geschrey. Sie rufen <strong>de</strong>m Todten zu,<br />
daß er Freun<strong>de</strong>, Eltern, Kin<strong>de</strong>r, Vieh, Haus und Wirtschaft habe, sie zählen ihm<br />
solches stückweise für, und <strong>de</strong>nn fragen sie ihn, warum er gestorben sey? 81<br />
Die drei Autoren können die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Klageweiber nicht verstehen.<br />
Eigentlich beweinen sie <strong>de</strong>n Verstorbenen nicht, son<strong>de</strong>rn sie zeigen diesem <strong>de</strong>n<br />
Weg ins Totenreich, in<strong>de</strong>m sie die Hinweise mit übermäßig lauter Stimme―damit<br />
<strong>de</strong>r Verstorbene sie „hören“ kann― rufen.<br />
Born beschreibt auch die Trauerfeier eines Bräutigams, <strong>de</strong>m man eine große Ehre<br />
bezeige:<br />
Man setzt auf sein Grab eine etliche Klafter lange Stange, an welche die Braut<br />
einen Blumenkranz, eine Fe<strong>de</strong>rspuhle und ein weisses Tuch bin<strong>de</strong>t. 82<br />
Born, Griselini und Ehrler schil<strong>de</strong>rn in ihren Schriften über das Banat das<br />
Totenmahl <strong>de</strong>r Walachen. Nach <strong>de</strong>m Begräbnis wür<strong>de</strong>n die Familienmitglie<strong>de</strong>r<br />
nach Hause gehen, wo sie Brot aus Weizenmehl essen und „Rakie“ trinken<br />
wür<strong>de</strong>n. Griselini und Ehrler sind <strong>de</strong>r Meinung, daß das Totenmahl oft zu einer<br />
Feier im wahren Sinne <strong>de</strong>s Wortes wer<strong>de</strong>, weil <strong>de</strong>n Walachen <strong>de</strong>r „Rakie“<br />
(Schnaps) zu gut schmecke. Alle drei Aufklärer stellen fest, daß es in einem Jahr<br />
mehrere Totenmahlzeiten gibt. Born fährt in seinem Bericht fort:<br />
[..] bäckt man Brot von Weizenmehl, […] und dabei nach <strong>de</strong>m Vermögen <strong>de</strong>s<br />
Hauses wacker gezecht wird. Das Heulen, das Begießen mit Wein und das<br />
Räuchern <strong>de</strong>s Grabes, wird von <strong>de</strong>n nächsten Freun<strong>de</strong>n einige Tage, oft einige<br />
Wochen fortgesetzt. 83<br />
Bei Griselini heißt es, daß die Reichen bei <strong>de</strong>r Totenmahlzeit <strong>de</strong>n Armen Kerzen,<br />
Essen und Geld gäben. Zur gleichen Zeit wür<strong>de</strong>n sie auch <strong>de</strong>m Pfarrer Geld<br />
zahlen, damit <strong>de</strong>r Verstorbene in <strong>de</strong>r Kirche zusammen mit <strong>de</strong>n Geistlichen<br />
begraben wer<strong>de</strong>. 84 Vor allem die wohlhaben<strong>de</strong>n Walachen wür<strong>de</strong>n dafür sorgen,<br />
79<br />
Ehrler, J.J.: Banatul <strong>de</strong> la origini până în acum (1774), 41.<br />
80<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
187-188.<br />
81<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
82<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 98.<br />
83<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
84<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
188.<br />
102
daß eine Kerze bei <strong>de</strong>m Grab ständig brenne. Griselini ist davon beeindruckt, wie<br />
sehr die walachischen Frauen lei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n, wenn jemand aus ihrer Familie<br />
sterbe. Der italienische Autor stellt fest, Totenmahlzeiten gäbe es nach drei, sechs<br />
bzw. vierzehn Tagen, aber auch nach drei, sechs Wochen und nach einem Jahr<br />
nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s Mannes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Frau. 85 Bei dieser Gelegenheit bringe man<br />
einen Kuchen und eine Kerze in die Kirche und zum Grab. Von <strong>de</strong>n drei Gelehrten<br />
scheint nur Ignaz von Born zu wissen, welcher <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>r Totenmahls ist, und<br />
zwar die „Versöhnung <strong>de</strong>r Seele“ 86 <strong>de</strong>s Verstorbenen.<br />
Eine wichtige Bemerkung Griselinis <strong>de</strong>utet auf die Ähnlichkeit dieser Bräuche <strong>de</strong>r<br />
Rumänen mit <strong>de</strong>n Sitten <strong>de</strong>r Bauern aus <strong>de</strong>m Sü<strong>de</strong>n Italiens hin. 87<br />
Die „Vampyre“<br />
Born betrachtet <strong>de</strong>n Glauben an Verstorbene, die die Leben<strong>de</strong>n plagen, als eine<br />
„Tochter <strong>de</strong>r Dummheit“, so daß die Walachen, laut Griselini, erbärmliche Opfer<br />
ihrer Unwissenheit seien. 88 Griselini meint, die Ursache für diesen Aberglauben sei<br />
das lange Fasten <strong>de</strong>r Einheimischen und das ständige Trinken von „Rakie“, Bier<br />
und Wein. 89 In <strong>de</strong>r Nacht hätten die schwachen Menschen Alpträume, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
Verstorbene ihnen das Blut aussaugen wolle. Dieser müsse folglich ausgegraben<br />
wer<strong>de</strong>n und ihm wer<strong>de</strong> man ein Messer durch die Brust stoßen. Wie an<strong>de</strong>re<br />
Zeitgenossen (z.B. Augustin Calmet) 90 schließt Griselini die mythologische<br />
Begründung dieser Erscheinung aus, für die er eine vernünftige Erklärung fin<strong>de</strong>t.<br />
Um diese abergläubische Haltung <strong>de</strong>r Walachen zu erläutern, verwen<strong>de</strong>n die<br />
abendländischen Forscher die Bezeichnung „Vampyr“. Es muß ange<strong>de</strong>utet<br />
wer<strong>de</strong>n, daß das Wort „Vampyr“ im Rumänischen ein aus <strong>de</strong>m Französischen<br />
entlehntes Fremdwort ist. Es erscheint zum ersten Male bei <strong>de</strong>m Schriftsteller<br />
Constantin Negruzzi im Jahre 1872. 91 Die einheimischen Entsprechungen dieses<br />
Wortes lauten: „strigoi“, „muroi“.<br />
Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Aberglauben <strong>de</strong>r Walachen ermöglicht Born und<br />
Griselini das Kennenlernern eines son<strong>de</strong>rbaren Volkes. Ihre kritischen Äußerungen<br />
führen <strong>zur</strong> Schlußfolgerung, daß sie das An<strong>de</strong>rssein geringschätzen. Zur gleichen<br />
Zeit versuchen sie die vernünftigen Erklärungen durchzusetzen. 92<br />
85<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
188-189.<br />
86<br />
Horwath, Peter: „Ignaz, Edler von Born ins Banat und nach Siebenbürgen:<br />
Ethnographische Skizzen“, 97.<br />
87<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
188.<br />
88<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
178.<br />
89<br />
Griselini, Francesco: Încercare <strong>de</strong> istorie politică <strong>şi</strong> naturală a Banatului Timişoarei,<br />
178.<br />
90 He<strong>de</strong>şan, Otilia: Şapte eseuri <strong>de</strong>spre strigoi, 17.<br />
91 He<strong>de</strong>şan, Otilia: Şapte eseuri <strong>de</strong>spre strigoi, 12.<br />
92 He<strong>de</strong>şan, Otilia: Şapte eseuri <strong>de</strong>spre strigoi, 22.<br />
103
Schlußfolgerungen<br />
Im Sinne <strong>de</strong>r Aufklärung erweisen sich Ignaz von Born, Francesco Griselini und<br />
Jakob Johannes Ehrler als gebil<strong>de</strong>te Bürgersöhne, die <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten<br />
Wissensgebieten aufgeschlossen sind und dadurch zu Anhängern <strong>de</strong>r<br />
Naturwissenschaften wer<strong>de</strong>n. Ihre Forschungen erregen auch heute unser<br />
Aufsehen, weil sie die Gelegenheit ausgenutzt haben, mit unbekannten<br />
Landschaften und Menschen unmittelbar in Berührung zu kommen. In ihren<br />
Reiseberichten bezwecken sie, die Gelehrten Europas mit <strong>de</strong>n „unvorstellbar weit,<br />
an die Schwelle <strong>de</strong>s Orients entrückten Gefil<strong>de</strong>n“ 93 vertraut zu machen.<br />
93 Liebhard, Franz: „Griselini ― <strong>de</strong>r erste wissenschaftliche Erforscher <strong>de</strong>s Banats”, 4.<br />
104
RADEGUNDE TÄUBER<br />
NUFRINGEN<br />
Johann Nepomuk Preyers 1 dramatisches Werk am Beispiel <strong>de</strong>r<br />
Tragödie Hannibal.<br />
Preyers Wege zum belletristischen Schaffen. Seine Teilnahme<br />
am Temeswarer Theaterleben<br />
1826 kam <strong>de</strong>r 21-jährige Preyer nach etwa viereinhalb Jahren Abwesenheit wie<strong>de</strong>r<br />
nach Temeswar. Vorschriftsgemäß wollte er hier ein juridisches Praktikum<br />
bestehen, um anschließend in Pest sein Rechtsstudium abschließen zu können. Er<br />
kam als verän<strong>de</strong>rter Mensch <strong>zur</strong>ück, als einer, <strong>de</strong>r in je<strong>de</strong>r Beziehung <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart zugewandt war. Neu war vor allem sein Interesse an Politik und an<br />
Fragen <strong>de</strong>r Ökonomie wie <strong>de</strong>s Finanzwesens. Geblieben waren Eigenschaften, die<br />
ihn schon als Schüler ausgezeichnet hatten: Strebsamkeit, Ernst,<br />
Gewissenhaftigkeit. Hinzugekommen: Ambitionen, im kulturellen Leben präsent zu<br />
1.a. Eckdaten zu seiner Person: *28.10.1805 in Lugosch/Banat – + 11.10.1888 in Kirchberg<br />
a.Wechsel / Nie<strong>de</strong>rösterreich; Bürgermeister von Temeswar (1844-1858); beachtliche<br />
Verdienste um die wirtschaftliche Entwicklung und Konsolidierung; nach seiner Enthebung<br />
aus <strong>de</strong>m Amt <strong>de</strong>s Bürgermeisters etwa drei Jahre lang in Gmun<strong>de</strong>n am Traunsee im<br />
freiwilligen “Exil“. En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s neoabsolutistischen Zeitalters Rückkehr und Aufenthalt in<br />
Temeswar bis <strong>zur</strong> Pensionierung 1876. Letzte Jahre in Kirchberg a. Wechsel. Verfasser <strong>de</strong>r<br />
ersten Monographie <strong>de</strong>r Stadt Temeswar; 1854 ausgezeichnet mit <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>nen Medaille<br />
für Wissenschaft und Kunst („<strong>de</strong> literis et artibus“).<br />
b. Die vorliegen<strong>de</strong> Untersuchung wur<strong>de</strong> als zweites von zwei Referaten gelegentlich einer<br />
Sitzung <strong>de</strong>s Lehrstuhls für Germanistik /Abt. Deutsche Sprache und Literatur an <strong>de</strong>r<br />
Universität Temeswar/ Timişoara präsentiert und von <strong>de</strong>n Kollegen, <strong>de</strong>nen es <strong>zur</strong> Einsicht<br />
vorgelegen hatte, besprochen (Masch., 48 S., April 1975). Vorangegangene Prüfungen und<br />
min<strong>de</strong>stens zwei Referate galten generell als Vorbedingung für die Verteidigung einer<br />
Dissertation <strong>zur</strong> Erlangung <strong>de</strong>r Doktorwür<strong>de</strong>. Auf das erste, im gleichen Rahmen vorgelegte<br />
Referat – Johann Nepomuk Preyers i<strong>de</strong>ologische und politische Haltung – untersucht auf<br />
Grund seiner Schriften, Briefe u.a. Zeitdokumente, 90 S., Januar 1975 – wird in <strong>de</strong>n<br />
Fußnoten dieser Arbeit unter <strong>de</strong>m Stichwort „Erstes Referat“ ( Lv. 67) hingewiesen. Die<br />
Sitzungsprotokolle , die das 1. wie das 2. Referat betreffen (6.03.75 bzw. 28.05.75), sind<br />
vorhan<strong>de</strong>n. – Wegen meines Antrags auf Aussiedlung in die B. R. Deutschland wur<strong>de</strong> mir<br />
die letzte Stufe versagt. Eine Zusammenfassung meiner Forschungsergebnisse erschien<br />
<strong>de</strong>ssen ungeachtet im Druck (Bukarest: Kriterion Verlag, 1977, .Lv. 68). Am ursprünglichen<br />
Text <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung mußte ich einige Än<strong>de</strong>rungen, meist Ergänzungen,<br />
vornehmen, wobei es sich meistens um wichtige Stellen aus <strong>de</strong>m ersten Referat bzw. aus<br />
<strong>de</strong>r früher veröffentl. Arbeit (Lv. 66) han<strong>de</strong>lt, seltener um eine Berücksichtigung neuerer<br />
Publikationen.<br />
105
sein. Dazu muß gesagt wer<strong>de</strong>n, daß die Stationen, die seiner beruflichen<br />
Ausbildung gedient hatten (Szegedin, Großwar<strong>de</strong>in, Preßburg, Ofen und Pest),<br />
gleichzeitig Stationen <strong>de</strong>s jungen Autodidakten auf seinem Weg zum Erfassen von<br />
belletristischer Literatur waren, und zwar solcher Werke, die in <strong>de</strong>n verbreitetsten<br />
„leben<strong>de</strong>n“ Sprachen 2 Europas <strong>de</strong>n gebil<strong>de</strong>ten Schichten Gesprächsstoff lieferten.<br />
Neben <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen galt sein Augenmerk <strong>de</strong>r englischen und französischen<br />
Literatur. Vor allem sein längeres Verweilen in Preßburg und später (1827-1828) in<br />
Pest und Ofen scheint <strong>de</strong>m Suchen<strong>de</strong>n neben <strong>de</strong>m, was die <strong>de</strong>utsche Bühne,<br />
Presse und <strong>de</strong>r Buchhan<strong>de</strong>l boten, auch Handfestes über Regeln <strong>de</strong>r Poetik und<br />
Richtlinien <strong>zur</strong> Literatur-und Theaterkritik vermittelt zu haben. 3 Überhaupt sind<br />
Presse und Theater im Vormärz – ihm entspricht in Ungarn in etwa <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s<br />
Reformzeitalters – zu maßgeben<strong>de</strong>n Faktoren <strong>de</strong>r Beeinflussung <strong>de</strong>r öffentlichen<br />
(politischen) Meinung, auch <strong>de</strong>r ästhetischen Anschauungen und <strong>de</strong>s Geschmacks<br />
gewor<strong>de</strong>n. Allgegenwärtig in diesem Raum waren die Wiener belletristischen und<br />
theaterkritischen Blätter, die Almanache und Taschenbücher. Ich erwähne Adolf<br />
Bäuerles Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur und<br />
geselliges Leben (1806-1859) und die Wiener Mo<strong>de</strong>-Zeitung und Zeitschrift für<br />
Kunst, schöne Literatur und Theater (1816-1848), herausgegeben von Johann<br />
Schickh 4 , fortgesetzt durch Friedrich Witthauer und <strong>de</strong>n Sammler. Ein<br />
Unterhaltungsblatt (1809-1846), herausgegeben von Ignaz Franz Castelli. Auf die<br />
2 Wie wichtig ihm dies gewesen ist, geht aus Preyers Biographischen Umrissen hervor.<br />
Zitate daraus fin<strong>de</strong>t man in <strong>de</strong>r in Buchform erschienenen Dissertationsschrift von Franz<br />
Anton [Ferenc Antal] Basch: Preyer Nepomuk János egy elfele<strong>de</strong>tt bánáti német íro. [J. N.<br />
P. – Ein vergessener Banater <strong>de</strong>utscher Schriftsteller] – Budapest 1927, S. 20: Im<br />
Temeswarer Piaristengymnasium waren <strong>de</strong>m sprachbegabten Jungen wohl soli<strong>de</strong><br />
Lateinkenntnisse vermittelt wor<strong>de</strong>n, vermutlich auch umfassen<strong>de</strong> Einblicke in die Kultur <strong>de</strong>r<br />
Antike, doch kein Einblick in das aktuelle kulturelle Leben. Der Besuch <strong>de</strong>s Theat ers war<br />
<strong>de</strong>n Schülern ebenfalls verboten. Die Situation <strong>de</strong>s Sechzehnjährigen sah je<strong>de</strong>nfalls so aus:<br />
„Ich hatte bisher keine Ahnung von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen o<strong>de</strong>r einer an<strong>de</strong>ren leben<strong>de</strong>n Literatur.“<br />
Da stieß er in Szegedin auf Kotzebues Tragödie Der Bru<strong>de</strong>rzwist. „Der Eindruck auf mich<br />
war ein großer, und von diesem Tage an hatte ich keine Ruhe mehr. Ich warf mich mit<br />
hitziger Begier<strong>de</strong> auf ein je<strong>de</strong>s Buch, <strong>de</strong>ssen ich habhaft wer<strong>de</strong>n konnte, und verschlang<br />
es.“ – Der schriftliche Nachlaß, <strong>de</strong>r Basch noch vollkommen <strong>zur</strong> Verfügung stand, ist<br />
während <strong>de</strong>s Zweiten Weltkriegs, kurz vor <strong>de</strong>m Einzug <strong>de</strong>r russischen Truppen ins Gebiet<br />
um Tápiószele von <strong>de</strong>n Verwandten, in <strong>de</strong>ren Verwahrung er sich befun<strong>de</strong>n hatte, bis auf<br />
einen geringen Teil verbrannt wor<strong>de</strong>n. Darunter bün<strong>de</strong>lweise Handschriftliches und<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz (so Dr. Hugo Hommonnay in Gesprächen mit <strong>de</strong>r Verfasserin).- Mehr<br />
darüber von R.T., Lv. 64, 65, 66 und 68; vgl.Anm. 26, 58 .<br />
3 Diesbezüglich wäre es sicherlich sinnvoll an folgen<strong>de</strong> Untersuchungen anzuknüpfen:<br />
Georg Jäger, Zur literarischen Gymnasialbildung in Österreich von <strong>de</strong>r Aufklärung bis zum<br />
Vormärz; Wolfgang Neuber, Zur Dichtungstheorie <strong>de</strong>r österreichischen Restauration – Die<br />
‚Institutio ad eloquentiam‘ . Bei<strong>de</strong> Untersuchungen in: Die österreichische Literatur. – Ihr<br />
Profil an <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong> vom 18. zum 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt (1750-1850), hg.von Herbert Zeman,<br />
Graz 1979, S.23-53 bzw. 85-118. vgl. diesbezüglich: H. Zeman (Hg), Literaturgeschichte<br />
Österreichs (Lv.83), S.314, Fußnote 26; – s.w.u. Anm. Nr.5. Was Preyer betrifft, so bleibt<br />
man aus <strong>de</strong>n oben genannten Grün<strong>de</strong>n hauptsächlich auf das Studium seiner gedruckt<br />
vorliegen<strong>de</strong>n Schriften angewiesen und wird sich mit Rückschlüssen, die sich daraus<br />
ergeben, zufrie<strong>de</strong>n geben müssen.<br />
4 Später u. d .T. Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mo<strong>de</strong>.<br />
106
literarischen Lehrjahre Preyers blickend, nenne ich: die Preßburger Zeitung mit<br />
ihrer Beilage, <strong>de</strong>m Unterhaltungsblatt 5 (1811-1826), die Iris (1825-1828) 6 in Ofen<br />
und Pest, in diesen Jahren die einzige belletristische Zeitschrift Ungarns; später<br />
(ab 1829) <strong>de</strong>n Spiegel für Kunst, Eleganz und Mo<strong>de</strong> (1829-1852) mit <strong>de</strong>r Beilage<br />
Der Schmetterling (Pest) 7 ; in Temeswar drei hintereinan<strong>de</strong>r erscheinen<strong>de</strong><br />
Publikationen, zwei davon ausschließlich Theaterblätter, alle herausgegeben von<br />
Joseph Klapka (1786-1863) 8 , <strong>de</strong>m amtieren<strong>de</strong>n Bürgermeister (1819-1833) und<br />
angesehensten Bürger <strong>de</strong>r Stadt, Besitzer <strong>de</strong>r damals einzigen Druckerei und seit<br />
1815 einer Leihbibliothek mit einem Bestand von 4000 Büchern, Abgeordneter <strong>de</strong>r<br />
freien Reichsstadt bei <strong>de</strong>n ungarischen Reichstagen von 1825-27 und 1832-36.<br />
Bei diesen von Klapka verlegten und gedruckten Blättern 9 han<strong>de</strong>lt es sich um<br />
Banater Zeitschrift für Landwirtschaft, Han<strong>de</strong>l, Künste und Gewerbe, Temeswar<br />
(1.07.1827- 30.09.1828), zweimal wöchentlich, ergänzt mit einem Inseratenteil,<br />
5 Für seine Preßburger Jahre können Kontakte zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Selbstbildungsverein<br />
angenommen wer<strong>de</strong>n; dieser ist mit <strong>de</strong>m „Goethekreis“ gleichzusetzen, <strong>de</strong>ssen treiben<strong>de</strong><br />
Kraft ab 1817 während <strong>de</strong>r langen Zeitspanne von 33 Jahren <strong>de</strong>r Gymnasiallehrer Gottfried<br />
Tobias Schröer (1791-1850) gewesen ist (häufigster Decknamen: Christian Oeser); siehe<br />
hierüber folgen<strong>de</strong> Untersuchung mit ausgiebig weiterführen<strong>de</strong>n Literaturangaben: Helga<br />
Hajdu-Juhász, Ein Preßburger Goethekreis. In: Studien <strong>zur</strong> Geschichte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschungarischen<br />
literarischen Beziehungen (Lv. 62). Schröers Sohn Karl Julius war<br />
germanistischer Lehrer Rudolf Steiners, vgl. K.K. Klein, Literaturgeschichte <strong>de</strong>s<br />
Deutschtums im Ausland, 1939, S.148 f. und H. Zeman, a. a. O. (Lv. 83), S.92<br />
6 Für die Iris. Zeitschrift für Wissen, Kunst und Leben, Pesth, zeichnen anfangs Carl<br />
Stielly und Sa-muel Rosenthal als Verleger und Herausgeber, ab <strong>de</strong>r Nr. 139, vom 21.<br />
Nov.1826, Stielly allein. Von <strong>de</strong>n Temeswarer Mitarbeitern sind es vor allem Franz Xaver<br />
Freund und Preyer, die engere Beziehungen zu ihm aufbauten. Über diese bei<strong>de</strong>n dürften<br />
sich die so fruchtbaren Kontakte Carl Stiellys zu Joseph Klapka angebahnt haben. Nach<br />
längeren Recherchen ist es mir gelungen, eine erste Biographie Stiellys zu erstellen. Der um<br />
1790 in Wien geb. St. hat sich um 1830 in Temeswar nie<strong>de</strong>rgelassen und wirkte u. a. als<br />
Redakteur am Temeswarer Wochenblatt. Er starb eine Woche nach <strong>de</strong>m Entsatz <strong>de</strong>r<br />
Festung, am 21. August 1849, wie FML Rukavina an <strong>de</strong>r Cholera. (Lv. 69).<br />
7 Der Spiegel ... 1829-31.12.1852, 25 Jahrgänge, Herausgeber und Verleger: Franz<br />
Wiesen, später seine Witwe. Redakteur/ Schriftleiter Stiellys ehemaliger Compagnon<br />
Samuel Rosenthal. (War Onkel <strong>de</strong>s in <strong>de</strong>n Rumänischen Fürstentümern Moldau und<br />
Walachei zu großem Ansehen gelangten Malers Constantin David Rosenthal; man vgl. Dan<br />
Grigorescu, Trei pictori <strong>de</strong> la 1848, Bucureşti 1967, S. 57), später Siegmund Saphir;<br />
Beiblatt Der Schmetterling (1.1.1832 -1850); war die einzige belletrist. Zeitschrift Ungarns,<br />
die die Revolutionsjahre überlebte; vgl. H. Réz, Lv. 54, S.30 f.<br />
8 Literatur über Joseph Klapka: u. a. Felix Milleker, Geschichte <strong>de</strong>s Buchdruckes und <strong>de</strong>s<br />
Zeitungswesens im Banat. 1769-1922. Weißkirchen, 1926, S. 11-15; Dr.Anton Peter Petri,<br />
Lexikon <strong>de</strong>s Banater Deutschtums, Mühldorf/Inn, 1992, Sp. 936-937; ebenda über seinen<br />
Vater Karl Joseph Norbert Klapka und seine Söhne Ferdinand Heinrich Edler von Klapka<br />
und Georg Mauritius Klapka, <strong>de</strong>n Revolutionsgeneral von 1848/49.<br />
9 Abgesehen wird hier von <strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>s Temeswarer gemeinnützigen, erheitern<strong>de</strong>n,<br />
belehren<strong>de</strong>n Haus- und Volkskalen<strong>de</strong>rs (ab 1827) sowie von <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>n ersten 10<br />
Jahren (1831-1840) als reines Mitteilungsblatt erscheinen<strong>de</strong>n Temeswarer Wochenblatt.<br />
Mehr über die Fortführung dieses Blattes mit erweitertem Profil w. u. im Text. Man vgl. dazu<br />
u. a. Walter Engel, Deutsche Literatur im Banat (1840-1939), Kapitel III, 1, S.21-54<br />
(Lv.10).<br />
107
<strong>de</strong>m „Intelligenz-Blatt“. Literarischen Erzeugnissen bot sie wenig Raum, doch<br />
(abgesehen von ihrer außeror<strong>de</strong>ntlichen Be<strong>de</strong>utung für das Be-kanntmachen<br />
neuester Techniken, neuester Bestrebungen und Einrichtungen in Wirtschaft,<br />
Sozialwesen und Han<strong>de</strong>l sowie für die Verbreitung <strong>de</strong>r Grundi<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s<br />
Reformzeitalters) gebührt ihr beson<strong>de</strong>re Beachtung wegen <strong>de</strong>r sehr ausführlichen<br />
Theater-(Opern)-Kritiken, die die Spielzeit 1827-1828 (von Allerheiligen bis Ostern)<br />
begleiten. 10<br />
Notizen über die dramatischen Leistungen <strong>de</strong>r Bühne-Gesellschaft <strong>de</strong>r Herren<br />
J[ohann, auch Jean] B[aptist] Hirschfeld und F[ranz] Herzog, während <strong>de</strong>s Winter-<br />
Curses 1828/29, zu Temeswar 11 - Das Goethewort „Lob und Ta<strong>de</strong>l muß ja seyn“ ist<br />
je<strong>de</strong>r Nummer als Leitspruch vorangestellt.<br />
Thalia. Kritische Beurtheilung <strong>de</strong>r Temeswarer Bühne-Leistungen, für Gebil<strong>de</strong>te. –<br />
Wintercours 1830-31 12 .<br />
10 Banater Zeitschrift ... Die Unsicherheit über <strong>de</strong>n 1. Jahrgang <strong>de</strong>r Zs. [1827], richtiger: die<br />
Unkenntnis darüber, daß es <strong>de</strong>n Jahrgang 1827 überhaupt gegeben hat, nahm ihren Anfang<br />
bei Berkeszi und ist vermutlich darauf <strong>zur</strong>ückzuführen, daß sich in <strong>de</strong>r Munizipalbibliothek<br />
von Temeswar nur ein einziger Bd. <strong>de</strong>r Zeitschrift befin<strong>de</strong>t – Nr. 53 vom 3.07. und bis <strong>zur</strong> Nr.<br />
78 (<strong>de</strong>r letzten) vom 30.09.1828. (S. 58 seiner Pressegeschichte Temeswars (ungar., Lv. 4;<br />
Faksimile <strong>de</strong>s Titelblattes <strong>de</strong>r Nr.53). Dieselbe Ansicht vertrat auch Felix Milleker (Lv. 41, S.<br />
12). Von einer Reihe an<strong>de</strong>rer Autoren wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Jg. I (1827) <strong>de</strong>sgleichen nicht in Erwägung<br />
gezogen (Barat Armin, F. A Basch, F. Liebhard, H. Réz; I. Iliesu u.a.); – über viele<br />
Jahrzehnte ein typischer Fall von „wan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>m Irrtum“, auf <strong>de</strong>n ich seit meinen<br />
Nachforschungen in <strong>de</strong>r Szécsényi-Bibliothek in Budapest im Sommer 1971 wie<strong>de</strong>rholt<br />
hingewiesen habe, nachdrücklich in <strong>de</strong>n Arbeiten Lv.66, S. 89 und Lv.70, S. 26. Die erste<br />
Fotoreproduktion <strong>de</strong>s Titelblattes <strong>de</strong>r Nr.1/1827 habe ich in meiner Preyer Monographie (Lv<br />
68), kurz darauf nochmals zusammen mit einem Titelblatt <strong>de</strong>r Notizen (s. u.) im Anhang von<br />
Lv.70 veröffentlicht. Dr. A. Krischan nimmt Bezug auf diese Arbeiten und übernimmt die<br />
Fotoreproduktionen, s. Lv. 34, S. 134 und S. 103/88.<br />
11 Notizen … Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r durch A. Hermann bekanntgewor<strong>de</strong>nen Blätter durch<br />
R.T. im Dezember 1977, und zwar <strong>de</strong>s gesamten Heftes, das sich hinter Glas in einem<br />
Rahmen in einem <strong>de</strong>r Abstellräume <strong>de</strong>s Temeswarer Museums befand. (Lv. 72). Das<br />
einzige, was u. a. F. Milleker und Dr. Maria Pechtol [Schütz] bekannt gewesen ist, waren Dr.<br />
Anton Hermanns kurze Mitteilungen (Lv. 25). Die Blätter galten schon in <strong>de</strong>n 20er Jahren als<br />
verschollen. Gesehen hatte ich das eingerahmte Titelblatt <strong>de</strong>r Nr. 2 bereits im Mai 1975 (in<br />
Begleitung von Kakucs Lajos, wiss. Angestellten <strong>de</strong>s Museums), doch bedurfte es mehrerer<br />
Anläufe, bis mir das Fotokopieren <strong>de</strong>s vermeintlich „einzigen “ Blattes gestattet wur<strong>de</strong>. Im<br />
Sommer 1984 habe ich Dr. Krischan eine Kopie <strong>de</strong>s gesamten Heftchens zugesandt, <strong>de</strong>r es<br />
dankenswerter Weise an die Széchényi-Nationalbibliothek <strong>de</strong>s ungar. Nationalmuseums<br />
weitergeleitet hat. Mitteilung <strong>de</strong>r dortigen Sign. (Lv. 34, S. 53): H. 62.598. Ebenda, S. 135,<br />
Reproduktion <strong>de</strong>s Titelblattes <strong>de</strong>r Nr. 2 und auf S. 103/88 Bezug auf die erste<br />
Pressemeldung (R. T./Lv.72).<br />
12 Thalia – laut Berkeszi (Lv. 4, S. 59 -60) und, gestützt auf diesen, Felix Milleker (Lv. 42,<br />
S.58) erschien sie vom 18. November 1830 bis März 1831, einmal wöchentlich , auf jeweils<br />
8-10 Seiten. Schriftleiter und Verleger/Druckerei wer<strong>de</strong>n nicht genannt; neuer Besitzer <strong>de</strong>r<br />
Klapkaschen Druckerei war je<strong>de</strong>nfalls seit kurzem Josef Beichel. Die Zeitschrift brachte<br />
Kritiken über Theater-und Opernaufführungen, auch sonstige Mitteilungen aus <strong>de</strong>m<br />
kulturellen Leben <strong>de</strong>r Stadt. Bekannt waren nur die Nr. 3/1830 und die Nr. 11/1831<br />
(Faksimile vom Titelblatt <strong>de</strong>r Nr. 3 auf S. 61). Heute sind auch diese bei<strong>de</strong>n Nummern<br />
verschollen.<br />
108
Die Tatsache, daß es im südöstlichen Teil <strong>de</strong>s Kaiserreichs ein solch intensives<br />
Bemühen um die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Theaters als Institution <strong>zur</strong> Bildung und Erziehung<br />
eines meist bürgerlichen Publikums gegeben hat, wird in allen<br />
theatergeschichtlichen Untersuchungen (auch in solchen, die eine breitere Optik<br />
haben, als die eines Lokalhistorikers) als Zeichen für „<strong>de</strong>n hohen<br />
Entwicklungsstand und die Blüte <strong>de</strong>s Temeswarer <strong>de</strong>utschen Theaters“ gewürdigt,<br />
zumal die Kritiker 13 Vertrautheit im Umgang mit <strong>de</strong>r Materie auf <strong>de</strong>m Stand <strong>de</strong>r<br />
„zeitgenössischen Dramaturgik“, dazu „Geist und Geschmack“ 14 erkennen lassen.<br />
Überdies läßt eine lebhafte Beteiligung von spontanen Einsen<strong>de</strong>rn auf ein<br />
beachtlich hohes Bildungsniveau und Selbstbewußtsein <strong>de</strong>s Temeswarer<br />
Theaterpublikums schließen. 15<br />
Nach all <strong>de</strong>m kann davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n, daß das Umfeld stimmte, in <strong>de</strong>m<br />
sich Preyer zum dramatischen Dichter entwickelte. Hinsichtlich <strong>de</strong>r Iris hat uns<br />
Franz Anton Basch ein Zitat aus Preyers Biographischen Umrissen übermittelt,<br />
wonach er an <strong>de</strong>r Redaktion <strong>de</strong>s Blattes teilhatte und sich mit „kleineren<br />
literarischen Arbeiten“ 16 beschäftigte. Für Klapkas Banater Zeitschrift und die<br />
bei<strong>de</strong>n Theaterblätter gibt es keine schlüssigen Aussagen. Auch Basch äußert<br />
diesbezüglich nur Vermutungen. Sicher ist, daß Preyer wie in <strong>de</strong>r Iris und später in<br />
an<strong>de</strong>ren Blättern seine eigenen Gedichte, Chara<strong>de</strong>n/ Rätsel, Erzählungen,<br />
Aphorismen usw. meist mit vollem Namen gezeichnet hat. An<strong>de</strong>rs waren die<br />
Gepflogenheiten in nahezu allen Zeitschriften <strong>de</strong>r Zeit, wenn es um lokale<br />
Berichterstattung o<strong>de</strong>r Theaterkritiken ging. Anonymität o<strong>de</strong>r irgend eine Chiffre,<br />
oft wechseln<strong>de</strong> Decknamen für ein und dieselbe Person, öffneten auch mancher<br />
Unart Tür und Tor, sorgten dafür, daß in vielen <strong>de</strong>r Zeitschriften insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r<br />
Korrespon<strong>de</strong>nzteil als Schlachtfeld herhalten mußte. Im übrigen sind es aber<br />
gera<strong>de</strong> diese Spalten, die ein (europa-)weites Netzwerk an Kulturaustausch<br />
erkennen lassen.<br />
Für eine gute Zusammenarbeit zwischen <strong>de</strong>m vielbeschäftigten Klapka und Preyer<br />
spricht je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>r Umstand, daß Preyer aus <strong>de</strong>m Dienst in <strong>de</strong>r Temescher<br />
Komitatskanzlei schied, um in <strong>de</strong>n städtischen Dienst überzuwechseln. Sofern er<br />
sich an Theaterbesprechungen beteiligt hat, kommen für Temeswar nur die zwei<br />
Theaterblätter in Frage, <strong>de</strong>nn während <strong>de</strong>s Winterkurses 1827/28 hielt er sich in<br />
Pest auf. Im Grun<strong>de</strong> ist es nicht nur ein schwieriges, son<strong>de</strong>rn auch ein fast<br />
13 Als Redakteur zeichnet namentlich nur Carl Schaubach.<br />
14 Zitate nach Anton Hermann, Lv. 25.<br />
15 Traditionsgemäß verabschie<strong>de</strong>te sich die Theater-und Operngesellschaft am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
letzten Vorstellung <strong>de</strong>s jeweiligen Winter-Kurses mit einem in <strong>de</strong>r Regel vom Souffleur <strong>de</strong>r<br />
Truppe verfaßten Theaterzettel. Am 26. März 1831 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Zuschauern ein<br />
überschwengliches Lob zuteil, das sicher nicht nur eine captatio benevolentiae für das<br />
nächste Jahr sein wollte: „Empfangen Sie die Versicherung dankbarer Menschen, daß wir in<br />
keinem Verhältnis unseres Lebens die rege Theilnahme, das aufmuntern<strong>de</strong> Wohlwollen und<br />
die Zufrie<strong>de</strong>nheit je vergessen wer<strong>de</strong>n, womit Sie uns beglückten. ... in unseren Herzen<br />
wer<strong>de</strong>n ewig leben: unsere Unterstützer! das beste Publikum! die edlen Bewohner<br />
Temeswars!“ – zitiert nach F. Milleker, Lv. 42, S. 29.<br />
16 Basch, a. a. O., S. 21. Basch spricht dabei von „anonym“ veröffentlichten Texten Preyers,<br />
was nicht zutrifft, sofern es sich um eigene literarische Produkte han<strong>de</strong>lt. (s. R.T. , Lv. 66, S.<br />
101).<br />
109
unnützes Geschäft, ihn hinter einem <strong>de</strong>r vielen Pseudonyme ent<strong>de</strong>cken zu wollen<br />
(die Iris miteingerechnet). Aus <strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>r damals schreiben<strong>de</strong>n Kritiker ragen<br />
je<strong>de</strong>nfalls Carl Stielly und Franz Xaver Feund 17 durch qualitativ hochstehen<strong>de</strong><br />
Beiträge heraus. Was Stielly anlangt, so wird er (wie schon in <strong>de</strong>n Spalten <strong>de</strong>r Iris)<br />
als „Charles“ o<strong>de</strong>r „Carl“ in <strong>de</strong>m ab 4. Juli 1840 zu einer schöngeistigen Zeitschrift<br />
umgewan<strong>de</strong>lten Temeswarer Wochenblatt ebenso soli<strong>de</strong> wie geistreiche Theaterbesprechungen<br />
liefern. 18 Dr. Walter Engel nennt ihn einen „scharfzüngigen“<br />
Kritiker, „<strong>de</strong>r die besten Chroniken im Wochenblatt zeichnete.“<br />
Der erste Beweis für Preyers selbständig-künstlerisches Schaffen auf<br />
dramatischem Gebiet ist die in Beichels Druckerei hergestellte und im<br />
Familienarchiv aufbewahrte Theateranzeige eines verschollenen Dramas Die<br />
Sühnung. Ein dramatisches Gedicht in vier Acten von J. N. Preyer, aufgeführt am<br />
19. Dezember 1831 unter <strong>de</strong>r Direktion von Theodor Müller, „zum Vortheile <strong>de</strong>s<br />
hiesigen bürgerlichen Krankenhauses“. Das Personenverzeichnis läßt auf ein in<br />
A<strong>de</strong>lskreisen spielen<strong>de</strong>s Familienstück mit <strong>de</strong>m Grafen Siegmund Stern als<br />
Oberhaupt schließen. Näheres ist we<strong>de</strong>r über das Stück noch über seine Wirkung<br />
bekannt.<br />
1833 erschienen von ihm im Wiener Sammler 25 Dramaturgische Aphorismen 19 .<br />
Der greise Preyer erwähnt sie in einem Brief an Ludwig August Frankl 20 als<br />
17 In C. v. Wurzbachs Biographischem Lexikon <strong>de</strong>s Kaiserthums Österreich (Lv. 81),<br />
Bd. 4, S. 351-352. fin<strong>de</strong>n sich Angaben sowohl über ihn als auch über seinen Sohn Karl;<br />
soweit sie F. X. Freund betreffen, unterlaufen ihm zwar einige Ungenauigkeiten (R.T.,<br />
Temeswarer Kulturreflexe /Lv. 70, S. 11, dazu Anm. 22 auf S. 31). Doch er macht auch<br />
Angaben, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf Mitteilungen <strong>de</strong>s Sohnes <strong>zur</strong>ückgehen,<br />
nennt u. a. das von F.X. Freund verfaßte Trauerspiel Virginia, das <strong>zur</strong> Aufführung nicht<br />
zugelassen wur<strong>de</strong>. In Zsidovar bei Lugosch hatte er ein Landgut. Bis etwa Mitte <strong>de</strong>r 40er<br />
Jahre war er Beamter <strong>de</strong>s Temescher Komitats in Temeswar; 1847-48 vertrat er – laut<br />
Mitteilungen. In: Der Südungar, Jg. I (1848), Nr. 10 vom 24. Okt., S. 37 – die Stadt Essek<br />
als Abgeordneter beim Ungarischen Reichstag, führte <strong>de</strong>n Titel eines königl. Rates und<br />
wirkte als Salz- und Dreißigstinspektor. Der von Jellacsics ein-gesetzte Commissar<br />
verordnete seine Rückkehr, da er die Stadt Essek beim Landtag nicht mehr vertreten wissen<br />
wollte. Robert Reiter hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß sein Enkel, Ferenczy<br />
Károly, und <strong>de</strong>ssen Kin<strong>de</strong>r, Beni und Noemi, als plastische Künstler zu hohem Ansehen<br />
gelangten; letztere lebte noch vor etwa 18 Jahren, hochbetagt, teils in Klausenburg /<br />
Rumänien, teils in Szent-Endre bei Budapest. Meine Versuche, sie zu erreichen, schlugen<br />
fehl.<br />
18 Karl Stielly (s. Fußnote Nr. 6) Meldungen aus Temeswar, die aus seiner Fe<strong>de</strong>r stammen,<br />
sind in etlichen Zeitschriften Österreichs und Ungarns anzutreffen, wobei er sich neben <strong>de</strong>n<br />
bei<strong>de</strong>n oben genannten Pseudonymen noch einer Reihe an<strong>de</strong>rer Chiffren bediente. Auf <strong>de</strong>n<br />
Irrtum von Dr. M. Pechtol [Schütz]. In: Thalia in Temeswar, S.108; „Charles“ sei „ein<br />
Kaufmann namens Werner, <strong>de</strong>r auch unter <strong>de</strong>m Pseudonym Karl Stichly schrieb“, gehe ich<br />
hier nicht ein, obwohl ich vor einigen Jahren herausgefun<strong>de</strong>n habe, wie es zu diesem Irrtum<br />
kommen konnte. Soweit es um die I<strong>de</strong>ntität Stiellys geht, beruft sich Dr. Walter Engel auf<br />
meine Recherchen, a. a. O., S. 42 bzw. Anm. 67 zu Kapitel III, S. 235.<br />
19 In: Sammler. Ein Unterhaltungsblatt. Wien: Jg.25 (1833), Nr. 83 (11.07.) S.332; Nr.85<br />
(16.07.),S.340; Nr. 89 (25.o7.), S. 356; Jg.26 (1834), Nr. 18 (11. 02.), S. 72; Nr. 20 (15.02.),<br />
S. 80; Nr. 27 (4.03.), S. 110; Nr.46 (17.04.), S. 186; Nr. 69 (10.06.), S.278; Nr. 72 (17.06.),<br />
S. 290; Nr. 79 (3.07), S. 318 (vollständig zusammengetragen im Sommer 1990).<br />
20 Briefe vom 25.11.1883 und 3.12.1883, Kirchberg am Wechsel. – Bei<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Wiener<br />
110
„unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n“ Beitrag. Preyer nimmt mit diesen Aphorismen Stellung zu<br />
Zeiterscheinungen auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschsprachigen Bühnen Europas, und zwar in einer<br />
Weise, wie sie von <strong>de</strong>n meisten anspruchsvolleren Kritikern seiner Zeit bezogen<br />
wur<strong>de</strong>. 21 Ich lasse drei Beispiele folgen:<br />
Aber die wahre Kunst, die Tochter <strong>de</strong>s Himmels, soll die Menschen zu sich<br />
emporheben, in<strong>de</strong>m sie sich scheinbar zu ihnen herabläßt.<br />
Ich sage, es ist für die <strong>de</strong>utsche Muse gewissermaßen unrühmlich, <strong>de</strong>n<br />
ungerathenen Kin<strong>de</strong>rn Scribe’s und Compagnie als Amme dienen zu müssen [ ...]<br />
Die <strong>de</strong>utsche Muse pflege ihre eigenen Kin<strong>de</strong>r mit mehr Sorgfalt und Liebe und<br />
bewahre ihre Selbständigkeit.<br />
Es muß daher je<strong>de</strong>r Schauspieler auch dann spielen, wenn er schweigt.<br />
Erwähnt wer<strong>de</strong>n muß hier schließlich noch ein dritter Beleg für Preyers reges<br />
Interesse am Theatergeschehen seiner Heimatstadt: Es han<strong>de</strong>lt sich um das an<br />
an<strong>de</strong>rer Stelle bereits erwähnte, gemeinsam mit Franz Xaver Freund an <strong>de</strong>n<br />
Stadtmagistrat gerichtete Gesuch Preyers vom 24.07.1837, worin sie um die<br />
Fortsetzung <strong>de</strong>s „in jüngst verflossenen Jahren [!]“ bestan<strong>de</strong>nen Theaterblattes<br />
Thalia „für die Dauer <strong>de</strong>s nächsten Theater-Courses“, das heißt, 1837-1838,<br />
ansuchen. Die Begründung ihres Anliegens entspricht vollkommen ihrer<br />
Auffassung von <strong>de</strong>r aktiven, bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Funktion <strong>de</strong>s Theaters in <strong>de</strong>r Gesellschaft.<br />
Mit <strong>de</strong>r abschlägigen Antwort, die <strong>de</strong>m Gesuch erteilt wur<strong>de</strong>, 22 scheinen Preyers<br />
theaterkritische und publizistische Bemühungen abgeschlossen zu sein. Je<strong>de</strong>nfalls<br />
fehlen Belege für eine Fortführung dieser Tätigkeit. Deshalb können als Grundlage<br />
für die Betrachtung seiner ästhetischen und dramaturgischen An-sichten nur seine<br />
dramatischen Arbeiten selbst befragt wer<strong>de</strong>n.<br />
Stadt- und Lan<strong>de</strong>sbibliothek, Handschriftensammlung, Nr. 98990 und 98991; Hinweis darauf<br />
durch H. Stănescu 1972 o<strong>de</strong>r 1973; Lv. 74, S. 102<br />
21 Nähere Untersuchungen hierüber: R. T. in <strong>de</strong>r Arbeit Das kulturelle Leben Temeswars in<br />
<strong>de</strong>r Zeitspanne 1825 – 1828 im Spiegel <strong>de</strong>r Zeitschriften Iris und Banater Zeitschrift,<br />
vorgetragen gelegentlich <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Tagung vom 07. – 08.11.1974; im Druck<br />
erschienen, s.Lv. 70<br />
22 Staatsarchiv Temeswar, Bestän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Bürgermeisteramtes 1837/18/ S. 188 und 189<br />
(Gesuch und Bescheid auf <strong>de</strong>mselben Dokument). Seit 1990 liegen mir die Kopien<br />
wichtiger Dokumente aus Budapester und Wiener Archiven vor. Erstmals zutage geför<strong>de</strong>rt ,<br />
gewähren sie ganz neue Einblicke in die Temeswarer Stadtgeschichte (auch in Joseph<br />
Klapkas und Preyers Leben) für <strong>de</strong>n Zeitraum 1832-1844, Jahre, in <strong>de</strong>nen es um die<br />
Neubesetzung <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong>n Posten im Stadtmagistrat und die Zusammensetzung <strong>de</strong>r<br />
Wahlgemein<strong>de</strong> ging, um eine Verlagerung <strong>de</strong>r Machtverhältnisse zugunsten <strong>de</strong>r illyrischen<br />
Faktion, begleitet von Intrigen, Betrug, Prozessen und <strong>de</strong>utscherseits um Protestaktionen,<br />
<strong>de</strong>mnach um Verhältnisse, die sich nachteilig auch auf das gesellige Leben und <strong>de</strong>n<br />
Kunstbetrieb auswirkten. R.T., Vortrag am 6. Dezember 1998 in Sin<strong>de</strong>lfingen; im Druck<br />
[gekürzt und ohne (!) dokumentar. Nachweis] s. Lv. 74. Bei<strong>de</strong>s unter <strong>de</strong>r Überschrift: Das<br />
<strong>de</strong>utsche Bürgertum von Temeswar wehrt sich /1832-1844. Petitionen an <strong>de</strong>n Kaiser.<br />
111
Preyer als Dramendichter inmitten eines weiten Fel<strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utscher Schauspielproduktion<br />
Seine dramatischen Arbeiten. Ein Überblick<br />
Als er im April 1854 von seiten <strong>de</strong>s k. k. Oberstkämmereramtes die Gol<strong>de</strong>ne<br />
Medaille „<strong>de</strong> literis et artibus“ erhielt 23 , hatte er zwei wichtige Prosaarbeiten und ein<br />
Drama (nebst zahlreichen kleineren lyrischen und epischen Dichtungen)<br />
veröffentlicht. Das waren:<br />
- Des ungarischen Bauer´s früherer und gegenwärtiger Zustand, nebst Darstellung<br />
<strong>de</strong>r Folgen und Wirkungen <strong>de</strong>sselben. Pesth 1838;<br />
- Monographie <strong>de</strong>r königlichen Freistadt Temesvar, 1853;<br />
– das Schauspiel Canova (1853), in Leipzig bei Brockhaus erschienen.<br />
Man mache sich aber keine Illusionen, die Auszeichnung hätte <strong>de</strong>m Künstler<br />
gegolten. Die Angelegenheit hatte einen recht prosaischen Verlauf, und man ließ<br />
ihm die Auszeichnung auf <strong>de</strong>m Postwege zukommen. Sie wur<strong>de</strong> ihm für seine<br />
Monographie verliehen. Er selbst hatte sie, <strong>de</strong>n Gepflogenheiten folgend und mit<br />
einem Begleitschreiben versehen, eingesandt – <strong>zur</strong> Erinnerung an <strong>de</strong>n dreitägigen<br />
Besuch Kaiser Franz Josephs I. in <strong>de</strong>r Stadt, wo dieser <strong>de</strong>n Grundstein für das zu<br />
errichten<strong>de</strong> Denkmal „an die hel<strong>de</strong>nmüthige Vertheidigung <strong>de</strong>r Festung im Jahre<br />
1849“ gelegt hatte.<br />
In seinem belletristischen Gesamtwerk nehmen jedoch seine vier, ab 1853 im<br />
Druck erschienenen Dramen <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utendsten Platz ein 24 , weshalb auch kaum<br />
eine Unterbrechung seiner Beziehungen zum Theater angenommen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Einige Sitzungsprotokolle <strong>de</strong>s Temeswarer Magistrats unter <strong>de</strong>m Vorsitz Preyers<br />
als Bürgermeister (1844-1858) beweisen, daß die Stadtleitung wie <strong>zur</strong> Zeit Josef<br />
Klapkas Maßnahmen traf, die es <strong>de</strong>n Theaterdirektoren wie <strong>de</strong>n Schauspielern<br />
ermöglichen sollten, unter erleichterten Pachtbedingungen bessere Vorstellungen<br />
zu bieten. 25<br />
Als eigentliche Perio<strong>de</strong> seines dramatischen Schaffens dürfte das Jahrzehnt 1850-<br />
1860 angenommen wer<strong>de</strong>n, da in dieser Zeitspanne drei seiner Dramen<br />
23 Einen ersten Hinweis auf diese Auszeichnung Preyers fand ich im Juli 1990 im<br />
Gmun<strong>de</strong>ner Wochenblatt Jg. IX (1859) Nr.1 vom 4.01., S. 5 („Besitzer <strong>de</strong>r gol<strong>de</strong>nen<br />
Medaille für Kunst und Wissenschaft“). Gezieltes Suchen in <strong>de</strong>n Wiener Archiven ließ mich<br />
(mit Unterstützung <strong>de</strong>r dort arbeiten<strong>de</strong>n Wissenschaftler) fündig wer<strong>de</strong>n. Die<br />
diesbezüglichen Schriftstücke befin<strong>de</strong>n sich im Österreichischen Staatsarchiv/ Abt. Haus-,<br />
Hof- und Staatsarchiv, bei <strong>de</strong>n Akten <strong>de</strong>s k. k. Obersthofmeisteramtes, Vortrag u. d. Nr.<br />
29/3166 vom 31.03.1854; darunter zwei eigenhändige Briefe Preyers: vom 21. Februar bzw.<br />
11. Mai 1854; ebenda das Schreiben vom 14. April 1854, das <strong>de</strong>r Medaille beigefügt war.<br />
24 Die meisten Lexika, in <strong>de</strong>nen Preyer vorkommt, erwähnen ihn nur als Dramatiker:<br />
Brümmer, Kosch und an<strong>de</strong>re; lediglich Hans Giebisch – Gustav Gugitz führen <strong>de</strong>n Lyrikband<br />
Ver sacrum an; Petrik Géza auch Des ungrischen Bauers ...<br />
25 Staatsarchiv Temeswar, Bestän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Bürgermeisteramtes 1844/15 S. 56 – 57; 1848/15<br />
S. 138 – 139; 1849/19 S. 69 – 96; 1853/77 S. 415 – 419; 1857/102 S. 492 – 503. Man<br />
vergleiche hierzu die Untersuchungen von Dr. Maria Pechtol: Thalia in Temeswar, a. a. O.,<br />
S.106 und 117.<br />
112
abgeschlossen wur<strong>de</strong>n: Canova, Die Sulioten und Hannibal. Das letzte, <strong>de</strong>r<br />
Hunyadi László, reicht in seinen Anfängen wahrscheinlich ebenfalls in diese Jahre<br />
hinein. (W. u. mehr <strong>zur</strong> Entstehung und zum Erscheinen <strong>de</strong>s Hannibal)<br />
Stoffe und Gestalten dieser Stücke sind geschichtlicher Natur, was im übrigen<br />
auch für einen guten Teil seiner Lyrik gilt sowie für seine soziologischen Studien<br />
und auch für seine späten epischen Dichtungen. Mit Ausnahme <strong>de</strong>s Canova, in<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Konflikt in die privat-menschliche Sphäre verlegt wird und das Problem<br />
<strong>de</strong>s entsagen<strong>de</strong>n Künstlers eigentlich ganz außerhalb <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Bezugs steht, wird in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Dramen das sozial-politische, beson<strong>de</strong>rs<br />
freiheitliche (im Hunyady László auch antifeudale) Anliegen in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund<br />
gerückt. Je<strong>de</strong>s dieser drei Dramen läßt, trotz aller historischen Einkleidung, <strong>de</strong>n<br />
Bezug auf <strong>de</strong>s Dichters unmittelbare Wirklichkeit erkennen.<br />
Alle seine im Druck erschienenen dramatischen Arbeiten sind Versdramen.<br />
Man weiß von einer einzigen Ausnahme, einer Komödie, einem Einakter, von <strong>de</strong>r<br />
F. A. Basch berichtet, er habe die Handschrift aus <strong>de</strong>m Nachlaß Preyers auf <strong>de</strong>m<br />
Gut seines Neffen Alexan<strong>de</strong>r Preyer (1860-1952), Sohn seines Bru<strong>de</strong>rs Josef<br />
(1811-1893), vorgefun<strong>de</strong>n. 26 Basch beurteilt sie aber dahingehend, in <strong>de</strong>r<br />
Schubla<strong>de</strong> habe sie ihren rechten Platz gefun<strong>de</strong>n. Der Gefangene seiner Frau, so<br />
<strong>de</strong>r Titel, sei laut Angaben von Alexan<strong>de</strong>r Preyer, pensioniertem Oberst, in <strong>de</strong>n<br />
Jahren vor seiner Übersiedlung nach Kirchberg, vermutlich noch in Temeswar<br />
entstan<strong>de</strong>n, eine Gelegenheitsdichtung <strong>zur</strong> Aufführung in kleinem Kreis gedacht,<br />
ursprünglich in Gödöllö in einem ungarischen Personenkreis han<strong>de</strong>lnd.<br />
Alltagssprache ohne rechten Witz, ein Stück ohne Situationskomik, ohne<br />
prickeln<strong>de</strong> Gesellschaftskritik. Die Verlegung <strong>de</strong>r Handlung durch spätere<br />
Korrektur an einen Ort mit einem beliebigen <strong>de</strong>utschen Namen sei ohne<br />
ersichtlichen Grund geschehen. Basch geht nur oberflächlich auf Inhalt und<br />
Komposition <strong>de</strong>s Einakters ein.<br />
Dies alles bleibt ohne Belang für <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung.<br />
Auffallend ist noch, daß Preyer seine vier Tragödien in namhaften Verlagen<br />
Deutschlands und Österreichs herausgebracht hat (Brockhaus in Leipzig bzw.<br />
Gerold´s Sohn in Wien), ein Umstand, <strong>de</strong>r Robert Reiter veranlaßte, ihn als <strong>de</strong>n<br />
„ersten Banater Dichter, <strong>de</strong>r groß<strong>de</strong>utsch fühlte“ 27 herauszustreichen. Dem muß<br />
man sicherlich insofern beipflichten, als Preyer auf literarischem Gebiet<br />
anspruchsvolle Literatur als Maßstab suchte und mit solcher schrittzuhalten<br />
trachtete. Seine Ambitionen gingen sicherlich auch dahin, vor einem gebil<strong>de</strong>ten<br />
und kritischen Publikum zu bestehen. Selbstverständlich be<strong>de</strong>utet dies gleichzeitig,<br />
er habe getrachtet, die provinzielle Enge zu durchbrechen. Dafür gibt es<br />
noch weitere Belege.<br />
Soviel sei noch festgehalten: Bedingt durch das Historische <strong>de</strong>s Stoffes, sodann<br />
bedingt durch seine hohe Auffassung von <strong>de</strong>n Aufgaben, <strong>de</strong>nen Kunst im<br />
gesellschaftlichen Leben zu genügen habe, bei gleichzeitiger Pflege <strong>de</strong>s<br />
gehobenen, für Versdramen kennzeichnen<strong>de</strong>n Sprachstils, erscheint das Bild von<br />
seinem dramatischen Schaffen einheitlicher als das seines lyrischen Werkes. Da<br />
26 F. A. Basch, a. a. O., S. 99 f., vgl. Anm. 2.<br />
27 Robert Reiter, “Der erste Banater, <strong>de</strong>r groß<strong>de</strong>utsch fühlte...” In: Südost<strong>de</strong>utsche<br />
Tageszeitung – Banater Ausgabe 1941, 28. 10., S. 5 (Lv. 53).<br />
113
wie dort ist er (wie im übrigen auf <strong>de</strong>r breiten Front <strong>de</strong>r Wirtschaft und <strong>de</strong>r<br />
politischen Ver-hältnisse und Bewegungen) immer bestens über die neuesten<br />
Ten<strong>de</strong>nzen und Sachverhalte informiert. In Temeswar begegnete man ihm gewiß<br />
nicht zufällig mit großem Respekt, ja mit Ehrfurcht. Von ihm hieß es, er sei <strong>de</strong>r<br />
gebil<strong>de</strong>tste Mann <strong>de</strong>r Stadt gewesen. 28 Daß es sich beim Schreiben von Dramen<br />
um die schwierigste <strong>de</strong>r literarischen Gattungen han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>ssen war er sich<br />
bewußt, um so mehr dürfte er sich mit <strong>de</strong>n älteren wie neuesten Dramentheorien<br />
auseinan<strong>de</strong>rgesetzt haben.<br />
In <strong>de</strong>n nächsten zwei Unterkapiteln sei das Augenmerk auf einige wenige Fragen<br />
<strong>de</strong>r Dramentheorie und Dramenpraxis gerichtet, die zu einem guten Teil auch für<br />
Preyers Dichten Gültigkeit hatten, auch helfen sollen, das Eigenständige, für ihn<br />
Bezeichnen<strong>de</strong> herauszufin<strong>de</strong>n. Das erste dieser bei<strong>de</strong>n Kapitel entwirft<br />
an<strong>de</strong>utungsweise ein Bild von <strong>de</strong>m Ernst, mit <strong>de</strong>m in Dichterwerkstätten erörtert<br />
wur<strong>de</strong>, das darauffolgen<strong>de</strong> rückt zwei Bearbeitungen <strong>de</strong>s Hannibal-Stoffes ins<br />
Blickfeld und ist wesentlich breiter angelegt. Mit bei<strong>de</strong>n soll die Ausgangssituation<br />
umrissen wer<strong>de</strong>n, damit auf dieser Grundlage Preyers Standort inmitten <strong>de</strong>r<br />
zeitgenössischen Dramenproduktion objektiver ermittelt wer<strong>de</strong>n kann, ebenso<br />
Fragen nach Schwächen und Qualitäten seiner Tragödie.<br />
Im Sog dramaturgischer Theorien<br />
Gültig vor allem für die Zeit <strong>de</strong>s Vormärz stellt Eduard Castle einen Übergang von<br />
patriotischer zu politischer Dichtung fest, dadurch gekennzeichnet, daß „das<br />
Historische in seiner Vorbildlichkeit für mo<strong>de</strong>rne Bestrebungen gefaßt wur<strong>de</strong>.“ 29<br />
Abgesehen davon, daß gera<strong>de</strong> im dramatischen Bereich die Wurzeln für diese<br />
Orientierungsweise vieler Künstler (nicht nur <strong>de</strong>r Poeten) viel weiter <strong>zur</strong>ückreichen,<br />
so wird sie erst gegen die Jahrhun<strong>de</strong>rtmitte <strong>zur</strong> beherrschen<strong>de</strong>n Strömung,<br />
bekannt als Historismus, die bis weit in die zweite Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jh. reicht.<br />
Der an Werken <strong>de</strong>r Aufklärung und Klassik geschulte Preyer, teilweise auch in<br />
bewußter Anlehnung an die Jung<strong>de</strong>utschen 30 , an Grillparzer und Hebbel 31 , hat mit<br />
28 F. A. Basch, a. a. O., S. 57, unter Berufung auf Szentkláray Jenö (1843-1925),<br />
Dompropst, korresp. Mitglied <strong>de</strong>r Ungar. Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Wissenschaften.<br />
29 Castle, Eduard [Nagl-Zeidler-Castle]: Deutsch-österreichische Literaturgeschichte.<br />
Wien (Lv. 8), Bd. 3, 1930, S. 740 (Bezug u. a. auf Anastasius Grün).<br />
30 Als Wegweiser für seine theoretische Annäherung an die Jung<strong>de</strong>utschen kann mit gutem<br />
Grund <strong>de</strong>r Pesther Spiegel angenommen wer<strong>de</strong>n. Ich zitiere H. Réz´: “Die neuesten<br />
<strong>de</strong>utschen literarischen Bestrebungen wur<strong>de</strong>n immer eingehend besprochen, in erster Reihe<br />
das ’Junge Deutschland’. Diese Zeitschrift hat das meiste für die Verbreitung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en<br />
‘Jung Deutschlands’ bei uns geleistet.“ a. a. O., S. 30. Ähnliches gilt damit für die<br />
philosophischen und ästhetischen Anschauungen Hegels und <strong>de</strong>r Junghegelianer – ein<br />
noch nicht gründlich erforschter Aspekt <strong>de</strong>s Spiegels, auch <strong>de</strong>s Ungars hg. von Hermann<br />
Klein; und selbst <strong>de</strong>r Iris, die diesbezüglich einen Vorreiter in Person <strong>de</strong>s herausragen<strong>de</strong>n<br />
Goethe-Interpreten „Alf“ [d.i. Aloys Flir] hatte. Die Anonymität „Alfs“ wur<strong>de</strong> streng gewahrt,<br />
nicht ohne Grund, wie manche <strong>de</strong>r Untersuchungen über <strong>de</strong>n politischen Zeitgeist ergeben;<br />
ein „Ausweichen“ Alfs auf das in Ungarn erscheinen<strong>de</strong> Blatt ist ebenso kein Zufall wie das<br />
Grillparzers mit seinem Gedicht Die Ruinen <strong>de</strong>s Campo-Vaccino in Rom, gedruckt 1820 in<br />
<strong>de</strong>r Vorläuferin <strong>de</strong>r Iris, in <strong>de</strong>r von Karl Festetics ebenfalls in Pest herausgegebenen<br />
Pannonia. Ich verweise hier lediglich auf Arbeiten von H. La<strong>de</strong>s, E. Winter, Eva Hermann,<br />
114
<strong>de</strong>m historischen Stoff seiner Dramen <strong>de</strong>sgleichen hintergründig Gegenwärtiges im<br />
Visier. Preyer schätzte wie so mancher seiner dichten<strong>de</strong>n Zeitgenossen am<br />
historischen Stoff die Möglichkeit, aktuelle Zeitprobleme verschleiert<br />
mitzugestalten, vorausgesetzt, daß die Symbolik für die Mitbürger transparent<br />
bleibe.<br />
Zu <strong>de</strong>r Frage über das Verhältnis zwischen Drama und Geschichte lasse ich –<br />
stellvertretend für viele an<strong>de</strong>re – Friedrich Hebbel mit grundsätzlichen Äußerungen<br />
über das auch von ihm befürwortete Analogieprinzip zu Wort kommen. In<strong>de</strong>m er<br />
sich auf Lessing und seine eigene dramatische Produktion bezieht, spricht Hebbel<br />
vom „Utilitätsverhältnis, worin das Drama zu ihr [<strong>de</strong>r Geschichte] steht.“ ...“Die<br />
Geschichte ist für <strong>de</strong>n Dichter ein Vehikel <strong>zur</strong> Verkörperung seiner Anschauungen<br />
und I<strong>de</strong>en, nicht aber umgekehrt <strong>de</strong>r Dichter <strong>de</strong>r Auferstehungsengel <strong>de</strong>r<br />
Geschichte.“ 32 Und mit gleicher Deutlichkeit: “Übrigens ist ein je<strong>de</strong>s Drama nur<br />
soweit lebendig, als es <strong>de</strong>r Zeit, in <strong>de</strong>r es entspringt, d. h. ihren höchsten und<br />
wahrsten Interessen, zum Ausdruck dient“, ... wie sie vom Dichter in „Bedürfnis,<br />
Richtung und Bewegung“ 33 aufgefaßt wird. In <strong>de</strong>r vielbeachteten Schrift Mein Wort<br />
zum Drama (1843) nimmt die Frage: „inwiefern muß es [das dramatische<br />
Kunstwerk] historisch sein?“ abermals einen wichtigen Platz ein. Er postuliert:<br />
„Kunst“ dürfe „für die höchste Geschichtsschreibung gelten“. Wie wenig dabei<br />
„höchste Geschichtsschreibung“ mit <strong>de</strong>tailgetreuer Geschichtschronik gemeinsam<br />
hat, machen Hebbels weitere Ausführungen <strong>de</strong>utlich; zugleich schärfen sie <strong>de</strong>n<br />
Blick <strong>de</strong>s Betrachters für die vielerlei Schwierigkeiten, mit <strong>de</strong>nen sich ein Dichter<br />
bei <strong>de</strong>r Umsetzung <strong>de</strong>r Historie in ein Drama konfrontiert sieht. Hebbel: ‘Wohl<br />
müsse <strong>de</strong>r Dramendichter „die Atmosphäre <strong>de</strong>r Zeiten“ <strong>zur</strong> Anschauung bringen,<br />
doch müsse das Drama „nicht bloß in seiner Totalität“, son<strong>de</strong>rn „in je<strong>de</strong>m seiner<br />
Elemente symbolisch“ sein und „als symbolisch betrachtet wer<strong>de</strong>n“‘. Mit dieser<br />
Sicht hängt <strong>de</strong>nn auch die Warnung zusammen, „mit beschränktem Sinn nach<br />
einer gemeinen I<strong>de</strong>ntität zwischen Kunst und Geschichte zu forschen und<br />
gegebene und verarbeitete Situationen und Charaktere ängstlich miteinan<strong>de</strong>r zu<br />
vergleichen“. 34 Bei so großzügig gewährten Lizenzen für <strong>de</strong>n Dramendichter<br />
H. Réz; Aloys Flir betreffend, die Artikel bzw. Forschungsergebnisse in: Franz Brümmer,<br />
Lexikon <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Dichter und Prosaisten <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts (s. Lv. 7), 6. Aufl<br />
1913, S. 232 f.; C. v. Wurzbach, Biographisches Lexicon (s. Lv. 81), Bd. 4, S. 267; H.<br />
Zeman (Hg.), Literaturgeschichte Österreichs (1996), S. 326, (unter Berufung auf:<br />
Herbert Seidler, Österreichischer Vormärz und Goethezeit. Geschichte einer<br />
literarischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung. Wien 1982). Auch auf <strong>de</strong>m Repertoire <strong>de</strong>r<br />
Temeswarer Bühne stan<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r Titel sogen. ‘jung<strong>de</strong>utscher’Autoren (Gutzkow,<br />
Laube u. a.).<br />
31<br />
Über <strong>de</strong>n handschriftlichen Nachlaß Preyers vgl. Anm. 2. So sind wir in puncto<br />
Gedankenaustausch Preyers mit Gleich- und Ähnlichgesinnten auf Vermutungen<br />
angewiesen, es sei <strong>de</strong>nn, daß ein glücklicher Fund (wie im Falle seiner Briefe an Pesty<br />
Frigyes, an L. A. Frankl, an Ormos u. a.) noch weiteres zutage för<strong>de</strong>rt. (Auswertung in<br />
früheren Arbeiten , s. R. T., Lv. 66) Auch was Grillparzers bzw. Hebbels Einfluß auf die<br />
poetologischen Ansichten Preyers anlangt, gibt es z. Z. keine gesicherten Erkenntnisse.<br />
32<br />
Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke in 12 Bän<strong>de</strong>n, hg. v. Adolf Stern. Mein Wort über das<br />
Drama (1843) in Bd. 9, S. 32 (Lv. 21)<br />
33<br />
Vorwort Hebbels <strong>zur</strong> Genoveva, Hamburg (1843), a. a. O., Bd. 1, S. 65<br />
34<br />
F. Hebbel, a. a. O., Bd. 9, S. 9, s. Fußnote 32. Man vgl. dazu w. u. [3.1.] die Ansichten<br />
115
gegenüber <strong>de</strong>m historischen Stoff, liegt subjektivstes Angehen bei ein und<br />
<strong>de</strong>rselben Materie auf <strong>de</strong>r Hand. Und was die Auffassung vom „Vehikel <strong>zur</strong><br />
Verkörperung seiner Anschauungen und I<strong>de</strong>en“ angeht, so droht die Gefahr, ein<br />
eher zum Lesen geeignetes Re<strong>de</strong>drama statt eines bühnenwirksamen Stückes zu<br />
schreiben.<br />
Als eine Gruppe für sich wer<strong>de</strong>n die Vertreter <strong>de</strong>s Münchner Kreises angesehen;<br />
für sie war das Geschichtsdrama eher unverbindliche, allgemeine<br />
Kulturgeschichte.<br />
In obigen Ausführungen habe ich Hebbels Anteil an diesen Diskussionen ganz<br />
bewußt stärker betont, weil für die Zeit <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Hannibal ein verstärkter<br />
Einfluß auf Preyer angenommen wer<strong>de</strong>n kann. Denn während <strong>de</strong>r nahezu drei<br />
Jahre seines „freiwilligen Exils“ waren die bei<strong>de</strong>n Dichter sozusagen Nachbarn.<br />
Preyer wohnte in Gmun<strong>de</strong>n am Traunsee, Hebbel verbrachte alljährlich die<br />
Sommermonate in Orth bei Gmun<strong>de</strong>n, wo er ein Häuschen mit großem Garten<br />
erworben hatte.<br />
Zeitgenössische dramatische Bearbeitungen <strong>de</strong>s Hannibal-Stoffes<br />
Lebensdaten: Hannibal [„Günstling <strong>de</strong>s Baal“], karthagischer Feldherr und<br />
Staatsmann, Sohn <strong>de</strong>s Hamilkar Barkas<br />
* 247/246 v.Chr. in Karthago<br />
+ [Selbstmord] 183 v.Chr. in Libussa in Bithynien, heute Gebze, 50 km<br />
westlich von Ismit /Türkei<br />
In nahezu je<strong>de</strong>m Lexikon kann man die wichtigsten historischen Fakten nachlesen,<br />
u. a. unter <strong>de</strong>n Stichwörtern: die (drei) Punischen Kriege, Hamilkar Barkas,<br />
Oberbefehlshaber (Stratege) über die karthagischen Truppen in Spanien, gest.<br />
(gefallen) 229/228 v. Chr.; Hasdrubal (2 x) einmal Hasdrubal: [<strong>de</strong>r Schöne],<br />
Hannibals Schwager, Nachfolger Hamilkars und Vorgänger Hannibals (etwa 229-<br />
221/220), ermor<strong>de</strong>t; vgl. dazu Anm. 37; zum an<strong>de</strong>ren: Hasdrubal Barkas,<br />
Hannibals jüngerer Bru<strong>de</strong>r; gefallen am Metaurus 207 v. Chr.; <strong>de</strong>m dritten<br />
Hasdrubal, <strong>de</strong>r in Preyers Tragödie vorkommt und durchaus eine historische<br />
Person sein könnte, Vorgänger Hannibals im Suffetenamt in Karthago (<strong>de</strong>m<br />
höchsten Amt im Staate), begegnet man in <strong>de</strong>n üblichen Lexika nicht. Sodann ist<br />
nachzuschlagen unter Publius Cornelius Scipio <strong>de</strong>m Älteren [Africanus], <strong>de</strong>m<br />
römischen Feldherren.<br />
Der in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur oft und unterschiedlich bearbeitete Hannibal-Stoff 35<br />
konnte im vorhinein nicht durch <strong>de</strong>n Geschehnisablauf, durch stofflich Neues,<br />
son<strong>de</strong>rn lediglich durch die Gestaltung und Betrachtungsweise ein mit <strong>de</strong>n Fakten<br />
im großen ganzen vertrautes Publikum ansprechen. Wie grundsätzlich verschie<strong>de</strong>n<br />
die Behandlungsmöglichkeiten <strong>de</strong>sselben historischen Stoffes sein können, dafür<br />
ist eine vorausgehen<strong>de</strong> Betrachtung <strong>de</strong>r Szene Hannibal und Scipio vor Zama von<br />
Franz Grillparzer (1835) und <strong>de</strong>r Tragödie Hannibal von Christian Dietrich Grabbe<br />
(1834-1835) aufschlußreich. Zugleich liefert diese Vorgangsweise die breitere<br />
von F. Sengle.<br />
35 In Max Schnei<strong>de</strong>rs Deutschem Titelbuch, 1927, S. 246, wer<strong>de</strong>n 8 Hannibal-<br />
Bearbeitungen erwähnt, die alle ins 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt fallen, darunter auch Preyers Tragödie.<br />
116
Basis für eine umfassen<strong>de</strong>re, vertiefte Analyse von Preyers Drama.<br />
Grillparzers Fragment Hannibal und Scipio vor Zama 36 nimmt die letzte<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Situation vor <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage Karthagos zum Anlaß, die Ursachen<br />
für das Scheitern <strong>de</strong>r Punier aufzu<strong>de</strong>cken. Grillparzer sieht die Ursache in <strong>de</strong>r<br />
Überlegenheit <strong>de</strong>s republikanischen Systems <strong>de</strong>r Römer gegenüber <strong>de</strong>r<br />
karthagischen Militärdiktatur 37 . Als Exponenten dieser gegensätzlichen<br />
Staatsprinzipien treten sich vor <strong>de</strong>r Schlacht Hannibal Barkas und Publius Scipio<br />
gegenüber, um über mögliche Frie<strong>de</strong>nsbedingungen zu verhan<strong>de</strong>ln. Eine<br />
dramatisch überaus fruchtbare Situation. Hannibal, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Antrag stellt, Frie<strong>de</strong>n<br />
zu schließen, bevor es zu neuem Blutvergießen kommt, verscherzt diese<br />
Möglichkeit jedoch durch kurzsichtigen Dünkel und Eigensinn, die noch immer<br />
nicht von ihm gewichen sind, obwohl er bereits alle Eroberungen eingebüßt hat<br />
und nur mehr über ein zahlenmäßig geringes Söldnerheer verfügt. 16 Jahre<br />
Kriegsführung in Italien, vor allem aber die Stagnation und Defensive, in <strong>de</strong>r sein<br />
Heer im Laufe <strong>de</strong>r letzten 12-13 Jahre verharrte, scheinen ihm kein tieferes<br />
Verständnis für die Aussichtslosigkeit seines Kampfes eröffnet zu haben. Denn er<br />
glaubt immer noch an seine Unbesiegbarkeit, was er auch seinem Gegner<br />
weiszumachen sucht. Er macht hauptsächlich <strong>de</strong>n „Zufall“ dafür verantwortlich,<br />
daß sich <strong>de</strong>r Feind „für einen Augenblick“ im Vorteil befin<strong>de</strong>t. Seine sture<br />
Geringschätzung für <strong>de</strong>n Feind läßt ihn <strong>de</strong>n Ernst <strong>de</strong>r Lage nicht erkennen, d.h. er<br />
bleibt blind für <strong>de</strong>n inzwischen neu herangebil<strong>de</strong>ten Kampfgeist <strong>de</strong>r Römer, auch<br />
für <strong>de</strong>ren moralische und politische Überlegenheit.<br />
Durch sein kleinliches und starrsinniges Feilschen während <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n<br />
Unterhandlungen, wobei er bloß schrittweise solche Zugeständnisse macht, die<br />
durch vorangegangene Nie<strong>de</strong>rlagen ohnehin vollzogene Tatsachen sind, und<br />
außer<strong>de</strong>m (im Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>zur</strong> Geschichtsschreibung, s. Anm. 37) Spanien weiter<br />
36 Aufführung <strong>de</strong>s Bruchstückes in einer Wiener Wohltätigkeitsaka<strong>de</strong>mie 1869 und 1891<br />
anläßlich <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Burgtheater abgehaltenen Sekulärfeier für Grillparzer. A. Erhard will<br />
die Groß-Szene Grillparzers nicht als Fragment aufgefaßt wissen, da sie ein „abgerun<strong>de</strong>tes<br />
Ganzes“ bil<strong>de</strong>t. In: Grillparzer, Sein Leben und seine Werke. Deutsche Ausgabe von M.<br />
Necker 1910, S. 350.<br />
37 Historisch rechtfertigt ist diese Auffassung Grillparzers dadurch, daß mit Hasdrubal<br />
Barkas, <strong>de</strong>m Schwiegersohn und Nachfolger Hamilkars als Stratege in Spanien (227 – 220<br />
v. Chr.), eine Verselbständigung <strong>de</strong>s Heeres <strong>de</strong>m Senat gegenüber einsetzte. Hasdrubal<br />
hatte nämlich für die Wahl <strong>de</strong>s Strategen in Spanien ein neues Verfahren eingeführt, in <strong>de</strong>m<br />
zuerst das Heer zu entschei<strong>de</strong>n hatte, während <strong>de</strong>r Senat und das Volk von Karthago diese<br />
Wahl bloß gutzuheißen hatten. H. Ch. Eucken spricht daher von einer „verwan<strong>de</strong>lten<br />
politischen Konstellation in Folge <strong>de</strong>r regulären Prärogative <strong>de</strong>s Heeres bei <strong>de</strong>r<br />
Strategenwahl“. Das Heer, das seine Führer selbst wählte, faßte sich als eine sich selbst<br />
bestimmen<strong>de</strong> Gruppe auf. Es wird politisiert, <strong>de</strong>r Feldherr gewinnt eine unabhängige<br />
Position gegenüber <strong>de</strong>n konkurrieren<strong>de</strong>n politischen Gewalten. Damit ist die spanische<br />
Provinz weitgehend zu einem unabhängigen Hoheitsgebiet Hasdrubals gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r wie<br />
ein iberischer Fürst auftrat, ein Amt, das er selbst ad hoc geschaffen hatte. Hannibals<br />
Position beruht weitgehend auf dieser von Hasdrubal geschaffenen unabhängigen<br />
spanischen Macht. Seine Politik steht aber wie<strong>de</strong>r im Dienst <strong>de</strong>s gesamten karthagischen<br />
Gemeinwesens. (Nach Eucken, Probleme <strong>de</strong>r Vorgeschichte <strong>de</strong>s Zweiten Punischen<br />
Krieges, S. 72 ff., 84 ff, 116, 121). In seiner Hannibal-Konzeption läßt Grillparzer diese<br />
wesentlichen Unterschie<strong>de</strong> zu seinem Vorgänger Hasdrubal allerdings außer Acht.<br />
117
für Karthago beansprucht, provoziert Hannibal die für Karthago verhängnisvolle<br />
Entscheidungsschlacht. Aufschlußreich für Grillparzers Absichten ist sein Streben,<br />
Hannibal mit Karthago gleichzusetzen: Er selbst vertritt hier <strong>de</strong>n kurzsichtigen<br />
Krämergeist <strong>de</strong>r einflußstarken Oppositionspartei innerhalb <strong>de</strong>s karthagischen<br />
Senats, die (historisch verbürgt) ihm, solange sie gefruchtet hätte, d.h. solange<br />
sein Heer in Italien noch siegreich war, ihre Unterstützung versagt hatte, was <strong>de</strong>nn<br />
auch allmählich, aber unvermeidlich zum Rückzug von Hannibals Heer und <strong>zur</strong><br />
Nie<strong>de</strong>rlage geführt hat. 38<br />
Abweichend von <strong>de</strong>n historischen Überlieferungen, erscheint Hannibal somit als<br />
Verkörperung eines von Machtgier und Ruhmsucht verblen<strong>de</strong>ten, wenn auch<br />
fähigen und tüchtigen Herrschers. Seine Anmaßung wur<strong>de</strong> ihm und seiner Heimat<br />
zum Verhängnis. Damit rückt diese Gestalt in unmittelbare Nähe seines Ottokar. 39<br />
Die Gestalt und das Geschick seines Zeitgenossen Napoleon dürfte, wie im Fall<br />
<strong>de</strong>s Ottokar, auch für die Hannibal-Konzeption Grillparzers entschei<strong>de</strong>nd gewesen<br />
sein, bloß daß es dadurch im Falle Hannibals zu einer verzerren<strong>de</strong>n Um<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>r historischen Gestalt kam.<br />
Die oben zitierte Stelle wird zum Angelpunkt für die Fortsetzung <strong>de</strong>s Gesprächs,<br />
das eben been<strong>de</strong>t schien. Dem autokratischen Standpunkt Hannibals ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Republikaners Scipio entgegengesetzt: „Scipio (auf seine Brust zeigend): Hier ist<br />
nicht Rom, [ ...]“ Von nun an wird das Gespräch von Scipio mit ernster<br />
Bedachtsamkeit und sicherer Überlegenheit beherrscht, so daß hier ein Umschlag<br />
einsetzt, <strong>de</strong>r sich im Aufbau <strong>de</strong>r Szene spiegelt; was 16 Jahre Kriegsführung mit<br />
Rom – unbegreiflicherweise – nicht vermocht hatten, bahnt sich hier an: Die<br />
Erkenntnis Hannibals, daß Roms Siege nicht einem bloßen „Zufall“ zuzuschreiben<br />
sind, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Überlegenheit eines durch Tradition gefestigten<br />
republikanischen Gemeinschaftswesens begrün<strong>de</strong>t sind. Scipio, als Sprachrohr <strong>de</strong>r<br />
staatspolitischen Überzeugungen Grillparzers, bringt folgen<strong>de</strong> Richtigstellungen zu<br />
<strong>de</strong>n konstruierten Äußerungen seines ( künstlich verbogenen) Hannibal: Rom als<br />
Staat sei das Ganze, Mächtige, Überdauern<strong>de</strong>; <strong>de</strong>r Einzelne, selbst Produkt dieser<br />
Gemeinschaft, stehe im Dienste <strong>de</strong>s mächtig wirken<strong>de</strong>n Ganzen; die Verdienste<br />
<strong>de</strong>s Einzelnen wer<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong>zu verneint:<br />
Scipio: Auch schwache Führer liebt mein Staat zu haben,<br />
Damit <strong>de</strong>r starke nicht zum stärksten wer<strong>de</strong>,<br />
Und lieber sei ein Varo 40 selbst besiegt,<br />
Als daß ein Konsul mit <strong>de</strong>r Siegerfaust<br />
An seinen Busen schlag’ und rufe: Hier ist Rom!<br />
38 Vgl. Theodor Mommsen, Römische Geschichte, 6. Auflage – Berlin, 1874, S. 60.<br />
39 Grillparzer, König Ottokars Glück und En<strong>de</strong>, 1825.<br />
40 Die Re<strong>de</strong> ist von <strong>de</strong>m Konsul Marcus Varro, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Desaster von Cannae (216 v.Chr.)<br />
mit wenigen Reitern entkam. Mommsen kommentiert das Geschehen: „es ist vielleicht noch<br />
nie ein Heer von dieser Größe so vollständig und mit so geringem Verlust <strong>de</strong>s Gegners auf<br />
<strong>de</strong>m Schlachtfeld selbst vernichtet wor<strong>de</strong>n wie das römische bei Cannae. Hannibal hatte<br />
nicht ganz 6000 Mann eingebüßt ... Dagegen von <strong>de</strong>n 76.000 Römern ...<strong>de</strong>ckten 70.000 das<br />
Feld“ (darunter zwei Konsule). Einschließlich <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sgenossen verlor Rom bei Cannae<br />
16 Legionen (in <strong>de</strong>r Schlacht im Teutoburger Wald 3 Legionen).<br />
118
„Groß sein“ kann danach nur <strong>de</strong>r Vertreter eines übergeordneten, festgefügten<br />
Ganzen. Das ist hier entschie<strong>de</strong>n Scipio, nicht Hannibal. Dem Standpunkt Sengles,<br />
daß es in dieser Szene <strong>zur</strong> Begegnung zweier „persönlich gleichwertiger<br />
Feldherren“ kommt, kann ich bei Hannibals <strong>de</strong>utlichem Wertverlust Scipio<br />
gegenüber nicht zustimmen, wohl aber <strong>de</strong>r Feststellung, daß aus diesem<br />
Gespräch „bereits <strong>de</strong>r römische Sieg als historische Notwendigkeit hervorgeht“. 41<br />
Geschichtsbewußtsein, Vaterlandsliebe, opferbereiter Gemeinschaftssinn, <strong>de</strong>n<br />
Scipio hier (berechtigterweise) für die Römer beansprucht, gegenüber einer<br />
monarchistisch-individualistischen Denkweise <strong>de</strong>s karthagischen Feldherren 42 ,<br />
sind in Grillparzers Geschichtsauffassung zugleich Ausdruck einer höheren<br />
Sittlichkeit, die die Kulturgemeinschaft gegenüber <strong>de</strong>m Barbarentum kennzeichnet.<br />
Das allein rechtfertigt aber nicht die Entstellung <strong>de</strong>r historischen Hannibal-Gestalt.<br />
Selbst die prorömische Geschichtsschreibung wird ihm gerechter. Man muß zu<br />
Grillparzers geistiger Gesamthaltung vorstoßen, um eine befriedigen<strong>de</strong>re<br />
Erklärung hierfür zu geben: Laut Werner Kohlschmidt 43 ist Grillparzers geistiger<br />
Habitus geprägt von: „Pessimismus, Mißtrauen gegen die Aktivität“ sowie von <strong>de</strong>r<br />
„resignieren<strong>de</strong>(n) Überzeugung, daß zwischen <strong>de</strong>n lebensgefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mächten<br />
<strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft und <strong>de</strong>r bewahren<strong>de</strong>n Kraft <strong>de</strong>s Rechtes und <strong>de</strong>r Ordnung keine<br />
Harmonie bestehen könne und daß die unheilvolle Disposition bei<strong>de</strong>r das tragische<br />
Gesicht <strong>de</strong>r Welt bestimme“. Etwas weiter unten spricht er von Grillparzers „tiefer<br />
Skepsis gegen die Welt <strong>de</strong>r Tat, seiner Sehnsucht nach Beständigkeit und<br />
Ordnung.“<br />
Hannibal erscheint somit als <strong>de</strong>r durch Tatendrang, Macht- und Ruhmesstreben<br />
schuldig gewor<strong>de</strong>ne Mensch (wie Ottokar und die Erzherzöge Matthias, Ferdinand<br />
und Max im Bru<strong>de</strong>rzwist in Habsburg, 1848), Scipio hingegen als moralisch<br />
überlegen, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Staat, <strong>de</strong>r Recht und Ordnung gewährleistet, voll und<br />
ganz repräsentiert. Auch Friedrich Sengle bezeichnet diese Szene als „Denkmal<br />
österreichischer Abneigung gegen staatszerstören<strong>de</strong>s Übermenschentum“ 44 . Daß<br />
es Grillparzer bei seiner einseitig bestimmten Auffassung <strong>de</strong>r Hannibal-Gestalt<br />
gelungen wäre, ihn zum tragischen Hel<strong>de</strong>n emporwachsen zu lassen, ist kaum<br />
glaubhaft: Denn auf diese Szene hin hätte sich alles Vorangehen<strong>de</strong> entwickeln<br />
müssen; als Trauerspiel aber war <strong>de</strong>r Hannibal geplant. Wahrscheinlich ist es<br />
dieser innere Wi<strong>de</strong>rspruch, <strong>de</strong>r Grillparzer davon abhielt, das Stück zu been<strong>de</strong>n.<br />
Berührungspunkte <strong>zur</strong> Hannibal-Gestalt Preyers gibt es hier kaum, es sei <strong>de</strong>nn ein<br />
gutes Maß an Ernst und Wür<strong>de</strong>, die da wie dort die Titelgestalt kennzeichnen.<br />
Demgegenüber weicht die Hannibal-Konzeption in <strong>de</strong>r Tragödie Grabbes und<br />
Preyers weniger von <strong>de</strong>m historischen Urbild ab, worauf es auch <strong>zur</strong>ückzuführen<br />
ist, daß es in diesen bei<strong>de</strong>n Fällen mehr Berührungspunkte als Unterschie<strong>de</strong> gibt.<br />
Dennoch sind die Unterschie<strong>de</strong> auffälliger als die Gemeinsamkeiten.<br />
Die Unterschie<strong>de</strong> ergeben sich mehr aus <strong>de</strong>n grundverschie<strong>de</strong>nen Zielsetzungen<br />
und <strong>de</strong>r für je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n eigentümlichen Gestaltungsart, als aus <strong>de</strong>r<br />
Geschichtsauffassung, obwohl auch diese nicht die gleiche war.<br />
41 F. Sengle: Das historische Drama in Deutschland, Lv. 52, S. 127.<br />
42 Zu vergleichen mit <strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>n historischen Hannibal bezüglichen Teil <strong>de</strong>r Fußnote 37.<br />
43 Reallexikon <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literaturgeschichte, Lv. 52, Bd. A. K: S. 304.<br />
44 F. Sengle, a. a. O., S. 115.<br />
119
Für Grabbe, mehr als für Preyer, ist ein heroischer I<strong>de</strong>alismus bestimmend. „Auf<br />
<strong>de</strong>n Mann und auf seinen welthistorischen und überzeitlichen Glanz“ kam es<br />
Grabbe an. Seine ins Titanenhafte gesteigerten Heroen (Marius, Sulla, Heinrich VI,<br />
Napoleon, Hannibal, Hermann) sind „Männer aus eigener Kraft, Neuerer,<br />
Eroberer“. 45 Die auffälligste Abweichung von <strong>de</strong>n überlieferten historischen Fakten<br />
bei Grabbe hängt mit dieser Überdimensionierung <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n zusammen:<br />
Karthagos gänzliche Nie<strong>de</strong>rlage und Zerstörung, die erst im Anschluß an <strong>de</strong>n<br />
Dritten Punischen Krieg erfolgte (149-146 v. Chr.), wird vorverlegt in die ersten<br />
Jahre nach Beendigung <strong>de</strong>s Zweiten Punischen Krieges (202-201 v.Chr.) und <strong>de</strong>r<br />
Verbannung Hannibals aus <strong>de</strong>r Stadt (195 v.Chr., s. Anm. 85). In Bithynien, kurz<br />
vor seinem Tod (183 v.Chr.), erreicht ihn noch die Nachricht vom Untergang<br />
Karthagos und von <strong>de</strong>m Hel<strong>de</strong>nmut ihrer Bewohner, vor allem <strong>de</strong>r Frauen. Was<br />
die Römer und ihre Feldherren betrifft – Grabbe vermei<strong>de</strong>t es, <strong>de</strong>n einen, Scipio,<br />
allzu sehr in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund zu rücken und gesellt ihm als fast gleichwertig<br />
seinen Bru<strong>de</strong>r Lucius Scipio zu – , so ist darin eine Absicht erkennbar, die <strong>de</strong>r<br />
Grillparzers gera<strong>de</strong>zu entgegensetzt ist. In ihrer Eitelkeit und Kleinlichkeit scheinen<br />
die bei<strong>de</strong>n Römer Schrumpfgestalten zu sein, nicht aber wirkliche, Hannibal<br />
ebenbürtige Hel<strong>de</strong>n. Die Unterscheidung <strong>de</strong>r Ältere – <strong>de</strong>r Jüngere ist fließend;<br />
schon <strong>zur</strong> Begegnung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Feldherren bei Zama läßt Grabbe Scipio <strong>de</strong>n<br />
Jüngeren antreten.<br />
Der Jüngere, ein eitler Geck, sieht sich und die Römer um die erhoffte reiche Beute<br />
betrogen. Turnu sorgt mit seiner flotten Re<strong>de</strong> für ironische Distanz.<br />
Der Hannibal Grabbes, <strong>de</strong>r überragen<strong>de</strong> Held, geht vor allem an <strong>de</strong>r Engstirnigkeit<br />
seiner Umwelt zugrun<strong>de</strong>, an <strong>de</strong>m kleinlichen Krämergeist <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Partei<br />
Karthagos, <strong>de</strong>r sogenannten Frie<strong>de</strong>nspartei, die Hannibals großartigen Plan zum<br />
Scheitern brachte. Hannibal ist <strong>de</strong>r große Einsame, <strong>de</strong>ssen „eigentlicher Feind“<br />
nicht Rom, son<strong>de</strong>rn das „Gewöhnliche, Gemeine ... dasjenige ist, was allen<br />
Großen in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>n Nacken bricht“. 46 Hinzu kommt noch das<br />
schwanken<strong>de</strong> Glück. Aber als „Riese“ erwies er sich selbst noch nach <strong>de</strong>r<br />
Verbannung aus <strong>de</strong>r Heimat, als er im Osten mit <strong>de</strong>n Fein<strong>de</strong>n Roms, vor allem mit<br />
Antiochus von Syrien, ein Weiterführen <strong>de</strong>s Kampfes versucht hatte. Niedrigkeit<br />
und Feigheit verrieten ihn und sein Vorhaben auch hier. Prusias, <strong>de</strong>r König von<br />
Bithynien, (ähnlich wie Scipio d.J.) ist als Kontrastgestalt <strong>zur</strong> Größe Hannibals<br />
konzipiert. Während sein Hannibal selbst noch kurz vor seinem Tod – ohne einen<br />
Anflug von Pathos, ohne große Gesten – ruhige Überlegenheit beweist, en<strong>de</strong>t das<br />
Stück angesichts <strong>de</strong>s Toten mit einer gespreizten Pose <strong>de</strong>s Königs. Die<br />
„vollkommen satirische Bagatellisierung“ <strong>de</strong>s Königs führt allerdings auch <strong>zur</strong><br />
„völligen Zerstörung <strong>de</strong>s geschichtlichen und zugleich tragischen<br />
Gleichgewichts.“ 47<br />
An<strong>de</strong>rs als bei Hegel, in <strong>de</strong>ssen Geschichtsauffassung Geschichte als Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e gesehen wird, „<strong>de</strong>r Große“ als Instrument <strong>de</strong>r Weltentwicklung, <strong>de</strong>r einen<br />
göttlichen Auftrag an ein Ganzes ausführt, ragt „<strong>de</strong>r Große“ bei Grabbe ins<br />
45 F. Sengle, a. a. O., S. 168 und 161.<br />
46 F. Sengle, a. a. O., S. 170 (Brief Grabbes vom 4. I. 1835).<br />
47 F. Sengle, a. a. O., S. 162.<br />
120
Übergeschichtliche; 48 als treiben<strong>de</strong>s Element <strong>de</strong>r Geschichte wirkt er zwar<br />
revolutionierend, aber weil dies seinem Wesen gemäß ist. Er wurzelt im Volk. Aus<br />
diesem Bo<strong>de</strong>n ist er aufgestiegen, auf ihm wird er wirksam sein. Und trotz<strong>de</strong>m<br />
erscheint er nicht als Ausdruck <strong>de</strong>s Volkes. „Das Bild einer festen, in einer<br />
Tradition und in einem Staate zusammengeschlossenen, verehrungswürdigen<br />
Gemeinschaft suchen wir bei Grabbe vergebens.“ 49 Grabbe versagt <strong>de</strong>m in<br />
staatspolitischer Hinsicht überlegenen Rom eine gerechte Wertung.<br />
Für seine Orientierung auf die historische Persönlichkeit als Mittelpunkt <strong>de</strong>r<br />
dramatischen Handlung war ihm – ähnlich wie Preyer – Schillers Vorbild<br />
maßgebend, doch gewinnt die Persönlichkeit bei Grabbe jeweils Dimensionen<br />
eines Übermenschen. Richtet man nun <strong>de</strong>n Blick auf die literarische Szene von<br />
damals (zwischen damals und uns liegen über 160 Jahre), so rückt das Junge<br />
Deutschland in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. Mit <strong>de</strong>ssen Vertretern wer<strong>de</strong>n sowohl Grabbe als<br />
auch Büchner – als „geniale Geistesverwandte“ – in Beziehung gebracht. Die<br />
Vorteile <strong>de</strong>s Analogieprinzips wur<strong>de</strong>n von fast allen Jung<strong>de</strong>utschen geschätzt und<br />
eingesetzt, ähnlich wie sie es bei großen Vorgängern angetroffen hatten. Ich<br />
erinnere lediglich an die Dramen Emilia Galotti, Don Carlos, Wilhelm Tell, Die<br />
Hermannsschlacht. Doch Grabbes Vorliebe für überragen<strong>de</strong> Persönlichkeiten<br />
könne nicht auf jung<strong>de</strong>utsche Kunstfor<strong>de</strong>rungen <strong>zur</strong>ückgeführt wer<strong>de</strong>n; zu diesem<br />
Ergebnis sind Werner Kohlschmidt und F. Kainz gelangt. Bestimmend hierfür sei<br />
Grabbes eigene – im Privaten wie im Gesellschaftlichen wurzeln<strong>de</strong> – Haltlosigkeit<br />
gewesen. Im Geschichtserlebnis habe er versucht, objektiven Halt zu fin<strong>de</strong>n 50 .<br />
[Berühren sich diesbezüglich Kleist und Grabbe? Eine Frage, die in <strong>de</strong>n Raum<br />
gestellt sei.]<br />
Das packend Neue bei Grabbe ist in seinem Sprach- und Gestaltungsstil zu fin<strong>de</strong>n.<br />
Ähnlich wie Büchner gelang Grabbe schon in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren ein<br />
revolutionieren<strong>de</strong>r Vorstoß <strong>zur</strong> realistischen Gestaltung. In <strong>de</strong>r intuitiven Erfassung<br />
<strong>de</strong>s historischen Milieus, in <strong>de</strong>r „volkstümlichen Dingnähe und Unmittelbarkeit“,<br />
<strong>de</strong>m „nicht zu bändigen<strong>de</strong>n Empirismus“ seiner epischen Schil<strong>de</strong>rungen 51 liegt die<br />
Wirkungskraft seiner Dramen. Außeror<strong>de</strong>ntlich lebendig sind vor allem die<br />
Volksszenen, in <strong>de</strong>nen sich seine Technik breiter Milieuschil<strong>de</strong>rung, sein epischer<br />
Bildstil entfaltet. Grabbes dramatische Formkraft war aber nicht stark genug, um<br />
<strong>de</strong>r Gefahr zu begegnen, die sich daraus ergab, daß je<strong>de</strong> Szene in ihrer<br />
Anschaulichkeit dazu neigt, eine „autonome Größe“ 52 zu wer<strong>de</strong>n; die<br />
„Subordination <strong>de</strong>s Details“ gelingt ihm nicht, was dazu führt, daß das Ganze in<br />
kleine und kleinste Szenen auseinan<strong>de</strong>rbricht (Textproben folgen weiter unten).<br />
Grillparzer und Preyer bemühen sich hingegen um klassische Gestaltungsweise.<br />
Der Realismus im Gehaltlichen äußert sich darin, daß Grabbe nicht mehr bemüht<br />
ist, durch seine Geschichtsdichtung eine sittliche Weltordnung vorzutäuschen. Er<br />
war nämlich davon überzeugt, daß die Geschichte ein bloßer Kampf physischer<br />
Kräfte sei, ein unberechenbarer, zielloser und blutiger Kampf, in <strong>de</strong>m<br />
48 Ebenda, S. 161.<br />
49 Ebenda.<br />
50 Werner Kohlschmidt,“ F. Kainz“. In: R. L. Band A – K, S. 304 und 789.<br />
51 F. Sengle, a. a. O., S. 163 und 172.<br />
52 F.Sengle, a. a. O., S. 172.<br />
121
Entscheidungen durch Schlachten gefällt wer<strong>de</strong>n. Der Zufall, <strong>de</strong>r zum „Spiel <strong>de</strong>r<br />
physischen und subjektiven Kräfte“ hinzukommt, wird an die Stelle <strong>de</strong>r<br />
geschichtlichen Notwendigkeit gesetzt.<br />
Nach dieser groben Abgrenzung <strong>de</strong>s Preyerschen Hannibal von <strong>de</strong>m Grabbes und<br />
Grillparzers soll Preyers Tragödie im einzelnen besprochen wer<strong>de</strong>n.<br />
Untersuchungen zu Preyers Tragödie Hannibal<br />
Erlebnishintergrund, Stoffwahl<br />
Für die Interpretation <strong>de</strong>s Hannibal ist die Feststellung von Be<strong>de</strong>utung, daß dieses<br />
erst 1882 herausgebrachte und bis 1974 allgemein als „Spätling seiner Muse“ (H.<br />
Stănescu) betrachtete Werk <strong>de</strong>n Dichter schon in <strong>de</strong>n Jahren beschäftigte, da er in<br />
Gmun<strong>de</strong>n am Traunsee seinen Gedichtband Ver sacrum herausbrachte (1858, in<br />
Gmun<strong>de</strong>n). Im Juli 1860 teilte er Pesty Frigyes, <strong>de</strong>m Herausgeber <strong>de</strong>s ersten<br />
ungarischen Wochenblatts in Temeswar, <strong>de</strong>r Delejtü (ab 6.07.1858), brieflich mit,<br />
er habe es eben been<strong>de</strong>t. 53 Das be<strong>de</strong>utet, daß für bei<strong>de</strong> Werke <strong>de</strong>rselbe<br />
Hintergrund ins Auge zu fassen ist, für bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>rselbe Erfahrungs- und<br />
Erlebnishintergrund gegeben ist. Bereits frühere Untersuchungen haben<br />
ergeben, 54 wie es sich mit <strong>de</strong>n inhaltlichen Akzenten verhält, die Preyer (da wie<br />
dort) setzt. In Ver sacrum (lat. Heiliger Frühling, Weihefrühling), eigentlich als<br />
erstes Auswahlbändchen gedacht, gestaltet er unermüdlich die Frage nationaler<br />
Bedrückung und nationaler Befreiungskämpfe. So das Ringen <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlän<strong>de</strong>r<br />
gegen Spanien (Der Aart von Gröningen, Die Geusen), o<strong>de</strong>r – auf aktuellstes<br />
Geschehen bezogen – <strong>de</strong>n Krimkrieg mit Rußland als <strong>de</strong>r treiben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>spotischen<br />
Macht (Lagerhut,1855), ähnlich <strong>de</strong>n erbitterten Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Tscherkessen<br />
gegen die zaristischen Truppen, <strong>de</strong>r im Frühjahr 1857 eine starke Zuspitzung<br />
erfahren hatte (Am Kaukasus), <strong>de</strong>n Aufstand <strong>de</strong>r eingeborenen Truppen Indiens,<br />
<strong>de</strong>r Sepoys, mit Nena Sahib an <strong>de</strong>r Spitze, gegen die englische Verwaltung durch<br />
53 J. N. Preyer an F. Pesty (nach Temeswar), 9.07.1860 (ungar.). Standort: Széchényi-<br />
Bibliothek in Budapest, Handschriftenabteilung, im Pesty-Nachlaß. Insgesamt 10 Briefe<br />
Preyers an Pesty (zwischen 1858-1883, teils <strong>de</strong>utsch, teils ungarisch ), fol. Hung. 21; ein<br />
Brief Pestys an Preyer, fol. Hung. 2134, Nr.421. Diese habe ich im Sept. 1972 mit Hilfe von<br />
Dr. A. Vizkelety aus <strong>de</strong>r Versenkung geholt (Vgl. NBZ-Gespräch mit Dorothea Götz vom 27.<br />
09, 1972, S.1 und 7); erste Bekanntmachung durch R.T.:„Hannibal“ zwanzig Jahre früher in<br />
NBZ, 19.12.1974, S. 3. (Lv. 65); erste Auswertung in Lv. 66.<br />
54 Auf die Gedichte gehe ich im „Ersten Referat“ näher ein, wesentlich kürzer in meinem<br />
Preyer-Buch, S. 55-57. Als erster hat sich F. A. Basch mit diesem Gedichtband befaßt, a. a.<br />
O., S. 73-76). In <strong>de</strong>r rumänien<strong>de</strong>utschen Presse hat Heinz Stănescu als erster näher<br />
darüber berichtet (Neuer Weg, Bukarest, Nr. 92 vom 12.4.1956, Lv. 59); ebenfalls H. St. in<br />
<strong>de</strong>r von ihm hrsg. Anthologie Marksteine, Temeswar 1974 (Lv. 60). An <strong>de</strong>r Germanistik-<br />
Fakultät <strong>de</strong>r Univ. Jassy hat Therese Reingruber ihre Diplomarbeit über Preyers Lyrik<br />
geschrieben (1978), Leiterin <strong>de</strong>r Arbeit: Hil<strong>de</strong> M. Paulini. An <strong>de</strong>r Univ. Temeswar schrieb<br />
Christa Wilwert ihre Diplomarbeit zum Thema: Johann N.Preyer und die <strong>de</strong>utsche<br />
Klassik. 1971, wiss. Leiter: Dr. R. Hollinger. In geson<strong>de</strong>rten Kapiteln geht sie auf Canova,<br />
Ver sacrum und <strong>de</strong>n Hannibal ein; insgesamt lehnt sie sich in vielen Details, auch bei<br />
Interpretationen, stark an F. A. Basch an, führt ihn aber im Literaturverzeichnis nicht an.<br />
122
die East India Company (Of India). Auch in seinen Lie<strong>de</strong>rn Memnons geht es ihm<br />
nicht so sehr um die Verwertung eines exotisch reizvollen Stoffes – wie etwa<br />
Freiligrath in <strong>de</strong>n Fragment gebliebenen Klänge(n) an Memnon, auf die sich Preyer<br />
beruft. Es geht ihm vielmehr um <strong>de</strong>n elegisch getönten Ausdruck lei<strong>de</strong>nschaftlicher<br />
Vaterlandsverbun<strong>de</strong>nheit, hinter <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verlust einstiger Freiheit und Größe steht.<br />
Unmißverständlich sind einige <strong>de</strong>r Gedichte auf das Verhältnis zwischen<br />
Österreich und Ungarn gemünzt. Die geographisch und historisch fremdartige<br />
Einkleidung ist beson<strong>de</strong>rs dort durchsichtig, wo es sich um eine ähnliche<br />
Kampfsituation han<strong>de</strong>lt, d. i. da, wo ein mächtiger <strong>de</strong>spotischer Staat noch im<br />
Vorteil ist. Der Akzent fällt dabei auf das „Noch“. Oft erscheint das antike Rom in<br />
solchen Gedichten als Beispiel für räuberische Staatspolitik. In Gedichten, wie<br />
Mithridat o<strong>de</strong>r Numantia wird es als „weltverschlingend Ungeheuer, das vom<br />
Völkerraube schwoll“ verurteilt. Über<strong>de</strong>utlich erinnern die „Aare“ Roms an das<br />
Wappentier <strong>de</strong>r Habsburger und <strong>de</strong>s russischen Zaren. Der Analyse <strong>de</strong>s Hannibal<br />
kann vorausgegriffen wer<strong>de</strong>n: Wie in manchen <strong>de</strong>r Gedichte ist auch beim<br />
Hannibal die Gleichsetzung: Rom = Österreich, Karthago/Punien = Ungarn<br />
gegeben. Aus unserer heutigen Sicht mag dies irgendwie herbeigezwungen<br />
erscheinen; Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts war diese Analogie aber nicht nur im<br />
Bewußtsein <strong>de</strong>r Liberalen verankert, son<strong>de</strong>rn so etwas wie Gemeinplatz, <strong>de</strong>r sogar<br />
in <strong>de</strong>r österreichischen Behör<strong>de</strong>nsprache auftaucht. Hans La<strong>de</strong>s verweist<br />
diesbezüglich auf das Tagebuch Kempens 55 , <strong>de</strong>s Generalinspektors <strong>de</strong>r<br />
Gendarmerie, seit Juni 1852 bis August 1859 auch Chef <strong>de</strong>r Obersten<br />
Polizeibehör<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>m von Ungarn als <strong>de</strong>m „Land <strong>de</strong>r Punier“ die Re<strong>de</strong> ist.<br />
Wie weit entfernt Preyer dabei von plakativer, eventuell einer Mo<strong>de</strong> unterworfenen<br />
Aufarbeitung war, belegen neben seinen literarischen Schriften auch einige seiner<br />
Gmun<strong>de</strong>ner Briefe an Pesty: Der sonst in privaten Dingen so <strong>zur</strong>ückhalten<strong>de</strong><br />
Preyer gewährt Einblick in sein aufgewühltes Innere:<br />
[…] Aber niemand ahnt, daß mir hier [...] in meinen Träumen das Herz fast<br />
zerspringt. Wenn aber jemand fragt, warum ich unsere Stadt verlassen habe,<br />
könnte ich zu meiner Rechtfertigung sehr ernste Ursachen anführen. Vielleicht<br />
ermöglicht es mir Schicksal, noch einmal dorthin <strong>zur</strong>ückzukehren. 56<br />
An an<strong>de</strong>rer Stelle bezeichnet er Gmun<strong>de</strong>n als sein (freiwilliges) „Exil“ 57 Es waren<br />
Jahre <strong>de</strong>r inneren Unrast, <strong>de</strong>r Erbitterung, in <strong>de</strong>nen er um Klarheit mit sich selbst<br />
und mit <strong>de</strong>n Problemen seiner engeren Heimat rang 58 . Das war <strong>de</strong>mnach die aus<br />
Erfahrung, Erkenntnis <strong>de</strong>r Realität und aus Lei<strong>de</strong>nschaftlichkeit<br />
zusammengesetzte Substanz, die Dichtung an Nährbo<strong>de</strong>n braucht.<br />
55 Hans La<strong>de</strong>s, Die Nationalitätenfrage im Karpathenraum. Der österreichische<br />
Ordnungsversuch 1848/49, Wien, 1941. S. 61 Der Hinweis auf das Tagebuch Kempens,<br />
Vorbemerkung Mayers. (von R.T. bereits im Ersten Referat, Lv. 67, S. 71 wird als wichtiges<br />
Zeitzeugnis für die Interpretation von Preyers Dichtungen berücksichtigt.) Ausf. biograph.<br />
Angaben zu Joh. F. Freiherr Kempen von Fichtenstamm bei Wurzbach.<br />
56 Preyer an Pesty, Gmun<strong>de</strong>n, 9.7.1860.<br />
57 Preyer an Pesty, Gmun<strong>de</strong>n, 12.12.1859.<br />
58 Ihren Nie<strong>de</strong>rschlag fan<strong>de</strong>n diese Überlegungen in seinen Biographischen Umrissen,<br />
von Pesty für die Veröffentlichung in <strong>de</strong>r Delejtü „bestellt“, von Basch noch eingesehen,<br />
inzwischen ebenfalls vernichtet, es sei <strong>de</strong>nn, daß das für Pesty bestimmte Zweitexemplar<br />
irgendwann auftaucht. (vgl. Anm. 2).<br />
123
Was hatte sich zugetragen? Eine befriedigen<strong>de</strong> Erklärung für Preyers<br />
kontinuierliche Entwicklung von einer gemäßigt liberalen, anfangs noch<br />
„großösterreichischen“ Haltung 59 hin <strong>zur</strong> Befürwortung <strong>de</strong>r ungarischen<br />
Unabhängigkeitsbestrebungen und Ablehnung <strong>de</strong>r habsburgischen Herrschaft<br />
kann im Rahmen dieses Referats nicht gegeben wer<strong>de</strong>n. Sie ist je<strong>de</strong>nfalls in <strong>de</strong>n<br />
Erfahrungen zu suchen, die er in einer etwa 30jährigen Beamtenlaufbahn während<br />
<strong>de</strong>r allgemein verhaßten Herrschaft Metternichs und Bachs machte 60 . Hier müssen<br />
einige Hinweise genügen:<br />
Dem Gmun<strong>de</strong>ner Exil vorausgegangen war seine überraschen<strong>de</strong> Enthebung aus<br />
<strong>de</strong>m Amt <strong>de</strong>s Bürgermeisters, das er seit 1844 innehatte und mit sichtbarem Erfolg<br />
zum Wohle <strong>de</strong>r Stadt ausübte. Er war empört über die Art und Weise, wie die<br />
Enthebung (vermutlich auf Betreiben <strong>de</strong>s Militärgouverneurs Coronini selbst)<br />
stattgefun<strong>de</strong>n hatte. Er scheint Zusammenhänge recht wohl vermutet zu haben;<br />
auch gibt es bün<strong>de</strong>lweis Prozeßakten in <strong>de</strong>n Bestän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s General-<br />
Komman<strong>de</strong>ments und <strong>de</strong>r Obersten Wiener Militärbehör<strong>de</strong>n, die über<strong>de</strong>utlich<br />
belegen, daß er die Konfrontation nicht gescheut hatte, sobald es um Anliegen <strong>de</strong>r<br />
Zivilbevölkerung o<strong>de</strong>r auch um eigene Interessen ging. (In <strong>de</strong>r Mehrzahl han<strong>de</strong>lte<br />
es sich um Bauvorhaben, die durch militärische Sicherheitsvorschriften bzw.<br />
militärische Interessen gebremst o<strong>de</strong>r ganz verhin<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n. Es darf nicht<br />
vergessen wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Kern <strong>de</strong>r Stadt eine Festung war.) Die Frage könnte<br />
eigentlich so gestellt wer<strong>de</strong>n: Wieso wur<strong>de</strong> er (als Störfaktor) nicht schon eher<br />
beseitigt? Das lag mit Sicherheit an seiner strengen Rechtlichkeit, seiner<br />
Sachkenntnis in Fragen <strong>de</strong>r Wirtschaft und Finanzen, vor allem in solchen <strong>de</strong>s<br />
Rechts. Überdies gelang es ihm wie<strong>de</strong>rholt (nicht im Alleingang, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r<br />
Form von „Bürgerinitiativen“), durch gezielt eingesetztes Taktieren und Eingehen<br />
von Kompromissen vorgesetzte Behör<strong>de</strong>n für die Belange <strong>de</strong>r während einer 107<br />
tägigen Belagerung schwer geschädigten Stadt zu gewinnen.<br />
Der Anfang dieser Entwicklung liegt nach <strong>de</strong>n neuen Erkenntnissen in <strong>de</strong>n<br />
Vorkommnissen <strong>de</strong>r 30er Jahre (s. Anm. 22, und Lv. 74), doch zu einer<br />
brennpunktartigen Bün<strong>de</strong>lung <strong>de</strong>r Unzufrie<strong>de</strong>nheiten haben die<br />
Revolutionsereignisse von 1848/49 geführt, <strong>de</strong>nn Temeswar war als Festung in<br />
erheblichem Maße mitinvolviert und mitbetroffen.<br />
Preyer wird zunächst auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s neuen, <strong>de</strong>mokratisch ausgerichteten<br />
Wahlrechts mehrheitlich wie<strong>de</strong>r zum Bürgermeister gewählt. Er verliest anläßlich<br />
dieser Wahl (3. Juli 1848) sein politisches liberales und <strong>de</strong>mokratisches<br />
Bekenntnis und begrüßt die Errungenschaften <strong>de</strong>r neuen Verfassung. Er erlebt in<br />
<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n 10. Oktober 1848 folgen<strong>de</strong>n Tagen (<strong>de</strong>r Festungskommandant FML<br />
Georg Rukavina hatte <strong>de</strong>n Belagerungszustand über die Stadt verhängt) die ganze<br />
Härte <strong>de</strong>r Konfrontationen zwischen <strong>de</strong>r meist liberal eingestellten Zivilbevölkerung<br />
und <strong>de</strong>r österreichisch-kaiserlichen Garnison. Am 12.Oktober, als <strong>de</strong>m Magistrat<br />
ein Ultimatum von zwei Stun<strong>de</strong>n eingeräumt wird, die bürgerliche Nationalgar<strong>de</strong> zu<br />
59<br />
u. a. Karl Kurt Klein, Literaturgeschichte <strong>de</strong>s Deutschtums im Ausland, Leipzig 1939,<br />
S. 225.<br />
60<br />
Ausführliche Untersuchung hierüber: R.T.,Erstes Referat, Januar 1975, und – gekürzt in:<br />
Lv. 68.<br />
Für <strong>de</strong>n Zeitraum 1832-44 vgl. Anm. 22.<br />
124
entwaffnen und die Waffen zu übergeben, kommt es <strong>zur</strong> äußersten Zuspitzung:<br />
„Waffen o<strong>de</strong>r Standrecht!“ Angesichts <strong>de</strong>s starken in Bereitschaft stehen<strong>de</strong>n<br />
Miliräraufgebots und aufs Ratshaus gerichteter Kanonen beschließt <strong>de</strong>r Magistrat<br />
unter Preyers Vorsitz gera<strong>de</strong> noch in letzter Minute, <strong>de</strong>m Befehl nachzukommen.<br />
Zu Rukavina, <strong>de</strong>r seinen Sitz <strong>de</strong>m Rathaus gegenüber hatte, wird eine Delegation<br />
entsandt, um zu mel<strong>de</strong>n: Die Nationalgar<strong>de</strong> sowie überhaupt die Bürger hätten<br />
„auch <strong>de</strong>r außergewöhnlichen Macht nur aus Schonung <strong>de</strong>r Stadt“ Folge geleistet.<br />
(Protokollarisch festgehalten, zitiert nach <strong>de</strong>r Übersetzung Josef Gemls, s. Lv. 21).<br />
Eine Kollision, die Franz Heinz <strong>zur</strong> Vorlage für Wetterleuchten, Schauspiel in<br />
einem Aufzug, genommen hat (Neue Literatur, Bukarest, 1958/1, S. 61-69).<br />
Je mehr sich während <strong>de</strong>r Kriegsmonate die For<strong>de</strong>rungen Kossuths radikalisierten<br />
und immer entschie<strong>de</strong>ner auf eine Loslösung Ungarns von Österreich und <strong>de</strong>m<br />
Wiener Hof drängten, um so <strong>de</strong>utlicher zeigte es sich jedoch, daß sich die Mehrheit<br />
<strong>de</strong>s ungarländischen <strong>de</strong>utschen Bürgertums von diesen Zielsetzungen<br />
distanzierte. Auch Preyer fühlte sich bei allem Liberalismus <strong>de</strong>m gemäßigteren<br />
Stefan Széchényi 61 , auch <strong>de</strong>m vollkommen zu Unrecht hingerichteten Premier im<br />
ersten ungarischen Ministerium, Ludwig Graf Batthyany (1809-1849), verbun<strong>de</strong>n.<br />
In <strong>de</strong>n nachrevolutionären Jahren <strong>de</strong>s sog. neoabsolutistischen Jahrzehnts, als<br />
Temeswar Hauptstadt <strong>de</strong>s neuerrichteten Kronlan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Serbischen<br />
Wojwodschaft und <strong>de</strong>s Temescher Banats war, scheinen seine<br />
antiabsolutistischen Überzeugungen neue Nahrung erhalten zu haben. Die Presse<br />
(in Temeswar allen voran die Euphrosine Dr. Gottfried Feldingers) berichtete<br />
regelmäßig über die drastischen, zuweilen drakonischen Strafmaßnahmen an<br />
ehemaligen Revolutionären, zuweilen aber auch an solchen, die nur geringfügig<br />
schuldig gewor<strong>de</strong>n waren. Die Zensur war verschärft, die Bespitzelung fast<br />
allgegenwärtig, die rechtlichen Befugnisse <strong>de</strong>s städtischen Magistrats äußerst<br />
beschränkt 62 . Der Unmut über <strong>de</strong>n Verlust mancher <strong>de</strong>r errungenen bürgerlichen<br />
Freiheiten zog immer breitere Kreise. Preyers Entwicklung verläuft folgerichtig: Das<br />
Aufbegehren als Verhaltenskomponente nimmt zu, während die <strong>de</strong>s<br />
Kompromisses abnimmt. Seine antihabsburgische und damit parallel laufend<br />
promadjarische Einstellung festigte sich in diesen nachrevolutionären Jahren <strong>de</strong>r<br />
61 Schon 1836 hat Preyer in <strong>de</strong>r Reihe seiner u. d. T. Apophthegmen erschienenen<br />
Gedichte herausragen<strong>de</strong> Leistungen Széchényis besungen, so die Schiffbarmachung <strong>de</strong>r<br />
Donau und die Einführung <strong>de</strong>r Donaudampfschiffahrt von Budapest abwärts. 1860, also im<br />
Jahr, da er seinen Hannibal been<strong>de</strong>te, teilt er Pesty seinen Plan mit, bei Heckenast einen<br />
Sammelband epischer Schriften und einiger umfangreicherer Gedichte unter <strong>de</strong>m Titel Das<br />
Buch gehört <strong>de</strong>n Großen herauszugeben. P. wollte mit seinem Anteil <strong>de</strong>s Reinertrags eine<br />
<strong>de</strong>m An<strong>de</strong>nken Széchényis gewidmete Stiftung grün<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Ziel gegenseitiger<br />
kultureller För<strong>de</strong>rung von Ungarn und Deutschen. Gmun<strong>de</strong>n, Brief vom 9. 07.1860 (R.T. ,<br />
Lv. 66).<br />
62 J. H. Schwicker charakterisiert das Jahrzehnt 1850-1860 folgen<strong>de</strong>rmaßen: „Die<br />
Verwaltung war eine durchwegs bureaukratische, die Autonomie <strong>de</strong>r Comitate und Städte<br />
wur<strong>de</strong> ebenso beseitigt wie die consti-tutionellen Rechte und Freiheiten <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s<br />
überhaupt ...“ in: Die Deutschen in Ungarn und Siebenbürgen. Wien/Teschen 1881, S.<br />
192. Auch auf Preyers Monographie <strong>de</strong>r königlichen Freistadt Temesvar könnte<br />
diesbezüglich hingewiesen wer<strong>de</strong>n, doch darf dabei nicht übersehen wer<strong>de</strong>n, daß diese<br />
Monographie auch als Loyalitätsbekundung eingesetzt wur<strong>de</strong>; vgl. w. o. Mehr darüber in.<br />
Lv. 67, S. 50 f.<br />
125
Bevormundung und Unterdrückung durch das Militär und durch <strong>de</strong>n streng<br />
zentralistischen Verwaltungsapparat. Ebensowenig wie früher ist er jetzt mit dieser<br />
Einstellung ein Einzelfall. Auch von Gmun<strong>de</strong>n aus nahm er Stellung zu dieser<br />
„unnatürlichen“ Lage im Banat, wo „das Wort“, d. h. die (freie) Sprache und „damit<br />
auch <strong>de</strong>r Gedanke“ verboten ist. In <strong>de</strong>n gegebenen Verhältnissen sah er die<br />
Ursache für die politische Stagnation. Daher könne hier auch kein „wirkliches<br />
Leben“ entstehen. In <strong>de</strong>mselben Brief gibt es einen weiteren Hinweis auf die<br />
Verfolgung freier Gesinnungsäußerung: Preyers Briefe kamen häufig nicht bis zum<br />
Adressaten 63 .<br />
In diesen Jahren hoffte Preyer auf eine politische Än<strong>de</strong>rung im Sinne einer<br />
Rückglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Banats an Ungarn. Noch vor <strong>de</strong>m sogenannten Oktoberdiplom<br />
(22. Oktober 1860), das eine Verfassung für alle Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Monarchie<br />
ankündigte, schöpfte Preyer Hoffnung auf eine baldige Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r politischen<br />
Lage 64 .<br />
Es bedurfte je<strong>de</strong>nfalls starker Impulse – wie <strong>de</strong>n unglücklichen Ausgang <strong>de</strong>s<br />
Feldzuges in Italien [...], um <strong>de</strong>n Monarchen über die Zwischenstation <strong>de</strong>s<br />
Oktoberdiploms, jenes fö<strong>de</strong>ralistischen Verfassungsrahmens, schließlich zum<br />
völligen Bruch mit <strong>de</strong>m Absolutismus und dazu zu bringen, die Liberalen [...] in die<br />
Regierung zu berufen 65 .<br />
Kurz auf dieses Diplom folgte <strong>de</strong>r Beschluß <strong>zur</strong> Rückglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Banats an<br />
Ungarn und <strong>de</strong>r Auflösung <strong>de</strong>r Serbischen Wojwodschaft und <strong>de</strong>s Temescher<br />
Banats (27. Dezember 1860). Doch noch aus <strong>de</strong>n letzten Tagen dieser überlebten<br />
Staatsform erreichten ihn Meldungen neuer politischer Gewaltakte von seiten <strong>de</strong>r<br />
k.k. Lan<strong>de</strong>sregierung. Die Delejtü wur<strong>de</strong> als kautionspflichtig bezeichnet, als die<br />
Redaktion ansuchte, die Zeitung in ein politisches Blatt umzuän<strong>de</strong>rn. Pesty, <strong>de</strong>r<br />
schon früher oft verfolgte liberale Vorkämpfer, wur<strong>de</strong> zusammen mit fünf an<strong>de</strong>ren<br />
Mitarbeitern <strong>de</strong>r Zeitung verhaftet und unter Polizeibewachung in die Festung von<br />
Josephstadt (Josefovo) abtransportiert (26. September 1860). Nach Erlaß <strong>de</strong>s<br />
Oktoberdiploms wur<strong>de</strong>n sie freigelassen 66 . Auch diese „gewaltsame Internierung in<br />
die österreichische Bastille“ wird von Preyer als beunruhigen<strong>de</strong>r Vorfall<br />
kommentiert: „Dies ist ein schreien<strong>de</strong>r Beweis, wie belastend das nunmehr<br />
abgezogene System uns bedrückte. Ich möchte gerne hoffen, daß dieses<br />
Gewaltsystem von nun an unmöglich sei.“ 67<br />
Die freiheitlichen Ten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r Sammlung Ver sacrum, ihre Zukunftsgläubigkeit<br />
(die zeitweiligen Rückschläge miteingeschlossen), wie sie im Titel, in <strong>de</strong>r Auswahl<br />
und Anordnung <strong>de</strong>r Gedichte und im Motto augenfällig gemacht sind, wer<strong>de</strong>n sich<br />
im Hannibal wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n. Für das, was gewöhnlich als „Entstehungsgeschichte“<br />
eines Werkes bezeichnet wird, ist möglicherweise folgen<strong>de</strong>s Zusammentreffen von<br />
Stoff und Motiven interessant: Im Jahre 217 v.Chr. hat <strong>de</strong>r römische Senat,<br />
63 Preyer an Pesty, Gmun<strong>de</strong>n, 12.12.1859.<br />
64 Preyer an Pesty, Gmun<strong>de</strong>n, 9.7.1860.<br />
65 Mariannne Lunzer, Die Umstellung in <strong>de</strong>r österreichischen Pressepolitik. Wien 1953,<br />
zitiert nach A. Krischan, Die Temesvarer Zeitung als Banater Geschichtsquelle, a. a. O.,<br />
S. 24 f.<br />
66 Vgl. I. Berkeszi, a. a. O., S. 112; F. A. Basch, a. a. O., S. 27 und Jozsef Szinnnyei,<br />
Magyar Irok élete és munkai, Bd. 10, Budapest 1905, S. 817<br />
67 Preyer an Pesty, Gmun<strong>de</strong>n, 27.11.1860.<br />
126
angesichts <strong>de</strong>r starken Bedrohung durch Hannibals Heer, das Abhalten eines<br />
Weihefrühlings, eines Ver sacrum verordnet. Die Opfer wur<strong>de</strong>n Jupiter geweiht. Es<br />
war dies das letzte historisch bekannte Opferritual dieser Art.<br />
Wir können <strong>de</strong>mnach von einem doppelten erregen<strong>de</strong>n Erlebnisgrund <strong>de</strong>s Dramas<br />
sprechen: von Preyers starker geistiger Anteilnahme am ungarischen<br />
Freiheitskampf, an <strong>de</strong>ssen Aufbruch und Nie<strong>de</strong>rlage, und von seiner aktiven<br />
Teilnahme an <strong>de</strong>m Ringen um wirtschaftliche Entfaltung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s wie <strong>de</strong>r Stadt<br />
Temeswar im beson<strong>de</strong>ren. Abgesehen von <strong>de</strong>n spezifischen Gegebenheiten,<br />
waren dies zugleich Grun<strong>de</strong>rlebnisse breiter Schichten <strong>de</strong>s europäischen<br />
Bürgertums bis in die sechziger und siebziger Jahre <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts hinein,<br />
weshalb auch die literarische Spiegelung eines solch typischen und aktuellen<br />
Erfahrungsbereichs nicht zufällig ist. Das Drama bezieht Leben und<br />
Überzeugungskraft gera<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>s Dichters starker persönlicher Beteiligung an<br />
diesen Anliegen <strong>de</strong>r Zeit.<br />
Die Wahl <strong>de</strong>s Hannibal-Stoffes ist somit als glücklich zu bezeichnen, da sich daran<br />
eine <strong>de</strong>r brennendsten Zeitfragen in antiker Einkleidung gestalten ließ, ohne daß<br />
<strong>de</strong>r historischen Wahrheit Gewalt angetan wer<strong>de</strong>n mußte. Damit ist schon durch<br />
die Stoffwahl die Möglichkeit geboten, die „schwerste Aufgabe <strong>de</strong>s<br />
Geschichtsdramatikers zu meistern, nämlich die, <strong>de</strong>n objektiv gegebenen<br />
Eigenwert <strong>de</strong>s Stoffes und die eigene, innere Erlebniswelt miteinan<strong>de</strong>r zu<br />
versöhnen“ 68 , eine Synthese von Stoff/Gehalt und persönlicher I<strong>de</strong>e, d.h. die<br />
Möglichkeit, das „eigentliche reali<strong>de</strong>ale Geschichtsdrama“ 69 zu verwirklichen.<br />
Soweit es um <strong>de</strong>n Stoff geht, spricht noch etwas für eine Bearbeitung dieser<br />
historischen Vorlage: Der Stoff konnte damals überall vor ein gebil<strong>de</strong>tes Publikum<br />
gebracht wer<strong>de</strong>n, ohne zusätzlich erklären<strong>de</strong>r Vehikel zu bedürfen.<br />
Ein Vergleich mit <strong>de</strong>n antiken Quellen 70 , auf die Preyer vor allem <strong>zur</strong>ückzugreifen<br />
scheint, sowie mit <strong>de</strong>r wahrscheinlich ebenfalls berücksichtigten Römischen<br />
Geschichte Theodor Mommsens 71 geben darüber Aufschluß, wie sehr Preyer<br />
bemüht war, <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>r historischen Begebenheiten und Gestalten so nahe<br />
wie möglich zu kommen. Die Achtung vor Vergangenem, die sich in solchem<br />
Bemühen um historische Wahrheit ausdrückt, verweist auf das Erbe <strong>de</strong>r<br />
romantischen Ästhetik 72 , doch genügt Preyer damit auch <strong>de</strong>r früheren For<strong>de</strong>rung<br />
Goethes sowie <strong>de</strong>n späteren For<strong>de</strong>rungen Hettners, laut welchen <strong>de</strong>r Dichter „an<br />
<strong>de</strong>r inneren Wesenheit <strong>de</strong>s von außen entlehnten Stoffes nicht rüttle“. 73<br />
Im letzten Teil <strong>de</strong>r eigentlichen Untersuchung <strong>de</strong>s Preyerschen Trauerspiels wird<br />
<strong>de</strong>r Versuch unternommen, genauere Entsprechungen zwischen <strong>de</strong>m nahen und<br />
<strong>de</strong>m weit <strong>zur</strong>ückliegen<strong>de</strong>n historischen Geschehen herauszustellen (3.5.). Dazu<br />
sei allerdings bemerkt, daß solchen „Ent<strong>de</strong>ckungen“ als Hintergrundwissen wohl<br />
einige Be<strong>de</strong>utung zukommen kann, daß es <strong>de</strong>m Dichter jedoch ganz entschie<strong>de</strong>n<br />
68<br />
F. Sengle, a. a. O., S. 143.<br />
69<br />
Ebenda, S. 101.<br />
70<br />
Th. Mommsen und H. Ch. Eucken geben Hinweise auf die antiken Geschichtsschreiber:<br />
T. Livius, Ennius, Appianus, Zonon, Polybios.<br />
71<br />
1856 erschien bereits die zweite Auflage von Mommsens Römischer Geschichte.<br />
72<br />
A. W. Schlegels letzte Wiener Vorlesung, 1808; Solgers und Tiecks Ästhetik. Sengle, a. a.<br />
O., S. 103 ff.<br />
73<br />
Sengle, S. 227; vgl. die Ansichten Hebbels ( Kapitel 2.2.).<br />
127
um die allgemeine Gültigkeit <strong>de</strong>s dargestellten Einzelfalles geht, um das (aus<br />
seiner Sicht) prinzipiell Wichtige und Richtige <strong>de</strong>r darin ausgesprochenen<br />
Grundgedanken. (2.2., aus <strong>de</strong>m Vorwort Hebbels <strong>zur</strong> Genoveva).<br />
Handlung und Komposition<br />
Die Handlung von Preyers Hannibal umspannt einen Zeitabschnitt von 33 Jahren.<br />
Sie setzt nach <strong>de</strong>m Sieg bei Cannae (216 v.Chr.) ein und reicht bis zu Hannibals<br />
Freitod am Hofe <strong>de</strong>s Königs Prusias von Bithynien (183 v. Chr.). Die<br />
unvermeidlichen Rückblen<strong>de</strong>n reichen jedoch bis zum Frie<strong>de</strong>nsschluß nach <strong>de</strong>m<br />
Ersten Punischen Krieg (241 v. Chr.) und verweisen auf die harten Bedingungen<br />
für Karthago, auf die rechtswidrige Aneignung Sardiniens und Korsikas durch die<br />
Römer, die Belagerung von Sagunt (220/219 v. Chr.), die Anfänge <strong>de</strong>s Zweiten<br />
Punischen Krieges (218 v. Chr.) sowie auf die erste für Karthago so siegreiche<br />
Perio<strong>de</strong> dieses Kriegs (Alpenübergang und die Siege in Nord- und Mittelitalien, d.h.<br />
die Siege am Ticinus, an <strong>de</strong>r Trebia, am Trasimenischen See und schließlich bei<br />
Cannae). Das sind also insgesamt 58 Jahre, die in die Handlung einbezogen<br />
wer<strong>de</strong>n, wobei freilich die meisten dieser Ereignisse in Re<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> nur gestreift<br />
wer<strong>de</strong>n. Trotz <strong>de</strong>r hiermit gegebenen Gefahr chronikartiger, weitschweifiger<br />
epischer Darstellung beherrscht Preyer mit dramatischem<br />
Konzentrationsvermögen die ungeheure Stoffülle. Auch umgeht er geschickt die<br />
Klippe, zu reiches und genaues Faktenmaterial zu präsentieren.<br />
Die fünf Aufzüge, <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>smal ein eigener geschlossener Rahmen gegeben ist,<br />
kennzeichnen jeweils Situationen <strong>de</strong>s Aufstiegs, <strong>de</strong>s Abstiegs, <strong>de</strong>r Schwebe und<br />
<strong>de</strong>s Untergangs. Nachfolgen<strong>de</strong> Zusammenstellung über die Etappen <strong>de</strong>s<br />
Handlungsablaufs und <strong>de</strong>r zeitlichen Straffung soll <strong>de</strong>n nötigen Überblick sichern:<br />
I. Capua (216-215 v. Chr.) Höhepunkt <strong>de</strong>r karthagischen Macht in Italien, Nähe<br />
<strong>de</strong>s Ziels;<br />
II. Meer bei Rhegium (211-203 v. Chr.) Defensive und Stagnation in <strong>de</strong>r<br />
militärischen Lage <strong>de</strong>s karthagischen Heeres in Italien; Verrat abtrünniger<br />
Verbün<strong>de</strong>ter; Tod seines Bru<strong>de</strong>rs Hasdrubal Barkas (207 v. Chr.); in Afrika:<br />
äußerste Bedrängnis <strong>de</strong>r Hauptstadt durch die Römer;( 204-203)<br />
III. Lager bei Zama (203-202 v. Chr.) Zusammentreffen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Feldherren;<br />
Entscheidungsschlacht bei Zama; Sieg Scipios und seines Verbün<strong>de</strong>ten, <strong>de</strong>s<br />
abtrünnigen Massylerfürsten Massinissa;<br />
IV. Karthago (201-195 v. Chr.) bedrücken<strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nsschluß auf Drängen<br />
Hannibals (nur scheinbar paradox); Aufeinan<strong>de</strong>rprallen <strong>de</strong>r inneren Mächte;<br />
Hannibal wird durch das Volk zum Suffeten gewählt (196 v. Chr.). Der Sieg <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>mokratischen Patriotenpartei (Hannibal) über die oligarchische Partei (Hanno) ist<br />
von kurzer Dauer; Verbannung und Flucht Hannibals;<br />
V. Nikäa – Hof <strong>de</strong>s Königs Prusias von Bithynien (189-183 v. Chr.) T. Quinctius<br />
Flaminius, römischer Gesandter, verlangt Hannibals Auslieferung an Rom; Freitod<br />
<strong>de</strong>s etwa 67 jährigen Hel<strong>de</strong>n.<br />
Die in Klammern angegebenen Jahreszahlen ver<strong>de</strong>utlichen, in welchem Maße<br />
Preyer zeitlich komprimierte.<br />
Kunstvoll verschränken sich drei Handlungsstränge zu einem dramatischen<br />
Gefüge. Je nach<strong>de</strong>m, wer als Hannibals Gegenspieler erscheint, konturieren sich<br />
128
diese Handlungsstränge wie folgt:<br />
die Rom-Karthago-Handlung (äußere Kriegshandlung);<br />
die Hanno-Gisgo-Handlung (innere Kampflage in Karthago: Konflikt zwischen <strong>de</strong>r<br />
egoistischen und aufrührerischen „Frie<strong>de</strong>nspartei“ <strong>de</strong>r reichen Kauf- und<br />
Han<strong>de</strong>lsherren als Gegenspieler <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Patrioten- o<strong>de</strong>r Kriegspartei<br />
(Hannibal);<br />
das Walten <strong>de</strong>s Schicksals als Handlungsfaktor.<br />
Ausgehend von <strong>de</strong>r langen historischen Zeitspanne und <strong>de</strong>r enormen Stoffülle,<br />
äußert J. [Conrad Jakob] Stein folgen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>nken:<br />
[…] ein Menschenalter trennt <strong>de</strong>n Anfang vom En<strong>de</strong>. Schiller glie<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n<br />
Wallenstein, an <strong>de</strong>n Preyers Hannibal in einigen Nebensächlichkeiten anklingt, in<br />
eine Trilogie, Preyer will <strong>de</strong>n nicht min<strong>de</strong>r umfangreichen Hannibalstoff in fünf<br />
verhältnismäßig kurzen Akten bezwingen.<br />
Dem fügt er <strong>de</strong>n Vorwurf hinzu, daß Preyer (<strong>de</strong>r die „äußere Einheitlichkeit“ wahre)<br />
die innere Einheit <strong>de</strong>s Werkes nicht verwirklicht habe; sein Stück zerfalle in „drei<br />
miteinan<strong>de</strong>r nur lose verbun<strong>de</strong>ne Abschnitte“. 74<br />
Die folgen<strong>de</strong> Untersuchung <strong>de</strong>s Handlungsablaufs und <strong>de</strong>r Komposition will<br />
versuchen, <strong>de</strong>n Beweis für eine an<strong>de</strong>rslauten<strong>de</strong> Einschätzung als die Steins zu<br />
liefern.<br />
Von karthagischer Seite betrachtet, setzt die Handlung im Scheitelpunkt <strong>de</strong>s<br />
Kriegsverlaufs ein. Der Autor wählt mit Capua einen dramaturgisch ergiebigen<br />
Moment, weil sich hier bereits <strong>de</strong>utlich die konflikttragen<strong>de</strong>n Elemente und die<br />
gegensätzlichen Ten<strong>de</strong>nzen erkennen lassen. Der erste Aufzug ist eine breit<br />
angelegte, vielseitige Exposition 75 , mit <strong>de</strong>r Preyer die Grundlagen <strong>de</strong>r Tragödie für<br />
alle drei Handlungsstränge gibt.<br />
Nach <strong>de</strong>m Sieg bei Cannae (s. Anm. 40) trat Capua, Italiens zweitgrößte Stadt und<br />
alte Rivalin Roms, freiwillig auf die Seite <strong>de</strong>s Siegers. Ihrem Beispiel folgten<br />
an<strong>de</strong>re Städte im reichen Campanien. Ganz Süditalien, mit Ausnahme <strong>de</strong>r meisten<br />
latinischen und griechischen Häfen, fiel ihm <strong>de</strong>sgleichen zu. Unter <strong>de</strong>m Eindruck<br />
<strong>de</strong>s letzten großen Sieges ist Philipp V. von Mazedonien endlich zum Bündnis mit<br />
Karthago bereit. Die wichtigsten Spannungsträger in dieser vorteilhaften Situation<br />
sind Hinweise auf vorhan<strong>de</strong>ne (bekannte wie anonyme) Gegenspieler:<br />
Im italienischen Freun<strong>de</strong>sland gibt es einzelne – Rom treu ergebene – hartnäckige<br />
Fein<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Karthager, die Hannibal persönlich gefährlich wer<strong>de</strong>n könnten. So<br />
Decius Magius, Anhänger <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>lspartei in Capua. Dann Perolla, Sohn <strong>de</strong>s<br />
Senators Calavius, <strong>de</strong>r seinerseits am Übertritt Capuas maßgebend beteiligt<br />
gewesen ist; in dieser Gegenüberstellung von Vater und Sohn, <strong>de</strong>r eine bedächtig<br />
abwägend, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re in jugendlichem Freiheitsstreben einen Mordanschlag auf<br />
<strong>de</strong>n punischen Feldherren planend, verdichtet sich die schwierige Lage und wird<br />
als Gewissenskonflikt ausgetragen.<br />
Es gibt Anzeichen dafür, daß sich in <strong>de</strong>r Einstellung und im Verhalten <strong>de</strong>r Bürger<br />
74<br />
J.[C.Jakob] Stein, „Johann N. Preyer als Dramatiker“. In: Der schwäbische Hausfreund.<br />
1918, S. 34<br />
75<br />
Der erste Aufzug ist sowohl im Hinblick auf die Seitenanzahl als auch im Hinblick auf die<br />
Zahl <strong>de</strong>r Auftritte <strong>de</strong>r gewichtigste: Der I. Aufzug hat 14 Szenen, die Aufzüge II-V: 9, 6, 9, 7<br />
Szenen.<br />
129
Roms wie <strong>de</strong>s römischen Senats eine Wandlung vollzieht. Beispiele, an <strong>de</strong>nen sich<br />
<strong>de</strong>r Erneuerungsprozeß ablesen läßt, wer<strong>de</strong>n vorgeführt bzw. kommentiert:<br />
Carthalo, karthagischer General, <strong>de</strong>r nach Rom abgesandt wor<strong>de</strong>n war, um wegen<br />
Auslösung <strong>de</strong>r römischen Gefangenen zu unterhan<strong>de</strong>ln, zieht aus <strong>de</strong>r Verachtung,<br />
mit <strong>de</strong>r man ihm dort begegnet ist, <strong>de</strong>n richtigen Schluß, <strong>de</strong>sgleichen aus <strong>de</strong>r<br />
Weigerung Roms, die römischen Gefangenen freizukaufen; die fieberhafte<br />
Tätigkeit und Neuaufrüstung beweisen das gleiche: Eine mächtige Regeneration<br />
<strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s ist im Gange.<br />
Carthalo: Gesteh´n wir es, ein unbeugsamer Geist,<br />
Ein eherner,<strong>de</strong>r nah´an Größe ragt,<br />
ist <strong>de</strong>m Senat im Capitole eigen.<br />
Und auch <strong>de</strong>m Bürger wächst im langen Krieg<br />
Die stolze Kraft erheben<strong>de</strong>n Bewußtseins.” (I.,9., S. 19)<br />
Ebenfalls am Anfang treten die Vertreter <strong>de</strong>r faktiösen Opposition in Erscheinung.<br />
In Karthagos Senat bün<strong>de</strong>lt sich viel Macht in ihren Hän<strong>de</strong>n, da dieselben Greise<br />
auch Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren konservativen Behör<strong>de</strong> Karthagos waren, <strong>de</strong>s Rates<br />
<strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>rt [recte: 104]. Ihre Anführer waren erbitterte Rivalen <strong>de</strong>r Barki<strong>de</strong>n. Ihre<br />
Opposition äußert sich vor allem darin, daß sie <strong>de</strong>m Heer die für eine erfolgreiche<br />
Kriegsführung erfor<strong>de</strong>rliche Unterstützung durch Geld, weitere Söldnertruppen,<br />
Subsidien u. ä. m. nur zögernd o<strong>de</strong>r gar nicht gewähren 76 . Hannibal ist es, <strong>de</strong>r<br />
diesbezüglich bereits im ersten Aufzug /12. Auftritt Anklage erhebt. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
ersten Aufzugs tritt somit die Möglichkeit einer Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>s karthagischen<br />
Heeres ins Bühnengeschehen, wenn auch an <strong>de</strong>n Rand gedrängt durch Hannibals<br />
starkes und durchaus optimistisches Sendungsbewußtsein. Er sieht sich gestützt<br />
durch das historische Recht und wähnt auch das Schicksal ganz auf seiner Seite.<br />
Durch Zeichen habe es sich ihm eröffnet: Zuerst sei es ein Traum gewesen, <strong>de</strong>n er<br />
im Jahre 218 v. Chr. am Ebro geträumt; darin sei ihm ein jugendlicher Führer auf<br />
<strong>de</strong>m Weg nach Italien erschienen. Dieser Traum ist zwar keine poetischromantische<br />
Fiktion Preyers 77 , doch gelingt es ihm, ihn als wirkungsvolles<br />
poetisches Element in die Handlung aufzunehmen. In<strong>de</strong>m Preyer die Traumgestalt<br />
zu einer realen Erscheinung in Person <strong>de</strong>s verwaisten italienischen Knaben Julius<br />
wer<strong>de</strong>n läßt, erscheint einerseits das starke und andauern<strong>de</strong> Vertrauen <strong>de</strong>s<br />
Hel<strong>de</strong>n in sein gutes Geschick rechtfertigt, an<strong>de</strong>rerseits spiegeln sich in <strong>de</strong>r<br />
Anhänglichkeit und Liebe dieses Knaben Hannibals Menschlichkeit und Güte. Die<br />
wärmsten und herzlichsten Töne läßt Preyer seinen Hannibal in <strong>de</strong>n Begegnungen<br />
mit Julius fin<strong>de</strong>n. In<strong>de</strong>m im ersten Aufzug das Sendungsbewußtsein <strong>de</strong>s<br />
Feldherren und seine Schicksalsgläubigkeit emotional so stark betont wer<strong>de</strong>n,<br />
klingt dieser I. Aufzug – trotz <strong>de</strong>r vielen ange<strong>de</strong>uteten Wi<strong>de</strong>rsprüche – im<br />
76 Verbürgt in römischen wie griech. Annalen; bei mo<strong>de</strong>rnen Historikern z .B. Th. Mommsen,<br />
a. a. O., S. 605 o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Propyläen Weltgeschichte hg. von Golo Mann, 1991, Bd. IV,<br />
S.129-134.<br />
77 Erwähnt wird dieser Traum von einigen Geschichtsschreibern wie Cicero, De Div. 1, 14,<br />
49; Livius, 21. 22, 6-9; Zonon, 8, 22, 408 D-409 und A. Silenos; nach: Eucken, a. a. O., S.<br />
112 f, S. 48 f.<br />
130
zuversichtlichen Hochton aus, wodurch er seiner Hauptfunktion entspricht: die<br />
Etappe <strong>de</strong>r Siege zu repräsentieren.<br />
Bereits dieser Aufzug ist durch Dynamik gekennzeichnet. Sie ergibt sich aus <strong>de</strong>r<br />
raschen Abfolge <strong>de</strong>r Ereignisse, <strong>de</strong>r unterschiedlichen und gegensätzlichen<br />
Haltungen, Stimmungen und Ten<strong>de</strong>nzen.<br />
Die folgen<strong>de</strong>n Aufzüge führen unter schrittweise intensivierter Spannung hin <strong>zur</strong><br />
dreifachen Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n. Die Höhepunkte, auf die die einzelnen<br />
Konfliktsituationen zustreben, erfolgen zu verschie<strong>de</strong>nen Zeitpunkten und sind<br />
auch verschie<strong>de</strong>ner Art. Trotz <strong>de</strong>s vielfachen Ineinan<strong>de</strong>rgreifens <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Handlungsstränge und ihrer Motive läßt sich je nach<strong>de</strong>m, welche <strong>de</strong>r Motive<br />
überwiegen, eine klare Konzeption <strong>de</strong>r Handlungsführung erkennen. Diese ist auch<br />
für <strong>de</strong>n Aufbau bestimmend:<br />
Nach<strong>de</strong>m im ersten Aufzug Hannibals Gegenspieler – sowohl Rom als auch <strong>de</strong>r<br />
Senat Karthagos – weniger als reale <strong>de</strong>nn als potentielle Gegenmacht erschienen,<br />
richtiger: im Gespräch aufgetaucht sind, und Hannibal dank <strong>de</strong>r anhaltend guten<br />
Kriegslage unverrückt an seinen befreien<strong>de</strong>n Auftrag glaubt, führt <strong>de</strong>r II. Aufzug in<br />
gelungener Straffung stufenweise die radikale Wendung zum Nie<strong>de</strong>rgang herbei:<br />
Römer und <strong>de</strong>r Senat von Karthago haben sich als reale Gegenmacht erwiesen,<br />
und Hannibals Glaube an die Begünstigung durch das Schicksal ist ins Wanken<br />
geraten. Handlungsort ist nicht mehr das große, ihm verbün<strong>de</strong>te Capua, son<strong>de</strong>rn<br />
(bezeichnend für seinen Rückzug) das punische Zeltlager am Meer bei Rhegium,<br />
während Capua von <strong>de</strong>n Römern belagert wird. Zu einer Gestalt tragischen<br />
Ausmaßes ist hierbei lediglich Calavius emporgewachsen: Er ist ein Opfer seiner<br />
Bündnistreue, sein Freitod, eine verzweifelte Tat, zugleich ein Vorwurf, <strong>de</strong>r<br />
Hannibal gilt. Der ist aber handlungsunfähig, selbst verraten, selbst im Stich<br />
gelassen, jedoch noch nicht verzweifelt. (Zwischen <strong>de</strong>m Freitod <strong>de</strong>s einen und<br />
<strong>de</strong>m späteren <strong>de</strong>s Feldherren scheint eine feine Beziehung hergestellt zu sein.)<br />
Die Gewißheit über die Nie<strong>de</strong>rlage auf breitester Front bringt aber erst <strong>de</strong>r IV.<br />
Aufzug: Karthago mußte sich Rom beugen, Hannibal hat seinen persönlichen<br />
Kampf gegen die im heimatlichen Karthago angesie<strong>de</strong>lte reaktionäre Opposition<br />
verloren. Letzterer hat sich immer <strong>de</strong>utlicher als die eigentlich zentrale Handlung<br />
herauskristallisiert. Denn Hannibals Nie<strong>de</strong>rlage als Feldherr auf italischem Bo<strong>de</strong>n<br />
wird im Grun<strong>de</strong> durch die Intrigen <strong>de</strong>r verräterischen Hanno-Gisgo-Clique<br />
herbeigeführt, und ebenfalls sie sind es, die ihm am bösen En<strong>de</strong> nicht nur <strong>de</strong>n<br />
Ausgang <strong>de</strong>s Krieges, son<strong>de</strong>rn überhaupt die Kriegsführung gegen Rom <strong>zur</strong> Last<br />
legen; und schließlich wird Rom auf ihr Betreiben die Auslieferung <strong>de</strong>s inzwischen<br />
vom Volk zum Suffeten gewählten Hel<strong>de</strong>n for<strong>de</strong>rn; <strong>de</strong>r Rat <strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>rt spricht<br />
über ihn die Acht aus, wodurch Hannibal keine an<strong>de</strong>re Wahl als die Flucht bleibt.<br />
Hiermit erfolgt die tragische Bestätigung <strong>de</strong>ssen, was er schon am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s II.<br />
Aufzugs erkannt hatte:<br />
Nicht von Rom<br />
Bin ich besiegt, ich bin es von Karthago. (II., 5., S. 44)<br />
Dazu einige inhaltliche Details: Als <strong>de</strong>r Rat <strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>rt fast im selben Moment, da<br />
das Volk ihn zum neuen Suffeten gewählt hat, die Verbannung Hannibals<br />
beschlossen hat, da ist seine erste Regung, eine Art Staatsstreich zu üben, um<br />
durch Aufhebung dieser verkrusteten Einrichtung neue, <strong>de</strong>mokratische Bahnen für<br />
131
die Entwicklung <strong>de</strong>s Staates zu eröffnen. In sich überschlagen<strong>de</strong>r Eile wird das<br />
Geschehen vorangetrieben. Was eben noch Gültigkeit zu haben schien, wird im<br />
nächsten Moment verworfen: Als er nämlich von <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung Roms erfährt, ihn<br />
an Rom auszuliefern, da erfaßt er intuitiv die Zusammenhänge eines gegen ihn in<br />
die Wege geleiteten Ränkespiels. Die alten Wi<strong>de</strong>rsacher seiner Familie und seiner<br />
selbst steckten dahinter: Sollte nämlich die verhängte Verbannung nicht <strong>de</strong>n<br />
erhofften Erfolg bringen, müßte Rom ins Spiel gebracht wer<strong>de</strong>n, damit „aus<br />
Karthagos krankem Leib ein Dorn entfernt“ wer<strong>de</strong>. Dieses Ränkespiel <strong>de</strong>r alten<br />
Egoisten, die eher bereit waren, mit Rom heimliche Vereinbarungen zu treffen, als<br />
<strong>de</strong>n Weg innerer Einheit in Zeiten <strong>de</strong>r Not zu gehen, hat ihn entsetzt, weil er<br />
erkannte, daß „Parteisucht“ „blut’ge Bürgerfeh<strong>de</strong>n“ anfachen wür<strong>de</strong>, solange er,<br />
die wichtigste Person <strong>de</strong>r Gegenpartei, in Karthago weilte. Selbst neuer Krieg mit<br />
Rom drohte, falls Karthago <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nicht nachkäme. Wie in Dramen, in<br />
Kriminalgeschichten u. a. literarischen Genres üblich, erlebt <strong>de</strong>r Zuschauer/Leser<br />
diese Szene nicht als Überraschter, son<strong>de</strong>rn als einer, <strong>de</strong>r am Zustan<strong>de</strong>kommen<br />
<strong>de</strong>r Intrige teilgenommen hat (Hanno und Gisgo in IV, 2., S. 77-79). So faßt<br />
Hannibal <strong>de</strong>n Entschluß, die Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verbannung auf sich zu nehmen, obwohl er<br />
sich als neu eingesetzter Suffet <strong>de</strong>r gegen ihn verhängten Acht nicht hätte beugen<br />
müssen.<br />
Durch sein Fernsein erhofft er, Karthago einen Neuanfang zu ermöglichen, eine<br />
Zeit <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns einziehen zu lassen, damit es Kräfte sammle und Wun<strong>de</strong>n heile.<br />
Preyer läßt damit seinen Hannibal ganz bewußt das vermei<strong>de</strong>n, was er, Preyer, als<br />
das schwerste Vergehen ansah. Das Opfer, das Hannibal damit seinen Mitbürgern<br />
bringt, scheint schwerer zu wiegen als die lange, entbehrungsreiche und<br />
sorgenvolle Kriegszeit. Hier setzt das Moment <strong>de</strong>s wahrhaft Tragischen ein: Der<br />
Große, <strong>de</strong>ssen Pläne und <strong>de</strong>ssen Einsatz <strong>de</strong>m Staate in seiner Gesamtheit zugute<br />
kommen sollten, scheitert an <strong>de</strong>r Kleinlichkeit und Bosheit <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rsachers im<br />
eigenen Lan<strong>de</strong>.<br />
Quod erat <strong>de</strong>monstrandum: Der fehlen<strong>de</strong>n inneren Einheit und Folgerichtigkeit<br />
kann dies Drama <strong>de</strong>mnach nicht bezichtigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Was die Qualität dramatischer Gestaltung anlangt, räumt J. [C. Jakob] Stein<br />
diesem IV. Aufzug eine absolute Son<strong>de</strong>rstellung ein. Er nimmt ihn als einzigen von<br />
<strong>de</strong>m Vorwurf aus, „dialogisierte Epik“ zu sein, stellenweise zwar „poetisch höchst<br />
reizvoll“, dramatisch aber unfruchtbar“ wie die Unterredung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Feldherren<br />
im III. Akt. Ich zitiere:<br />
An<strong>de</strong>rs steht es mit <strong>de</strong>m vierten Aufzuge, <strong>de</strong>r Retardation <strong>de</strong>s Stückes. ... Es ist<br />
dieser Akt ein kleines Drama für sich: an dramatischer Spannung ist er reicher, als<br />
irgend etwas von Preyer, alles darinnen ist Leben, die Gegensätze prallen<br />
aneinan<strong>de</strong>r und drängen auf Entwicklung und Lösung <strong>de</strong>r Konflikte, die<br />
Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n sind Menschen, nicht Schatten. 78<br />
Der zwischen <strong>de</strong>n konfliktreichen Aufzügen II und IV gelegene III. Akt hat im<br />
78 J. Stein, „Preyer als Dramatiker“ – In: Schwäbischer Hausfreund, Temesvar,1918, S.35<br />
(s. Lv. 61); Basch übernimmt diese Einschätzung o<strong>de</strong>r richtiger: er pfropft sie im<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch zu seiner eigenen Interpretation <strong>de</strong>s Stückes noch auf. Auch Ed. Castle folgt<br />
hierin J. Stein, bringt aber manches durch offensichtliche Unaufmerksamkeit durcheinan<strong>de</strong>r,<br />
vgl. Castle, Lv. 8, S. 581.<br />
132
Gegensatz dazu einen Zustand <strong>de</strong>r Schwebe herbeigeführt. Vor allem hier häufen<br />
sich die retardieren<strong>de</strong>n Momente, die auf ein noch mögliches Abwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Katastrophe hoffen lassen. Folgen<strong>de</strong> Handlungsmomente sind als retardierend<br />
einzustufen:<br />
Der Senat Karthagos überträgt Hannibal unbeschränkte Vollmacht für die<br />
Frie<strong>de</strong>nsverhandlungen mit Rom, noch vor <strong>de</strong>r Austragung <strong>de</strong>r geplanten Schlacht<br />
bei Zama. (III, 2, S. 55, Gisgo als Vertreter <strong>de</strong>s Senats)<br />
Die um Rettung und Schutz flehen<strong>de</strong>n Frauen Karthagos verlassen Hannibals<br />
Lager zuversichtlicher, als sie gekommen sind. Doch ihr Auftrag lautet: heroischer<br />
Kampf bis ans En<strong>de</strong>. Die Beschwörung <strong>de</strong>s Schicksals durch die Greisin Elissa,<br />
Hannibals Mutter, die <strong>de</strong>n Zug <strong>de</strong>r karthagischen Frauen anführte, <strong>de</strong>r Segen, <strong>de</strong>n<br />
sie vom Himmel für Karthagos Feldherren und das punische Heer erfleht, sind vom<br />
Dichter als magisch wirken<strong>de</strong> Kraft, zugleich als Schutz gedacht. (III, 4, S. 57-61)<br />
So ist das Retardieren<strong>de</strong> in sich gebrochen angelegt, <strong>de</strong>nn zu verschie<strong>de</strong>n sind die<br />
Aufträge und Erwartungen, mit <strong>de</strong>nen Hannibal als alleinig Bevollmächtigter zu <strong>de</strong>n<br />
Verhandlungen entsandt wird. Der Schwebezustand bleibt insofern gewahrt, als<br />
Hannibal <strong>de</strong>n Zwiespalt in sich verschließt.<br />
Dennoch scheint (fürs erste) selbst die Begegnung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Feldherren –<br />
Hannibal und Scipio – nach Entspannung <strong>de</strong>r Lage zu tendieren. Dessen<br />
ungeachtet wird jetzt die Rom-Karthago-Handlung zu einer für das ganze Werk<br />
be<strong>de</strong>utsamen Gipfelsituation geführt. In ihr kommt es aber nicht – wie gewöhnlich<br />
in Höhepunktsituationen – <strong>zur</strong> Kollision zweier Gegenspieler. Hannibal und Scipio<br />
achten vielmehr im Gegenüber <strong>de</strong>n ebenbürtigen Strategen und außeror<strong>de</strong>ntlichen<br />
Menschen. Bei dieser Begegnung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Feldherren treffen vielmehr<br />
entgegengesetzte staatspolitische Interessen und unterschiedliche Standpunkte in<br />
<strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Expansion aufeinan<strong>de</strong>r, wobei Expansion entschie<strong>de</strong>n als eine <strong>de</strong>r<br />
Hauptfragen <strong>de</strong>s Ganzen, überhaupt als Hauptmotiv <strong>de</strong>s Aneinan<strong>de</strong>rgeratens und<br />
Han<strong>de</strong>lns <strong>de</strong>m Publikum (Leser o<strong>de</strong>r Zuschauer) bewußt gemacht wird.<br />
Auffassungsgemäß und dramentechnisch ist daher dieser Höhepunkt <strong>de</strong>m in<br />
Schillers Don Carlos vergleichbar; auch hier eine i<strong>de</strong>ologische und politische<br />
Konfrontation: Philipp II. von Spanien und <strong>de</strong>r Marquis Posa im Für und Wi<strong>de</strong>r um<br />
die kühnen Neuerer-I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Marquis 79 . In Preyers Hannibal -Tragödie schließt<br />
diese Szene auch nicht <strong>de</strong>n Ausgang <strong>de</strong>r bevorstehen<strong>de</strong>n Schlacht mit ein, wie es<br />
in Grillparzers Hannibal-Scipio-Szene <strong>de</strong>r Fall ist; bei Grillparzer ist sie ja eben<br />
darauf angelegt, die notwendige Nie<strong>de</strong>rlage Karthagos zu <strong>de</strong>monstrieren. Für<br />
Preyers künstlerische Anschauungen und damit auch für seine Auffassung vom<br />
tragischen Hel<strong>de</strong>n scheint außer <strong>de</strong>m Vorbild Schillers (und von Schiller<br />
abweichend) Hegels Ästhetik von Einfluß gewesen zu sein, speziell seine Ansicht,<br />
wonach er das „ursprünglich Tragische“ darin sieht, „daß innerhalb solcher<br />
Kollisionen bei<strong>de</strong> Seiten <strong>de</strong>s Gegensatzes für sich genommen Berechtigung<br />
haben, während sie an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>n wahren, positiven Gehalt ihres<br />
Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren,<br />
gleichberechtigten Macht durchzubringen imstan<strong>de</strong> sind und <strong>de</strong>shalb in ihrer<br />
79 Vgl. E. Marschang, Sturm und Drang, Klassik. Vorlesung an <strong>de</strong>r Universität Temeswar,<br />
1975, S. 157<br />
133
Sittlichkeit und durch dieselbe ebenso sehr in Schuld geraten“. 80 So wird <strong>de</strong>nn –<br />
ausgehend von einem Zustand <strong>de</strong>r Schwebe, <strong>de</strong>s Unvorhersehbaren – das<br />
Schicksal zum Richter aufgerufen.<br />
Noch einmal zum IV. Akt: Er ist tief überschattet von <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage bei Zama, <strong>de</strong>n<br />
harten Frie<strong>de</strong>nsbedingungen und <strong>de</strong>r kriechen<strong>de</strong>n Rom-Ergebenheit <strong>de</strong>r Alten mit<br />
ihrem Haß gegen die Barki<strong>de</strong>n (Hasdrubal, <strong>de</strong>n Noch-Suffeten, ausgenommen).<br />
Licht in diesen Aufzug bringen die wenigen Szenen von retardieren<strong>de</strong>r Wirkung,<br />
wie die Wahl Hannibals zum Suffeten und nicht zuletzt seine Utopie vom Bündnis<br />
eines innerlich erneuerten und wie<strong>de</strong>rerstarkten Karthago mit Griechenland,<br />
Mazedonien und Syrien, und darauf gegrün<strong>de</strong>t die Aussicht auf eine breitflächig<br />
befreite Welt. (IV., 3., S. 82 f.) Mit <strong>de</strong>r im Frie<strong>de</strong>nsvertrag festgehaltenen<br />
For<strong>de</strong>rung Roms nach Auslieferung Hannibals als Staatsgefangenen und seinem<br />
Entschluß, sich <strong>de</strong>m Verbannungsbeschluß <strong>de</strong>s karthagischen Senats zu fügen,<br />
verdüstert sich die Stimmung wie<strong>de</strong>r in tragischem Ausmaß.<br />
Im V. Akt verschärft sich die tragische Situation aus <strong>de</strong>m IV. Akt: Die letzte<br />
persönliche, gleich doppelte Nie<strong>de</strong>rlage, erfolgt gegenüber Rom und gegenüber<br />
<strong>de</strong>m Schicksal. Seine Lage sieht nun so aus: Überallhin wird ihn Rom verfolgen,<br />
nirgends wird ihm Ruhe und Frie<strong>de</strong>n beschie<strong>de</strong>n sein. Während ihm aber sein<br />
Unterliegen <strong>de</strong>r karthagischen Opposition und <strong>de</strong>m Schicksal gegenüber bittersten<br />
Schmerz bereitet und herbe Resignation auslöst, nimmt er Roms letzte<br />
Verfolgungen nur mit Verachtung auf, auch wenn er vor ihnen kapituliert und <strong>de</strong>n<br />
Freitod wählt. Denn in diesen nie<strong>de</strong>ren Bemühungen erkennt er <strong>de</strong>n Keim<br />
künftigen Verfalls:<br />
Hannibal: Wie hab´ich mich in dieser stolzen Stadt<br />
Geirrt! Obgleich ihr Feind, vermeint´ ich ihr<br />
Nicht Größe zu versagen. Heut´erscheint<br />
Mir Rom ohnmächtig, klein und tief gefallen. (V., 3., S. 102)<br />
Erst im V. Aufzug wird das ursprüngliche Vertrauen <strong>de</strong>s Haupthel<strong>de</strong>n in ein ihm<br />
persönlich zugedachtes günstiges Geschick endgültig zerstört. (Mehr dazu w. u.)<br />
Titelheld und I<strong>de</strong>engehalt<br />
Den gesamten Verlauf <strong>de</strong>r Handlung überblickend, kann festgestellt wer<strong>de</strong>n:<br />
Preyer ist wenig daran gelegen, Momente auf die Bühne zu bringen, die Hannibals<br />
allgemein anerkanntes strategisches Genie vorführen; <strong>de</strong>sgleichen kappt er die<br />
historisch dokumentierten Leistungen <strong>de</strong>s einstigen Feldherrn aus <strong>de</strong>r Zeit, da er<br />
das Suffetenamt beklei<strong>de</strong>te, bis auf <strong>de</strong>n ersten Ansatz: Kraft seines neuen Amtes<br />
löst er <strong>de</strong>n Rat <strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>rt auf und erklärt damit die über ihn verhängte<br />
Verbannung als ungültig. (IV., 5., S. 85) Laut Dramenhandlung bleibt ihm keine<br />
Zeit, Reformen mit erneuern<strong>de</strong>r Wirkung durchzusetzen, Gesetzesän<strong>de</strong>rungen, die<br />
<strong>de</strong>r Bürgerschaft nützten, zugleich die überlieferten Vorrechte <strong>de</strong>r alten Familien<br />
drastisch beschnitten und so die alten Wi<strong>de</strong>rsacher um so rücksichtsloser mit Rom<br />
80 Hegel, Ästhetik, a. a. O., S. 1071.<br />
134
gemeinsame Sache machen ließen. 81 Preyer verlegt dagegen das Schwergewicht<br />
auf solche Momente, die geeignet waren, Machtkämpfe und freiheitliche<br />
Bestrebungen zu beleuchten, geeignet, politische Überlegungen aufzu<strong>de</strong>cken. So<br />
wirken im Hannibal Despotie und innere Feh<strong>de</strong>n als die eigentlich treiben<strong>de</strong>n<br />
(negativen) Handlungsmotive; als Leitmotive lassen sie sich in vielerlei<br />
Verflechtungen im Verlauf <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Handlungsstränge verfolgen. Als positive<br />
Gegenkräfte wer<strong>de</strong>n wahre, selbstlose Vaterlandsliebe und <strong>de</strong>r Wille <strong>zur</strong> Freiheit<br />
eingesetzt. Die Personenkonstellation ist Ausdruck für diese klare Konzeption.<br />
Je<strong>de</strong>r Aufzug kennzeichnet eine Phase <strong>de</strong>s Zweiten Punischen [Hannibalischen]<br />
Krieges und umreißt – engstens damit verbun<strong>de</strong>n und parallel dazu – das<br />
Schicksal <strong>de</strong>s karthagischen Oberfeldherren Hannibal Barkas. Dadurch erhält<br />
je<strong>de</strong>r Aufzug eine bestimmte Geschlossenheit, die jedoch wie<strong>de</strong>rholt durch<br />
Voraus<strong>de</strong>utungen und Rückblen<strong>de</strong>n durchbrochen wird. Letzten En<strong>de</strong>s dienen<br />
auch diese Elemente <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Ganzen. (Beispiele dafür sind in <strong>de</strong>n<br />
Ausführungen anzutreffen.)<br />
Die überall gegenwärtige bzw. in alles miteinbezogene Gestalt Hannibals sowie die<br />
an ihn geknüpften Grundgedanken sichern <strong>de</strong>r Tragödie eine Einheitlichkeit in<br />
gedanklicher und formaler Hinsicht. Der Akzent fällt aber nicht auf einen<br />
überdimensionierten, aktiven, alles allein bestimmen<strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>n. Der Hannibal<br />
Preyers erscheint viel eher als eine von <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n (die z. T. schicksalhaft<br />
wirken und in <strong>de</strong>n Schicksalsbegriff miteinbezogen wer<strong>de</strong>n) abhängige<br />
Persönlichkeit. Wohl überragt er seine Umwelt, doch wird er in seiner Aktivität<br />
gera<strong>de</strong> durch die äußeren Umstän<strong>de</strong> entwe<strong>de</strong>r beflügelt o<strong>de</strong>r (während <strong>de</strong>r<br />
Zeitspanne <strong>de</strong>s Bühnengeschehens) gehemmt und in seinem Wollen lahmgelegt.<br />
Er erscheint daher auf <strong>de</strong>r Bühne vor allem reagierend auf Situationen, die von<br />
außen herbeigeführt wur<strong>de</strong>n.<br />
An die Gestalt <strong>de</strong>s Titelhel<strong>de</strong>n gebun<strong>de</strong>n sind nicht nur solche<br />
Spannungselemente, die sich auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Handlung gegeneinan<strong>de</strong>r<br />
bewegen, son<strong>de</strong>rn auch solche, die im Bereich <strong>de</strong>r Wertung und Deutung liegen.<br />
So setzt das Drama mit Szenen ein, die ver<strong>de</strong>utlichen wollen, wie Hannibal schon<br />
zu Lebzeiten zu einem Mythos gewor<strong>de</strong>n war:<br />
Bürger Capuas<br />
81 Er än<strong>de</strong>rte die Verfassung: Bisher auf Lebenszeit bestimmte Richter wer<strong>de</strong>n nun jährlich<br />
eingesetzt. Er reformierte die Wirtschaft, sanierte – unter Opposition <strong>de</strong>s (Geld-)A<strong>de</strong>ls – die<br />
Finanzen. Nachzulesen u. a. bei Th. Mommsen, Golo Mann / Wilhelm Hoffmann, Propyläen<br />
Weltgeschichte. Bei Mommsen ist zu lesen: „Die bessern<strong>de</strong> Macht <strong>de</strong>r Not und wohl auch<br />
Hannibals klarer, großartiger Geist bewirkten politische und finanzielle Reformen. Die<br />
Oligarchie, die durch Erhebung <strong>de</strong>r Kriminaluntersuchung gegen <strong>de</strong>n großen Feldherrn<br />
wegen absichtlich unterlassener Einnahme Roms und Unterschlagung <strong>de</strong>r italischen Beute<br />
das Maß ihrer verbrecherischen Torheiten voll gemacht hatte, diese verfaulte Oligarchie<br />
wur<strong>de</strong> auf Hannibals Antrag über <strong>de</strong>n Haufen geworfen und ein <strong>de</strong>mokratisches Regiment<br />
eingeführt, wie es <strong>de</strong>n Verhältnissen <strong>de</strong>r Bürgerschaft angemessen war (vor 195)“. ... “Die<br />
grollen<strong>de</strong>n karthagischen Oligarchen, die Briefe über Briefe nach Rom sandten, um <strong>de</strong>n<br />
Mann, <strong>de</strong>r sie gestürzt, wegen geheimer Verbindungen mit <strong>de</strong>n antirömisch gesinnten<br />
Mächten <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>sfeind zu <strong>de</strong>nunzieren, sind verächtlich, aber ihre Meldungen waren<br />
wahrscheinlich richtig; ...“ Sodann spricht Mommsen von Hannibals „rascher und<br />
besonnener Flucht“ (Bd.I, S. 669 f.)<br />
135
2.Bürger: Das ist ein Mann, <strong>de</strong>r seines Gleichen nicht<br />
Auf Er<strong>de</strong>n hat.<br />
1.Bürger: Man sagt von ihm, er hebt<br />
2.Bürger: Ach bah!<br />
Mit einem Arm <strong>de</strong>n schwersten Baum.<br />
Er hebt die ganze Welt aus ihren Angeln. (I., 2., S. 5)<br />
1.Bürger (beim Anblick Hannibals): Das ist ein Mann!<br />
2. Bürger: Er gleicht <strong>de</strong>m Gotte Mars! (I., 4., S. 9)<br />
Mit <strong>de</strong>m Abbau dieser Sehweise und <strong>de</strong>r sich daraus ergeben<strong>de</strong>n<br />
Vermenschlichung <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n wird bereits im ersten Aufzug begonnen. Die<br />
panegyrische Sehweise <strong>de</strong>s Fernstehen<strong>de</strong>n wird beseitigt, sobald Hannibal selbst<br />
han<strong>de</strong>lnd und reagierend auftritt, als Politiker, als Feldherr, als Mensch. Allerdings<br />
erweist er sich dann (meistens) als außeror<strong>de</strong>ntliche Persönlichkeit.<br />
Maharbal, sein numidischer Reiteroberst, ta<strong>de</strong>lt das Zögern <strong>de</strong>s Feldherren, Rom<br />
selbst anzugreifen. Hannibal greift <strong>de</strong>n Vorwurf auf, doch richtet er ihn gegen<br />
Karthagos Senat:<br />
Glaubt <strong>de</strong>nn Karthago, daß wir Götter sind<br />
Und auch das Übermenschliche vermögen?<br />
Eingebettet ist diese Frage in Ausführungen über <strong>de</strong>n langandauern<strong>de</strong>n Krieg und<br />
die Schwierigkeit, sich auf frem<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zu behaupten. Die Zertrümmerung <strong>de</strong>r<br />
Illusion vom Übermenschen Hannibal wird in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Aufzügen fortgesetzt,<br />
so in <strong>de</strong>r Szene, in <strong>de</strong>r Hannibal, erschüttert durch die schmähliche Art, in <strong>de</strong>r ihn<br />
die Römer <strong>de</strong>n Tod seines Bru<strong>de</strong>rs Hasdrubal wissen ließen, also infolge einer<br />
persönlichen Verletzung, selbst hart und unerbittlich Rache nimmt an <strong>de</strong>r Frau und<br />
<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn eines italischen Verräters (II.,1.). In diesem Aufzug <strong>de</strong>s Abstiegs sind<br />
es (bei raschem Voranschreiten <strong>de</strong>r Handlung) gleich drei Szenen, die seinem<br />
Ansehen empfindlich scha<strong>de</strong>n: a.) das eben genannte Zusammentreffen mit <strong>de</strong>r<br />
Römerin Severa; b.) die weiter oben erwähnte Szene mit seinem capuanischen<br />
Verbün<strong>de</strong>ten Calavius und c.) kurz vor <strong>de</strong>r Einschiffung <strong>zur</strong> Überfahrt nach<br />
Karthago, als er schweigend <strong>zur</strong> Kenntnis nimmt, die aufbegehren<strong>de</strong>n italischen<br />
Söldner, die „Rebellen“, die sich geweigert hatten, mit auf See zu gehen, seien auf<br />
Befehl Maharbals, „zusammengehauen“ wor<strong>de</strong>n. Scheinbar ungerührt hat er<br />
Schmähung und Verachtung über sich ergehen lassen (Severa, Calavius), läßt er<br />
sich nun auch seine Machtbefugnis entreißen? Diese Frage stellt sich <strong>de</strong>r<br />
Zuschauer/<strong>de</strong>r Leser <strong>zur</strong>echt. Ein schales Gefühl bleibt <strong>zur</strong>ück, zumal es <strong>de</strong>rselbe<br />
Maharbal ist, <strong>de</strong>r die letzten Worte dieses Aufzugs spricht:<br />
Eine frische Brise<br />
Verspricht uns gute Fahrt nach Afrika. (II., 9., S. 51)<br />
Auch im weiteren Verlauf <strong>de</strong>s Bühnengeschehens billigt Preyer <strong>de</strong>m Haupthel<strong>de</strong>n<br />
Fehlverhalten zu. Der IV. Aufzug zeigt ihn uns in <strong>de</strong>r heftigen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit <strong>de</strong>r karthagischen Oppositionspartei. Gereizt durch Gisgos <strong>de</strong>magogischheuchlerische<br />
Re<strong>de</strong>, die von Selbstlosigkeit und Vaterlandsliebe getragen scheint,<br />
136
und nach <strong>de</strong>r verlorenen Schlacht <strong>zur</strong> Fortführung <strong>de</strong>s Krieges aufruft, verliert<br />
Hannibal in seiner Empörung Maß und Selbstbeherrschung:<br />
Unsinn´ger Tor! Du alter Schwätzer, schweige! (IV., 1., S. 74)<br />
Hier wie auch in <strong>de</strong>r Szene mit Severa, <strong>de</strong>r Frau <strong>de</strong>s italischen Verräters („Du<br />
blö<strong>de</strong>s Weib,[...]“) wer<strong>de</strong>n Wendungen, Ausdrücke pejorativer Prägung aus <strong>de</strong>r<br />
Alltagssprache bzw. <strong>de</strong>m Sprachgebrauch niedriger Schichten auf <strong>de</strong>r Bühne <strong>de</strong>m<br />
Gegenüber entgegengeschleu<strong>de</strong>rt. (Seine verbale Entgleisung Gisgo gegenüber<br />
ist allerdings sogar in Chroniken festgehalten.) Solche Stellen – insgesamt sind es<br />
nicht viele – sind um so auffälliger und wirkungsvoller, da sie mit <strong>de</strong>r sonst<br />
durchwegs gehobenen Sprache kontrastieren. Offensichtlich ist es die Absicht <strong>de</strong>s<br />
Dichters, mit Hilfe eines ausschließlich sprachlichen Mittels <strong>de</strong>m Hel<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />
Glorienschein zu nehmen, ihn auch mit Lei<strong>de</strong>nschaft und Leben zu erfüllen, ein<br />
Anliegen, das ja auch Grabbe verfolgt hat, weil Hannibal „in <strong>de</strong>r Geschichte wie<br />
eine kalte Mythe“ stehe. 82 Bei Grabbe ist dies je<strong>de</strong>nfalls ein<strong>de</strong>utig das vorrangige<br />
Anliegen.<br />
Trotz solcher und ähnlicher Annäherungsversuche an lebensvolle<br />
Bühnengestalten, wie in <strong>de</strong>n aufgezeigten Fällen, bleibt Preyer in <strong>de</strong>r<br />
Personengestaltung und poetischen Diktion sehr stark <strong>de</strong>r klassischen Manier zu<br />
i<strong>de</strong>alisieren verhaftet, was sich auch an <strong>de</strong>r Reihe weiterer Charaktermerkmale<br />
<strong>de</strong>s Preyerschen Haupthel<strong>de</strong>n verfolgen läßt.<br />
a.) Brutale Gewalt ist <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s literarischen Hel<strong>de</strong>n fremd. Nur eine<br />
beson<strong>de</strong>re psychische Situation (Tod <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rs, angetane Schmach, Verrat)<br />
veranlassen ihn zu an sich nicht zu rechtfertigen<strong>de</strong>r Grausamkeit. Dieser i<strong>de</strong>alisieren<strong>de</strong>n<br />
Ten<strong>de</strong>nz entspricht auch, daß nicht er es ist, <strong>de</strong>r die italischen Söldner<br />
im Juno-Tempel nie<strong>de</strong>rmetzeln läßt. Der Befehl dazu kommt (so bei Preyer) von<br />
Maharbal. Laut Geschichtsschreibung ist es Hannibal selbst gewesen. Das<br />
Durchführen unerhörter Pläne gehörten zum historischen Feldherren ebenso wie<br />
sein politischer Fanatismus, sein Scharfblick und strategisches Genie. Der<br />
Umgang mit <strong>de</strong>n Quellen hat sich insgesamt als schwierig erwiesen, und nur<br />
allmählich gelang es Wissenschaftlern späterer Generationen Spreu von Weizen<br />
zu trennen. Verständlicherweise waren es im Falle <strong>de</strong>s Zweiten Punischen Krieges<br />
römische Chronisten, die die Grausamkeit <strong>de</strong>r Punier, auch die ihres obersten<br />
Strategen, überbetonten, auch vor Übertreibungen und Lügen nicht<br />
<strong>zur</strong>ückschreckten, während griechische / hellenische Aufzeichnungen als<br />
verläßlicher gelten. 83<br />
82 F.Sengle, a. a. O., S. 169.<br />
Selbst <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Historiker Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.) macht diesbezüglich<br />
keine Aus-nahme. Er beginnt seine Charakteristik Hannibals mit <strong>de</strong>r Aufzählung einer Reihe<br />
von Vorzügen, um dann lapidar seine „ungeheuren Fehler“ aufzuzählen: „unmenschliche<br />
Grausamkeit, mehr als punische Treulosigkeit, keine Achtung für Wahrheit, für das, was<br />
heilig ist, für Götter, für Ei<strong>de</strong>, für Gewissen“. (21/4) Die mo<strong>de</strong>rne Geschichtsschreibung stuft<br />
ihn als „klug und besonnen“, als genialen Strategen ein, „<strong>de</strong>r keineswegs Roms Eroberung<br />
und Zerstörung geplant hatte. Sein Frie<strong>de</strong>nsangebot an Rom nach seinem großartigen Sieg<br />
bei Cannae, die Formulierung <strong>de</strong>r Ziele im Vertrag mit Philipp V. von Makedonien zeigen,<br />
daß es ihm lediglich um die Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>s Status Quo ging. Livius mußte Hannibal<br />
dämonisieren, um Roms Verfahrensweisen rechtfertigen zu können; für die punische<br />
137
.) Der Scharfblick Hannibals, auf <strong>de</strong>n die Geschichtsschreibung, selbst die<br />
römische, wie<strong>de</strong>rholt hinweist, wird auch von Preyer als beson<strong>de</strong>res Kennzeichen<br />
seines Titelhel<strong>de</strong>n hervorgehoben. Augenblickliche Erfolge verblen<strong>de</strong>n ihn nicht.<br />
Aufmerksame wie argwöhnische Beobachtung und kritischer Verstand bewahren<br />
ihn davor, sich vermessen an eine Belagerung Roms zu wagen, bevor starker<br />
Nachschub eintraf; überhaupt wäre ihm an einem Frie<strong>de</strong>nsabkommen von seiner<br />
günstigen Ausgangslage heraus mehr gelegen gewesen (Anm. 83). Rom hatte<br />
jedoch je<strong>de</strong> Form von Verhandlung abgelehnt. (An<strong>de</strong>utung im Gespräch mit <strong>de</strong>m<br />
aus Rom <strong>zur</strong>ückgekommenen Carthalo. I., 11.; so auch laut Th. Mommsen u. a.).<br />
In seiner Entgegnung auf Maharbals diesbezügliche Ungeduld vermei<strong>de</strong>t er klug,<br />
<strong>de</strong>n wahren Grund auszusprechen; vermutlich wollte Preyer auch damit Hannibals<br />
entschie<strong>de</strong>ne Überlegenheit herausstreichen. Seinem Ziel so nahe, überblickt<br />
je<strong>de</strong>nfalls Hannibal (anscheinend als einziger) das ganze Ausmaß drohen<strong>de</strong>n<br />
Abfalls <strong>de</strong>r keltischen, griechischen, vor allem <strong>de</strong>r italischen Verbün<strong>de</strong>ten. Er sieht<br />
unvermeidliche Nie<strong>de</strong>rlagen heraufziehen, sofern sich Karthago, das nur an Beute<br />
interessiert gewesen, nicht auch zu verstärkter Unterstützung <strong>de</strong>s Krieges<br />
aufraffen wür<strong>de</strong>.<br />
Die noch in Siegeszeiten (En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s I. Aufzugs) eindringlich beschworene Gefahr 84<br />
verleiht seiner Anklage im II. Aufzug, als das Befürchtete eingetreten ist,<br />
Nachdruck und Glaubwürdigkeit [„Nicht von Rom bin ich besiegt, ich bin es von<br />
Karthago“] und gewinnt erneut Be<strong>de</strong>utung in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m<br />
Senat Karthagos nach <strong>de</strong>r verlorenen Schlacht bei Zama. Ein zentrales Problem<br />
wird damit angeschnitten:<br />
Ruchlose Zwietracht! Unheilvolle Halbheit! (II., 5., S. 44)<br />
Innere Zwietracht, vor allem in <strong>de</strong>r zugespitzten Form eines Bürgerkrieges, ist<br />
immer Ursache von schmerzhaften Nie<strong>de</strong>rlagen, ja Ursache für <strong>de</strong>n Untergang<br />
ganzer Staaten. Sie ist immer mit egoistischen Bestrebungen und Engstirnigkeit<br />
gepaart. Daraus erwachsen alle zerstören<strong>de</strong>n Gewalten. Erworbenes,<br />
Aufgebautes, ja die Fortentwicklung eines Gemeinwesens wer<strong>de</strong>n durch sie<br />
zunichte gemacht. Diese Einsicht festigt sich zunehmend zu einem <strong>de</strong>r wichtigsten<br />
Pfeiler von Preyers Geschichtsphilosophie und ist für ihn – wo es um die<br />
Einschätzung historischer Abläufe geht – von gleich großer Wichtigkeit wie seine<br />
Erkenntnis von <strong>de</strong>r nicht zu dämmen<strong>de</strong>n Macht <strong>de</strong>r Freiheitsbewegung angesichts<br />
von Despotie in all ihren Formen.<br />
Treulosigkeit und Grausamkeit, die er Hannibal zuspricht, gibt er allerdings auf <strong>de</strong>n weit<br />
über 1000 Seiten <strong>de</strong>r mit Hannibals Krieg befaßten Büchern von Ab urbe condita keine<br />
Beispiele. Abgesehen von <strong>de</strong>r grundsätzlichen Inhumanität aller Kriege ...“ (G. Haefs, a. a.<br />
O, S. 645) ...“ (ebenda). Und selbst in einem allgemeinen Nachschlagewerk, wie <strong>de</strong>m<br />
Großen Brockhaus, fin<strong>de</strong>t sich folgen<strong>de</strong> Einschätzung: „L. hat keine eigene<br />
Quellenforschung betrieben, war nicht Gelehrter, son<strong>de</strong>rn Künstler <strong>de</strong>r Darstellung mit <strong>de</strong>r<br />
Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r sittl. und religiösen Erneuerung <strong>de</strong>s Volkes durch das Vorbild seiner<br />
Geschichte. Durch sein Werk, von <strong>de</strong>m vieles heute von <strong>de</strong>r britischen Forschung<br />
angezweifelt wird, hat er im Altertum, dann von <strong>de</strong>r Renaissance bis zum Beginn <strong>de</strong>s 19. Jh.<br />
das Bild <strong>de</strong>r römischen Geschichte wesentlich mitbestimmt.“ (Wiesba<strong>de</strong>n, Ausgabe 1979,<br />
Bd.7, S. 183)<br />
84 Zitat/ I., 12., w.o. im Text .<br />
138
Der Scharfblick, die Weitsicht <strong>de</strong>s punischen Feldherren liegen gera<strong>de</strong> in diesen<br />
bei<strong>de</strong>n Einsichten begrün<strong>de</strong>t; aus seiner Sicht vermag aber keine an<strong>de</strong>re<br />
Problematik so zu überzeugen als die <strong>de</strong>r inneren Zwietracht, <strong>de</strong>r verwerflichen<br />
Rivalitäten.<br />
Ob Preyer die Notwendigkeit von Karthagos Unterliegen im Kampf gegen Rom<br />
ebenfalls darin begrün<strong>de</strong>t sah, daß <strong>de</strong>r Punische Krieg über viele Jahre hinweg<br />
<strong>de</strong>n Charakter eines Eroberungs- und Vernichtungskrieges angenommen hatte, so<br />
daß es schon darum nicht frei sein konnte, weil es selbst so viele an<strong>de</strong>re Völker<br />
bedrückte, ob er also hinter <strong>de</strong>m, was er in antiker Manier als „Schicksal“<br />
allmächtig und unbeeinflußbar wähnt, dieselbe gesetzmäßige Notwendigkeit<br />
erahnt, sind Fragen, die schwer ein<strong>de</strong>utig zu beantworten sind.<br />
Der Text liefert je<strong>de</strong>nfalls mehrere Stellen, die eine solche Vermutung nahelegen.<br />
Erinnert sei an das w. o. gebrachte Zitat (I., 12.). Er erhebt nicht nur Anklage,<br />
son<strong>de</strong>rn entwirft auch ein Bild davon, wie schwer sich sein Heer im Fein<strong>de</strong>sland<br />
behauptet. Die eindringlichen Worte, die <strong>de</strong>r inzwischen 45-Jährige vor <strong>de</strong>r<br />
Schlacht bei Zama zu <strong>de</strong>m 34 Jahre alten Scipio spricht, umreißen diese Einsicht<br />
klarer: Sie sind das Eingeständnis eines grundlegen<strong>de</strong>n, über Leben und Tod,<br />
Überdauern o<strong>de</strong>r Vergehn entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Irrtums:<br />
Dem Krieg, gemeint ist <strong>de</strong>r Expansionskrieg, erteilt <strong>de</strong>r zu weiser Einsicht gereifte<br />
Feldherr (er selbst ein Krieger par excellence) eine entschie<strong>de</strong>ne Absage:<br />
Scipio: Ja, Hannibal, Karthago lehrte uns,<br />
Daß diesen Krieg kein Frie<strong>de</strong> schließen wird,<br />
Daß es sich nicht um Län<strong>de</strong>r und Provinzen,<br />
Daß sich’s um Rom und um Karthago han<strong>de</strong>lt. (III., 6., S. 64 )<br />
Hannibals Re<strong>de</strong> wird immer beschwören<strong>de</strong>r. Er versucht eine späte Korrektur:<br />
Rom begnüge sich mit Europa, Karthago mit afrikanischem [lybischem] Territorium.<br />
Preyer macht damit Hannibal zum Sprachrohr für seine eigene Überzeugung, daß<br />
Völkerknechtung notwendig zum Untergang <strong>de</strong>spotischer Staaten führen müsse.<br />
Mit dieser (die Geschichtsentwicklung antizipieren<strong>de</strong>n) Erkenntnis vom<br />
unvermeidlichen Untergange <strong>de</strong>s Römerreichs erhebt sich Hannibal über Rom mit<br />
seinen Weltmachtbestrebungen.<br />
Hannibal: .......................Es [Rom] frohlocke nicht,<br />
Auch wenn ich falle. Träger war ich nur<br />
Des Geist’s <strong>de</strong>r Zeiten, <strong>de</strong>r die Völker alle<br />
Nach eignem freien Dasein ringen heißt.<br />
Erwarte Rom ihn überall zu fin<strong>de</strong>n,<br />
Bevor es ihn im Völkerblut erstickt. (V., 3., S. 102)<br />
Diese Voraussicht hat also eine ähnlich versöhnen<strong>de</strong> Wirkung wie das<br />
Erlösungsmotiv in <strong>de</strong>r klassischen Dichtung, mil<strong>de</strong>rt somit die partikuläre Tragik<br />
<strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n.<br />
Bedingungslose Unterwerfung, die Hannibal bei diesen Unterhandlungen hätte<br />
akzeptieren müssen, lehnt er ab. Nochmals wird <strong>de</strong>mnach Kampf als Mittel <strong>de</strong>r<br />
Entscheidung eingesetzt (wie es im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt in Europa und weltweit noch<br />
139
immer geschah, meist <strong>zur</strong> noch tieferen Unterjochung <strong>de</strong>r Provinzen).<br />
Welche Lösung sieht Preyers Hannibal in <strong>de</strong>m Dilemma: Frie<strong>de</strong>nsvisionen auf <strong>de</strong>r<br />
einen Seite, Unterwerfung bzw. Freiheitskampf auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite? Auch<br />
diesbezüglich klare Worte, zum Teil Sentenzen, die an Schiller erinnern und<br />
besagen: Die harten Bedingungen annehmen, die Frie<strong>de</strong>nsspanne zum Heilen <strong>de</strong>r<br />
Wun<strong>de</strong>n und zum Sammeln neuer Kräfte nützen, um – erholt – <strong>de</strong>n Freiheitskampf<br />
erneut aufzunehmen. Ein Nein zum Expansionkrieg, ein Ja zum Freiheitsstreben,<br />
und sei es <strong>de</strong>r Kampf auf <strong>de</strong>m Schlachtfeld. In konzentrierter Form begegnen wir<br />
diesen Gedanken in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung Hannibals mit Hasdrubal, seinem<br />
Vorgänger im Amt <strong>de</strong>s Suffeten:<br />
Hannibal: Nur Hoffnung stählt das zage Herz mit Mut.<br />
.................................................………………………...<br />
Hasdrubal: Du sagtest dich nicht los von je<strong>de</strong>r Hoffnung?<br />
Es schweift <strong>de</strong>in Geist in ihren Regionen,<br />
Ergötzend sich an Phantasiegebil<strong>de</strong>n?<br />
Hannibal: Da ich die Welt in ihrem Lauf betrachte,<br />
Wie schnell sich oft Extreme nah berühren,<br />
Will ich <strong>de</strong>n Staat nicht ganz verloren halten,<br />
Sofern wir uns mutlos nicht selbst verleugnen.<br />
Eins nur vermöcht’ uns völlig zu ver<strong>de</strong>rben:<br />
Nicht Krieg zu führen, wenn es Rom verwehrt. 85 (IV., 3., S. 81 )<br />
Derartig explizit und prägnant formulierte Kernsätze mußten selbst <strong>de</strong>n naivsten<br />
<strong>de</strong>r Leser o<strong>de</strong>r Zuschauer auf die eigenen Zeitverhältnisse hinlenken. Ohne<br />
weitere Nachhilfe konnte er begreifen: Das ist eine je<strong>de</strong>rzeit aktuelle, mancherorts<br />
gera<strong>de</strong> brandaktuelle Problematik. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r noch immer nicht<br />
ausgeschalteten Zensur mußten solche Schlüsselstellen, wie die gesamte i<strong>de</strong>elle<br />
Ausrichtung <strong>de</strong>s Stückes, namentlich in Ungarn nach <strong>de</strong>m blutig erstickten<br />
Freiheitskampf von 1848/49 und <strong>de</strong>n erbitterten Kämpfen in Norditalien um<br />
Unabhängigkeit von Österreich (1859/1860), politischen Zündstoff versprühen.<br />
c.) Die Hanno entgegengeschleu<strong>de</strong>rte Invektive, Hannibals Ausbruch ehrlicher<br />
85 Die Zeilen beziehen sich auf die fatalste <strong>de</strong>r römischen For<strong>de</strong>rungen, weil Karthago<br />
dadurch seine außenpolitische Souveränität verlor: Es wur<strong>de</strong> ihnen verboten, außerhalb<br />
Afrikas Krieg zu führen und auf afrikanischem Gebiet nur mit Zustimmung Roms. Damit war<br />
Karthago als Rivale Roms ausgeschaltet, ja <strong>de</strong>r Grund gelegt für einen künftigen<br />
Vernichtungskrieg, wie er von manchen <strong>de</strong>r Senatoren mit Verbissenheit gefor<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>,<br />
da „nur ein vernichteter Gegner wirklich besiegt sei“. Vorbedacht und arglistig hatte man<br />
Massinissa zum König eines großen Numidierreiches gemacht, <strong>de</strong>ssen andauern<strong>de</strong>n<br />
Überfällen Karthago wehrlos ausgesetzt war, bis es sich endlich doch – ohne Genehmigung<br />
Roms – rüstete und gegen M. vorging, damit aber Rom <strong>de</strong>n Anlaß zum vernichten<strong>de</strong>n<br />
Schlag gegeben hat. Unter <strong>de</strong>m Kriegstribun Publius Cornelius Scipio Aemilianus Afrikanus<br />
<strong>de</strong>r J. (Minor), <strong>de</strong>m Adoptivenkel Scipios <strong>de</strong>s Ä. (Maior), wur<strong>de</strong> Karthago im Dritten<br />
Punischen Krieg (149-146) eingenommen und <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n gleichgemacht. Gleichzeitig<br />
wur<strong>de</strong>n Makedonien und Griechenland unterworfen.<br />
140
Empörung (s. w. o.) wird auch zum poetischen Mittel, ihn von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>magogischen<br />
Unredlichkeit <strong>de</strong>r Gegner abzugrenzen, ihn als <strong>de</strong>n ethisch höher Stehen<strong>de</strong>n<br />
herauszustreichen. Seine selbstlose Vaterlandsliebe erscheint als <strong>de</strong>r eigentliche<br />
und einzige Beweggrund seines Han<strong>de</strong>lns und seines Kampfes gegen Rom, <strong>de</strong>r<br />
als rechtfertigt erscheint (historisch auch rechtfertigt war durch die Expansion<br />
Roms, durch Beschränkung <strong>de</strong>s Lebensraums, die Karthago durch Rom zu<br />
erdul<strong>de</strong>n hatte). Der subjektive Fanatismus, mit <strong>de</strong>m Hannibal <strong>de</strong>n Kampf gegen<br />
Rom führt, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Vermächtnis Hamilkars verankert liegt (I., 13., S. 25,47), ist<br />
somit Ausdruck <strong>de</strong>s obersten Zwecks, <strong>de</strong>r obersten selbstverordneten Pflicht:<br />
Karthago zu dienen. Hannibals Patriotismus und die Rechtmäßigkeit dieses<br />
Krieges ziehen sich leitmotivisch durch das Drama. Hier einige Beispiele:<br />
Hannibal zu Calavius:<br />
Wir führen diesen blut´gen Krieg mit Rom<br />
Um unsre und die Freiheit einer Welt.<br />
Das Los <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> hängt an unsrem Schwert. (I., 10., S. 21)<br />
Hannibal zu Scipio (als dieser ihm <strong>de</strong>n Auftrag Roms kundtut: daß es keinen<br />
Frie<strong>de</strong>n mit Karthago wünsche, bevor dieses nicht ganz unterworfen sei. Denn<br />
nach <strong>de</strong>m Ersten Punischen Krieg konnte trotz harter Frie<strong>de</strong>nsbedingungen ein<br />
neues Aufblühen und Erstarken Karthagos nicht verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.)<br />
O, auch Karthago führte nicht <strong>de</strong>n Krieg<br />
Des Krieges wegen, und ersehnt <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n. (III.,6., S. 68)<br />
Die Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>s Krieges, <strong>de</strong>n Karthago führte, wird auch aus <strong>de</strong>r Sicht<br />
an<strong>de</strong>rer, durch Rom geknechtete Völker, bekräftigt, so durch Calavius, <strong>de</strong>r für<br />
Capua und Süditalien spricht:<br />
Es sahen alle unterdrückten Völker<br />
Auf dich, wie eine glückliche Verheißung<br />
Der Götter, <strong>de</strong>r sie von <strong>de</strong>r Herrschaft Roms<br />
Befreit.......…………………………………….. (I.,10., S. 21)<br />
O<strong>de</strong>r Bias, Ratgeber <strong>de</strong>s bithynischen Königs: Angesichts <strong>de</strong>r Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r<br />
römischen Herrschaft über Griechenland, Kleinasien, Ägypten warnt er seinen<br />
Herren, sich mit Rom auf ein Kräftemessen einzulassen. (V.,1., S. 97 f.)<br />
An<strong>de</strong>rs wer<strong>de</strong>n Hannibals Bestrebungen von Hanno und Gisgo ausgelegt. Aus<br />
Eifersucht hatten sie schon zu Zeiten Hamilkars, Hannibals Vater, Feindschaft<br />
angefacht und geschürt. Aus Besorgnis um die eigene Machtposition und die <strong>de</strong>r<br />
konservativen Partei beschuldigen sie nun Hannibal monarchistischer Machtgier<br />
und erreichen beim Rat <strong>de</strong>r Hun<strong>de</strong>rt seine Verbannung.<br />
d.) Die Heuchelei Hannos, wenn er von Interessen <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s spricht, die<br />
aber je<strong>de</strong>smal Interessen seiner selbst und <strong>de</strong>r zahlenmäßig geringen Oligarchie<br />
sind, wird erst hier durch <strong>de</strong>n Satz von <strong>de</strong>r Anhänglichkeit <strong>de</strong>s Volkes Hannibal<br />
gegenüber enthüllt „Mehr aber huldigt ihm bereits das Volk [...]“.<br />
Diese Stelle ist nicht die einzige, an <strong>de</strong>r Preyer die enge Verknüpfung von<br />
141
Patriotismus und Demokratismus 86 in Hannibals Gesinnung betont.<br />
Mit Nachdruck geschieht dies in <strong>de</strong>r Szene, als Hannibal vom Volkssenat und <strong>de</strong>n<br />
Volksvertretern zum Suffeten, <strong>de</strong>r obersten Machtperson <strong>de</strong>s Staates, gewählt<br />
wird. Auf Hannibals Einwand, ob sie die Entscheidung auch wohl erwogen hätten,<br />
da auf <strong>de</strong>m Schlachtfeld das Glück von ihm gewichen sei, antwortet <strong>de</strong>r Sprecher:<br />
Karthagos Volk<br />
Hat reiflich es erwogen und beschlossen.<br />
Dem Schicksal weichen auch die großen Götter;<br />
Karthagos Unglück hast nicht du verschul<strong>de</strong>t. –<br />
Wenn du das Staatsschiff in <strong>de</strong>n Port gerettet,<br />
Legst du die Machtvollkommenheit <strong>zur</strong>ück. (IV., 4., S. 84)<br />
Die Umstän<strong>de</strong>, die ihn kurz darauf bewogen, das Los eines Flüchtlings auf sich zu<br />
nehmen, sind w. o. aufgezeigt wor<strong>de</strong>n. So wi<strong>de</strong>rlegt er vor allem durch sein Tun<br />
und Verhalten die Anschuldigungen <strong>de</strong>r Gegenpartei. Preyer versäumt es nicht,<br />
diesen Moment <strong>de</strong>r Handlung voll <strong>zur</strong> moralisch-ethischen Erhöhung seines<br />
Hel<strong>de</strong>n auszuwerten. Höchster Ausdruck <strong>de</strong>r patriotischen und <strong>de</strong>mokratischen<br />
Gesinnung Hannibals ist nämlich, daß er sich – einer schmerzlichen Einsicht<br />
folgend – von <strong>de</strong>r Heimat losreißt.<br />
e.) Seine letzten Lebensjahre sind von Tragik überschattet. Der Zuschauer hat<br />
einen zu tiefem Lei<strong>de</strong>n fähigen altern<strong>de</strong>n Krieger vor sich, <strong>de</strong>r nach Kräften<br />
versucht hatte, seinem Gastgeber 87 in Kriegsgeschäften <strong>zur</strong> Seite zu stehen. Die<br />
Einglie<strong>de</strong>rung Pergamons in das Reich <strong>de</strong>s bithynischen Königs war Hannibals<br />
Verdienst. Insgeheim hat sich <strong>de</strong>r Verbannte von solchen Verdiensten erhofft, eine<br />
sichere Bleibe, das Bürgerrecht, zu erlangen. Da ihm dies nicht zuteil gewor<strong>de</strong>n ist,<br />
sieht er sich in Gedanken schon wie<strong>de</strong>r als Umherirren<strong>de</strong>n. Sein Seelenzustand,<br />
seine Trauer, wer<strong>de</strong>n mehrfach in Monologen beleuchtet und begrün<strong>de</strong>t:<br />
Sein beinahe lebenslanger entbehrungsreicher Einsatz für sein Vaterland hat ihm<br />
Undank, Mißgunst, Anschuldigungen und Verfolgung eingebracht. Das lastet<br />
schwer auf seiner Brust, obwohl er weiß, daß die meisten seiner Mitbürger ihm<br />
Achtung und Verehrung zollen.<br />
Er beklagt <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>ssen unglückliches Geschick ihm noch<br />
die letzten Stun<strong>de</strong>n trübt.<br />
Schmerzlich ist nicht zuletzt die Erkenntnis, wie Roms weitgreifen<strong>de</strong>s Imperium<br />
einen fast allgemeinen Zusammenbruch <strong>de</strong>r ethischen Werte, wie Treue,<br />
Gastfreundschaft, Ehrlichkeit, Tapferkeit, herbeigeführt hat.<br />
Noch bedrücken<strong>de</strong>r die Feststellung, daß die alten Konflikte und Mißverhältnisse<br />
fortdauerten, ausgeprägter als je zuvor. Die Ödnis einer Vanitas-vanitatum-<br />
86 Vgl. Th. Mommsen, a. a. O., S. 655 und 670 f.<br />
87 Richtig müßte es heißen: seinen Gastgebern; doch Preyer spart Hannibals Aufenthalt am<br />
Hofe <strong>de</strong>s Antiochus III. von Syrien aus. Nach <strong>de</strong>m vernichten<strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>r Römer (190 bei<br />
Magnesia) begab sich H. erneut auf die Flucht. Publius Cornelius Scipio d.Ä., seit seinem<br />
Sieg bei Zama genannt „Africanus“, war auch diesmal römischer Feldherr; ihm <strong>zur</strong> Seite<br />
sein Bru<strong>de</strong>r Lucius Cornelius S., „Asiaticus“. Insgesamt hat <strong>de</strong>r historische Hannibal 12<br />
Jahre (von seinem 52. bis zu seinem 64.) im Exil verbracht.<br />
142
Stimmung, die ja auch <strong>de</strong>n Verfasser <strong>de</strong>r Tragödie <strong>de</strong>s öfteren heimgesucht hat,<br />
breitet sich aus.<br />
Hannibal: ..................................<br />
Gleich einem Traum verging das I<strong>de</strong>al,<br />
Wofür ich dieses Leben eingesetzt;<br />
Ich sehe alle Schöpfungen verloren,<br />
Die für Jahrhun<strong>de</strong>rte entworfen waren. (IV., 4., S. 105)<br />
Zum ersten Mal taucht hier (aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s alten Kämpfers) die Frage einer<br />
nach möglichen eigenen, persönlichen Schuld auf. Seine so spät geäußerten<br />
Skrupel überzeugen nicht, son<strong>de</strong>rn bleiben als Frage im Raum stehen.<br />
f.) Was hingegen überzeugt und einige Male an das Publikum herangetragen<br />
wur<strong>de</strong>, ist die Bereitschaft Hannibals, die in <strong>de</strong>r langen Lebensphase <strong>de</strong>s<br />
Rückzugs errungenen Lebenserfahrungen, Einsichten an an<strong>de</strong>re weiterzugeben.<br />
Dieser Wesenszug ist in Verbindung mit einem an<strong>de</strong>ren zu sehen: Er war ein<br />
Mann, <strong>de</strong>r nie passiv war, <strong>de</strong>r sich immer verantwortlich fühlte, einer, <strong>de</strong>r genau<br />
um seine Ausstrahlung und das Gewicht seiner Worte wußte und diesen<br />
Tatbestand nutzen wollte, um zu belehren. Im Grun<strong>de</strong> also noch immer ein<br />
Mensch <strong>de</strong>r Tat, <strong>de</strong>r für sich die Freiheit <strong>de</strong>r Entscheidung beansprucht, und sei es<br />
die über ein Weiterleben o<strong>de</strong>r Sterben.<br />
Hannibal in <strong>de</strong>n Szenen unmittelbar vor seinem Freitod:<br />
Ich stehe im Schutz <strong>de</strong>r hohen Götter und bin frei, und also will ich <strong>de</strong>inen Hof<br />
verlassen. [...] Ha, hätt’ ich nicht <strong>de</strong>n letzten Kampf/ dann ausgekämpft, zugleich<br />
besiegt und sieghaft? Und was soll mir noch die Welt, da sie mir nun nicht Raum<br />
mehr, und nicht Freiheit mehr gewährt? [...] Und wär’ das Leben ohne Tat noch<br />
Leben?<br />
Die Ausführungen unter <strong>de</strong>n Stichwörtern „Scharfblick“/“Weitsicht“ Hannibals [b.]<br />
haben gezeigt, daß sein Freiheitsbegriff umfassen<strong>de</strong>r als nur das Abschütteln von<br />
Fremdherrschaft war, d. h. die Überzeugung miteinschließt, <strong>de</strong>r Freiheitswille<br />
wer<strong>de</strong> immer neu geboren, gehe mit einer inneren Erneuerung <strong>de</strong>r verfügbaren<br />
Kräfte einher und führe notwendig <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>r Unterdrücker herbei, ein<br />
Wissen, das seiner Zukunftsgläubigkeit und seinen Visionen zugrun<strong>de</strong>lag.<br />
Hannibal zu Flaminius, <strong>de</strong>m Legaten Roms, <strong>de</strong>r von König Prusias Hannibals<br />
Auslieferung for<strong>de</strong>rt:<br />
Es [Rom] frohlocke nicht,<br />
Auch wenn ich falle. Träger war ich nur<br />
Des Geist´s <strong>de</strong>r Zeiten, <strong>de</strong>r die Völker alle<br />
nach eig´nem freien Dasein ringen heißt.<br />
Erwarte Rom, ihn überall zu fin<strong>de</strong>n,<br />
Bevor es ihn im Völkerblut erstickt. (V., 3., S. 102)<br />
Hannibals letzte Worte im Drama gelten <strong>de</strong>mgemäß dieser Grundi<strong>de</strong>e, die er als<br />
Vermächtnis an seine eigene Zeit und an die Nachwelt weitergeben will, und hierin<br />
kommt es <strong>zur</strong> vollkommenen l<strong>de</strong>ntifizierung Preyers mit seinem Haupthel<strong>de</strong>n:<br />
143
Doch <strong>de</strong>r Senat gewärtige <strong>de</strong>n Tag,<br />
Da Romas Weltenbau zusammenfällt<br />
und einst ein Held, <strong>de</strong>r glücklicher als ich,<br />
Das Kapitol und seine Allherrschaft<br />
Zerstört und die bezwung´ne Welt befreit. (V., 5., S. 111)<br />
So unterliegt Hannibal zwar dreifach, doch er en<strong>de</strong>t nicht als gebrochener Mensch,<br />
son<strong>de</strong>rn als einer, <strong>de</strong>r sich seinen I<strong>de</strong>alismus von Freiheit wie seine persönliche<br />
Freiheit rettet und sich so moralisch über seine Gegner erhebt: über Rom mit<br />
seinen Weltmachtbestrebungen durch die Überzeugung vom unvermeidlichen<br />
Untergang <strong>de</strong>s Römerreiches; über die karthagische Clique alter Egoisten, die ihn<br />
zu Fall gebracht, durch seine wahrhaft patriotische Gesinnung und<br />
Opferbereitschaft; über das Schicksal durch die Einsicht, daß <strong>de</strong>r Einzelne <strong>de</strong>r<br />
Macht <strong>de</strong>s Fatums zwar unterworfen ist, daß dieses Sich-Fügen jedoch als<br />
befreien<strong>de</strong> Entscheidung erfolgen könne, und damit verbun<strong>de</strong>n die Überzeugung,<br />
das schicksalhafte Walten führe letzten En<strong>de</strong>s zu einer höheren Weltordnung.<br />
Das dadurch erreichte Gefühl <strong>de</strong>r Versöhnung ist nicht zuletzt ein Beweis für<br />
Preyers Bemühen um eine klassisch ausgewogene Tragödie, was im Einklang ist<br />
mit <strong>de</strong>r gesamten Auffassung <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n als einer außeror<strong>de</strong>ntlichen, reich<br />
begabten, aktiven, verantwortlichen Persönlichkeit, eines weit blicken<strong>de</strong>n<br />
Kämpfers, <strong>de</strong>m selbst dann noch das Wohl und die Freiheit <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s<br />
wichtigstes Anliegen ist, als ihm fast je<strong>de</strong> Wirkungsmöglichkeit genommen wird.<br />
Zur Auffassung <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n gehört daher die starke Betonung überindividueller,<br />
gesellschaftlicher wie politischer Faktoren. Das läßt darauf schließen, daß Preyer<br />
ein realistisches, vielschichtiges Geschichtsdrama als Muster vorgeschwebt haben<br />
mochte, wie es in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur erstmals von Goethe mit <strong>de</strong>m Götz von<br />
Berlichingen verwirklicht wur<strong>de</strong>, von Schiller mit seinen Geschichts-dramen, vor<br />
allem <strong>de</strong>m Wilhelm Tell, auch von Grillparzer, Hebbel, Büchner und Grabbe als<br />
Zeitgenossen. Preyer hat sich offensichtlich darum bemüht, ein Bild <strong>de</strong>r<br />
historischen Verflechtungen zu bieten, ohne aber die Farbigkeit und Lebensfülle<br />
von Goethe und Grabbe zu erreichen. Viel scheint ihm daran gelegen zu haben,<br />
diese Geschichtsinhalte gleichzeitig als exemplarischen Fall für sich stets<br />
wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong> vergleichbare Situationen und Konstellationen, gewissermaßen als<br />
Symbol, <strong>de</strong>m Publikum bewußt zu machen.<br />
An<strong>de</strong>re Gestalten<br />
Vor allem zwei Kriterien bieten sich für die Gruppierung <strong>de</strong>r Personen an: eines,<br />
das von <strong>de</strong>r historischen Authentizität <strong>de</strong>r literarischen Gestalten ausgeht, das<br />
an<strong>de</strong>re, das das Verhältnis <strong>de</strong>r einzelnen Personen zu Hannibal und <strong>de</strong>n<br />
gegnerischen Parteien ins Auge faßt.<br />
Im ersten Fall ist festzustellen, daß nur wenige, vor allem episodisch auftreten<strong>de</strong><br />
Gestalten als poetische Fiktion <strong>de</strong>s Dichters anzusehen sind. Wahrscheinlich<br />
gehören hierher: Julius, Elissa, Severa, Bias, Theoxana, vielleicht auch Perolla.<br />
Eingeführt wur<strong>de</strong>n sie offensichtlich aus poetischen Erwägungen, was mit Bezug<br />
auf einige von ihnen in <strong>de</strong>n vorausgegangenen Ausführungen <strong>de</strong>utlich wur<strong>de</strong>.<br />
144
Dieser Gruppe sind (abgesehen von Statisten) auch die namenlosen Vertreter <strong>de</strong>s<br />
Volkes zu<strong>zur</strong>echnen. Sie treten als „erster, zweiter o<strong>de</strong>r dritter Bürger“ als<br />
Sprecher <strong>de</strong>s Volkes auf. Die meisten an<strong>de</strong>ren Personen sind mit historisch<br />
überlieferten Namen verbun<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Zeichnung dieser Charaktere war Preyer<br />
bemüht, <strong>de</strong>m historischen Urbild und damit <strong>de</strong>r historischen Wahrheit so nahe wie<br />
möglich zu kommen, trotz aller Typisierung. Bei einigen Personen gelingt die<br />
Individualisierung.<br />
Von <strong>de</strong>n Kriegsobersten aus <strong>de</strong>r nächsten Umgebung <strong>de</strong>s Feldherren, erscheinen<br />
nur Maharbal und Carthalo mehrfach voneinan<strong>de</strong>r differenziert, während Mago,<br />
Hannibals jüngster Bru<strong>de</strong>r, hier (im Gegensatz <strong>zur</strong> Geschichtsschreibung) kaum in<br />
Erscheinung tritt (Szene 9-12 <strong>de</strong>s I. Aufzugs). Von Hannibal wird er nach Karthago<br />
entsandt, um <strong>de</strong>n Senat <strong>zur</strong> Unterstützung <strong>de</strong>s Krieges zu drängen; im II. Akt fällt<br />
die Bemerkung, Mago führe <strong>de</strong>m Heer Verstärkung über Spanien zu.<br />
Zeitgenössische Chronisten vermerken, er sei während <strong>de</strong>r Überfahrt <strong>de</strong>r Truppen<br />
<strong>zur</strong> Verteidigung <strong>de</strong>s heimatlichen Karthago gestorben. Stärker profiliert sind noch<br />
Decius Magius, Perolla und Calavius aus Capua. Einige dieser Charaktere sind<br />
komplex gezeichnet, manche lassen eine Entwicklung erkennen, so Maharbal o<strong>de</strong>r<br />
Calavius, <strong>de</strong>sgleichen einige <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>s Magistrats von Capua wie auch<br />
breite Schichten von Einwohnern dieser Stadt. Was Maharbal, <strong>de</strong>n numidischen<br />
Reiterobersten, angeht, so erscheint er als <strong>de</strong>r weitvertbreitete Typ <strong>de</strong>s Soldaten,<br />
<strong>de</strong>m Kriegsführung Handwerk und Lebenszweck ist:<br />
...................................Ein Krieger lebt<br />
Nur recht im Drang <strong>de</strong>r großen Elemente,<br />
Und Ruhe ist ihm so ver<strong>de</strong>rblich wie<br />
Dem Schwerte Rost............................ (II., 7., S. 47)<br />
Das Kriegslager ist sein eigentlicher Lebensraum. Hierin ist er seinem Feldherren<br />
ähnlich, doch rüstet ihn Preyer mit mehr Verwegenheit und Kaltblütigkeit aus als<br />
diesen. Gera<strong>de</strong> die langjährige Kriegserfahrung, seine gera<strong>de</strong>zu instinkthafte<br />
Sicherheit im Urteil lassen seine wechseln<strong>de</strong>n Standpunkte zum Krieg mit Rom<br />
glaubwürdig erscheinen: Die ungeduldige Siegesgewißheit am Anfang wan<strong>de</strong>lt<br />
sich in Unmut wegen <strong>de</strong>s vermeintlich leichtfertig versäumten Angriffs auf Rom,<br />
steigert sich bis zum Überdruß wegen <strong>de</strong>s jahrelangen Hinziehens, das <strong>de</strong>m Feind<br />
Zeit ließ, sich von seiner Betäubung zu erholen und – nicht zuletzt- zum Abfall <strong>de</strong>r<br />
italischen Verbün<strong>de</strong>ten führte. Mit fast freudiger Bereitschaft vernimmt er <strong>de</strong>n<br />
Befehl, Italien als erobertes Gebiet aufzugeben und mit <strong>de</strong>m Heer nach Afrika<br />
abzusegeln. Denn ihm fehlt je<strong>de</strong> höhere sittliche, von vaterländischen Interessen<br />
diktierte Berufung für <strong>de</strong>n Krieg mit Rom. Eine einfache, im elementaren<br />
Kraftbewußtsein <strong>de</strong>r Naturvölker wurzeln<strong>de</strong> Lebensphilosophie erhält ihm in allen<br />
Lebenslagen seinen ursprünglichen Optimismus:<br />
Gisgo: Nie hätten wir <strong>de</strong>n Krieg beginnen sollen.<br />
Maharbal: Warum nicht?.........<br />
Gewiß, wir haben wacker uns bewährt,<br />
und lange <strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r Römer noch an uns.<br />
145
Doch je<strong>de</strong>s Ding auf Er<strong>de</strong>n hat sein En<strong>de</strong>.<br />
Das Glück wird launenhaft und mei<strong>de</strong>t uns […] (II., 7., S. 48)<br />
Daß Schlachten auch unerwartete Entscheidungen herbeiführen können, ist ihm<br />
<strong>zur</strong> wichtigsten Lebenserfahrung gewor<strong>de</strong>n, weshalb er sich weigert, vor einem<br />
Kampf die Sache, die auf <strong>de</strong>m Spiel steht, verlorenzugeben. Dementsprechend<br />
äußert er sich vor <strong>de</strong>r Schlacht bei Zama:<br />
Den Mutigen begleitet auch das Glück.<br />
Verloren ist, <strong>de</strong>r selbst sich aufgegeben. (III.,1., S. 54)<br />
Immerhin, die Erfahrungen als Kriegsmann bewirken auch, daß er Hannibal nach<br />
<strong>de</strong>r verlorenen Schlacht bei Zama zustimmt, als dieser auf <strong>de</strong>n Abschluß <strong>de</strong>s<br />
Frie<strong>de</strong>ns mit Rom drängt:<br />
Das ist das eherne Gesetz <strong>de</strong>s Kriegs,<br />
So lang die Er<strong>de</strong> steht. Der Sieger schreibt ihn vor,<br />
Und <strong>de</strong>r Besiegte nimmt <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n an. (IV., 1., S. 76)<br />
Was ihn beson<strong>de</strong>rs auszeichnet und achtenswert erscheinen läßt, ist seine Treue<br />
im eingegangenen Bündnis.<br />
Ähnlich überzeugend wie Maharbal wirkt Calavius, <strong>de</strong>ssen Tod durchs eigene<br />
Schwert psychologisch hinreichend motiviert wird, um als einzig mögliche Lösung<br />
zu erscheinen. Auch in diesem Falle gelingt es Preyer, die Gestalt und ihre<br />
Handlungsmotive in enger Verbindung mit <strong>de</strong>m sozialen Bo<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m sie<br />
gewachsen ist, darzustellen. Calavius gehört zu <strong>de</strong>n dramatisch wirkungsvollsten<br />
Figuren <strong>de</strong>s Stückes. Seine Zwangslage ver<strong>de</strong>utlicht zugleich am einprägsamsten<br />
die bedrängte Lage, in <strong>de</strong>r sich das karthagische Heer (noch auf italienischem<br />
Bo<strong>de</strong>n weilend) bereits befand. Die zeitliche Umstellung, die Preyer hier<br />
vorgenommen hat (s. w. u.), geschah wegen <strong>de</strong>r dramaturgisch steigern<strong>de</strong>n<br />
Funktion, die <strong>de</strong>r Szene im Handlungsverlauf zukommt.<br />
Die bei<strong>de</strong>n, hier einzeln ausführlicher behan<strong>de</strong>lten Gestalten, sind realistischer<br />
gezeichnet als etwa <strong>de</strong>r historisch dokumentierte König Prusias von Bithynien<br />
(regierte von 237-191 v. Chr.). Die Geschichtsschreibung berichtet nicht viel<br />
Ehrenhaftes über ihn. Von Theodor Mommsen wird er als „<strong>de</strong>r jämmerlichste unter<br />
<strong>de</strong>n Jammerprinzen Asiens“ 88 bezeichnet; von Grabbe wird er köstlich karikiert.<br />
Preyer hingegen (in <strong>de</strong>utlicher Anlehnung an <strong>de</strong>n klassischen ästhetischen<br />
I<strong>de</strong>alismus) spricht ihm edle Züge nicht ab. Sein Verrat an Hannibal, d. h. seine<br />
Bereitschaft, <strong>de</strong>r Auslieferungsfor<strong>de</strong>rung nachzukommen, erscheint bei Preyer nur<br />
als Kapitulation vor <strong>de</strong>r Übermacht Roms:<br />
Prusias (nach großer Bewegung zu Bias):<br />
Vollzieh das Unvermeidliche. (V., 3., S. 104)<br />
Dessen Gemahlin Theoxana erinnert in ihrer gesamten Haltung an Schillers<br />
88 Th. Mommsen, a. a. O., Band 1, S. 748.<br />
146
weibliche Heldinnen, auch an Goethes Iphigenie, auch wenn ihr keine Hauptrolle<br />
zukommt: Angesichts <strong>de</strong>r vielen Schläge und Enttäuschungen, die Hannibal<br />
getroffen haben, ist sie ein Korrektiv in Menschengestalt, geeignet, durch ihre<br />
menschliche Lauterkeit und Wärme die Tragik im Schicksal <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n, noch kurz<br />
vor <strong>de</strong>ssen Freitod, zu mil<strong>de</strong>rn. Eine ähnliche Aufgabe erfüllt Julius, <strong>de</strong>r in<br />
unverän<strong>de</strong>rter Treue Hannibal begleitet und als einzige <strong>de</strong>r Personen in allen<br />
Aufzügen auftritt.<br />
Die Ten<strong>de</strong>nz, manchen Gestalten Größe zu verleihen – Hannibal, Hasdrubal (<strong>de</strong>m<br />
Vorgänger Hannibals im Suffetenamt), Julius, Theoxana – , ist auch in <strong>de</strong>r<br />
Gestaltung einiger römischer Gegenspieler anzutreffen, so bei Scipio, Perolla,<br />
Decius Magius, Severa. Hannibal und Scipio erscheinen hier, wie es übrigens<br />
auch Theodor Mommsen aufgrund <strong>de</strong>r Quellen festhält, als „hohe Gegner“, die<br />
sich durch gleichen „Seelena<strong>de</strong>l und ... staatsmännische Begabung“<br />
auszeichnen 89 . Was weiter oben mit Bezug auf die Begegnung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Feldherren von <strong>de</strong>r Ansicht Hegels über das „ursprünglich Tragische“ gesagt<br />
wur<strong>de</strong>, scheint auch in <strong>de</strong>n Zusammenstößen zwischen Hannibal – Severa, Perolla<br />
– Calavius, Decius Magius – Calavius bewußt angewandt wor<strong>de</strong>n zu sein:<br />
Innerhalb dieser Kollisionen hat je<strong>de</strong> Seite für sich genommen Berechtigung.<br />
Oberflächlich betrachtet, trifft dies sogar für die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung Hannibals mit<br />
Hanno und Gisgo, als <strong>de</strong>n Vertretern <strong>de</strong>s karthagischen Senats, zu (II., 5., IV., 1.,<br />
S. 41-43 und 71-73). Erst eine aufmerksame Betrachtung läßt erkennen, daß<br />
Preyer die Re<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Hanno und Gisgo als <strong>de</strong>magogisch und irreführend entlarvt,<br />
daß ihre Vaterlandsliebe und Integrität vorgetäuscht und falsch sind. So<br />
erscheinen <strong>de</strong>nn auch eine Reihe handlungsbestimmen<strong>de</strong>r, weil emotional<br />
gela<strong>de</strong>ner Begriffe, wie „Freiheit“, „Recht“, „Vaterlandsliebe“ in einer<br />
spannungsvollen Vielschichtigkeit. Diese bei<strong>de</strong>n machtgierigen Intriganten, die um<br />
ihrer persönlichen Vorteile willen um je<strong>de</strong>n Preis mit <strong>de</strong>n Römern eine<br />
Vereinbarung anstrebten und erreichten, bleiben blaß. 90<br />
Gemessen wer<strong>de</strong>n Werte/ Unwerte <strong>de</strong>r Personen an ihrem Han<strong>de</strong>ln.<br />
Die Volksszenen, <strong>de</strong>nen bei Grabbe so viel Be<strong>de</strong>utung zukommt, sind bei Preyer<br />
we<strong>de</strong>r plastisch noch wirklichkeitsnah. Die direkte Beschreibung einer Person<br />
durch an<strong>de</strong>re ist sehr selten anzutreffen.<br />
Aus <strong>de</strong>r Art, wie <strong>de</strong>r Dichter die übrigen literarischen Figuren zeichnet, kann man<br />
89 Ebenda, S. 658. Für Scipio, „<strong>de</strong>n hochherzigen und freiblicken<strong>de</strong>n Mann“ spricht vor<br />
allem, daß er Karthago nicht zerstörte, was ihm nach <strong>de</strong>r Schlacht bei Zama durchaus<br />
möglich gewesen wäre. Er hielt nichts von einer vollkommenen Vernichtung <strong>de</strong>s<br />
rivalisieren<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lsimperiums, wie dies schon damals von Cato im Senat gefor<strong>de</strong>rt<br />
wur<strong>de</strong>; er war im Senat auch <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r Einspruch erhob gegen die erniedrigen<strong>de</strong><br />
For<strong>de</strong>rung Roms, Hannibal auszuliefern. Als Feldherr und als Staatsmann wird ihm jedoch<br />
manche Eigenschaft angekrei<strong>de</strong>t (gera<strong>de</strong> auch von römischer Seite), die ihn trotz vieler<br />
Siege in Ungna<strong>de</strong> fallen ließen.<br />
90 In römischen Berichten erscheinen die Vertreter <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nspartei zwar in einem weit<br />
günstigeren Licht als in solchen <strong>de</strong>r griechischen Geschichtsschreibung, die grelle, ja<br />
schurkische Züge bei einigen dieser Ältesten festhalten. Vgl. Mommsens Bemerkungen:<br />
Anm. 81. Hanno, <strong>de</strong>r Senatsälteste, ehemals Stratege über Lybien und die iberischen<br />
Besitzungen Karthagos, gleichzeitig mit Hamilkar, nur weniger fähig wie dieser, führt in<br />
römischen Annalen <strong>de</strong>n Beinamen „<strong>de</strong>r Große“, in einigen an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r „Viper“.<br />
147
wie bei seiner Titelgestalt erkennen, daß er bemüht war, die sozialen, politischen<br />
wie psychologischen Motive ihres Han<strong>de</strong>lns möglichst komplex herauszustreichen.<br />
Vorteilhaft für die Charakterdarstellung im einzelnen wie für die Einheitlichkeit <strong>de</strong>r<br />
Tragödie als Ganzes wirkt sich aus, daß die Anzahl <strong>de</strong>r agieren<strong>de</strong>n Figuren auf<br />
eine gut überschaubare Menge, ja auf ein Minimum beschränkt bleibt.<br />
Weitere Fragen <strong>de</strong>r Gestaltung<br />
Ein auffälliges Kennzeichen <strong>de</strong>s Hannibal ist (gebändigte) Dynamik. Auch hierin<br />
folgt Preyer <strong>de</strong>m Vorbil<strong>de</strong> <strong>de</strong>s klassischen <strong>de</strong>utschen Dramas, das ebenfalls mehr<br />
durch Dynamik als Plastizität gekennzeichnet ist. 91<br />
Vielfache antithetische Gegenüberstellung, als Grundphänomen von Dynamik und<br />
Spannkraft, wur<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Hannibal Preyers bereits in vorangegangenen<br />
Abschnitten nachgewiesen. Sie ist anzutreffen zwischen Einzelpersonen,<br />
Personengruppen, ganzen Völkern und kommt intensitätsmäßig in mehreren<br />
Abstufungen vor: Sie reichen von Formen extremer Zuspitzung <strong>de</strong>r Gegensätze,<br />
über die abgeschwächte Form <strong>de</strong>s Einlenkens bis hin <strong>zur</strong> Versöhnung als<br />
Lösungsform bei Konflikten. Unerbittlich hart wird <strong>de</strong>r Zusammenprall <strong>de</strong>r Gegner<br />
(und <strong>de</strong>r gegensätzlichen Ten<strong>de</strong>nzen) eigentlich nur in <strong>de</strong>n Fällen: Severa –<br />
Hannibal , Rom – Capua (Calavius in seiner letzten Begegnung mit Hannibal),<br />
Hannibal – Hanno. Mehrmals anzutreffen ist die geschwächte Form von<br />
Konfrontationen, was wohl die Dynamik bremst, nicht aber auch die Spannung<br />
beeinträchtigt; eher tritt das Gegenteil ein, <strong>de</strong>nn gera<strong>de</strong> Stellen mit „schwächeren<br />
Tönen“ zwingen erfahrungsgemäß das Publikum zu erhöhter Aufmerksamkeit.<br />
Nachteilig wird es dann, wenn dramatisch fruchtbare Ansätze nicht auf <strong>de</strong>r<br />
erwarteten dramatischen Höhe zu En<strong>de</strong> geführt wer<strong>de</strong>n. Das ist <strong>de</strong>r Fall, als es <strong>zur</strong><br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zwischen Calavius und Perolla, Vater und Sohn, kommt, die<br />
zugleich für <strong>de</strong>n Kampf Capua – Rom und Rom – Karthago einstehen, eine<br />
Begegnung, die mit einem Rückzieher <strong>de</strong>s Sohnes en<strong>de</strong>t. (I., 8, S. 13-15 .)<br />
Ähnlich geartet ist <strong>de</strong>r Konflikt zwischen Julius und Perolla (I., 7., S. 11-13), und<br />
sogar das Zusammentreffen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Feldherren, die einan<strong>de</strong>r persönlich nicht<br />
als Fein<strong>de</strong> begegnen. Scipio umarmt Hannibal bei <strong>de</strong>r Begrüßung und reicht ihm<br />
selbst dann noch die Hand, als die Schlacht beschlossene Sache ist.<br />
Es gibt Beispiele für engstes Zusammenrücken <strong>de</strong>r Extreme im Oxymoron, so daß<br />
sich die bei<strong>de</strong>n Teile <strong>de</strong>s Gegensatzes scheinbar aufheben. Scipio spricht<br />
Hannibal als „bewun<strong>de</strong>rswürd’gen Feind“ an (III., 6., S. 62); Hannibal ge<strong>de</strong>nkt noch<br />
kurz vor seinem Tod seines „erhabenen Gegners“ Scipio.<br />
Daß Gegensätzen ihre Schärfe genommen wird, ist sicher nicht nur mit<br />
ästhetischen Gesichtspunkten zu verknüpfen, meist treten pragmatische<br />
Erwägungen in Erscheinung:<br />
Calavius: ....Wir haben uns mit Hannibal<br />
Verbün<strong>de</strong>t, Romas Zwingherrschaft zu brechen […] (I., 8., S. 18)<br />
Ähnlich, wenn Hannibal sich nach seinem Zornesausbruch im Senat Karthagos<br />
entschuldigt:<br />
91 R. L., Band A-K, Drama (Neuzeit) – § 5, Klassik.<br />
148
Wohin hat mich <strong>de</strong>r große Schmerz gerissen,<br />
Und wie entschuld´ge ich die rasche Tat? (IV., 1., S. 75)<br />
Wie umfassend ist nun die Palette spannungsbewirken<strong>de</strong>r Antithetik, die Preyer<br />
einsetzt? Welcher Mittel sprachlicher und gestalterischer Möglichkeiten bedient er<br />
sich?<br />
Seine literarische (und rhetorische) Bildung an Werken <strong>de</strong>r alten Römer wie an<br />
Musterstücken <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Aufklärung und Klassik ist augenfällig. Da die Zitate<br />
im vorliegen<strong>de</strong>n Text zahlreich und ausführlich sind, verzichte ich auf Details <strong>zur</strong><br />
Veranschaulichung einzelner phonetischer, semantischer, grammatischer<br />
Stilmittel, rhetorischer Figuren, die zum Teil als Spannungsträger, zum Teil als<br />
Mittel <strong>de</strong>r Bildhaftigkeit, zum Teil als Mittel von Eindringlichkeit, Steigerung o<strong>de</strong>r<br />
suggestivem Nachdruck eingesetzt wer<strong>de</strong>n. Ohne Schwierigkeiten lassen sich<br />
daran belegen: Anapher, Alliteration, Wie<strong>de</strong>rholung, Umstellungen beim<br />
Genitivattribut, Oxymoron und Klimax, Tropen, auch in <strong>de</strong>r Form tradierter Topoi,<br />
wie <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nspalme, <strong>de</strong>s Lorbeers und <strong>de</strong>s römischen Adlers. Sie u. a. m.<br />
stehen <strong>de</strong>m Dichter <strong>de</strong>s Hannibal ebenso <strong>zur</strong> Verfügung, wie die Strategien <strong>de</strong>r<br />
Re<strong>de</strong>führung, <strong>de</strong>s Argumentierens, <strong>de</strong>s Provozierens, die ihm dank seiner<br />
Berufsausbildung und -ausübung geläufig waren. Prägnant und auffällig ist u. a.<br />
das Mittel <strong>de</strong>r emphatischen Hervorhebung und dicht zusammengerückter<br />
Gegenüberstellung in lapidaren, zuweilen sentenzhaften Formulierungen:<br />
Nicht von Rom bin ich besiegt, ich bin es von Karthago.<br />
Nicht <strong>de</strong>s Senats, ich folg´<strong>de</strong>m Ruf <strong>de</strong>s Vaterlands. (II., 5, S. 44, 46)<br />
Nicht Unterhandlung, das ist Unterwerfung, die ford´re nicht, du harter Imperator.<br />
(III., 6., S. 63)<br />
Er beherrscht die Kunst, Perio<strong>de</strong>n zu bauen, wobei die sinntragen<strong>de</strong>n Wörter nach<br />
<strong>de</strong>n Regeln <strong>de</strong>r Rhetorik ihren besten Platz einnehmen, ohne dadurch <strong>de</strong>n Fluß<br />
<strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>, ihren Wohllaut o<strong>de</strong>r das ganze Spannungsgefüge zu gefähr<strong>de</strong>n.<br />
Das folgen<strong>de</strong> Beispiel will veranschaulichen, wie sich innere Anspannung auch in<br />
subtiler Weise mizuteilen vermag. Es han<strong>de</strong>lt sich um Hannibals „gebändigte“,<br />
„maßvoll“ geäußerte Empörung, als ihm Karthagos Senat durch Gisgo<br />
„unbeschränkte Vollmacht“ überbringen läßt, damit er mit Scipio im letzten Moment<br />
Frie<strong>de</strong>n schließe; Ort <strong>de</strong>r Handlung ist bereits das Lager bei Zama. Die<br />
Vorgeschichte ist bekannt, bis auf <strong>de</strong>n Umstand, daß es bereits eine Schlacht mit<br />
Scipio auf afrikanischem Bo<strong>de</strong>n gegeben hat, ehrgeizig begonnen (und verloren)<br />
unter Stabführung <strong>de</strong>r Alten. Hannibal und Mago waren erst danach heimbeor<strong>de</strong>rt<br />
wor<strong>de</strong>n, mit Kräften, die größtenteils aufgerieben waren. (II., 5., S. 41-46, Hannibal<br />
und Gisgo im punischen Lager bei Rhegium / Süditalien).<br />
Hannibal: Mich <strong>de</strong>ucht, die außeror<strong>de</strong>ntliche Macht,<br />
Die mir Karthago nun in meine Hand<br />
Gelegt, die außeror<strong>de</strong>ntliche Pflicht,<br />
Womit Karthago auch mein Haupt belegt,<br />
149
Erdrücken einen Sterblichen. (III., 2., S. 55). 92<br />
Was die Gesamtkomposition betrifft, läßt sich für <strong>de</strong>n Hannibal folgen<strong>de</strong><br />
Straffungsvariante <strong>de</strong>r Fünfgliedrigkeit zu einer übergeordneten antithetischen<br />
Zweigliedrigkeit feststellen:<br />
I + [(I + I + I) +I ] 93 , d. h.: Der verheißungsvollen Ausgangssituation steht die<br />
vielfache Nie<strong>de</strong>rlage gegenüber. Eine dreigliedrige Mitte ist gegeben, „eine Mitte<br />
mit reichem Füllungsgrad“: Noch ist Hannibal für das Geschick Karthagos<br />
verantwortlich (I + I + I) o<strong>de</strong>r (Akt II + III + IV).<br />
Erst im letzten Teil, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m V. Aufzug entspricht, ist er <strong>de</strong>r Einsame.<br />
Ebenfalls aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r dramatischen Spannung und Steigerung, aber auch<br />
aus an<strong>de</strong>ren Erwägungen heraus, wie: Personencharakterisierung, Kennzeichnung<br />
von Situationen, aus <strong>de</strong>nen sich mit zwingen<strong>de</strong>r Notwendigkeit Entscheidungen<br />
ergeben, nahm Preyer nicht nur Zusammenrückungen von zeitlich weit<br />
auseinan<strong>de</strong>rliegen<strong>de</strong>n Ereignissen vor (vgl. die Übersicht von w. o.), son<strong>de</strong>rn auch<br />
Umstellungen in <strong>de</strong>ren Aufeinan<strong>de</strong>rfolge. Beson<strong>de</strong>rs auffällig ist die damit<br />
zusammenhängen<strong>de</strong> historische Ungenauigkeit im II. Aufzug, in <strong>de</strong>m be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
Geschehnisse aus etwa acht Jahren zusammengedrängt und stark in verän<strong>de</strong>rter<br />
Folge gebracht wer<strong>de</strong>n. Die Ereignisse: 1.) <strong>de</strong>r Fall Capuas (211 v. Chr.); 2.) die<br />
hierdurch ausgelöste Erschütterung <strong>de</strong>s Ansehens und Vertrauens bei <strong>de</strong>n<br />
italienischen Verbün<strong>de</strong>ten im mittleren und südlichen Teil <strong>de</strong>s Stiefels, davon<br />
abhängig <strong>de</strong>r massiv einsetzen<strong>de</strong> Abfall von Karthago; 3.) die Vernichtung <strong>de</strong>r aus<br />
Spanien über die Alpen herbeieilen<strong>de</strong>n Verstärkungstruppen unter Hannibals<br />
Bru<strong>de</strong>r Hasdrubal; <strong>de</strong>r Tod Hasdrubals und die schmachvolle Benachrichtigung<br />
Hannibals (207 v. Chr.); 4.) Auseinan<strong>de</strong>rbrechen <strong>de</strong>s gegen Rom gerichteten<br />
Bündnisses mit Mazedonien (Philipp von Mazedonien schließt Frie<strong>de</strong>n mit Rom,<br />
205 v. Chr.); 5.) in Spanien: Einschiffung <strong>de</strong>r punischen Truppen, Fahrt nach<br />
Nordafrika (205 v. Chr.); 6.) Einfall Scipios ins karthagische Gebiet in Nordafrika<br />
(204 v. Chr.); 7.) Zurückberufung Hannibals und Magos nach Karthago (203 v.<br />
Chr.) wer<strong>de</strong>n in folgen<strong>de</strong>r (dramaturgisch wirksameren) Reihenfolge gebracht:<br />
2 (ab 211) – 3 (207) – 4 (205) – 5 (205) – 1 (211) – 6 (204) – 7 (203).<br />
Die Vorteile <strong>de</strong>r vorgenommenen Än<strong>de</strong>rungen liegen auf <strong>de</strong>r Hand: Zum einen wird<br />
damit das Wesen dieser historischen Etappe (die Stagnation und zunehmend<br />
beengte Lage beim punischen Heer) schärfer herausgearbeitet, zum an<strong>de</strong>ren wird<br />
92 Diese Perio<strong>de</strong>, als Parallelismus aufgebaut, doch mit <strong>de</strong>utlichen Elementen von Klimax<br />
und Antithese, ist laut Fachliteratur als Isokolon einzuordnen, bei <strong>de</strong>m die annähernd<br />
gleichen Teile (Paare) sowohl von <strong>de</strong>r Figur <strong>de</strong>s Homoiarktons (<strong>de</strong>r Alliteraration und <strong>de</strong>r<br />
Anapher verwandte rhetorische Figur) als auch von <strong>de</strong>r eines Homoioteleutons (<strong>de</strong>r Epipher<br />
gleichbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> antike Vorform <strong>de</strong>s Reims) zusammengehalten wer<strong>de</strong>n, alles<br />
umklammert vom Hauptsatz. (H. Lausberg, Handbuch <strong>de</strong>r literarischen Rhetorik, Lv. 36,<br />
Bd.I., S.359-368 und Gero von Wilpert, Sachwörterbuch <strong>de</strong>r Literatur, Stuttgart: A. Kröner,<br />
1964, S. 280 und 306). Als Doktorandin hatte ich mich intensiv mit Fragen <strong>de</strong>r literar.<br />
Rhetorik auseinan<strong>de</strong>rgesetzt; als Unterlagen für meine Untersuchungen dienten mir Preyers<br />
Schriften. Dramatik. Daher verfüge ich über eine Sammlung von Beispielen, die seine<br />
außeror<strong>de</strong>ntliche rhetorische Gewandtheit belegen. Das Material ist nicht ausgewertet<br />
wor<strong>de</strong>n.<br />
93 H.Lausberg, a. a. O., Band I., S.243-245. „Aufzeigen <strong>de</strong>r Phänomenfülle in <strong>de</strong>r Mitte“.<br />
Ebenda.<br />
150
es <strong>de</strong>m Publikum leichter gemacht, die Situation zu überblicken.<br />
Wichtige Mittel <strong>de</strong>r Komprimierung sind (neben <strong>de</strong>m oben erläuterten<br />
Zusammenrücken mehrerer für <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Handlung wichtiger Ereignisse) die<br />
ebenfalls stark raffen<strong>de</strong>n Rückblen<strong>de</strong>n bzw. Voraus<strong>de</strong>utungen auf Situationen und<br />
Eckdaten, die <strong>de</strong>n Ersten Punischen Krieg bzw. die ersten Jahre <strong>de</strong>s Zweiten<br />
betreffen o<strong>de</strong>r – vorausgreifend – die Keime für <strong>de</strong>n Karthago letztlich vollkommen<br />
zerstören<strong>de</strong>n Dritten Punischen Krieg aufzeigen. Ersteres erfolgt bevorzugt in<br />
Form von Erinnerungen o<strong>de</strong>r in Form <strong>de</strong>r in klassischen Werken gern eingesetzten<br />
Botenberichte. Sie treiben die Handlung nicht unmittelbar voran, sind viel eher<br />
aufschlußreich für augenblicklich herrschen<strong>de</strong> Verhältnisse, Stimmungen und<br />
Geisteshaltungen. Sie liefern Einsicht in Zusammenhänge, die sich bis in die<br />
Gegenwart <strong>de</strong>s Bühnengeschehens auswirken und sind so geeignet, Entschlüsse<br />
zu beeinflussen. So faßt <strong>de</strong>r Bürger Calavius die Beweggrün<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n freiwilligen<br />
Übertritt Capuas zu Karthago zusammen; sein Sohn Perolla richtet sich hingegen<br />
an <strong>de</strong>m hel<strong>de</strong>nmütigen Beispiel Sagunts auf und läßt sich davon zum Entschluß<br />
treiben, Hannibal töten zu wollen.(I., 8., S.17 f.) Im raffen<strong>de</strong>n Botenbericht (Gisgo)<br />
wird <strong>de</strong>m Feldherren die äußerst be<strong>de</strong>nkliche Lage <strong>de</strong>r heimatlichen Hauptstadt<br />
nach Scipios Landung in Afrika geschil<strong>de</strong>rt (II., 5., S. 42 f.). Ähnlich erinnert Bias,<br />
königlicher Ratgeber in Bithynien, an die schlimmen Verhältnisse im gesamten<br />
Nahen Osten angesichts <strong>de</strong>r römischen Eroberungen. Der Bericht ist <strong>de</strong>nn auch<br />
ausschlaggebend für <strong>de</strong>n Verrat <strong>de</strong>s Königs an seinem Gastfreund (V., 1., S. 97<br />
f.). Ähnliche Beispiele ließen sich anfügen. Sie vor allem stellen das epische<br />
Element <strong>de</strong>s Dramas dar. Auf die – von <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r historischen Stoffe<br />
ausgehen<strong>de</strong>n. Gefahr chronikhafter Breite und Häufigkeit <strong>de</strong>s epischen Elements<br />
zu Ungunsten <strong>de</strong>r Bühnenhandlung ist bereits hingewiesen wor<strong>de</strong>n. Hält die<br />
Einstufung J. [C. Jakob] Steins einer genaueren Prüfung stand? Danach wäre<br />
Preyers Tragödie eher „dialogisierte Epik“ als ein echtes Drama. Einen ersten<br />
Ansatz, diese Einstufung zu wi<strong>de</strong>rlegen, liefert er selbst, in<strong>de</strong>m er die Kürze <strong>de</strong>s<br />
Dramas kommentiert und die enorme Stoffülle an <strong>de</strong>r von Schillers Wallenstein-<br />
Trilogie mißt. Nun ist es aber gera<strong>de</strong> die selbstauferlegte Kürze, die <strong>de</strong>n Autor<br />
zwingt, Berichte nicht ausufern zu lassen. Meines Erachtens erschwert die<br />
zuweilen extreme Kürze sogar das Mitgehen eines weniger mit <strong>de</strong>r Materie<br />
vertrauten Lesers/Zuschauers. Rein epische Teile lesen/ sprechen sich gut.<br />
Seltener anzutreffen sind lyrisch getönte, bekenntnishaft-pathetische Partien. Doch<br />
gera<strong>de</strong> sie gaben/geben am ehesten Anlaß zu negativen Kritiken (s. 3.6.).<br />
„Rednerische Unwirklichkeit“ – sie trifft z. B. auf die Bürger Capuas zu, auf Julius,<br />
wenn er Perolla gegenüber von Hannibal schwärmt; auf Hannibal selbst während<br />
seiner Begegnung mit Xenophanes, <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n Bündnisvertrag im Namen <strong>de</strong>s<br />
Makedonierkönigs überbringt: Diese Verse klingen schwerfällig, wirken ungelenk,<br />
gezwungen, einschließlich <strong>de</strong>r ausholen<strong>de</strong>n Allegorie vom römischen Aar (I., 12.,<br />
S. 24). Sie sind eher als Ausnahmen zu betrachten. Die meisten <strong>de</strong>r lyrischen<br />
Stellen sind von Trauer überschattet (Theoxana; auch Hannibals Ha<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>m<br />
Schicksal ist hier ein<strong>zur</strong>eihen).<br />
Länger als die epischen und lyrischen Einlagen sind Schil<strong>de</strong>rungen von<br />
Situationen, Darlegungen und Erörterungen zu augenblicklichen Verhältnissen,<br />
teilweise stark emotional bestimmte Versuche, die bzw. <strong>de</strong>n Gesprächspartner<br />
vom eigenen Standpunkt zu überzeugen o<strong>de</strong>r ihn anzuklagen, bis hin zum<br />
151
Streitgespräch. Die Aufmerksamkeit ist vor allem auf Argumentationen und<br />
Gesprächsstrategien, auf geistige Regsamkeit gerichtet. Dominierend ist wohl die<br />
Sehweise <strong>de</strong>s Haupthel<strong>de</strong>n, doch auch die an<strong>de</strong>ren bringen sich als Individuen<br />
ein. Davon lebt schließlich <strong>de</strong>r Meinungsaustausch und vor allem die<br />
Konfrontation. Eingestreut in <strong>de</strong>n ganzen Text fin<strong>de</strong>n sich Sentenzen – bereits zu<br />
En<strong>de</strong> gedachte Betrachtungen, reife Früchte einer Lebensphilosophie. Schon<br />
wegen dieser Gestaltungsweisen ist <strong>de</strong>r Hannibal ein „kopflastiges“ Bühnenwerk.<br />
Ich verwen<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Ausdruck ganz bewußt, weil es vom Zuschauer konzentriertes<br />
Mitgehen verlangt.<br />
Ohne mich auf Ergebnisse einer statistischen Erfassung stützen zu können, kann<br />
ich somit Steins vereinfachen<strong>de</strong>r Ein-(Ab-)schätzung <strong>de</strong>r Tragödie als<br />
„dialogisierter Epik“ begrün<strong>de</strong>t die Auffassung von einer komplexeren Struktur<br />
entgegenhalten, daß nämlich die dramatischen und lyrischen, noch mehr die<br />
polemisieren<strong>de</strong>n, erörtern<strong>de</strong>n/argumentieren<strong>de</strong>n Elemente die epischen<br />
überwiegen, daß die epischen Teile Passagen bleiben, was zweifellos für Preyers<br />
dramatischen Gestaltungswillen, auch für sein Gestaltungsvermögen spricht.<br />
Dramatische Situationen folgen dicht aufeinan<strong>de</strong>r, ohne daß die Tragödie dadurch<br />
bühnenwirksamer im herkömmlichen Sinn wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn spannungsvolle Aktionen<br />
sind selten. Wie an einzelnen Fällen nachgewiesen, kann wohl von einer stets<br />
vorhan<strong>de</strong>nen „gebändigten“ Dynamik und Spannung, nicht aber von einer starken<br />
Handlung gesprochen wer<strong>de</strong>n.<br />
Eine Dramenkategorie, die noch wenig theoretisiert zu sein scheint, wird von<br />
Miklós Salyámosy / Budapest in <strong>de</strong>n Mittelpunkt seiner Untersuchung u. a. <strong>de</strong>s<br />
Dramas Dantons Tod von Georg Büchner gerückt (Lv. 63). Er geht <strong>de</strong>n<br />
Kennzeichen von Dramen nach, die nicht mehr <strong>de</strong>n Regeln <strong>de</strong>r aristotelischen<br />
Dramentheorien folgen, <strong>de</strong>nen die sich kontinuierlich zuspitzen<strong>de</strong>n Konflikte und<br />
ein klares Gegeneinan<strong>de</strong>r fehlen, die vielmehr reflektieren<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r essayistischen<br />
Charakter haben, in<strong>de</strong>m die thematisierten Verhältnisse und Erscheinungen [im<br />
Danton die Französische Revolution] zum Gegenstand <strong>de</strong>r Erörterung und<br />
Beurteilung gemacht wird. Wesentliche Aspekte <strong>de</strong>s Phänomens Revolution<br />
wer<strong>de</strong>n beleuchtet, u. a. die Frage nach <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Scheiterns <strong>de</strong>s<br />
Haupthel<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Revolution. Ein „mo<strong>de</strong>rner“ Dramentypus.<br />
Manches davon ist auf <strong>de</strong>n Hannibal übertragbar und <strong>de</strong>ckt sich mit <strong>de</strong>m, was<br />
weiter oben als erörtern<strong>de</strong>r-argumentieren<strong>de</strong>r Zug herausgestrichen wur<strong>de</strong>. Doch<br />
ohne die revolutionieren<strong>de</strong> Neuheit aller übrigen Mittel (wie sie sich bei Büchner<br />
vereinigt fin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r auch bei Grabbe), kann <strong>de</strong>r Durchbruch <strong>zur</strong> Mo<strong>de</strong>rnität nicht<br />
erreicht wer<strong>de</strong>n. Den reflektieren<strong>de</strong>n, vielschichtig beleuchten<strong>de</strong>n Charakter stelle<br />
ich allerdings mit berechtigtem Interesse neben die von mir herausgestrichenen<br />
Darstellungsmerkmale. Um im Sinne obiger Überlegungen <strong>de</strong>n Hannibal zu<br />
erläutern, lasse ich eine Aneinan<strong>de</strong>rreihung möglicher Parallelen zum ungarischen<br />
Freiheitskampf von 1848/49 gegen Österreich folgen.<br />
In <strong>de</strong>r Frage, warum <strong>de</strong>r Zweite Punische, <strong>de</strong>r Hannibalische Krieg, scheiterte,<br />
richtet sich Preyers Augenmerk vor allem auf die innerkarthagischen bzw.<br />
innerafrikanischen Zwistigkeiten. Übertragen auf <strong>de</strong>n „Ungarischen Krieg“ (eine in<br />
westeuropäischen Län<strong>de</strong>rn übliche Bezeichnung für die ungarische Revolution von<br />
1848/49) galt <strong>de</strong>r Vorwurf vor allem Kossuth Lajos selbst, <strong>de</strong>r durch seine<br />
nationalistische Intoleranz gegenüber <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren auf ungarischem Gebiet<br />
152
leben<strong>de</strong>n Völkern viel zum unerbittlich geführten Bürgerkrieg beigetragen hat. Man<br />
<strong>de</strong>nke an die Kroaten, die Serben, Rumänen und an die geschickt ein-gesetzte<br />
Divi<strong>de</strong>-et-impera-Politik <strong>de</strong>s Wiener Hofes. Verglichen mit <strong>de</strong>r Führergestalt <strong>de</strong>r<br />
Antike hat er seine Ansprüche im Interesse <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s nicht <strong>zur</strong>ückgesteckt, auch<br />
wenn die Flucht ein weiteres verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Moment ist. Man werfe sodann einen<br />
Blick <strong>zur</strong>ück auf Massinissa, <strong>de</strong>n verräterischen Numidierkönig in <strong>de</strong>r Antike, <strong>de</strong>r<br />
(mitverschul<strong>de</strong>t durch Karthago) zum Handlanger <strong>de</strong>r Römer wur<strong>de</strong> und einer <strong>de</strong>r<br />
großen Gewinner war; ohne ihn hätte Scipio (<strong>de</strong>r Geschichte und <strong>de</strong>s Dramas) <strong>de</strong>n<br />
Sieg über die Karthager nicht erringen können. Diese Gestalt ist zweifellos<br />
geeignet, an <strong>de</strong>n Ban Jellacsics zu erinnern, könnte aber auch für die vom Kaiser<br />
zu Hilfe gerufene russische Heeresmacht gesetzt wer<strong>de</strong>n. Sodann hat die jüngste<br />
Vergangenheit mit <strong>de</strong>n rivalisieren<strong>de</strong>n und vielfach zerstrittenen Führern im Lager<br />
<strong>de</strong>r Ungarn ein Pendant <strong>zur</strong> Hanno-Gisgo-Clique geliefert. Sie hatten Anteil an <strong>de</strong>r<br />
Nie<strong>de</strong>rlage. Zum antiken Bild <strong>de</strong>r Zerstrittenheit und egoistischer Bestrebungen<br />
paßt, daß sich die kleinen A<strong>de</strong>ligen, die Radikalen unter Kossuth, und die<br />
Magnaten von Anfang an uneins über das Ziel <strong>de</strong>r ungarischen Freiheitsbewegung<br />
und <strong>de</strong>r Reformen waren. Diese und noch weitere Aspekte (Grün<strong>de</strong>) wur<strong>de</strong>n<br />
hellhörig und weitsichtig von <strong>de</strong>utschen Politikern und Dichtern wahrgenommen<br />
und reflektiert. 94<br />
Zwei <strong>de</strong>r Dichter, die Stellung zu einem weiteren Grund <strong>de</strong>s Scheiterns beziehen,<br />
nämlich <strong>de</strong>r Passivität, „<strong>de</strong>r Untätigkeit <strong>de</strong>r Völker“, greife ich heraus: Ferdinand<br />
Gregorovius mit seinem „Gesang <strong>de</strong>r Ungarn nach <strong>de</strong>r Waffennie<strong>de</strong>rlegung bei<br />
Világos“ und Robert Prutz mit einem Zitat aus seinem Aufsatz „Das Jahr 1849. Die<br />
Katastrophe in Ungarn“. In: Taschenbuch <strong>de</strong>r neuesten Geschichte. Dessau 1851:<br />
„So sehr hatte Europa sich gewöhnt, die Ungarn als unüberwindbar zu betrachten,<br />
so sehr vertraute man <strong>de</strong>r Begeisterung, <strong>de</strong>r Kraft, <strong>de</strong>r Tapferkeit, vor allem <strong>de</strong>r<br />
gerechten Sache dieses hel<strong>de</strong>nmütigen Volkes, daß selbst die Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n<br />
ungeheuren Streitkräften, mit <strong>de</strong>nen Rußland endlich im Lauf <strong>de</strong>s Mai und Juni auf<br />
<strong>de</strong>m Kampfplatze erschienen war, eine verhältnismäßig nur geringe Sensation<br />
hervorbrachte [...]“ Häckel zitiert Prutz nochmals, einen weiteren Grund anführend,<br />
„einen militärischen, <strong>de</strong>r zugleich ein politischer von großer Tragweite war: nämlich<br />
nach <strong>de</strong>r siegreichen Frühjahrsoffensive nicht gegen Wien marschiert zu sein.“ Zu<br />
je<strong>de</strong>m dieser Grün<strong>de</strong> ließen sich passen<strong>de</strong> Stellen aus Preyers Tragödie<br />
gegenüberstellen.<br />
Freilich sollte sich <strong>de</strong>r Interpret eines historischen Dramas dieser Prägung hüten,<br />
geschichtlichen Personen und Verhältnissen allzu genau einzelne vom Dichter<br />
geschaffene analoge Figuren und Verhältnisse zuzuordnen. (vgl. zu 2.2., Anm. 34:<br />
Hebbels For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>n reinen Symbolwert <strong>de</strong>r Stücke nicht durch konkrete<br />
Festlegungen einzuengen.) Solchen Versuchen kommt bestenfalls als Hintergrundinformationen<br />
einige Beachtung zu.<br />
Ein weiterer Komplex stilistischer Beson<strong>de</strong>rheiten, <strong>de</strong>r bei Interpretationen ins<br />
94 Ich weise auf die sehr lesenswerte Untersuchung von Manfred Häckel hin [Lv. 62, S. 298-<br />
319]: Der Befreiungskampf <strong>de</strong>s ungarischen Volkes 1848/49 in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur<br />
<strong>de</strong>r Zeit. , a. a. O., S.313, 317-319. Nicht zuletzt waren es ehemalige Revolutionäre selbst,<br />
die während <strong>de</strong>r ersten Jahre ihres Exils ihr Wissen offenbarten bzw. <strong>zur</strong>echtgestutzt an die<br />
Öffentlichkeit gelangen ließen.<br />
153
Auge gefaßt wird, umfaßt u.a.: Anschaulichkeit/ Bildhaftigkeit, Einprägsamkeit/<br />
Originalität, Unmittelbarkeit, Lebensfülle und Phantasie. Da schnei<strong>de</strong>t Preyer nicht<br />
gut ab. Er mei<strong>de</strong>t so weit wie nur möglich das Spektakuläre und grelle Mittel -<br />
sowohl in Gehalt als auch in <strong>de</strong>r Form.<br />
Ganz an<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Hannibal seines Zeitgenossen Christian Dietrich Grabbe. Mit ihrer<br />
Farbigkeit und lebensnaher, kraftstrotzen<strong>de</strong>r Fülle und Plastizität wer<strong>de</strong>n die <strong>zur</strong><br />
Veranschaulichung von Unterschie<strong>de</strong>n herangezogenen Szenen auch in die<br />
vorliegen<strong>de</strong> Beleuchtung <strong>de</strong>s Preyerschen (I<strong>de</strong>en-)Dramas einen frischen Zug<br />
bringen. Bei <strong>de</strong>n ausgewählten Szenen han<strong>de</strong>lt es sich ebenfalls um dramatische<br />
Schwerpunkte innerhalb <strong>de</strong>s Geschehnisablaufs. Ungewöhnliche<br />
Handlungselemente und milieubestimmen<strong>de</strong> Details rufen eine stark theatralische<br />
bis opernhafte Wirkung hervor. Grabbe läßt sich beispielsweise <strong>de</strong>n gewiß<br />
abson<strong>de</strong>rlichen, aber historisch verbürgten strategischen Zug Hannibals nicht<br />
entgehen, durch <strong>de</strong>n es ihm gelang, sich aus römischer Umzingelung zu befreien,<br />
in<strong>de</strong>m er nachts 4000 Ochsen mit brennen<strong>de</strong>m Reisig zwischen <strong>de</strong>n Hörnern in<br />
Richtung <strong>de</strong>s von <strong>de</strong>n Römern besetzten Paßübergangs bei Casilinum [laut<br />
Mommsen nahe Capua], jagen, vorher aber noch die italischen Wegführer, die ihn<br />
in die Klemme getrieben hatten, kreuzigen ließ.<br />
Auch das Ereignis mit Hasdrubals abgeschlagenem Haupt wird von Grabbe<br />
ausgiebig in Szene gesetzt; sie gewinnt bei ihm ein eigenes Gewicht, nicht wie bei<br />
Preyer, <strong>de</strong>r lediglich Hannibals heftige innere Bewegtheit und seinen<br />
hochkommen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Rachedurst in <strong>de</strong>r w. o. erwähnten Szene mit Severa<br />
darstellt. Grabbe stellt das Ereignis in einen opernhaften Rahmen (Fest <strong>de</strong>r<br />
Weinlese bei Cajeta, mit Satyrspielen). Dadurch – und noch mehr durch<br />
unglaubliche Zufälle – wirkt die Szene allerdings so artifiziell, daß sich daraus weit<br />
eher eine Beeinträchtigung <strong>de</strong>s künstlerischen Wertes als ein Gewinn ergibt,<br />
letztlich aber im Einklang ist mit <strong>de</strong>r satirischen Unter- und Übertreibung, die sich<br />
durch das Stück zieht. An an<strong>de</strong>ren Stellen malt Grabbe das exotisch-farbige und<br />
laute Treiben <strong>de</strong>r Händler von Karthago aus o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren barbarischen Moloch-<br />
Dienst.<br />
Preyer verzichtet gemäß <strong>de</strong>m von ihm befolgten Prinzip künstlerischen<br />
Maßhaltens, <strong>de</strong>r Zügelung <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaftlichkeit auf solche Effekte und folgt<br />
konsequent <strong>de</strong>m von seinen Vorbil<strong>de</strong>rn vorgezeichneten Weg. Bei Preyer führt<br />
dies – trotz aller inneren Bewegtheit und strenger Folgerichtigkeit – zu<br />
schwächeren, gelegentlich sogar zu sehr blassen Eindrücken, wie z. B. bei <strong>de</strong>r<br />
Begegnung Hannibals mit seiner Mutter. Er schreckt sogar vor auffälligen o<strong>de</strong>r<br />
auch nur originellen Vergleichen <strong>zur</strong>ück und bedient sich bevorzugt aus <strong>de</strong>m<br />
reichen Angebot tradierter Symbole und Embleme.<br />
Ebenfalls in direkter Nachfolge <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen klassischen Dramas, hauptsächlich<br />
<strong>de</strong>m Vorbild Schillers folgend, ist <strong>de</strong>r Hannibal ein Versdrama, verfaßt nach <strong>de</strong>n<br />
Regeln <strong>de</strong>s üblichen Blankverses, <strong>de</strong>s reimlosen, fünfhebigen Jambus. Auch <strong>de</strong>r<br />
„hohe Stil“, <strong>de</strong>n er pflegt, ist in <strong>de</strong>n Schillerschen Geschichtsdramen vorgegeben. 95<br />
Anerkennend sei festgehalten, daß seine Sprache – trotz aller Zwänge, die vom<br />
Rhythmus wie von <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s hohen (rhetorisch-pathetischen) Stils<br />
ausgehen, fast ausnahmslos natürlich und voller Wohlklang ist. Er verstand es, die<br />
95 R. L., Band A-K, Drama (Neuzeit) – Schiller, S.330.<br />
154
hohe Modulationsfähigkeit dieses metrischen Gerüstes auszunützen, so die<br />
beliebige Zäsurlage, die Freiheit <strong>de</strong>s männlichen o<strong>de</strong>r weiblichen Versen<strong>de</strong>s, auch<br />
die Versetzung <strong>de</strong>r Betonung. Er beherrschte die Mittel <strong>de</strong>r literarischen Rhetorik<br />
ebenso wie die <strong>de</strong>r klanglichen Expressivität.<br />
Der „Lateiner“ in ihm, sein frühes alter ego, und die nie abgelegte Geisteshaltung<br />
<strong>de</strong>s Neuhumanismus dürften wie das Zünglein an <strong>de</strong>r Waage <strong>de</strong>n Ausschlag dafür<br />
gegeben haben, daß er sich für rhetorisch geprägte Gestaltung und klassische<br />
Diktion entschied und darauf beharrte. Seine Nähe zum Zeitgenossen Grillparzer<br />
ergab sich daraus fast von selbst.<br />
Aufnahme <strong>de</strong>s Dramas durch Theaterkritiker. Einige Bemerkungen<br />
über sein dramatisches Schaffen im Spiegel <strong>de</strong>r Literaturkritik<br />
Die Tragödie Hannibal wur<strong>de</strong> nicht nur von <strong>de</strong>n Literaturforschern späterer<br />
Jahrzehnte als Preyers bestes Stück bewertet 96 , son<strong>de</strong>rn auch von Preyer selbst<br />
als solches erkannt. Einige im Familienarchiv aufbewahrte Schriftstücke lassen<br />
vermuten, daß er sich nur um die Aufführung dieses einen Stückes bemühte.<br />
Gleichzeitig lassen die langen Pausen von einem Versuch zum an<strong>de</strong>ren auf eine<br />
eigenartig skeptische Befangenheit Preyers <strong>de</strong>m eigenen Werk (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />
Publikum?) gegenüber schließen, die ihn gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Zeit seiner dichterischen<br />
Reife auch davon abgehalten haben mochte, die einzelnen Werke bald nach ihrem<br />
Abschluß zu veröffentlichen. Allerdings waren auch die Erfahrungen, die ihm seine<br />
Versuche mit <strong>de</strong>m Hannibal einbrachten, wenig ermutigend. In großen<br />
Zeitabstän<strong>de</strong>n hatte er sich nämlich mit <strong>de</strong>m Hannibal-Manuskript an drei <strong>de</strong>r<br />
be<strong>de</strong>utendsten <strong>de</strong>utschen und österreichischen Bühnen gewandt: an das<br />
Königlich-Bayrische Hoftheater, an das Wiener Stadt-Theater, an das Wiener<br />
Hofburg-Theater. Je<strong>de</strong>smal wird es ihm zu „an<strong>de</strong>rweitiger Verfügung“<br />
<strong>zur</strong>ückgegeben (1861, 1873, 1878).<br />
Während die Antwort Heinrich Laubes vom Wiener Stadt-Theater (04. Mai 1873)<br />
eine lakonische Ablehnung ist 97 , weisen die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren auf die literarischen<br />
Qualitäten <strong>de</strong>s Stückes hin: Das mit <strong>de</strong>r Prüfung <strong>de</strong>r „einlaufen<strong>de</strong>n Novitäten“<br />
betraute Komitee vom Königlich-Bayrischen Hoftheater anerkennt die „dichterische<br />
Begabung“ und „gelungene Charakterzeichnung“, erachtet jedoch eine Aufführung<br />
<strong>de</strong>s Stückes „wegen unzusammenhängen<strong>de</strong>n Ganzes <strong>de</strong>r Handlung“ als<br />
ungeeignet (6.12.1861). Im Urteil Franz von Dingelstedts, Leiter <strong>de</strong>s Wiener Burg-<br />
Theaters, scheint überdies ein Hinweis auf das politisch Verfängliche<br />
mitzuschwingen, das die Annahme <strong>de</strong>s Stückes erschwerte: Er habe <strong>de</strong>n Hannibal<br />
96 Vergleiche Franz Anton Basch, J.[C. Jakob] Stein u. a. Als einziges seiner Werke erfuhr<br />
es eine Neuauflage in <strong>de</strong>r von Franz Wettel betreuten Reihe Deutschbanater Volksbücherei<br />
Nr. 10, Temeswar 1913.<br />
97 Manfred Häckel (Lv.62) weist nach, daß zu <strong>de</strong>n namhaften <strong>de</strong>utschen Literaten <strong>de</strong>s 19.<br />
Jh., die die lebhaften Sympathiebekundungen vieler an<strong>de</strong>rer für <strong>de</strong>n hel<strong>de</strong>nmütigen Kampf<br />
<strong>de</strong>r Ungarn von 1848/49 nicht teilten, die sich auch gegen die Ansprüche <strong>de</strong>r Madjaren<br />
stellten, Friedrich Hebbel, Heinrich Laube und Gustav Freytag gehörten. Im Fall Laubes<br />
beruft er sich auf <strong>de</strong>ssen Erinnerungen 1841-1881. Den Ungarn hat er „nur im Verein mit<br />
Österreich eine Entwicklung zu[ge]stand[en]“. (S. 303) Es ist durchaus möglich, daß seine<br />
Ablehnung <strong>de</strong>s Stückes mit <strong>de</strong>n grundlegend verschie<strong>de</strong>nen polit. Standpunkten zu tun hat.<br />
155
„mit entgegenkommen<strong>de</strong>r Theilnahme und Aufmerksamkeit gelesen, bedaure<br />
jedoch“, es seiner „vorgesetzten Behör<strong>de</strong> <strong>zur</strong> Annahme für das k. u. k. Hofburg-<br />
Theater nicht vorschlagen zu können, da das Stück, unbescha<strong>de</strong>t seines<br />
literarischen Wertes, einen entschie<strong>de</strong>nen Erfolg auf <strong>de</strong>r Bühne nicht zu<br />
versprechen scheint“. (8.5.1878)<br />
Den Hannibal hat er als einziges seiner im Druck erschienenen Stücke mit einer<br />
Widmung versehen. Das ist insofern von Belang, als diese Zueignung darauf<br />
schließen läßt, Preyer habe an <strong>de</strong>n Wert seiner Tragödie geglaubt. Er hat es<br />
Georg II. von Sachsen-Meiningen (1825-1914), <strong>de</strong>m „Theaterherzog“, gewidmet,<br />
<strong>de</strong>m Leiter <strong>de</strong>r damals angesehenen, Schule machen<strong>de</strong>n Bühne. Preyer blickt<br />
nicht zufällig auf dieses, beson<strong>de</strong>rs durch Klassiker-Aufführungen erfolgreiche<br />
Theater. Dessen Leiter verehrte er wahrscheinlich als <strong>de</strong>n Bewahrer und För<strong>de</strong>rer<br />
klassischer Kulturtradition in ihrer reinsten Form. Vielleicht erhoffte er sich aber<br />
auch durch ihn einen späten Ruhm. An einen Erfolg auf <strong>de</strong>m Büchermarkt glaubte<br />
er hingegen nicht. Skepsis erfüllte ihn bereits 1858, als er bei Harbacher in<br />
Gmun<strong>de</strong>n Ver sacrum herausbrachte. Noch be<strong>de</strong>nklicher sah er <strong>de</strong>r Aufnahme<br />
seiner bei<strong>de</strong>n letzten Dramen durch das Publikum entgegen. Wie<strong>de</strong>r sind es an<br />
Friedrich Pesty gerichtete Briefe, die Preyers Überlegungen und seine Bitterkeit<br />
festhalten:<br />
(1.) „Ich beabsichtige meine Gedichte herauszugeben. Aber <strong>de</strong>r Büchermarkt ist<br />
mit einer solchen Fluth von <strong>de</strong>rgleichen Werken überschwemmt, und es herrscht<br />
gegen Gedichte eine so große (allerdings auch gerechte) Eingenommenheit,<br />
[...]“(sein erster Gmun<strong>de</strong>ner Brief an Pesty, 17.August 1858); – (2.) Hannibal wird<br />
wahrscheinlich im Strom <strong>de</strong>utscher Dichtungen verschwin<strong>de</strong>n wie Canova und Die<br />
Sulioten. Welche Hoffnungen kann ich haben, wenn in Leipzig 5600 <strong>de</strong>utsche<br />
Buchhändler zu Ostern mit 50 Millionen Mark Umsatz abrechnen. Was kann da für<br />
meinen Hannibal herauskommen? In ungarischer Sprache wäre es vielleicht<br />
leichter gewesen, Anerkennung zu erlangen. Das Schicksal wollte es aber so“ [daß<br />
er nur in seiner <strong>de</strong>utschen Muttersprache dichten konnte].(Kirchberg am Wechsel,<br />
31.März 1882) 98 .<br />
Dennoch hat es im Ausland lebhaftere Reaktionen auf seine Veröffentlichungen<br />
gegeben als in Temeswar, obwohl die zwei ersten Dramen auch im Temeswarer<br />
Buchhan<strong>de</strong>l erhältlich waren. Die Temesvarer Zeitung machte im literarischen<br />
Anzeigeteil zwar darauf aufmerksam, läßt aber keine Besprechung <strong>de</strong>r Dramen<br />
folgen, so daß nichts über <strong>de</strong>ren Rezeption in Preyers Heimat zu erfahren ist.<br />
Preyer schreibt in Briefen darüber, daß es einige positive und somit ermuntern<strong>de</strong><br />
Kritiken über seine Schriften gegeben habe. Noch ist diesbezüglich zu wenig<br />
geforscht wor<strong>de</strong>n. Eine gründliche Besprechung <strong>de</strong>r Sulioten brachten die<br />
Leipziger Blätter für literarische Unterhaltung 99 , die beweist, daß man Preyers<br />
dichterisches Talent anerkannte. Darin wird seine Weiterentwicklung gegenüber<br />
<strong>de</strong>m Canova betont, doch mit Sachkenntnis wer<strong>de</strong>n auch Fehler aufgezeigt.<br />
Insgesamt wird ihm mehr episches und lyrisches Talent zugesprochen als eine<br />
Begabung auf dramatischem Gebiet. So gesehen, wäre es sicherlich sinnvoll, bei<br />
98 Erste Veröffentlichung dieser Briefstellen durch R. T., Lv. 66, S. 91.<br />
99 Blätter für literarische Unterhaltung, Leipzig: Brockhaus, 1855, Bd. I (Januar-Juni, Nr.<br />
1-26), in Nr. 14 vom 1.04., S. 249, gez.: „19.“, s. Lv. 1<br />
156
einem Thema wie <strong>de</strong>m vorliegen<strong>de</strong>n, die Frage <strong>de</strong>r Weiterentwicklung wie<strong>de</strong>r<br />
aufzugreifen. Dazu müßte jedoch <strong>de</strong>r Rahmen erweitert und alle vier Dramen<br />
untersucht wer<strong>de</strong>n. 100 In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Zeilen bringe ich einen kurzen Überblick<br />
<strong>de</strong>r Preyer-Forschung 101 und (meist in Kurzfassung) einige <strong>de</strong>r Einschätzungen,<br />
die von seiten <strong>de</strong>r Literaturgeschichte bzw. Literaturkritik über seine<br />
schöngeistigen Schriften, insbeson<strong>de</strong>re über seine Dramen vorliegen. (Auf einige<br />
<strong>de</strong>r Wertungen wur<strong>de</strong> w. o., z. T. recht ausführlich, Bezug genommen.) Mit Franz<br />
Wettel setzt die Preyer-Forschung eigentlich erst ein, da Wettels Verleger- und<br />
Forscherarbeit ganz bewußt <strong>de</strong>r Wertung <strong>de</strong>s kulturellen Erbes im Banat diente.<br />
Franz Anton Basch* hat sich durch seine Forschung um Preyer, vor allem durch<br />
Zusammentragen wertvoller Daten (zum historischen, kulturellen,<br />
literaturgeschichtlichen Umfeld und <strong>zur</strong> Biographie Preyers) sehr verdient gemacht<br />
und manches aus <strong>de</strong>m Nachlaß festgehalten, was infolge <strong>de</strong>s Zweiten Weltkriegs<br />
endgültig verloren gegangen ist. Doch seinen Interpretationen kann ich in vielen<br />
Punkten nicht zustimmen. Das gilt auch für seine Auslegung <strong>de</strong>s Hannibal.<br />
Wünschenswert wäre ein Anhang mit <strong>de</strong>r Übersetzung <strong>de</strong>r Seiten 95-98, auf<br />
<strong>de</strong>nen sich Basch mit <strong>de</strong>r Hannibal-Tragödie befaßt. J. [Conrad Jakob] Stein* wird<br />
Preyers Dichtungen gerechter. Es fehlt ihm die Arroganz, mit <strong>de</strong>r Basch an vielen<br />
Stellen <strong>de</strong>m Gegenstand seiner literaturkritischen Betrachtung gegenübertrat,<br />
obwohl gera<strong>de</strong> ihm wie keinem an<strong>de</strong>ren alles vorlag. Der sonst so verdienstvolle<br />
Karl Kurt Klein* macht es sich leicht mit seinem Urteil über Preyers dichterisches<br />
Werk: Die epischen Schriften seien verloren gegangen, die Dramen „allesamt<br />
geschichtlich gerichtet“. „Der lange Atem <strong>de</strong>s Epikers weht aus diesen<br />
Trauerspielen, rednerische Unwirklichkeit überwuchert die Handlung.“ 102 . Nicht zu<br />
übergehen sind aus <strong>de</strong>n vierziger Jahren und nach 1950 die Veröffentlichungen zu<br />
Preyers Lyrik und <strong>de</strong>n Dramen von Robert Reiter/Franz Liebhard, Heinz Stănescu,<br />
Rudolf Hollinger, Ra<strong>de</strong>gun<strong>de</strong> Täuber, Stefan Bin<strong>de</strong>r, Dieter Kessler. Drei Namen<br />
sind im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r 1995 neu aufgelegten Monographie <strong>de</strong>r<br />
königlichen Freistadt Temesvár /Monografia oraşului liber crăiesc Timişoara<br />
(erstmals zweisprachig) zu nennen: Eleonora Pascu (Übersetzung und Vorwort),<br />
Adam Mager (Übersetzung) und Ioan HaŃegan (Nachwort). Als Autor von<br />
100 Außer <strong>de</strong>n Untersuchungen in <strong>de</strong>r Dissertation von Basch, (Lv.2), <strong>de</strong>m Artikel von J. [C.<br />
Jakob] Stein (Lv. 61), <strong>de</strong>r Arbeit von Heinz Stănescu (Lv. 60) und kurzgefaßten<br />
Darstellungen bei R. Täuber, Lv. 68, S. 51-54 [zum Canova und <strong>de</strong>n Sulioten], S. 37 f. und<br />
56-60 [zum Hannibal], S.62 f. [zum Hunyady László], ist auf die von Dr. Dieter Kessler als<br />
Vortrag präsentierte Untersuchung zum Canova hinzuweisen, gehalten gelegentlich <strong>de</strong>s<br />
Rahmenprogramms <strong>zur</strong> Ausstellung Die Donauschwaben – <strong>de</strong>utsche Siedlung in<br />
Südosteuropa vom 4.-30.April 1987 im Stuttgarter Weißen Schloß. – Derselbe über alle vier<br />
Bühnenstücke (ausführlicher über Canova). In: Die <strong>de</strong>utschen Literaturen<br />
Siebenbürgens, <strong>de</strong>s Banates und <strong>de</strong>s Buchenlan<strong>de</strong>s von <strong>de</strong>r Revolution bis<br />
zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ersten Weltkrieges (1848-1918). – Köln-Weimar-Wien: Böhlau<br />
1997, S. 445-449.<br />
101 Erstmals ausführlicher behan<strong>de</strong>lt von R. T., Lv. 66 (Stand: 1973); Anm.: ein * hinter<br />
einem <strong>de</strong>r Namen be<strong>de</strong>utet, daß <strong>de</strong>r Betreffen<strong>de</strong> in vorliegen<strong>de</strong>r Arbeit ein o<strong>de</strong>r mehrere<br />
Male zitiert wird.<br />
102 K.K. Klein, Literaturgeschichte <strong>de</strong>s Deutschtums im Ausland. Leipzig, Bibliogr.<br />
Institut 1939, S. 254 f.<br />
157
kürzeren in <strong>de</strong>r B. R. Deutschland erschienenen Ge<strong>de</strong>nkaufsätzen erwähne ich<br />
stellvertretend Josef Gaszner, als Verfasser <strong>de</strong>r Studie Einführung in die<br />
Geschichte <strong>de</strong>r donauschwäbischen Literatur (als Anhang <strong>zur</strong> Anthologie Die nicht<br />
sterben wollten, <strong>de</strong>n in Österreich leben<strong>de</strong>n Prof. Dr. Anton Scherer.* Er ist ein<br />
Wissenschaftler, <strong>de</strong>r meist akribisch mit seinem Forschungsgegenstand umgeht<br />
und <strong>de</strong>m ich Hochachtung entgegenbringe; doch sein Preyer gewidmeter Absatz<br />
belegt auf exemplarische Weise die Voreiligkeit und auch Einseitigkeit im<br />
Beurteilen, bedingt vermutlich durch <strong>de</strong>n Umstand, daß die Primärliteratur schwer<br />
erreichbar war [noch immer ist], weshalb zu vorhan<strong>de</strong>nen kurzen Urteilen Zuflucht<br />
genommen wur<strong>de</strong>.<br />
Er ist dichterisch ein Epigone <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Klassik, ohne stofflich sein<br />
heimatliches Milieu zu gestalten. Der Mangel an Aktualität seiner Werke und <strong>de</strong>r<br />
seiner schriftstellern<strong>de</strong>n Zeitgenossen, [...], entspringt einer ziellosen<br />
Geisteshaltung und Lebensunsicherheit. Bürgerliche Enge und Beschränktheit<br />
verbauten diesen Epigonen <strong>de</strong>n Weg <strong>zur</strong> künstlerischen Vollendung. / Der Dichter<br />
fühlte noch keine Sendung in diesem Raum [im Sinne <strong>de</strong>utschen<br />
Volksbewußtseins]. (S.235)<br />
Aus <strong>de</strong>r umfassend angelegten Literaturgeschichte von Dr. Dieter Kessler 103 , <strong>de</strong>r<br />
eine insgesamt sehr reiche Sammlung an Primärliteratur aufgearbeitet hat, zitiere<br />
ich Passagen, die sich auf die drei Geschichtsdramen Preyers, z. T. speziell auf<br />
<strong>de</strong>n Hannibal beziehen. Auf die angesprochenen Fragen bin ich w. o. ebenfalls<br />
eingegangen, dabei aber in manchen <strong>de</strong>r Fragen zu an<strong>de</strong>ren Ergebnissen gelangt:<br />
Sie sind wort- und personenreich, entwickeln unklare Vorstellungen in unscharfer<br />
Bil<strong>de</strong>rsprache und sind kaum geeignet, aufgeführt zu wer<strong>de</strong>n, wie sie auch als<br />
reine Lesedramen kaum an<strong>de</strong>res <strong>de</strong>nn Müdigkeit zu erzeugen vermögen. [Preyer]<br />
versucht [im Hannibal und <strong>de</strong>m Hunyady László], <strong>de</strong>n großen einzelnen in seiner<br />
geschichtlichen Be<strong>de</strong>utung wie in seiner geschichtlichen Bedingtheit darzustellen,<br />
aber seine Mittel reichen dazu nicht aus. Es gelingt Preyer niemals, seinen Stoff<br />
dramatisch zu ordnen, was im Canova mit seiner lyrischen Grundstimmung am<br />
wenigsten stört, die an<strong>de</strong>ren Werke aber in eine Reihe von nahezu unverbun<strong>de</strong>nen<br />
Einzelszenen auflöst. Auch auf die konkreten Möglichkeiten einer Bühne achtet er<br />
wenig, wie <strong>de</strong>utlich nicht nur die Besetzungsliste <strong>de</strong>s Hannibal mit<br />
sechsundzwanzig (allerdings mehrfach besetzbaren) Rollen und vielen Statisten<br />
ausweist, son<strong>de</strong>rn auch die für das Stück notwendigen häufigen Umbauten 104 , die<br />
von kaum einer zeitgenössischen europäischen Bühne zu bewältigen wären. Die<br />
Vermutung liegt nahe, daß Preyer ohne praktische Theaterkenntnis und ohne<br />
beson<strong>de</strong>res Konzept schreibt und sich im Regelfall mit einer gelungenen Szene<br />
begnügt, ohne auf ihre Einbindung in das Gesamtwerk weiter zu achten. Letztlich<br />
schreibt Preyer nur für sich, zum angenehmen Vertreib seiner Mußestun<strong>de</strong>n. Seine<br />
Be<strong>de</strong>utung für die Stadt Temeswar ist groß; in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur kann er<br />
103 D. Kessler, a. a. O., S. 448-449.<br />
104 Zum Wechsel <strong>de</strong>s Bühnenbil<strong>de</strong>s im Hannibal: Mit Ausnahme <strong>de</strong>s II. Aufzugs erfor<strong>de</strong>rt<br />
je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r vier an<strong>de</strong>ren zwei Umbauten: I. Capua: 1. öffentlicher Platz vor einem Palast – 2.<br />
in Hannibals Wohnung. II. am Meer bei Rhegium: Hannibals Zelt. III. 1. Hannibals Zelt im<br />
Lager bei Zama – 2. ein offenes Zelt. IV. Karthago: 1. offene Säulenhalle mit Blick auf einen<br />
großen Platz – 2. freies Feld. V. Nikäa: 1. Saal im königlichen Palast – 2. Hannibals<br />
Wohnung.<br />
158
kaum regionale Be<strong>de</strong>utung beanspruchen.<br />
Von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n zuletzt zitierten Beurteilungen und <strong>de</strong>r von mir vorgelegten Arbeit<br />
erhoffe ich mir ein anregen<strong>de</strong>s Zusammenspiel, und zwar in <strong>de</strong>m Sinne, daß es<br />
gelingt, junge Leser dazu an<strong>zur</strong>egen, sich selbst eine Meinung bil<strong>de</strong>n zu wollen,<br />
in<strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re bereitfin<strong>de</strong>t, Preyer-Texte <strong>zur</strong> Kenntnis zu<br />
nehmen, sie neu zu über<strong>de</strong>nken, sich <strong>de</strong>n Mühen unterzieht, sie <strong>de</strong>tailliert zu<br />
untersuchen. Das gilt selbstverständlich nicht nur mit Blick auf Preyer; es gibt<br />
einige Banater <strong>de</strong>utsche Dichter, für die diese Arbeit noch zu leisten ist.<br />
Schlußbemerkungen<br />
Zunächst eine Erklärung für die zahlreichen und zuweilen recht ausführlichen<br />
Zitate. Sie ist damit gegeben, daß die drei Hannibal -Texte bei <strong>de</strong>n meisten Lesern<br />
als nicht bekannt angenommen wer<strong>de</strong>n müssen, die vorhan<strong>de</strong>nen Exemplare (vor<br />
allem <strong>de</strong>r Tragödie Preyers) sehr selten gewor<strong>de</strong>n sind und meist nur auf <strong>de</strong>m<br />
Umweg über wenige Bibliotheken eingesehen wer<strong>de</strong>n können. Das gleiche gilt für<br />
Zitate aus schwer zugänglicher Sekundärliteratur.<br />
Am Hannibal Preyers lassen sich kennzeichnen<strong>de</strong> Merkmale seines<br />
Dramenschaffens wie seiner Dichterpersönlichkeit feststellen, auch die Grundlinien<br />
seiner politischen Überzeugungen und seiner Geschichtsphilosophie.<br />
Dichten ist ihm ernstes Anliegen, seine Werke sind größtenteils eine<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit sozial-politischen Zeiterscheinungen und Selbstaussage.<br />
Eigenes Erleben und Aktualität drängten ihn hauptsächlich <strong>zur</strong> Gestaltung von<br />
nationaler Unterdrückung und nationalen Freiheitsbewegungen. Unmißverständlich<br />
sieht Preyer seine Zeit als eine Epoche, in <strong>de</strong>r wenige Großmächte (Österreich,<br />
Rußland, England), ihre staatliche Despotie über an<strong>de</strong>re Län<strong>de</strong>r aus<strong>de</strong>hnten,<br />
zugleich aber auch als eine Zeit, in <strong>de</strong>r eine nach Befreiung streben<strong>de</strong> Opposition<br />
heranreift, die letztlich eine Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Lage herbeiführen wird. Betrachtungen<br />
über <strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte bestärkten ihn in dieser<br />
Überzeugung; dabei hielt er sich (und seinen Lesern) immer vor Augen, daß die<br />
Epochen großer Freiheitsbewegungen meist von zeitweiligen Nie<strong>de</strong>rlagen begleitet<br />
waren. Ein Sieg im Ringen um Freiheit sei jedoch auf Dauer nicht aufzuhalten. Der<br />
Hannibal wird als abgeschlossen gemel<strong>de</strong>t, als das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s neo-absolutistischen<br />
Jahrzehnts abzusehen war, herbeigeführt durch die Kämpfe <strong>de</strong>r Provinzen gegen<br />
das Habsburgerreich.<br />
Die Erkenntnis vom Perpetuum <strong>de</strong>s Freiheitsstrebens und <strong>de</strong>r Freiheitsbewegung<br />
als eine nicht zu unterdrücken<strong>de</strong> Macht, damit engstens verwoben sein<br />
Geschichtsoptimismus, das ist <strong>de</strong>r eine Pfeiler seines Geschichtsverständnisses,<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re: die feste Überzeugung, daß innere Zwistigkeiten unheilvolle<br />
Auswirkungen haben. Auf diesen Grundpfeilern ruhen alle weiteren Überlegungen,<br />
die Wert- und Zielvorstellungen <strong>de</strong>s Politikers, <strong>de</strong>s Historikers und Dichters Preyer,<br />
gleichsam die Brücke bil<strong>de</strong>nd zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,<br />
von einem Volk zum an<strong>de</strong>ren. Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r aufklären<strong>de</strong>n und belehren<strong>de</strong>n<br />
Absicht (vgl. w. o., 3.3.) sind Züge <strong>de</strong>r pragmatischen Geschichtsforschung<br />
erkennbar: Das Forschen nach Ursachen und Wirkungen im Verlauf vergangener<br />
Vorkommnisse soll(te) Lehren für künftige politische Entscheidungen bereitstellen.<br />
159
Freiheit ist dabei immer nur eine <strong>de</strong>r wichtigsten Komponenten seines Fortschrittsgedankens.<br />
Fortschritt schließt notwendig nationale und soziale Rechte und<br />
Freiheiten ein sowie das Recht <strong>de</strong>s einzelnen auf freie Entscheidung, weshalb<br />
auch an an<strong>de</strong>re Schriften Preyers erinnert wer<strong>de</strong>n muß, auch wenn es sich dabei<br />
nicht um literarische Arbeiten, son<strong>de</strong>rn um wissenschaftliche Untersuchungen<br />
han<strong>de</strong>lt (s. im Schriftenverzeichnis die Arbeiten <strong>zur</strong> Fragen <strong>de</strong>r Gleichberechtigung<br />
<strong>de</strong>s Bauernstan<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n).<br />
Diese von Preyer in dichterische Handlung umgesetzten<br />
geschichtsphilosophischen Erkenntnisse und Überzeugungen fin<strong>de</strong>n sich im<br />
humanistischen Gedankengut <strong>de</strong>r Aufklärung und <strong>de</strong>s Frühliberalismus, verweisen<br />
insbeson<strong>de</strong>re auf Schillers Freiheitsi<strong>de</strong>alismus und Geschichtsoptimismus 105 ,<br />
wur<strong>de</strong>n im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt von Hegel in seinen geschichtsphilosophischen<br />
Entwicklungsgedanken weitergeführt, und sie kehren etwas abgewan<strong>de</strong>lt wie<strong>de</strong>r<br />
bei Hebbel 106 : daß nämlich „die Geschichte über die Vernichtung hinweg immer zu<br />
neuen, sinnvollen Welten weiterschreitet“ 107 .<br />
In Preyers Schriften (nicht nur <strong>de</strong>n schöngeistigen) spielen diese Ansichten eine<br />
<strong>de</strong>rart wichtige Rolle, daß keine Interpretation daran vorbeisehen kann.<br />
Mit <strong>de</strong>n Ausführungen in <strong>de</strong>n Unterkapiteln 3.1. – 3.5. habe ich die inhaltlichgehaltlichen<br />
Komponenten und Akzentsetzungen herausgestrichen, war bemüht,<br />
<strong>de</strong>n literarischen Wert <strong>de</strong>s Stückes bzw. seine Schwächen nachzuweisen, sodann<br />
<strong>de</strong>r in Zweifel gestellten Bühnenwirksamkeit und einer zweifellos vorhan<strong>de</strong>nen<br />
politischen Verfänglichkeit <strong>de</strong>r Hannibal-Tragödie nachzuspüren.<br />
Selbst <strong>de</strong>r geschichtlich nur halbwegs bewan<strong>de</strong>rte Leser von heute erahnt <strong>de</strong>n<br />
gedanklich engen Zusammenhang dieses Trauerspiels mit <strong>de</strong>m Freiheitskampf <strong>de</strong>r<br />
Ungarn. Die Assoziationen, die seine Zeitgenossen, namentlich die aus Ungarn,<br />
herstellen hätten können, wären aber nicht intellektueller Art gewesen, son<strong>de</strong>rn<br />
vermutlich emotionsgela<strong>de</strong>n, voller Unmut über die eigene Einengung,<br />
Unterdrückung und Ohnmacht in nahezu allen Lebensbereichen, wenn die<br />
Dichtung nicht über zwanzig Jahre in <strong>de</strong>r Schubla<strong>de</strong> gelegen hätte. Die<br />
Interpretationen müssen jedoch von <strong>de</strong>r Zeit ausgehen, da die Arbeit<br />
abgeschlossen war und von <strong>de</strong>m Hintergrund an Erfahrungen, <strong>de</strong>r ihn zum<br />
Bearbeiten dieses Stoffes veranlaßt hat.<br />
Mit diesem Trauerspiel befürwortet er ein<strong>de</strong>utig auch die<br />
Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb <strong>de</strong>r österreichischen Monarchie, womit er<br />
einen gewagten, zumin<strong>de</strong>st unerwünschten Standpunkt bezieht. Ich erinnere an<br />
die in diesen Jahren selbst in Regierungskreisen geläufige Re<strong>de</strong>nsart von <strong>de</strong>n<br />
Ungarn als <strong>de</strong>n Puniern innerhalb <strong>de</strong>r Grenzen Österreichs und daran, daß es in<br />
<strong>de</strong>r Dichtung um mehr als die Austragung von Kämpfen zwischen Rom und<br />
Karthago [Österreich-Ungarn] geht. Es geht hauptsächlich darum, die<br />
Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>r Kriegsführung von seiten <strong>de</strong>r Punier zu vertreten und um die<br />
Frage nach <strong>de</strong>m Scheitern <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>s Zweiten Punischen Krieges (3.5.).<br />
So kommt es bei Preyer zu einer Begegnung von politischem Zeitstück (auf <strong>de</strong>m<br />
105 R. L., Band A-K, S. 298.<br />
106 Vgl. dazu <strong>de</strong>n letzten Abs. von Kap. 2.3. (Aufenthalt Hebbels und Preyers in Gmun<strong>de</strong>n<br />
am Traunsee).<br />
107 Vgl. F. Sengle, a. a. O., S. 208 -209.<br />
160
dramaturgischen Analogieprinzip fußend) mit <strong>de</strong>m symbolisch gefaßten<br />
I<strong>de</strong>endrama. Preyers Gestaltungswillen auferlegt ihm sowohl Distanzierung zum<br />
gegebenen Stoff als auch Abstand vom subjektiven Erlebnishintergrund. Dadurch<br />
sind Vorbedingungen geschaffen, das Einmalige <strong>de</strong>s historischen Stoffes zu<br />
allgemeinerer Be<strong>de</strong>utung zu erheben, allerdings so, daß die „innere historische<br />
Wahrheit“ 108 gewahrt bleibt. In <strong>de</strong>r künstlerischen Gestaltung <strong>de</strong>s Stoffes war ihm<br />
diese For<strong>de</strong>rung weniger wichtig in puncto Chronologie und Gesamtkomposition<br />
als hinsichtlich <strong>de</strong>r Auffassung <strong>de</strong>r Charaktere und <strong>de</strong>r politischen und<br />
künstlerischen Absicht.<br />
So erscheint <strong>de</strong>nn auch im Hannibal die Freiheitsi<strong>de</strong>e als erlösen<strong>de</strong>s Prinzip. Auch<br />
wenn Hannibals Laufbahn in Nie<strong>de</strong>rlagen en<strong>de</strong>t, so hat doch er selbst sich das<br />
Leben genommen, um <strong>de</strong>r sicheren Unfreiheit und Demütigung zu entrinnen; er tat<br />
es, nicht ohne sich an <strong>de</strong>r Überzeugung auf<strong>zur</strong>ichten, daß die von einem Weltgeist<br />
(im Hannibal treten an seine Stelle – gemäß <strong>de</strong>m antiken Stoff – das Schicksal und<br />
die Götter) gelenkte soziale wie historische Entwicklung mit Notwendigkeit nach<br />
Freiheit tendiere. Die moralische Freiheit <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n ist erhalten geblieben, eine<br />
tragische Erhebung ist möglich. Das Überindividuelle, <strong>de</strong>r Glaube an <strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>r<br />
Freiheitskämpfe, wird somit <strong>de</strong>utlich über das Individuelle und Vergängliche<br />
erhoben.<br />
In seiner Fortschritts- und Zukunftsgläubigkeit hat Preyer einen I<strong>de</strong>alzustand vor<br />
Augen: das Bild einer freien Völkergemeinschaft, vom friedlichen Nebeneinan<strong>de</strong>r<br />
und Miteinan<strong>de</strong>r gleichberechtigter Völker. Dieser Vision begegnen wir im Hannibal<br />
[Verhandlung mit Scipio, III., 6., S. 66] und in an<strong>de</strong>ren seiner literarischen Arbeiten,<br />
wie in <strong>de</strong>m zehn Jahre später in <strong>de</strong>r Temesvarer Zeitung 1869 veröffentlichten<br />
Versepos Salamon.<br />
Ein Völkerbund, von Eintracht schön geschlossen,<br />
Umfange sie im dauern<strong>de</strong>n Verein,<br />
Ein heil’ger, ew’ger Frie<strong>de</strong> kehre ein<br />
Und mache Völker zu Genossen! (Strophe 5)<br />
Preyer war Europäer von weltweiter Offenheit. Als Dichter und Schriftsteller<br />
glaubte er an die Kraft <strong>de</strong>s poetischen Wortes und <strong>de</strong>s sachlichen Argumentes,<br />
überhaupt an das Recht einer Mitsprache, ja <strong>de</strong>r Einmischung; Schreiben und<br />
Dichten als Auftrag aufgefaßt. Dafür gibt es viele Anhaltspunkte.<br />
Um so berechtigter daher die Frage, weshalb er so lange mit <strong>de</strong>r Drucklegung <strong>de</strong>r<br />
bei<strong>de</strong>n letzten Dramen gezögert hat. Man wird sie mit einem Vorwurf verbin<strong>de</strong>n.<br />
Schließlich han<strong>de</strong>lt es sich um eine Verspätung von über zwanzig Jahren, eine<br />
Zeitspanne, in <strong>de</strong>r sich in Ungarn politisch wie sozial gewaltige Än<strong>de</strong>rungen<br />
vollzogen hatten. So hatten vor allem die im Hannibal gespiegelten Zeitprobleme<br />
(mit Blick auf seine engere Heimat Ungarn) ihre Brisanz verloren, ja eine<br />
verwirren<strong>de</strong> und schmerzliche Umkehrung erfahren: Seit <strong>de</strong>m Ausgleich zwischen<br />
Österreich und Ungarn (1867) war das Volk <strong>de</strong>r Madjaren (1848/49<br />
Sympathieträger, als Freiheitskämpfer geachtet und unterstützt in <strong>de</strong>r westlichen<br />
Welt) nun selbst zu einem <strong>de</strong>r unerbittlichsten nationalen Unterdrücker <strong>de</strong>r<br />
108 F.Sengle, a. a. O., S. 38.<br />
161
an<strong>de</strong>ren in Ungarn leben<strong>de</strong>n Völker gewor<strong>de</strong>n. Welch paradoxe Situation! Die<br />
bei<strong>de</strong>n Stücke wur<strong>de</strong>n in Wien verlegt und gedruckt; und zwar zu einer Zeit, da das<br />
um die Jahrhun<strong>de</strong>rtmitte noch mächtige Kaiserreich infolge jahrzehntelanger<br />
Fehler und nach verlorenen Schlachten erhebliche (hinlänglich bekannte)<br />
Einbußen an Land und Macht hatte hinnehmen müssen. 1860 hätte ein lesen<strong>de</strong>s<br />
o<strong>de</strong>r zuschauen<strong>de</strong>s Publikum (wäre ein solches dagewesen) Hannibals<br />
prophetische Worte vom unvermeidlichen Untergang <strong>de</strong>s Riesen Rom aus eigenen<br />
Erfahrungen heraus nachvollziehen können, das ohnmächtige Aufbegehren, das<br />
Lei<strong>de</strong>n. Nach 1880 hatte sich aber nicht nur die außenpolitische Lage Österreichs<br />
radikal gewan<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn auch die inneren Strukturen hatten eine gewisse<br />
Liberalisierung erfahren. Auf diese Weise hatte in erster Linie <strong>de</strong>r Hannibal seine<br />
im Stück angelegte brisante Aktualität bereits zu Preyers Lebzeiten verloren. Und<br />
<strong>de</strong>r Hunyady László mit seiner überwiegend antifeudalen Ten<strong>de</strong>nz? Sein<br />
Gegenwartsbezug war <strong>de</strong>sgleichen eingebüßt. Nicht anzufechten hingegen die<br />
allgemeine, überzeitliche Gültigkeit <strong>de</strong>r in bei<strong>de</strong>n Dramen gestalteten Probleme.<br />
Was die in Frage gestellte Bühnenwirksamkeit angeht, so meine ich, daß man<br />
billigerweise zuerst <strong>de</strong>n Theaterpraktikern und Literaturkritikern aus <strong>de</strong>r zweiten<br />
Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts aufgeschlossen begegnen sollte, forschen sollte, wie<br />
sie die Dichtungen, die ihre Zeit hervorgebracht hat, beurteilen, was sie an<br />
Qualitäten erwarten, im Einzelfall in Abre<strong>de</strong> stellen o<strong>de</strong>r anerkennen. [s. 3.6.] Um<br />
zum Kern <strong>de</strong>r Sache zu kommen, will ich von einer möglichen Einstufung <strong>de</strong>r<br />
Tragödie als „Lesedrama“ o<strong>de</strong>r „Buchdrama“ ausgehen und damit <strong>de</strong>n Anschluß<br />
an <strong>de</strong>n w. o. verwen<strong>de</strong>ten Ausdruck <strong>de</strong>r Kopflastigkeit [3.5.] herstellen. Von Preyer<br />
war das Trauerspiel mit Sicherheit nicht als Lesedrama gedacht (s. w. o.). Ich<br />
erinnere daran, daß auch Goethes Tasso lange Zeit als solches galt. Gelegentlich<br />
einer Gastspiel-Aufführung <strong>de</strong>s Torquato Tasso in Sin<strong>de</strong>lfingen (6. und 8. 05.1992)<br />
wird in <strong>de</strong>r Sin<strong>de</strong>lfinger Zeitung vom „stillen Wortdrama“, <strong>de</strong>m „Gedankenstück“,<br />
<strong>de</strong>r Iphigenie vergleichbar, geschrieben, einem Stück „von intimer, gera<strong>de</strong>zu<br />
kammerspielartiger Besetzung“. Man merkt, wie unscharf die Konturen sind. Es<br />
waren und sind <strong>de</strong>mnach nicht unbedingt die technischen Schwierigkeiten, die<br />
ständig wechseln<strong>de</strong>n Schauplätze, die sehr vielen Personen, wie etwa in Goethes<br />
Faust II, die eine solche Zuordnung beding(t)en, und auch nicht nur das<br />
„theaterferne (lyrisch-epische) Weltanschauungsdrama“ im Sinne einiger<br />
Romantiker (Tieck, Arnim, Immermann). Diesen Kategorien und Begriffen können<br />
an<strong>de</strong>re, verwandte hinzugefügt wer<strong>de</strong>n, die als Varianten <strong>de</strong>r obigen o<strong>de</strong>r als<br />
eigenständige Kategorie aufgefaßt wer<strong>de</strong>n können, wie <strong>de</strong>r vielschichtig<br />
beleuchten<strong>de</strong>, reflektieren<strong>de</strong> Typus [Miklós Salyámosy, s. 3.5.).<br />
Zur Frage <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen bzw. fehlen<strong>de</strong>n Bühnenwirksamkeit eines Stückes, die<br />
ich hiermit beschließen will, füge ich einige sachdienliche Hinweise Gero von<br />
Wilperts hinzu: Bühnenwirksamkeit und Aufführbarkeit wan<strong>de</strong>ln sich mit <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Theaterkunst. Die Umsetzung einer literarischen Vorlage ins<br />
Gegenständlich-Theatralische kann durchaus eine Verengung be<strong>de</strong>uten,<br />
gemessen an <strong>de</strong>m, was ein mit schöpferischer Phantasie begabter Leser geistig zu<br />
schauen vermag. Der Begriff „Buch- o<strong>de</strong>r Lesedrama“ ist nicht abwertend, da <strong>de</strong>r<br />
poetische Wert eines Stückes nicht von <strong>de</strong>r Bühnenwirksamkeit abhängt. 109<br />
109 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch <strong>de</strong>r Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner, 4. Aufl.,1964,<br />
162
Die Ansprüche an das Publikum sind bei dieser Art von Drama recht hoch. Auch<br />
müßte es von guten Schauspielern aufgeführt wer<strong>de</strong>n, wenn es nicht untergehen<br />
soll. Die einzige „Aufführung“, die <strong>de</strong>r Hannibal auszugsweise erlebt hat, wur<strong>de</strong><br />
vom Rundfunk Temeswar während einer <strong>de</strong>r Deutschen Stun<strong>de</strong>n übertragen.<br />
Eventuell eine Nutzung <strong>de</strong>r Möglichkeiten, die das Genre <strong>de</strong>s Hörspiels bietet?<br />
Kaum <strong>de</strong>nkbar.<br />
Sucht man seinen Standort zwischen <strong>de</strong>n literarischen Richtungen festzulegen, so<br />
gibt es keinen Zweifel daran, daß er sich ganz eng an Schillers Historienstücke<br />
angelehnt hat, daß er die Abgeklärtheit und die Visionen aus Goethes klassischen<br />
Dichtungen verinnerlicht hat, daß ihn aber gesinnungsmäßig (bei Fortführung <strong>de</strong>s<br />
humanistischen und frühliberalen I<strong>de</strong>engutes) mancher seiner sozial-politischen<br />
Standpunkte mit Jung<strong>de</strong>utschen und <strong>de</strong>n Vormärzdichtern verbin<strong>de</strong>t, daß ihm aber<br />
realistische Gestaltung, wie sie im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt zu triumphieren begann, fremd<br />
geblieben ist. In welch beachtlichem Maß er sich <strong>de</strong>nnoch seine Selbständigkeit,<br />
vor allem in <strong>de</strong>r Auffassung <strong>de</strong>s Stoffes, bewahrt hat, ergab <strong>de</strong>r Vergleich mit<br />
an<strong>de</strong>ren Bearbeitungen <strong>de</strong>s Hannibal-Stoffes.<br />
Das Epigonale ist hauptsächlich in <strong>de</strong>r ästhetischen Konzeption und<br />
Gestaltungsweise nachweisbar; ein „geschmackvoller Nachahmer Goethes und<br />
Schillers“, wie C. Jakob Stein in seinen Untersuchungen zu Preyers Dramen<br />
feststellte, ein Urteil, <strong>de</strong>m sich im Grun<strong>de</strong> fast alle angeschlossen haben, die sich<br />
dazu äußerten, die meisten aus eigener Erkenntnis, an<strong>de</strong>re, in<strong>de</strong>m sie sich kritiklos<br />
eine vorgefun<strong>de</strong>ne Meinung zu eigen machten. Hinsichtlich <strong>de</strong>s Sprachstils bricht<br />
Rudolf Hollinger eine Lanze für Preyer und seine Geistesverwandten. Ich zitiere:<br />
Die Gegenwart kann Preyer seinen verspäteten ‚klassischen‘ Stil ankrei<strong>de</strong>n. […]<br />
Die Naturalisten waren schon wie<strong>de</strong>r abgetreten, als man im allgemeinen zu<br />
begreifen begann, daß so etwas wie eine mo<strong>de</strong>rne Kunst entstand. Thomas Manns<br />
Roman Bud<strong>de</strong>nbrooks (1901) ist noch so erfüllt von jener i<strong>de</strong>alistischen Klassik,<br />
daß man einem Dramatiker wie Johann Nepomuk Preyer seine auf edle Gesinnung<br />
abgestimmten Dramen nachsehen darf. Eher ist es Unrecht o<strong>de</strong>r Schuld, daß sie in<br />
Temesvar, wo dieser tüchtige Mann fast ein halbes Jahrhun<strong>de</strong>rt hindurch<br />
segensreich gewirkt hatte, vergessen wor<strong>de</strong>n sind. 110<br />
Meine Preyer und <strong>de</strong>m ausge<strong>de</strong>hnten Umfeld gelten<strong>de</strong>n Untersuchungen veranlassen<br />
mich, noch einen Aspekt zu unterstreichen: Die epigonale Haltung ist bei<br />
Preyer nicht eine Mo<strong>de</strong>erscheinung, wie sie in <strong>de</strong>r Literatur Österreichs und<br />
Deutschlands noch in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 19.Jahrhun<strong>de</strong>rts angetroffen wird,<br />
son<strong>de</strong>rn wesentlicher Teil seiner Persönlichkeit. Die vielfältigsten Dokumente<br />
lassen einen meist behutsam und wohlüberlegt vorgehen<strong>de</strong>n, zuweilen aber<br />
erstaunlich energisch agieren<strong>de</strong>n Menschen in Erscheinung treten, <strong>de</strong>r immer<br />
umsichtig und weitblickend die Interessen an<strong>de</strong>rer wie seinen eigenen Vorteil zu<br />
wahren bestrebt war. Wie kein an<strong>de</strong>rer hat Robert Reiter (Ps. Franz Liebhard) mit<br />
viel Spürsinn Preyers literarische Eigenart umrissen:<br />
Das Maßhalten im Denken und Fühlen, eingebettet in die Wärme <strong>de</strong>s Gemüts, das<br />
die Explosivkraft <strong>de</strong>r Erlebnisse dämpfte, war für <strong>de</strong>n Menschen Preyer<br />
ausschlaggebend. Da in seiner Brust keine zwei Seelen wohnten, konnte auch <strong>de</strong>r<br />
Schriftsteller Preyer nicht an<strong>de</strong>rs sein: <strong>zur</strong>ückhaltend trotz aller Bewegtheit,<br />
S. 83.<br />
110 Rudolf Hollinger,“ Preyer als Dramatiker“. In: Neue Banater Zeitung vom 29.12.1968.<br />
163
mißtrauend <strong>de</strong>n Brän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Lebens <strong>de</strong>r Schlacke wegen.“ Darin, „daß bei ihm<br />
unter maßvoll beherrschter Form oft ein Inhalt <strong>de</strong>s Unruhigen bro<strong>de</strong>lt“, sieht Reiter<br />
<strong>de</strong>n „be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch im Wesen Preyers.<br />
Zugleich sind ihm mit dieser Wesensart (so Reiter) die Grenzen seiner<br />
schriftstellerischen Spannweite gezogen. 111<br />
Das „Maßhalten“ wird von Reiter mit Sicherheit nicht zu Unrecht betont, ebenso in<br />
<strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Untersuchung <strong>de</strong>s Hannibal. Es ist jedoch auch höchste Zeit, die<br />
Dokumente gesammelt an die Öffentlichkeit zu bringen, die seinen Mut und sein<br />
ziviles wie öffentliches Engagement beleuchten, ob als Staatsbürger o<strong>de</strong>r als<br />
Dichter und Schriftsteller. Sonst wird man <strong>de</strong>r inhaltlichen Ehrlichkeit und Tiefe <strong>de</strong>s<br />
überwiegen<strong>de</strong>n Teils seiner literarischen Schriften nicht ganz gerecht.<br />
Geht man von <strong>de</strong>n heutigen Lesern aus, kann mit Blick auf die „echten Klassiker“,<br />
um so mehr auf solche, die ihnen nacheiferten, ohne die Aura <strong>de</strong>r Großen zu<br />
haben, folgen<strong>de</strong>s festgestellt wer<strong>de</strong>n: Heute teilen alle diese Werke ungefähr das<br />
gleiche Schicksal: Ein wissenschaftlicher Apparat ist nötig, um die Inhalte voll<br />
zugänglich zu machen. Für die anerkannten, ursprünglichen Klassiker und manche<br />
<strong>de</strong>r Epigonen ist diese Arbeit bereits geleistet, für an<strong>de</strong>re in Ansätzen o<strong>de</strong>r noch<br />
gar nicht. Schüler <strong>de</strong>s allgemeinbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterrichts, auch Gymnasiasten,<br />
stehen <strong>de</strong>r Behandlung solcher Historiendramen meist lustlos gegenüber, und es<br />
bedarf in <strong>de</strong>r Regel eines großen Aufwan<strong>de</strong>s an Zeit und mancherlei Hilfestellung,<br />
das Ganze als Abbild und Spiegelbild an<strong>de</strong>rer Zeitverhältnisse ein-sichtig zu<br />
machen, zugleich als Mittel verkappter Zeitkritik und (vermeintlich) zeitlos gültiger<br />
Wahrheiten. An<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r initiierte, geschichtlich und literaturgeschichtlich<br />
interessierte Leser. Bei ihm liegen die Chancen auch für die Ent<strong>de</strong>ckung Preyers<br />
als Verfasser von dramatischen, lyrischen und epischen Werken.<br />
Literatur<br />
[anonym, unter <strong>de</strong>r Chiffre „19.“]: „Besprechung <strong>de</strong>s Dramas Die Sulioten“ [Rubrik:<br />
Dramatische Bücherschau – Besprechung mehrerer neuer Dramen]. In: Blätter für<br />
literarische Unterhaltung, hg. von Rudolf Gottschall und Hermann Markgraff.<br />
Leipzig: Brockhaus, 1855, Nr.14 (1.04.), S. 246-252; (ebenda, etwas früher, die<br />
Besprechung <strong>de</strong>s Canova).<br />
Basch, Ferenc Antal [Franz Anton]: Preyer Nepomuk János egy elfele<strong>de</strong>tt bánáti<br />
német iró. [Joh.Nepomuk Preyer ein vergessener Banater <strong>de</strong>utscher Schriftsteller].<br />
Budapest: Pfeifer Ferdinand – féle könyvkereskedés (Zeidler testvérek) [=<br />
Német philologiai dolgozatok Nr. 34]; die Seitenangaben beziehen sich auf<br />
dieses Buch.<br />
Derselbe: die Dissertation, aufbewahrt in <strong>de</strong>r Handschriftenabteilung <strong>de</strong>r<br />
Szécsenyi-Bibliothek, (Schreibmaschine). Quarto Hung. Preyer Nepomuk János.<br />
Doktori Dissertatio. irta Basch F. A. [Pécs 1927], Nr. 3288.<br />
Berkeszi István: A Temesvári könyvnyomdászat és hirlapirodalom<br />
története.Temesvár 1900, S. 61-62. Man vgl. dazu einen Nachtrag Berkeszis im<br />
111 R. Reiter, „Der erste Banater, <strong>de</strong>r groß<strong>de</strong>utsch fühlte”. In: Südost<strong>de</strong>utsche<br />
Tageszeitung 1941 (Lv. 53).<br />
164
Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Auffin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r „Notizen“ durch Dr. A. Hermann En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
vergangenen Jahrhun<strong>de</strong>rts). In: Történelmi és Régeszeti Értesitö, 1901, S. 57-59.<br />
Gaszner, Josef: „J. N. Preyer. Dichter und Bürgermeister Temeschburgs“. In: Der<br />
Donauschwabe, 1970, Nr. 41 v. 11.10.<br />
Geier, Luzian: „Temeswarer in Wiener Zeitung. Das ‚Originalblatt‘ liefert neue<br />
Daten über Preyer“. In: Neue Banater Zeitung, 20.03.1974, S. 4.<br />
Grabbe, Christian Dietrich: Napoleon; Hannibal; Scherz, Satire, Ironie. Auswahl<br />
und Vorwort von Klaus Hammer. Bukarest: Kriterion, 1973.<br />
Grillparzers sämtliche Werke in 16 Bän<strong>de</strong>n. Einleitung von Alfred Klaar. Berlin-<br />
Leipzig, 1907, Band 9, S. 323-334.<br />
Haefs, Gisbert, Hannibal. Der Roman Karthagos. Bechtermünz Verlag, 1989,1995,<br />
Son<strong>de</strong>rausgabe 1999 (Wien). S. 673 (einschließlich: „Glossar“, „Chronologie“,<br />
„Karte“).<br />
Hebbel, Friedrich: Mein Wort über das Drama. 1843 In: Sämtliche Werke in 12<br />
Bän<strong>de</strong>n, Hrsg. A. Stein, Bd. 9, S. 7-53 Berlin-Leipzig: Knaur Nachf. o. J.<br />
Derselbe: „Über <strong>de</strong>n Stil <strong>de</strong>s Dramas“. 1847. Ebenda, S. 53-59.<br />
Hermann, Anton: „Az elsö szinházi újság Délvidéken [Die erste Theaterzeitschrift<br />
im Südosten]“. In: Történelmi és régészeti értesitö, Jg. XX (1904), I-III, S. 87 f.<br />
Hollinger, Rudolf: „Preyer als Dramatiker“. In: Neue Banater Zeitung, Temesvar,<br />
1968, 29.12.<br />
Hoppe, Karl: „Philosophie und Dichtung“. In: Stammler, Deutsche Philologie im<br />
Aufriß, 2., überarbeitete Auflage. Berlin: Erich-Schmidt-Verlag , Bd.3.<br />
Krischan, Alexan<strong>de</strong>r: Die „Temesvarer Zeitung“ als Banater Geschichtsquelle<br />
(1852-1949). München: Verlag <strong>de</strong>s Südost<strong>de</strong>utschen Kulturwerks (=Reihe B:<br />
Wissenschaftliche Arbeiten, Bd. 24) 1969.<br />
Derselbe: Deutsche periodische Literatur <strong>de</strong>s Banats 1771-1971. München. Verlag<br />
<strong>de</strong>s Südost<strong>de</strong>utschen Kulturwerks [Reihe B: Wissenschaftliche Arbeiten, hg.von<br />
Anton Schwob, Bd. 46], 1987.<br />
Liebhard, Franz (Pseudonym für Robert Reiter, s.dort): „Ein großer Mann <strong>de</strong>s<br />
Banats“. In: Neue Banater Zeitung, 1968, 21. und 28. 07.<br />
Milleker, Felix: Geschichte <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Theaters im Banat. Wrschatz: Verlag <strong>de</strong>r<br />
J. E. Kirchners Buchdruckerei, 1937.<br />
Pechtol, Maria [geb. Schütz]: Thalia in Temeswar. Die Geschichte <strong>de</strong>s Temeswarer<br />
<strong>de</strong>utschen Theaters im 18. und 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Bukarest: Kriterion 1972 [gekürzt,<br />
auf <strong>de</strong>r Grundlage ihrer Diss., Wien 1944].<br />
Petri, Anton Peter: Joseph Novak und die Bittschriften an <strong>de</strong>n Kaiser<br />
(=Südost<strong>de</strong>utsches Kulturwerk, Kleine Südostreihe, Nr. 5). München 1963.<br />
Reiter, Robert: „Der erste Banater, <strong>de</strong>r groß<strong>de</strong>utsch fühlte. Dichter und<br />
Bürgermeister Joh. Nepomuk Preyer. Zu seinem Geburtstag am 28.Oktober.“ In:<br />
Südost<strong>de</strong>utsche Tageszeitung. Banater Ausgabe. 1941, 28.10., S. 5.<br />
Stănescu, Heinz: „Preyers ‚Ver sacrum‘. Ein Temeswarer Bürgermeister Streiter für<br />
die 1848-49er Revolution, Kün<strong>de</strong>r einer besseren Zukunft“. In: Neuer Weg, 1956,<br />
Nr. 92 (12.04.).<br />
Derselbe (Hg.): Marksteine. Literaturschaffen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Banats. Temeswar: Facla<br />
Verlag, 1974; das Preyer gewidmete Kapitel: S.33-61; dazu S. 322 f. Anmerkungen<br />
und S. 329 Quellenangabe.<br />
165
Stein, J. [Conrad Jakob]: „Preyer als Dramatiker“. In: Schwäbischer Hausfreund,<br />
hg. vom Vetter Michel [=Pseud. für Adam Müller-Guttenbrunn] Temesvar, 7.Jg.<br />
(1918), S. 32-35.<br />
Täuber, Ra<strong>de</strong>gun<strong>de</strong>: „Vom ‚vergessenen Banater Schriftsteller‘. Bemerkungen zu<br />
<strong>de</strong>m Nachlaß <strong>de</strong>s einstigen Temeswarer Bürgermeisters J. N. Preyer“. In: Neue<br />
Banater Zeitung , 4.03.1973, S. 5.<br />
Dieselbe: „‚Hannibal‘ zwanzig Jahre früher“ (Gespräch mit NBZ-Redakteur Franz<br />
Schleich). In: Neue Banater Zeitung, 19.12. 1974, S. 3.<br />
Dieselbe: „J N. Preyer (1805-1888). Einige Daten aus seinem Leben und Wirken“.<br />
In: Forschungen <strong>zur</strong> Volks- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>, Bucuresti: Editura R. S. Romania,<br />
1975, Bd. 18/2, S. 89-102 (eingereicht im Juni 1973) – [Darin wer<strong>de</strong>n eine ganze<br />
Reihe von Briefen und Schriftstücken aus Archiven und Bibliotheken aus<br />
Temeswar, Budapest und Wien erstmals ausgewertet, mit Standortangabe und<br />
Signaturen. Das sind u.a.: 10 Briefe Preyers an Pesty Frigyes (1858-1883), ein<br />
Brief Pestys an ihn; vgl. Anm. 53; sodann Briefe Preyers an L. A. Frankl [Anm. ...),<br />
an Siegmund Ormos; Amtliches gez. von Mocsonyi, S. Vukovics , P. Veszelinovits,<br />
I. Murányi u. a. – Soweit sie in ungarischer Sprache verfaßt waren, hat Anton Titz<br />
(s. A. P. Petri, Lexikon, Lv. .., Sp. 1952 f.) die Übersetzung ins Deutsche besorgt.<br />
Des weiteren darin enthalten: Nebst einem kritischen Überblick über die mir bis<br />
dahin bekannte Preyer-Sekundärliteratur, erstmals ein <strong>de</strong>m damaligen<br />
Forschungsstand entsprechen<strong>de</strong>s Schriftenverzeichnis.]<br />
Dieselbe: J. N. Preyers i<strong>de</strong>ologische und politische Haltung, untersucht auf Grund<br />
seiner Schriften, Briefe und an<strong>de</strong>rer Zeitdokumente.(Masch., 90 S.) Temeswar,<br />
Januar 1975, [=„Erstes Referat“, vgl. dazu Anm. 1 b, S.1 dieser Arbeit. Verglichen<br />
mit <strong>de</strong>r Arbeit Lv. 76, wer<strong>de</strong>n darin zahlreiche neue Archivalien, vor allem aus <strong>de</strong>m<br />
Staatsarchiv in Temeswar, ausgewertet.]<br />
Dieselbe: Johann Nepomuk Preyer. Sein Leben und Werk in Wort und Bild.<br />
Bukarest: Kriterion Verlag, 1977, S. 95 + 28 S. Bildteil.<br />
Dieselbe: „Beachtenswerter Journalist und Theaterkritiker“ [= erste Biographie Carl<br />
Stiellys]. In: Neue Banater Zeitung, Temeswar, Teil I und II (15.12.1977, S. 2-3<br />
und 20.04.1978, S. 2-3). Dr. A. P. Petri entnahm diesem Artikel die Daten für das<br />
Biographische Lexikon <strong>de</strong>s Banater Deutschtums (1992), Sp.1875.<br />
Dieselbe: Temeswarer Kulturreflexe aus <strong>de</strong>n Jahren 1825-1828. Untersuchung<br />
<strong>zur</strong> Banater Kulturgeschichte. Timisoara, Universitätsdruckerei Reihe:<br />
Literaturseminar Nr. 10, 1978, S. III + 37.<br />
Dieselbe: „Im Geiste <strong>de</strong>s Vormärz. ‚Iris‘ und ‚Banater Zeitschrift‘ ein Kapitel<br />
Temeswarer Kulturgeschichte <strong>de</strong>s 19.Jarhun<strong>de</strong>rts (Teil I) Theaterkritik mit eigenem<br />
Programm (Teil II)“ In: Neuer Weg, 4.03.1978, S. 4 und 11.03.1978, S. 3 – .4<br />
Dieselbe: „Die ‚Notizen‘ – erste Theaterzeitschrift <strong>de</strong>s Banats“. In: Neue Banater<br />
Zeitung, NBZ-Kulturbote, 19.Januar 1978. Die erste Kurzmeldung über die<br />
Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung durch die Verfasserin kam einer kleinen Sensation gleich und<br />
wur<strong>de</strong> daher im Übereifer <strong>de</strong>r Redaktion unter die inhaltlich nicht zutreffen<strong>de</strong><br />
Überschrift gestellt: Älteste Theaterzeitschrift Südosteuropas ent<strong>de</strong>ckt [müßte<br />
lauten: “wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckt“ , s. Lv. Hermann, Anton]; an dieser Stelle die erste<br />
Fotoreproduktion einer Seite dieses Blattes. In: NBZ, 29.12.1977, S. 3.<br />
Dieselbe: Eine erste ausführliche Untersuchung <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen neun Nummern<br />
<strong>de</strong>r Notizen (II-X, 1.12.1828 bis 1.04.1829, <strong>de</strong>r S. 5-39, bei doppelter S. 38) wur<strong>de</strong><br />
166
gelegentlich <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Tagung an <strong>de</strong>r Universität<br />
Temeswar/Timişoara im Mai 1978 als Referat präsentiert (Masch., 24 S.); Vortrag<br />
zum gleichen Thema im Rahmen <strong>de</strong>r Tagung ADL / Sin<strong>de</strong>lfingen am 22.10.1983<br />
Mitberücksichtigt wur<strong>de</strong>n auch die Hermannstädter „Notizen über die dramatischen<br />
Leistungen <strong>de</strong>r Bühnen-Gesellschaft unter Direction <strong>de</strong>r Herren J. B. Hirschfeld<br />
und F. Herzog, während <strong>de</strong>s Sommerkurses 1828 zu Hermannstadt“. Redaktion F.<br />
F. Gömmel / Beiblatt <strong>de</strong>s Siebenbürger Bothen. Standort: Bruckenthalbibliothek,<br />
Sign.P V. 4.<br />
Wettel, Franz: Ge<strong>de</strong>nkblätter (=Deutschbanater Volksbücherei Nr. 29) Temesvar<br />
1918, S. 16-25.<br />
Derselbe: Vorwort <strong>zur</strong> Neuauflage <strong>de</strong>s Trauerspiels „Hannibal“- (=Deutschbanater<br />
Volksbücher Nr. 10.). – Temesvar o. J. [1913] – Die Zitate sind dieser Ausgabe<br />
entnommen.<br />
167
168
KINGA GÁLL<br />
TEMESWAR<br />
Ein Presseangebot <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts – das Temesvarer<br />
Wochenblatt<br />
Die Anfänge <strong>de</strong>s Temeswarer Presseschreibens gehen auf das 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
<strong>zur</strong>ück. Im Jahre 1771 erscheinen die Temewarer Nachrichten, etwas später,<br />
1784, die Temeswarer Zeitung und <strong>de</strong>r Temeswarer Merkur.<br />
Doch nach diesem für jene Zeit und für diese Stadt vielversprechen<strong>de</strong>n Anfang<br />
verlief die weitere Entwicklung <strong>de</strong>r Banater Presse we<strong>de</strong>r konstant noch<br />
hemmungslos. Einige (sozusagen typische) Hin<strong>de</strong>rnisse stan<strong>de</strong>n ihr nämlich im<br />
Wege.<br />
Ein hin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Faktor war die politische Lage <strong>de</strong>s Banats, bzw. seine politische<br />
Abhängigkeit. Daraus ergab sich unmittelbar das Wirken <strong>de</strong>r Zensur, <strong>de</strong>r alle hier<br />
erscheinen<strong>de</strong>n Publikationen unterworfen waren.<br />
Daß die Presse nicht gleich an ihren Anfängen auf zahlreiche Anhänger traf,<br />
geschah auch wegen <strong>de</strong>r auf diesem Gebiet sehr verbreiteten Briefliteratur. Die<br />
Bewohner verschie<strong>de</strong>ner Gegen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Banats informierten sich gegenseitig<br />
gerne und sehr oft brieflich über verschie<strong>de</strong>ne Ereignisse und Neuigkeiten, so daß<br />
sie nicht unbedingt auf "offizielle" Informationen angewiesen waren.<br />
Schließlich ergab sich auch aus <strong>de</strong>r sprachlichen Vielfalt dieses Gebietes ein<br />
Hin<strong>de</strong>rnis, u. zw. ein wirklich typisches: Das nicht beson<strong>de</strong>rs zahlreiche<br />
Leserpublikum bestand hauptsächlich aus Intellektuellen, die ihrerseits aktive<br />
Sprecher von 3 – 4 verschie<strong>de</strong>nen Sprachen waren. Zwar konnte diese Tatsache<br />
auch <strong>de</strong>n Vorteil besessen haben, daß zu <strong>de</strong>n Lesern einer <strong>de</strong>utschsprachigen<br />
Publikation nicht nur primär Deutschsprachige zählten, jedoch eben diese konnten<br />
ihr Interesse auch an<strong>de</strong>rssprachigen Zeitungen o<strong>de</strong>r Zeitschriften zuwen<strong>de</strong>n.<br />
Diese Situation führte einerseits <strong>zur</strong> Konkurrenz zwischen diesen, doch<br />
an<strong>de</strong>rerseits kamen auf eine Publikation wenige Leser und das hatte <strong>de</strong>ren hohen<br />
Preis <strong>zur</strong> Folge. Der hohe Preis wie<strong>de</strong>rum be<strong>de</strong>utete weniger Leser und damit<br />
erschwerte Existenzmöglichkeiten <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Publikation.<br />
Vor 1848 hatte Temeswar nie gleichzeitig mehr als ein Presseorgan in <strong>de</strong>utscher<br />
Sprache und bis 1830 waren die Temeswarer Publikationen meist kurzlebig und<br />
inhaltsarm. Erst nach 1849 wird Temeswar ein <strong>de</strong>utsches Pressezentrum: 1851<br />
erscheint hier das Regierungsblatt, 1852 die Temesvarer Zeitung. Das Temesvarer<br />
Wochenblatt (TW) war eine <strong>de</strong>r langlebigsten Publikationen Temeswars und <strong>de</strong>s<br />
Banats überhaupt, die vor 1848 erschienen ist, und die auch die Revolution<br />
"überlebt" hat.<br />
Gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong> diese Zeitschrift im Jahre 1805 von Ludwig Jonas. Sie erschien<br />
weniger als ein Jahr, erhalten geblieben sind keine Exemplare dieser<br />
169
Erstlingserscheinung.<br />
Im März 1831 gibt Josef Beichel das Temeswarer Wochenblatt (TW) heraus, das<br />
er als ein ausgesprochenes Anzeige – Blatt vorsieht. Es sollte Anzeigen enthalten,<br />
amtliche "Kundmachungen", Wirtschafts- und Han<strong>de</strong>lsnachrichten.<br />
Kulturinformationen (Bücheranzeigen, Ankündigung von Theater- und<br />
Opernaufführungen) und Literatur waren <strong>de</strong>r Zeitschrift sekundär. Diese zweite<br />
Existenzetappe <strong>de</strong>s TW dauerte bis Juli 1840.<br />
Am 4. Juli erscheint die neue Variante <strong>de</strong>s TW mit Josef Beichel als Herausgeber<br />
und Josef Klapka als Redakteur. Das Erscheinen <strong>de</strong>s TW in dieser neuen Form<br />
war möglich, da ab April 1840 die ungarische Regierung <strong>de</strong>r Presse mehr Freiheit<br />
gewährt hatte.<br />
Josef Klapka begrün<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m TW das mo<strong>de</strong>rne Presseschreiben im Banat.<br />
Seine Zielsetzungen sind Objektivität, Nützlichkeit und Aktualität. Ab <strong>de</strong>m ersten<br />
Jahrgang (d. h. 1840) trägt die je<strong>de</strong>n Samstag erscheinen<strong>de</strong> Zeitschrift <strong>de</strong>n<br />
vollständigen Titel Temeswarer Wochenblatt. Zeitschriftliches für Wissen, Kunst<br />
und Industrie, danach (ab Nr. 1/1843) Temeswarer Wochenblatt für nützliche<br />
Unterhaltung und heimatliche Interessen.<br />
Durch seinen Untertitel hat das TW auch seine Interessenbereiche abgesteckt. Es<br />
hatte jetzt ein verän<strong>de</strong>rtes Profil und ein journalistisch bemerkenswertes Niveau.<br />
Vom publizistischen Standpunkt aus hat das Blatt für die hiesige <strong>de</strong>utschsprachige<br />
Presse Maßstäbe gesetzt, die nur von wenigen <strong>de</strong>r ihr nachfolgen<strong>de</strong>n<br />
Publikationen (z. B. Temesvarer Zeitung) erreicht wur<strong>de</strong>n. Eine solche Schrift<br />
entsprach <strong>de</strong>m wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungsstand <strong>de</strong>s<br />
einheimischen Bürgertums.<br />
Das TW hatte stabile Mitarbeiter, die auch aus an<strong>de</strong>ren Städten (Wien, Pest, Arad,<br />
Lugosch, Oravitz u. a.) regelmäßig Berichte einsandten. Josef Klapka war<br />
Redakteur <strong>de</strong>s TW bis 1846, nach ihm folgte, bis 1848, Dr. David Wachtel und für<br />
die gebliebene kurze Erscheinungszeit Moritz Stockinger. Während <strong>de</strong>r<br />
Belagerung Temeswars hat das TW nämlich seine Tätigkeit eingestellt: die letzte<br />
Nummer ist jene vom 27. Juli 1849. In <strong>de</strong>n letzten Monaten seines Erscheinens<br />
(vom 1. Januar 1849) wur<strong>de</strong> das Blatt wöchentlich zweimal herausgebracht –<br />
mittwochs und sonntags –, um <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Leser zu entsprechen, also<br />
im Interesse <strong>de</strong>r Abonnenten.<br />
Ein letzter Versuch, das TW herauszugeben, wird im Jahre 1862 gemacht. Unter<br />
<strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>s verantwortlichen Redakteurs Karl Gustav Förk erscheint am 1.<br />
Oktober 1862 das Temesvarer Wochenblatt für Unterhaltung, Han<strong>de</strong>l, Industrie<br />
und Gewerbe. Es sollte die Fortsetzung <strong>de</strong>s alten TW sein, doch diese zweimal<br />
wöchentlich (mittwochs und samstags) erscheinen<strong>de</strong> Zeitschrift war <strong>zur</strong><br />
Kurzlebigkeit verurteilt: Im Dezember 1865 o<strong>de</strong>r Januar 1866 hört sie auf zu<br />
erscheinen.<br />
Die Blütezeit <strong>de</strong>s TW stellt die Perio<strong>de</strong> 1840 – 1849 dar, und die in diesem<br />
Zeitraum erscheinen<strong>de</strong>n Nummern sind repräsentativ für das Blatt überhaupt.<br />
Die in <strong>de</strong>r Dokumentationsabteilung <strong>de</strong>s Temeswarer Stadtarchivs auffindbaren<br />
Nummern (179 an <strong>de</strong>r Zahl, vom 4. Januar 1845 bis zum 27. Juni 1849) lassen<br />
folgen<strong>de</strong>s Bild <strong>de</strong>r Struktur und <strong>de</strong>s Inhalts erkennen:<br />
Das TW bestand aus zwei streng voneinan<strong>de</strong>r abgegrenzten Teilen. Der erste Teil<br />
umfaßte Geistiges und bestand seinerseits aus mehreren Abschnitten. Den<br />
170
zweiten Teil bil<strong>de</strong>te <strong>de</strong>r Anhang, <strong>de</strong>r aus zahlreichen Anzeigen bestand. Diese<br />
sicherten <strong>de</strong>m Blatt eine soli<strong>de</strong> Existenzgrundlage.<br />
Der erste Teil glie<strong>de</strong>rte sich in zwei Abschnitte auf insgesamt ca. 8 Seiten, die<br />
literarische und publizistische Texte umfaßten. Im ersten (Haupt)Abschnitt nahm<br />
<strong>de</strong>r unterhalten<strong>de</strong> Teil eine wichtige Stelle ein. Mit Erzählungen, Novellen,<br />
Märchen, Legen<strong>de</strong>n, Übersetzungen, Gedichten, Beiträgen aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaften und <strong>de</strong>r Künste und an<strong>de</strong>ren volkserzieherischen Inhalts war er<br />
populär-unterrichtend und be<strong>de</strong>utend in <strong>de</strong>r Verbreitung schöngeistiger Literatur.<br />
Der zweite Abschnitt, Feuilleton und ab 1846 auch Bazar genannt, war von einem<br />
gemütlich – humorvollen Ton geprägt und bestand hauptsächlich aus<br />
unterhalten<strong>de</strong>n Texten, polemischen Artikeln und verschie<strong>de</strong>nen Nachrichten. Da<br />
fin<strong>de</strong>n wir Titel wie z.B. Repertoire für Scherz und Ernst, Literarisches,<br />
Tagsbegebenheiten, Papierschnitzeln, Miscellen (Anekdoten), Medicinisches,<br />
Naturhistorisches, Meteorologisches, Industrielles, Musikalisches, (Temesvarer)<br />
Theaterchronik, Juridisches, Rococo (Kuriositäten vergangener Jahrhun<strong>de</strong>rte),<br />
Literarisch – artistische Revue, Geographische, statistische und naturhistorische<br />
Kuriosa, Gemeinnütziges (praktische Ratschläge), Temesvarer Potpourri,<br />
Interessantes und Piquantes, Silhouetten, Tutti Frutti, Welt – Telegraph,<br />
Verstorbene (nach Religion, oft mit Angabe <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sursache und <strong>de</strong>s Stadtteils),<br />
Lokales, Korrespon<strong>de</strong>nz (Nachrichten aus jenen Städten, in <strong>de</strong>nen das TW<br />
Korrespon<strong>de</strong>nten beschäftigte) u.a.<br />
Der zweite Teil <strong>de</strong>s TW, <strong>de</strong>r Anhang, bestand aus Anzeigen aller Art:<br />
Kundmachungen (hauptsächlich Werbeanzeigen o<strong>de</strong>r Anzeigen von allgemeinem<br />
Interesse) , Ball – Anzeigen, Licitations – Anzeigen, Dienstanerbietungen,<br />
Rekommendationen (Kauf- und Verkaufanzeigen), Vermiethungen,<br />
Danksagungen, Verkaufs- und Literarische Anzeigen (z.B. für neuerschienene<br />
Bücher), Dampfschifffahrt, Anzeige <strong>de</strong>r Eilfahrt zwischen Temesvar und <strong>de</strong>m<br />
Badorte Mehadia, Eilfahrt zwischen Temesvar und Pest, Frucht – Verkauf a la<br />
minuta u.ä.<br />
Ab <strong>de</strong>m 1. April 1848 enthält <strong>de</strong>r Abschnitt Feuilleton auch die Rubrik<br />
Vaterländisches. Man versuchte, durch die unter diesem Titel erscheinen<strong>de</strong>n<br />
Mitteilungen das Leserpublikum auf <strong>de</strong>m laufen<strong>de</strong>n zu halten. In jener bewegten<br />
Zeit hatte das TW eine grundsätzlich <strong>de</strong>mokratisch – fortschrittliche Haltung. Es<br />
war kein politisches Blatt, doch es konnte seine politische Einstellung, die eine<br />
liberale war, nicht verleugnen. Die Informationen <strong>de</strong>s vorletzten bzw. letzten<br />
Jahrgangs spiegeln das Interesse und die Einstellung <strong>de</strong>r hiesigen Bevölkerung<br />
jenen Ereignissen gegenüber wi<strong>de</strong>r, die aus unserer Perspektive betrachtet<br />
nunmehr ein Stück Geschichte darstellen. Ab Januar 1849 gibt es Schlagzeilen wie<br />
Der neue Monarch Franz Joseph I., ein neuer Hoffnungsstern für alle seinem<br />
Scepter unterworfenen Völker; Vom ungarischen Kriegsschauplatze; General Bem;<br />
Viribus unitis!; Uiber Konfiscationen; Manifest an die Ungarn; Manifest an die<br />
serbische Nation; Aufruf an die e<strong>de</strong>lherzigen und menschenfreundlichen<br />
Bewohnerinnen Temesvar's und <strong>de</strong>s ganzen Banat's; Betrachtungen über die<br />
gegenwärtige Lage unseres Vaterlan<strong>de</strong>s, Armee-Bulletin; Nachrichten vom<br />
Kriegsschauplatze (mit eventuellen Siegesnachrichten) und periodisch<br />
Verzeichnisse über die von <strong>de</strong>n Einwohnern Temeswars eingesandten<br />
Verbandstücken.<br />
171
Das Temesvarer Wochenblatt hat keine leichte Existenz gehabt. Seine<br />
Herausgeber und Redakteure mußten Pionierarbeit leisten auf einem Gebiet, das<br />
auf wirtschaftliche und politische Hin<strong>de</strong>rnisse wohl am empfindlichsten reagiert.<br />
Ihre publizistische Leistung gewinnt aber dadurch an Be<strong>de</strong>utung, und das damit<br />
verbun<strong>de</strong>ne Verdienst wird beträchtlich erhöht: Sie haben die Grundsteine <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Presse im Banat gelegt und gleichzeitig ein Leserpublikum ausgebil<strong>de</strong>t,<br />
das, sehr bald an Qualität gewöhnt, durch seine Ansprüche weiterhin das Niveau<br />
aller folgen<strong>de</strong>n Publikationen unwillkürlich bestimmte.<br />
Literatur<br />
Berkeszi, István: A Temesvári könyvnyomdászat és hírlapirodalom története (Die<br />
Geschichte <strong>de</strong>r Buchdruckerei und <strong>de</strong>s Zeitungswesens in Temeswar), Temesvár,<br />
Csanád – Egyházmegyei könyvnyomda 1900.<br />
Engel, Walter: Deutsche Literatur im Banat (1840 – 1939). Der Beitrag <strong>de</strong>r<br />
Kulturzeitschriften zum banatschwäbischen Geistesleben, Julius Groos Verlag,<br />
Hei<strong>de</strong>lberg 1982.<br />
Krischan, Alexan<strong>de</strong>r: Deutsche periodische Literatur <strong>de</strong>s Banats. Zeitungen –<br />
Zeitschriften – Kalen<strong>de</strong>r 1771 – 1971, Verlag <strong>de</strong>s südost<strong>de</strong>utschen<br />
Kulturwerks, München 1987.<br />
Temesvarer Wochenblatt: Jahrgang 5 – 4. Januar 1845 bis Jahrgang 9 – 27. Juni<br />
1849. (Dokumentationsabteilung <strong>de</strong>r Kreisbibliothek Temeswar.)<br />
172
EDUARD SCHNEIDER<br />
MÜNCHEN<br />
Der Temeswarer Germanist Otto Kein (1904-1939). Spiegelungen<br />
seines Lebens und Wirkens in Presse<strong>beiträge</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit<br />
Im Herbst 1931 brachte die Temesvarer Zeitung aus Berlin die Meldung, daß die<br />
Zeitschrift Die literarische Welt die Frage aufgeworfen habe, ob <strong>de</strong>nn das Goethe-<br />
Jahr 1932 gefeiert wer<strong>de</strong>n solle. Als würdigste Form <strong>de</strong>r Feier schlug sie ...<br />
Schweigen vor. In diese Diskussion griff, wie das Temeswarer Blatt weiter<br />
berichtet, etwas ungehalten auch Thomas Mann ein, in<strong>de</strong>m er auf die weltweiten<br />
Vorbereitungen zum Ge<strong>de</strong>nkfest z. B. in Frankreich und <strong>de</strong>n USA verwies und<br />
dann meinte:<br />
Deutschland soll sich in düster viel<strong>de</strong>utiges Schweigen hüllen? Es geht nicht. Es ist<br />
nicht tunlich. Wir wür<strong>de</strong>n unsere Ungeheuerlichkeit auf die Spitze treiben. So gut<br />
und schlecht es gehen möge, müssen wir uns schließlich als gesittete Menschen<br />
benehmen. 1<br />
Den Standpunkt <strong>de</strong>s humanistischen <strong>de</strong>utschen Schriftstellers und<br />
Nobelpreisträgers eignete sich auch die zitierte Temesvarer Zeitung an, das<br />
damals größte <strong>de</strong>utschsprachige Tageblatt Rumäniens, <strong>de</strong>m Thomas Mann ein<br />
Jahr zuvor, zum 80. Jubiläum, in einem Brief bescheinigt hatte, daß es "als Organ<br />
<strong>de</strong>utschen Denkens und <strong>de</strong>utschen Kulturgefühls" seinen Lesern die<br />
Zeitgeschichte vermittelt und kommentiert habe. 2 Bereits in ihrer<br />
Weihnachtausgabe 1931 wies die Zeitung mit einem größeren essayistischen<br />
Beitrag unter <strong>de</strong>m Titel „Der 100. To<strong>de</strong>stag <strong>de</strong>s Dichters <strong>de</strong>r Menschheit“ auf das<br />
bevorstehen<strong>de</strong> Goethe-Jahr hin. Den Aufsatz zeichnete <strong>de</strong>r damals<br />
siebenundzwanzigjährige Temeswarer Gymnasiallehrer Dr. Otto Kein 3 , <strong>de</strong>r unter<br />
<strong>de</strong>n Banater Germanisten seiner Zeit zweifellos <strong>de</strong>r berufenste war, über diesen<br />
Repräsentanten <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Geisteslebens eine <strong>de</strong>m Anlaß gerecht wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Würdigung zu schreiben. Das Goethe-Jahr 1932, das dann mit Deutschland die<br />
ganze Welt feierte, wur<strong>de</strong> auch in Rumänien und von <strong>de</strong>n Deutschen in Rumänien<br />
begangen, auch im Banat. Schon vor <strong>de</strong>m eigentlichen Ge<strong>de</strong>nktag am 22. März<br />
fan<strong>de</strong>n Veranstaltungen statt. Dazu gehörten die Goethe-Feiern im Temeswarer<br />
<strong>de</strong>utschen Konsulat, die von Dr. Arthur Busse, <strong>de</strong>m damaligen Konsul, einem<br />
1 „Schweigen über Goethe?“. In: Temesvarer Zeitung, 19. September 1931, S. 6.<br />
2 „Thomas Mann, einer <strong>de</strong>r größten Literaten unserer Zeit, an die Temesvarer Zeitung“. In:<br />
Temesvarer Zeitung , 25. Dezember 1930, S. 24.<br />
3 „Dr. Otto Kein: Das Goethejahr 1932. Der 100. To<strong>de</strong>stag <strong>de</strong>s Dichters <strong>de</strong>r Menschheit“. In:<br />
Temesvarer Zeitung, 25. Dezember 1931, S. 6-7.<br />
173
Diplomaten mit schöngeistigem Interesse, vorbereitet wor<strong>de</strong>n waren. 4 An einem<br />
dieser Aben<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m u. a. Diözesanbischof Dr. Augustin Pacha und<br />
Komitatspräfekt Octavian Furlugeanu beiwohnten, hielt Otto Kein <strong>de</strong>n Festvortrag.<br />
Die Zeitung schreibt darüber:<br />
Der Professor am staatlichen <strong>de</strong>utschen Realgymnasium [d. i. das heutige<br />
Nikolaus-Lenau-Lyzeum, Anm. E. Sch.] Dr. Otto Kein, dieser philosophisch<br />
durchgebil<strong>de</strong>te junge Gelehrte war es, <strong>de</strong>r diesmal <strong>de</strong>n Geist Goethes wachrief und<br />
das distinguierte Auditorium <strong>zur</strong> Einkehr und geistigen Mitbetätigung anregte. Aus<br />
seiner Doktordissertation: Goethes Pantheismus – auch an ausländischen<br />
Universitäten gesucht – schöpfend, legte Prof. Kein das naturwissenschaftliche<br />
Glaubensbekenntnis Goethes, seine philosophische Denkart über Zweck und Sinn<br />
<strong>de</strong>s Lebens dar. [...] Weit und tiefgreifend erörterte <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong> das<br />
unermeßliche Wirken Goethes, wie sich sein Ich zu einer harmonisch<br />
abgeschlossenen Persönlichkeit entfaltete, wie sein edler Geist für das<br />
wissenschaftliche, künstlerische und praktische Leben befruchtend wirkte. 5<br />
Die im Bericht erwähnte, an <strong>de</strong>r Philosophischen Fakultät zu Klausenburg<br />
vorgelegte Dissertation Goethes Pantheismus von Otto Kein war 1930 in<br />
Temeswar im Druck erschienen. 6 In seinem Zeitungsbeitrag über <strong>de</strong>n "Dichter <strong>de</strong>r<br />
Menschheit" schreibt <strong>de</strong>r Goethe-Kenner:<br />
Unzählige, von regem Wissensdrang beseelte Forscher waren bestrebt, die<br />
Rätseltiefen seines Genius zu ergrün<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n unendlichen Reichtum seines<br />
Geistes zu erfassen und zugleich auf <strong>de</strong>n tiefen Zusammenhang hinzu<strong>de</strong>uten, <strong>de</strong>r<br />
ihn mit <strong>de</strong>n großen Denkern aller Zeiten verbin<strong>de</strong>t. 7<br />
Zu <strong>de</strong>n zeitgenössischen, von "regem Wissensdrang beseelten Forschern", die<br />
darum bemüht waren, Goethes Werk in diesem Sinn auszuloten, gehörte auch <strong>de</strong>r<br />
junge Banater Geisteswissenschaftler Otto Kein. In seiner Arbeit über <strong>de</strong>n<br />
Pantheismus ist es zuerst das Werk Spinozas, das er mit <strong>de</strong>m Goethes in<br />
Beziehung setzt, um nachzuweisen, daß <strong>de</strong>r Dichter sein pantheistisches Weltbild<br />
durch Abgrenzung von <strong>de</strong>r Naturphilosophie seines verehrten Lehrmeisters<br />
Spinoza entwickelt habe. Danach streicht Kein aufgrund seiner Recherchen die<br />
grundlegen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung heraus, die <strong>de</strong>r Begegnung Goethes mit <strong>de</strong>r Philosophie<br />
Schellings zukomme. Auch in seinem Essay zum Ge<strong>de</strong>nkjahr geht er auf diese<br />
Problemstellungen ein und faßt darin seine bis dahin gewonnenen Einsichten noch<br />
einmal zusammen. "Aber Goethe", urteilte er,<br />
war zu groß, um nur Schüler zu sein. Nicht <strong>de</strong>n Anfang, nicht die Mitte, selbst nicht<br />
das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s in strenggeschlossenen Linien gezeichneten Systems, nur <strong>de</strong>n<br />
Kulminationspunkt, das wonnevolle Schauen, das kontemplative Sinnen machte er<br />
sich mit weitumfassen<strong>de</strong>m Blicke klar und das ernste Bestreben, als Erster Natur<br />
und Geist in Harmonie zu versöhnen. Der unergründliche Reiz, die Stille <strong>de</strong>s<br />
Gedankenbaues haben auf das faustische Streben <strong>de</strong>r eigenen Seele besänftigend<br />
4<br />
Vgl. dazu <strong>de</strong>n Bericht von G.[abriel] S.[árkány]: „Goethe-Feier beim <strong>de</strong>utschen Konsul“. In:<br />
Temesvarer Zeitung, 5. Januar 1932, S. 4.<br />
5<br />
G.[abriel] S.[árkány]: „Zweiter Goethe-Abend beim <strong>de</strong>utschen Konsul Busse“. In:<br />
Temesvarer Zeitung, 23. Februar 1932, S. 4.<br />
6<br />
Otto Kein: Goethes Pantheismus. Inaugural-Dissertation <strong>zur</strong> Erlangung <strong>de</strong>r Doktorwür<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Philosophischen Fakultät zu Cluj-Klausenburg, Rumänien. Druck <strong>de</strong>r Gutenberg-<br />
Buchdruckerei Timişoara 1930.<br />
7<br />
O. Kein (Anm. 3), S. 6.<br />
174
gewirkt, sie waren <strong>de</strong>r Zauber, <strong>de</strong>r ihn so mächtig gefesselt. Aber verschie<strong>de</strong>n<br />
blieben ihre Welten, <strong>de</strong>r Stern, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Dichter so be<strong>de</strong>utungsvollen Einfluß auf<br />
das Entstehen <strong>de</strong>s Genius zugewiesen, war ein an<strong>de</strong>rer bei <strong>de</strong>m weltfernen<br />
Denker, <strong>de</strong>r abseits und verkannt von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>n Himmel nur im Gemüte trug, als<br />
bei <strong>de</strong>m Weltkind, das von allen geistigen Bestrebungen berührt, im Mittelpunkt <strong>de</strong>s<br />
gesellig pulsieren<strong>de</strong>n Lebens stand. 8<br />
Wie in <strong>de</strong>r Dissertation behan<strong>de</strong>lt Kein dann auch in <strong>de</strong>m Presseaufsatz Goethes<br />
Beziehung <strong>zur</strong> Philosophie Schellings, die "in zün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Sprache, mit blühen<strong>de</strong>r<br />
Kraft vorgetragen, ein neues Evangelium <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r<br />
Persönlichkeit verkün<strong>de</strong>t." Im Bun<strong>de</strong> mit Schelling, schlußfolgert <strong>de</strong>r Forscher in<br />
<strong>de</strong>r Temesvarer Zeitung, beginne <strong>de</strong>r Höhepunkt <strong>de</strong>r Goethischen Spekulation,<br />
und nie habe sich <strong>de</strong>r Dichter<br />
allzuweit von <strong>de</strong>m Genius getrennt, <strong>de</strong>r ihm auch in aufrichtigster Bewun<strong>de</strong>rung<br />
ergeben blieb. Gemeinsam ist bei<strong>de</strong>n die organische Auffassung, ohne die auch<br />
das Wesen <strong>de</strong>r Goethischen Dichtkunst ein unergründliches Rätsel bleibt. 9<br />
Die Beschäftigung mit Goethe und Schelling, die in seiner Dissertation zu ersten<br />
Erkenntnissen führte, hat Otto Kein konsequent, zielstrebig und mit<br />
wissenschaftlicher Sorgfalt fortgesetzt und ausgeweitet. Das Ergebnis war ein über<br />
500 Seiten starkes materialreiches Opus Die Universalität <strong>de</strong>s Geistes im<br />
Lebenswerk Goethes und Schellings, das 1933, also nur drei Jahre nach <strong>de</strong>m<br />
Pantheismus-Buch, im Berliner philosophischen Fachverlag Junker und Dünnhaupt<br />
erschienen ist. 10 Es gilt als das Hauptwerk von Otto Kein. Sein beson<strong>de</strong>rer Wert<br />
besteht darin, daß es Goethes "tiefgründige Kongenialität mit <strong>de</strong>m Natur- und<br />
I<strong>de</strong>ntitätsphilosophen Schelling" erstmals auf systematisch-wissenschaftlicher<br />
Basis nachweist, urteilte <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Forscher befreun<strong>de</strong>te Anton Valentin in<br />
einem 1957 in <strong>de</strong>n Südost<strong>de</strong>utschen Heimatblättern (München) veröffentlichten<br />
Beitrag, in <strong>de</strong>m das Gesamtwerk <strong>de</strong>s Banater Gelehrten zum ersten Mal im<br />
Überblick präsentiert wird. 11 Derselbe Autor hatte das Buch über Goethe und<br />
Schelling auch bei seinem Erscheinen in <strong>de</strong>r Temeswarer Zeitschrift Banater<br />
Monatshefte besprochen und befun<strong>de</strong>n, daß es das Höchste darstelle, "was bis<br />
heute [1933] auf wissenschaftlichem Gebiete im Banate geleistet wur<strong>de</strong>." 12<br />
Immerhin han<strong>de</strong>lte es sich dabei um das Werk eines damals nicht ganz<br />
Dreißigjährigen.<br />
Kein, <strong>de</strong>r über Goethe <strong>zur</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Schelling gelangt war, wandte<br />
sich in <strong>de</strong>r Folge als Forscher schwerpunktmäßig <strong>de</strong>m Werk dieses Philosophen<br />
zu. Er arbeitete sehr angespannt und gönnte sich kaum ein Privatleben. Seine<br />
Freizeit und zahllose Nächte verbrachte er am Schreibtisch, <strong>de</strong>nn tagsüber hatte er<br />
ja seiner Lehramtstätigkeit nachzukommen.<br />
8 Ebenda.<br />
9 Ebenda, S. 7.<br />
10 Otto Kein: Die Universalität <strong>de</strong>s Geistes im Lebenswerk Goethes und Schellings. Im<br />
Zusammenhang mit <strong>de</strong>r organisch-synthetischen Geistesrichtung <strong>de</strong>r Goethe-Zeit. Junker<br />
und Dünnhaupt-Verlag Berlin 1933, 520 Seiten.<br />
11 Anton Valentin: “Goethe und Schelling im Lebenswerk <strong>de</strong>s Banater Wissenschaftlers Dr.<br />
Otto Kein“. In: Südost<strong>de</strong>utsche Heimatblätter 6 (1957) H. 2, S. 71-74, hier S. 73.<br />
12 Ders.: „Auf neuen Spuren <strong>de</strong>r Goetheforschung“. In: Banater Monatshefte 1 (1933), Heft<br />
3, S. 92-95.<br />
175
Das ausgebreitete Studium, das er neben <strong>de</strong>n Berufspflichten jahrelang betrieb,<br />
untergrub seine Gesundheit. Ferien kannte er nicht, <strong>de</strong>nn in dieser Zeit weilte er in<br />
Berlin, um in <strong>de</strong>r Preußischen Staatsbibliothek die einschlägige Fachliteratur<br />
studieren zu können. Der zartgebaute Körper war <strong>de</strong>r gewaltigen Geistesarbeit auf<br />
die Dauer nicht gewachsen. Schon seit 1937 mußte er <strong>de</strong>m Rate seines Arztes<br />
folgen und seine außerberuflichen Studien stark einschränken,<br />
heißt es 1964 in einer von Anton Peter Petri gezeichneten biographischen<br />
Darstellung. 13 Die Ergebnisse <strong>de</strong>r Recherchen aus <strong>de</strong>n frühen dreißiger Jahren<br />
fan<strong>de</strong>n in Otto Keins großangelegter Studie Das Apollinische und Dionysische bei<br />
Nietzsche und Schelling (1935) ihren Nie<strong>de</strong>rschlag. Auch in <strong>de</strong>r lokalen<br />
Kulturzeitschrift Banater Monatshefte ließ er einzelne Beiträge erscheinen. Der<br />
Brief eines Urenkels von Schelling, <strong>de</strong>r ihm von Deutschland aus für seine<br />
Bemühungen um das Werk <strong>de</strong>s Philosophen dankte, hat <strong>de</strong>n jungen Gelehrten bei<br />
seiner Arbeit sicher ermuntert. Doch auch die Fachwelt reagierte mit wachsen<strong>de</strong>m<br />
Interesse auf die Werke <strong>de</strong>s Banaters. 14 Er wur<strong>de</strong> zum Mitglied <strong>de</strong>r Deutschen<br />
Philosophischen Gesellschaft gewählt und war eingela<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>r Universität<br />
Tübingen, dort, wo Schelling einst unterrichtet hatte, als Privatdozent für<br />
Philosophie zu habilitieren. Die drei verpflichten<strong>de</strong>n Vorlesungen und die damit<br />
verbun<strong>de</strong>nen Disputationen sollten im Juni 1938 stattfin<strong>de</strong>n. Doch es kam nicht<br />
dazu, <strong>de</strong>nn eine Kehlkopferkrankung, die ihn befiel und die ein Sprechen von<br />
Dauer nicht ermöglichte, zwang ihn die Vorlesungen abzusagen. Schweren<br />
Herzens, so wird berichtet, zog er seine <strong>de</strong>r Universität Tübingen handschriftlich<br />
eingereichte Arbeit <strong>zur</strong>ück und bereitete sie unter <strong>de</strong>m Titel Schellings<br />
Kategorienlehre für die Drucklegung vor. Mit einer Studie über Schellings<br />
I<strong>de</strong>ntitätslehre wollte er seine Untersuchungen fortführen, aber ein plötzlicher, von<br />
neuer Erkrankung verursachter Tod unterbrach die wahrhaftig rastlose Tätigkeit<br />
<strong>de</strong>s Forschers. Otto Kein starb am 23. April 1939 in Temeswar. Er befand sich im<br />
35. Lebensjahr. 15 Sein letztes vollen<strong>de</strong>tes Werk, Schellings Kategorienlehre,<br />
13 Anton Peter Petri: „Namen, die wir nie vergessen: Dr. Otto Kein. 1904-1939. Einer <strong>de</strong>r<br />
namhaftesten Schellingforscher als Pädagoge am Deutschen Realgymnasium unserer<br />
Hauptstadt [Temeswar]“. In: Banater Post, 15. September 1964, S. 3; <strong>de</strong>rs.: Otto Kein. In:<br />
Biographisches Lexikon <strong>de</strong>s Banater Deutschtums. Marquartstein 1992, Sp. 896.<br />
14 Vgl. „Prof. Dr. Otto Kein“. [Nekrolog]. In: Banater Deutsche Zeitung, 25. April 1939, S. 3.<br />
15 Unter großer Beteiligung wur<strong>de</strong> Otto Kein am 25. April 1939 auf <strong>de</strong>m Friedhof <strong>de</strong>r<br />
Temeswarer Josefstadt zu Grabe getragen. Zu <strong>de</strong>r Trauerkundgebung hatten sich die<br />
Kapellen und Chöre <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Staatslyzeums und <strong>de</strong>r Banatia, die Lehrkräfte dieser<br />
bei<strong>de</strong>n Schulanstalten, Vertreter <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Temeswarer Mittelschulen sowie zahlreiche<br />
Freun<strong>de</strong> und Bekannte <strong>de</strong>s Verstorbenen eingefun<strong>de</strong>n. Trauerre<strong>de</strong>n hielten Prof. Michael<br />
Pfaff, im Namen <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Staatslyzeums, in rumänischer Sprache, Dr. phil. Franz<br />
Kräuter, seitens <strong>de</strong>r Lehrerkollegen, und Prof. Anton Valentin, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Dahingegangenen im<br />
Namen <strong>de</strong>s Gaues Banat <strong>de</strong>r Volksgemeinschaft <strong>de</strong>r Deutschen in Rumänien,<br />
verabschie<strong>de</strong>te. Die Trauerzeremonie nahm Dr. Martin Metzger, <strong>de</strong>r Dechantpfarrer <strong>de</strong>r<br />
Josefstadt, vor. Kräuter würdigte "<strong>de</strong>n sich zum Denker ganz großen Formates entwickelten<br />
Sohn unserer Heimat" und sagte u. a.: "Es war für uns eine ausgemachte Sache, daß Otto<br />
Kein bald unsere Kreise verlassen wer<strong>de</strong>, doch haben wir dies an<strong>de</strong>rs gemeint. Seine<br />
wissenschaftlichen Arbeiten schienen ihm eine höhere Bestimmung vorgezeichnet zu<br />
haben, um die zu erfüllen, er <strong>de</strong>mnächst an einer Hochschule <strong>de</strong>n ihm gebühren<strong>de</strong>n Platz<br />
einnehmen hätte sollen. Es war ihm dies nicht beschie<strong>de</strong>n, genau wie es uns nicht<br />
beschie<strong>de</strong>n ist, uns an seinen weiteren Erfolgen zu erfreuen." Vgl. dazu <strong>de</strong>n Bericht: „Letzter<br />
176
erschien posthum, wenige Wochen nach seinem Hinschei<strong>de</strong>n. 16<br />
Nicht nur durch seinen frühen Tod wur<strong>de</strong> Otto Kein zu einer, man kann sagen,<br />
tragischen Gestalt <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Geistesgeschichte. Obwohl <strong>de</strong>r Goethe-,<br />
Schelling und Nietzsche-Forscher ein beeindrucken<strong>de</strong>s Oeuvre hinterließ, waren<br />
er und sein Werk in <strong>de</strong>r engeren Heimat über Jahrzehnte hinweg nahezu gänzlich<br />
in Vergessenheit geraten bzw. von Schweigen umhüllt. Daß man sich in Rumänien<br />
nach <strong>de</strong>m Krieg mit seinem Werk nicht näher befaßte, hängt teils mit <strong>de</strong>r<br />
i<strong>de</strong>ologischen Zensur in <strong>de</strong>r Zeit nach 1945 zusammen, teils auch mit <strong>de</strong>m<br />
erschwerten Zugang zu seinen vor allem in Deutschland erschienen Büchern, die<br />
in Bibliotheken Rumäniens kaum greifbar sind. Gelegentlich wur<strong>de</strong> über Kein<br />
trotz<strong>de</strong>m berichtet, einmal in einer Fachpublikation, etwas vorher und danach auch<br />
in <strong>de</strong>r Tagespresse. 17 Eine umfassen<strong>de</strong> Würdigung und fachwissenschaftlich<br />
kompetente Einschätzung seines gesamten Wirkens aus heutiger Sicht stehen<br />
immer noch aus.<br />
Eine wünschenswerte eingehen<strong>de</strong>re Beschäftigung mit Otto Kein müßte m. E. mit<br />
einer Untersuchung seiner zeitgenössischen Wirkung einsetzen. Neben <strong>de</strong>m Echo,<br />
das seine Bücher in <strong>de</strong>r Fachpresse <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sprachraumes hatten, wäre<br />
dabei die regionale und überregionale Rezeption in Rumänien in Betracht zu<br />
ziehen. Keins Arbeiten fan<strong>de</strong>n bei ihrem Erscheinen nämlich nicht nur, wie schon<br />
ange<strong>de</strong>utet, in Banater Publikationen Beachtung, son<strong>de</strong>rn wur<strong>de</strong>n auch in<br />
Weg Dr. Otto Keins“. In: Banater Deutsche Zeitung, 26. April 1939, S. 3. Zu <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r<br />
Presse namentlich genannten Leidtragen<strong>de</strong>n seitens <strong>de</strong>r Familie gehörten neben <strong>de</strong>n Eltern<br />
u. a. die bei<strong>de</strong>n Schwestern Maria und Felizia Kein. Maria, die mit ihrem Bru<strong>de</strong>r in<br />
Klausenburg studiert hatte, wirkte damals als Professorin am Mädchenlyzeum in Reschitza<br />
und war mit <strong>de</strong>m Rechtsanwalt Georgescu verheiratet. Der Ehe entstammte eine Tochter.<br />
16 Vgl. dazu: „Prof. Dr. Otto Kein: Schellings Kategorienlehre“. [Buchanzeige]. In: Banater<br />
Deutsche Zeitung, 21. Mai 1939, S. 10. Zum Schluß <strong>de</strong>s Artikels wer<strong>de</strong>n<br />
Kondolenzschreiben erwähnt, die die Familie "aus reichs<strong>de</strong>utschen Fachkreisen" erreichten,<br />
und aus einem Brief von Dr. Th. Haering, Professor für Philosophie an <strong>de</strong>r Universität<br />
Tübingen, folgen<strong>de</strong> Worte zitiert: "Nun wird sein letztes Werk über die Kategorienlehre, das<br />
ihm gera<strong>de</strong> noch zu veröffentlichen gegönnt war, ein letztes Zeichen seines eisernen<br />
Fleißes sein, mit <strong>de</strong>m er seiner zarten Gesundheit, trotz <strong>de</strong>r Kürze seines Er<strong>de</strong>nlebens,<br />
immer wie<strong>de</strong>r gewichtige Werke abrang [...] Ich brauche nicht zu sagen, wie wertvoll schon<br />
an sich die Tatsache gewesen wäre, in Temeschburg einen so hervorragen<strong>de</strong>n Vertreter<br />
<strong>de</strong>utscher Wissenschaft und <strong>de</strong>utschen Geistes zu wissen."<br />
17 Vgl. dazu die bio-bibliographischen Hinweise bei Johann Wolf: „Germanistische Studien in<br />
Rumänien bis zum Jahr 1944“. In: Forschungen <strong>zur</strong> Volks- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>, Bd. 19, Nr.<br />
1, 1976, S. 29f. Bereits 1970, anläßlich <strong>de</strong>r 100-Jahrfeier <strong>de</strong>r früheren Temeswarer<br />
Oberrealschule, erinnerte Franz Liebhard (Robert Reiter) in <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>szeitung Neuer Weg<br />
(Bukarest) an Dr. Otto Kein, <strong>de</strong>r an dieser Lehranstalt unterrichtet hatte. Der<br />
Jubiläumsbeitrag „Von <strong>de</strong>r alten Oberrealschule zum Lenau-Lyzeum“ ist auch in einem<br />
Sammelband erschienen. Vgl. dazu Franz Liebhard: Banater Mosaik. Beiträge <strong>zur</strong><br />
Kulturgeschichte. Bukarest 1976, S. 358-367. „Er war <strong>de</strong>r erste Philosoph aus dieser<br />
Stadt“, befin<strong>de</strong>t Liebhard über <strong>de</strong>n gebürtigen Temeswarer Otto Kein. Im Goethe-<br />
Ge<strong>de</strong>nkjahr 1982 brachte die Temeswarer Neue Banater Zeitung (NBZ) in ihrer<br />
Son<strong>de</strong>rseite „Goethes Wirkung im Banat“ zum 150. To<strong>de</strong>stag <strong>de</strong>s Dichters u. a. einen von<br />
Luzian Geier verfaßten Aufsatz über Otto Keins Beschäftigung mit Goethe. In: NBZ, 21.<br />
März 1982, S. 2-3; vgl. <strong>de</strong>rs.: „Otto Kein. Kleines NBZ-Lexikon. Banat<strong>de</strong>utsche<br />
Persönlichkeiten“. 113. Fortsetzung. In: NBZ, 25. November 1984, S. 2-3.<br />
177
führen<strong>de</strong>n siebenbürgisch-sächsischen Kulturzeitschriften besprochen. Es waren<br />
philosophisch gebil<strong>de</strong>te Autoren, die sich mit seinen Schriften im Kronstädter<br />
Klingsor o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r von Karl Kurt Klein herausgegebenen Siebenbürgischen<br />
Vierteljahrsschrift befaßten. Der aus Wien stammen<strong>de</strong>, nach 1919 in<br />
Hermannstadt leben<strong>de</strong> Dichter und theologische Schriftsteller Erwin Reisner, <strong>de</strong>r<br />
einmal sogar als <strong>de</strong>r größte und genialste Denker bezeichnete wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n die<br />
Geistesgeschichte <strong>de</strong>r Siebenbürger Sachsen in unserem Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
aufzuweisen habe, 18 setzte sich im Klingsor mit <strong>de</strong>n Goethe-Büchern <strong>de</strong>s Banater<br />
Forschers auseinan<strong>de</strong>r. Die erste Besprechung, <strong>de</strong>r Dissertation über Goethes<br />
Pantheismus gewidmet, erschien 1932, relativ spät, zwei Jahre nach <strong>de</strong>r<br />
Buchveröffentlichung, paßte aber gut in diese Nummer <strong>de</strong>r Zeitschrift, die u. a.<br />
auch eine Einschätzung <strong>de</strong>r Goethe-Feiern in Rumänien durch Karl Kurt Klein<br />
enthält. 19 Trotz <strong>de</strong>r geistesgeschichtlich begrün<strong>de</strong>ten, sachlichen Einwän<strong>de</strong>, die<br />
Reisner Keins Spinoza-Deutung gegenüber äußerte, sprach er doch mit<br />
Anerkennung über <strong>de</strong>n großen Fleiß sowie die Gründlichkeit, mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verfasser<br />
ein außeror<strong>de</strong>ntlich umfangreiches Material bearbeitet habe. "Das kleine Werk,"<br />
sagte er von <strong>de</strong>m Debütband, "enthalte eine Fülle belehren<strong>de</strong>r Ausführungen, die<br />
die Lektüre auf je<strong>de</strong>n Fall lohnend erscheinen lassen." 20 Erwin Reisner besprach<br />
auch Keins Untersuchung über Goethe und Schelling. Dazu hatte er sich selbst<br />
angeboten, wie Karl Kurt Klein in einem Brief an Otto Kein festhält. "Für eine<br />
or<strong>de</strong>ntliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung," schreibt <strong>de</strong>r siebenbürgische Germanist, "wird<br />
Reisner, das habe ich beim Anlesen <strong>de</strong>s Buches schon gesehen, allerdings auch<br />
Zeit notwendig haben. Er hat sich aber gera<strong>de</strong> mit Schelling eingehend befaßt,<br />
wenn ich recht unterrichtet bin, und wird Ihren Gedankengängen am ehesten<br />
gerecht wer<strong>de</strong>n können." 21 Die 1934 in <strong>de</strong>r Siebenbürgischen Vierteljahrsschrift<br />
erschienene Rezension macht <strong>de</strong>utlich, daß sich "unser Banater Landsmann" hier<br />
die "verdienstvolle," aber auch gewiß nicht leichte Aufgabe" gestellt habe, die bis<br />
dahin in <strong>de</strong>r Fachliteratur gewöhnlich übergangene "geistige Wahlverwandschaft<br />
<strong>de</strong>s Dichters mit Schelling" darzulegen. Angesichts <strong>de</strong>s "umfangreichen und<br />
gehaltvollen Werkes" müsse man zugeben, daß <strong>de</strong>r Verfasser im Bewußtsein einer<br />
hohen Verantwortung keine Arbeit und keine Mühe gescheut habe, um das<br />
Vorgenommene durchzuführen: "Es ist ein wahrhaft gigantisches Material, das hier<br />
verwertet und zum Zweck <strong>de</strong>s Vergleichs herangezogen wird", unterstreicht<br />
Reisner und zeigt, wie überzeugend Kein aufgrund seines Quellenstudiums vor<br />
allem hinsichtlich <strong>de</strong>r Naturphilosophie Gemeinsamkeiten im Denken Goethes und<br />
Schellings nachgewiesen habe. Im Hinblick auf die ethisch-religiöse<br />
Problemstellung, bzw. auf das Verhältnis Goethes und Schellings zum Christentum<br />
hätte sich <strong>de</strong>r religionsgeschichtlich bewan<strong>de</strong>rte Rezensent eine <strong>de</strong>utliche<br />
18 Nach Walter Myss: Fazit nach achthun<strong>de</strong>rt Jahren. Geistesleben <strong>de</strong>r Siebenbürger<br />
Sachsen im Spiegel <strong>de</strong>r Zeitschrift Klingsor (1924-1939). München 1968, S. 127.<br />
19 Karl Kurt Klein: „Goethefeiern in Rumänien“. In: Klingsor 9 (1932), S. 194-195.<br />
20 Erwin Reisner: „Otto Kein. Goethes Pantheismus“. In: Klingsor, S. 197.<br />
21 Karl Kurt Klein an Otto Kein, 4.1.1934. Der Durchschlag <strong>de</strong>s maschinenschriftlichen<br />
Briefes wird im Nachlaß K. K. Kleins im Klausenburger Staatsarchiv aufbewahrt. Für <strong>de</strong>n<br />
Hinweis auf das Schreiben und die Unterstützung bei <strong>de</strong>r Einsichtnahme in weitere<br />
Archivdokumente zu Otto Kein sei Herrn Dr. Ioan Dor<strong>de</strong>a an dieser Stelle verbindlichst<br />
gedankt.<br />
178
Herausstellung <strong>de</strong>r Unterschie<strong>de</strong> im Denken <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Protagonisten gewünscht,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r alte Schelling, meinte Reisner, stehe zum Christentum wesentlich an<strong>de</strong>rs<br />
als Goethe, <strong>de</strong>r über eine bloß ästhetische Einschätzung <strong>de</strong>s Religiösen niemals<br />
hinausgekommen sei. Zum wissenschaftlichen Diskurs <strong>de</strong>s Buches merkte er<br />
kritisch an, daß man bei dieser "wissenschaftlich hervorragen<strong>de</strong>[n]<br />
Materialsammlung" zuweilen noch <strong>de</strong>n Eindruck habe, "daß von <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r<br />
Belege das, was belegt wer<strong>de</strong>n soll, erstickt wird." Im Vertrauen auf Keins<br />
kreatives Vermögen fügte er aber hinzu: "Wir hoffen zuversichtlich, daß es <strong>de</strong>m<br />
Verfasser in seiner nächsten Arbeit gelingen wird, das mit so vorbildlicher<br />
Gründlichkeit und mit so sicherem Instinkt für Wesentliches Zusammengestellte<br />
aus seinem eigenen persönlichen Formdrang heraus zu gestalten." 22 Diese<br />
eindringlichen, auch anerkennen<strong>de</strong>n, keineswegs pauschal loben<strong>de</strong>n<br />
Besprechungen zeigen, wie ernsthaft man sich mit <strong>de</strong>m Schaffen <strong>de</strong>s jungen<br />
Philosophen in Siebenbürgen beschäftigte, und daß man nicht geringe<br />
Erwartungen in sein weiteres Werk setzte. Eine Bestätigung solcher Erwartungen<br />
scheint, liest man die Rezension von Alfred Pomarius, 23 “Otto Keins Buch Das<br />
Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling” gewesen zu sein.<br />
Pomarius bewertet die Arbeit als eine "fast rein geschichtliche Untersuchung", die<br />
aber auch einen Beitrag <strong>zur</strong> damals aktuellen Diskussion <strong>de</strong>s Verhältnisses<br />
zwischen Rationalem und Irrationalem leiste: "Wichtige, beson<strong>de</strong>rs Kunst und<br />
Wissenschaft betreffen<strong>de</strong> Seiten gera<strong>de</strong> dieses Verhältnisses [...] berührt Keins<br />
Untersuchung über das Apollinische und Dionysische. [...] Es han<strong>de</strong>lt sich um<br />
Prinzipien, die im Umkreis <strong>de</strong>s gesamten menschlichen Daseins grundlegend sind.<br />
Das wird auch in Keins Schrift gewissermaßen zwischen <strong>de</strong>n Zeilen klar". Man<br />
gewinne zu<strong>de</strong>m "<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlichen und sympathischen Eindruck, als ob es <strong>de</strong>m<br />
Verfasser vor allem um eine Hinweisung auf Schelling zu tun sei. So, als wolle er<br />
neben Nietzsche, <strong>de</strong>n Gefeierten, mit Betonung Schelling, <strong>de</strong>n Halbvergessenen,<br />
stellen, in<strong>de</strong>m er die innere Verwandtschaft und Gleichgerichtetheit bei<strong>de</strong>r,<br />
philosophisch so oft auseinan<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>r Geister, gera<strong>de</strong> an einem<br />
Hauptproblem Nietzsch[e]ischen Denkens zeigt". Kein gelingt es hier auch zu<br />
realisieren, was Erwin Reisner seinerzeit von ihm erhofft hatte, nämlich die<br />
Stoffmassen "aus eigenem persönlichem Formdrang heraus zu gestalten." Eben<br />
diese Entwicklung in <strong>de</strong>r Darstellungsweise Keins dürfte Pomarius im Sinn gehabt<br />
haben, wenn er abschließend in seiner Besprechung über ihn urteilt:<br />
"Hervorzuheben ist <strong>de</strong>r gedanklich und sprachlich reife philosophische Stil <strong>de</strong>r<br />
Abhandlung und die Sicherheit, mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verfasser das behan<strong>de</strong>lte Gebiet<br />
beherrscht." Der Beitrag erschien im Klingsor 1935. Das 1939, im To<strong>de</strong>sjahr Keins<br />
herausgekommene Buch Schellings Kategorienlehre wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Banater<br />
Deutschen Zeitung kurz vorgestellt. 24 Danach war von Kein und seinem<br />
wissenschaftlichen Werk kaum noch die Re<strong>de</strong>. Der Krieg, <strong>de</strong>r im Herbst <strong>de</strong>sselben<br />
22 Erwin Reisner: „Otto Kein, Die Universalität <strong>de</strong>s Geistes im Lebenswerk Goethes und<br />
Schellings. Junker- und Dünnhaupt-Verlag Berlin 1933, S. 520. In: Siebenbürgische<br />
Vierteljahrsschrift 57 (1934) S. 333-335.<br />
23 Alfred Pomarius: „Otto Kein, Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und<br />
Schelling. Junker und Dünnhaupt-Verlag, Berlin 1935". In: Klingsor 12 (1935), S. 410-411.<br />
24 Anm. 16.<br />
179
Jahr ausbrach und die Folgen <strong>de</strong>s Zweiten Weltkrieges haben, wie schon weiter<br />
oben ange<strong>de</strong>utet, dabei zweifellos eine Rolle gespielt.<br />
Im Rumänien <strong>de</strong>r Nachkriegszeit war es Johann Wolf, <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r sechziger<br />
Jahre in einem Fachkreis an <strong>de</strong>r Temeswarer Universität am Ran<strong>de</strong> auch auf das<br />
Werk <strong>de</strong>s Goetheforschers Otto Kein zu sprechen kam. In <strong>de</strong>r 1976 in <strong>de</strong>r<br />
Zeitschrift Forschungen <strong>zur</strong> Volks- und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> veröffentlichten<br />
Dokumentation „Germanistische Studien in Rumänien bis zum Jahr 1944“, 25 nimmt<br />
<strong>de</strong>r Hochschullehrer dann etwas ausführlicher auf das Buch Die Universalität <strong>de</strong>s<br />
Geistes im Lebenswerk Goethes und Schellings Bezug, von <strong>de</strong>m er bedauert, daß<br />
es im Inland zu wenig Beachtung gefun<strong>de</strong>n habe. Otto Kein wird bei Wolf zum<br />
ersten Mal nach <strong>de</strong>m Krieg in einer wissenschaftlichen Arbeit in Rumänien<br />
erwähnt. Die bibliographischen Hinweise auf Besprechungen in <strong>de</strong>n zitierten<br />
Banater und siebenbürgischen Zeitschriften fin<strong>de</strong>n sich ebenfalls hier, wobei,<br />
bezeichnend für die damaligen Zensurzwänge, Namen von Rezensenten wie<br />
Anton Valentin und Alfred Pomarius ausgespart blieben. In seiner Abhandlung<br />
bezeichnet Johann Wolf <strong>de</strong>n Gymnasiallehrer Otto Kein <strong>zur</strong>echt als eine<br />
Ausnahme unter <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Wissenschaftlern im Rumänien <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit, <strong>de</strong>nn es fin<strong>de</strong>t sich tatsächlich kein an<strong>de</strong>rer Forscher, <strong>de</strong>r sich<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Universitäts<strong>germanistik</strong> so umfassend mit Fragen <strong>de</strong>r allgemeinen<br />
<strong>de</strong>utschen Literatur- und Geistesgeschichte befaßt hätte. Auf eine an<strong>de</strong>re<br />
Beson<strong>de</strong>rheit hatte <strong>de</strong>r hier schon öfter genannte Anton Valentin hingewiesen.<br />
„Das wissenschaftliche Werk Otto Keins“, schreibt er,<br />
ist Ausdruck <strong>de</strong>s Bildungswillens und <strong>de</strong>s Bildungsniveaus <strong>de</strong>r Deutschen im<br />
Banat, die nach 1919 nach jahrzehntelangen hemmen<strong>de</strong>n Einflüssen <strong>de</strong>r<br />
ungarischen Regierungspolitik in <strong>de</strong>r rumänischen Ära wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Lage waren,<br />
sich kulturell zu entfalten. 26<br />
Hinzugefügt wer<strong>de</strong>n kann, daß Otto Kein <strong>zur</strong> ersten Generation von <strong>de</strong>utschen<br />
Intelektuellen gehörte, die die Bildungs- und Berufschancen, die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Min<strong>de</strong>rheit in Rumänien geboten wur<strong>de</strong>n, wahrnehmen konnten. Er war, so scheint<br />
es, <strong>de</strong>r erste Banater <strong>de</strong>utsche Germanist, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Studium an einer<br />
rumänischen Universität dort auch <strong>de</strong>n Doktortitel erwarb. Der bildungsmäßige und<br />
berufliche Wer<strong>de</strong>gang Keins und <strong>de</strong>r von seiner Persönlichkeit überlieferte<br />
Eindruck sei <strong>de</strong>nn zum Schluß <strong>de</strong>s Beitrags durch einige bezeichnen<strong>de</strong><br />
biographische Daten veranschaulicht.<br />
Otto Kein wur<strong>de</strong> am 30. August 1904 als Sohn <strong>de</strong>s Gymnasiallehrers Dr. Felix Kein<br />
und seiner Ehefrau Ludmilla, geb. Saip, in Temeswar geboren. Von <strong>de</strong>r Familie<br />
heißt es, daß sie aus Wien kommend in <strong>de</strong>r Banater Hauptstadt ansässig<br />
gewor<strong>de</strong>n sei. Am lokalen Oberrealgymnasium war Dr. Felix Kein seit En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
neunziger Jahre <strong>de</strong>s vergangenen Jahrhun<strong>de</strong>rts als Französischlehrer tätig. Sein<br />
Sohn Otto besuchte zuerst das ungarischsprachige Piaristengymnasium und von<br />
1919 bis 1922 das neugegrün<strong>de</strong>te Temeswarer Deutsche Staatslyzeum, an <strong>de</strong>m<br />
auch sein Vater unterrichtete. Nach <strong>de</strong>r mit Auszeichnung bestan<strong>de</strong>nen<br />
Reifeprüfung nahm er in Klausenburg ein Studium <strong>de</strong>r Germanistik, Romanistik<br />
und Philosophie auf, das er im Juni 1927 mit <strong>de</strong>r Staatsprüfung für das Lehramt an<br />
25 J. Wolf (Anm. 18).<br />
26 A. Valentin (Anm. 12) S. 71.<br />
180
höheren Schulen magna cum lau<strong>de</strong> been<strong>de</strong>te. Er studierte zwischendurch auch an<br />
<strong>de</strong>r Pariser Sorbonne und in Marburg an <strong>de</strong>r Lahn. Im Herbst 1929 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Suppleant am Bistritzer evangelischen Gymnasium vom Unterrichtsministerium<br />
zum provisorischen Titularprofessor für französische Sprache am Deutschen<br />
Staatslyzeum zu Temeswar ernannt, <strong>de</strong>r Schule, die er selbst besucht und an <strong>de</strong>r<br />
sein mittlerweile pensionierter Vater Dr. Felix Kein mehr als drei Jahrzehnte das<br />
gleiche Fach gelehrt hatte. 27 Aus bisher noch nicht ausgewerteten, in Klausenburg<br />
aufbewahrten Hochschuldokumenten 28 geht hervor, daß Otto Kein, <strong>de</strong>r zeitweilig<br />
ein staatliches Stipendium erhielt, an <strong>de</strong>r dortigen Universität, wo, wie erwähnt,<br />
auch Maria Kein, eine seiner bei<strong>de</strong>n Schwestern, Deutsch, Französisch und<br />
Englisch studierte, im Hochschuljahr 1923/1924 u. a. Vorlesungen bei Petre Grimm<br />
und Yves Auger (Französische Sprache und Literatur), Virgil Bărbat und Marin<br />
Ştefănescu (Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie) und Gheorghe Bogdan-Duică<br />
(Geschichte <strong>de</strong>r rumänischen Literatur) belegt hat. In <strong>de</strong>n Fächern Deutsche<br />
Sprache und Literatur waren Friedrich Lang und <strong>de</strong>r bekannte Dr. Gustav Kisch<br />
seine Lehrer. Bei Kisch nahm er an einem Germanistikseminar sowie an<br />
Vorlesungen über das Gotische, die Literatur <strong>de</strong>r Klassikerzeit und über<br />
Siebenbürgische Ortsnamenkun<strong>de</strong> teil. Lang sprach über Lenau sowie über<br />
Hebbel und Zeitgenossen. Die Dissertation Goethes Pantheismus, mit <strong>de</strong>r Otto<br />
Kein am 18. Juni 1930, drei Jahre nach <strong>de</strong>r Staatsprüfung, bei Gustav Kisch an <strong>de</strong>r<br />
Philosophischen Fakultät mit <strong>de</strong>m Prädikat magna cum lau<strong>de</strong> zum Dr. phil.<br />
promovierte, stellte dann die Weichen für die weitere wissenschaftliche Laufbahn<br />
<strong>de</strong>s Germanisten und Philosophiehistorikers, <strong>de</strong>ssen Forschungstätigkeit, wie<br />
gezeigt, überregional und auch im <strong>de</strong>utschen Sprachraum von <strong>de</strong>r Fachwelt<br />
anerkennend wahrgenommen wur<strong>de</strong>. 29 Am Temeswarer Deutschen Staatslyzeum,<br />
an <strong>de</strong>m er zehn Jahre lang Französisch unterrichtete, war er seiner<br />
Gewissenhaftigkeit wegen eine geschätzte Lehrkraft.<br />
"Auch als Mensch", betont <strong>de</strong>r Nachruf, <strong>de</strong>n die Temesvarer Zeitung auf <strong>de</strong>n<br />
frühverstorbenen Mitarbeiter brachte,<br />
war Prof. Dr. Otto Kein von ehren<strong>de</strong>n Tugen<strong>de</strong>n ausgezeichnet. Sein vornehmes<br />
Wesen, gea<strong>de</strong>lt von hoher Gedankenwelt und Feinfühligkeit, von puritanem<br />
Charakter und Offenherzigkeit, trug ihm allenthalben aufrichtige Wertschätzung und<br />
Sympathie ein. Es zierte ihn Geradlinigkeit und Beschei<strong>de</strong>nheit, wie sie eben<br />
auserwählten Geistern eigen ist." 30<br />
27<br />
Vgl. dazu <strong>de</strong>n Bericht: „Verän<strong>de</strong>rungen im Professorenkollegium <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Staatslyzeums“. In: Temesvarer Zeitung, 18. September 1929, S. 2.<br />
28<br />
Anm. 22.<br />
29<br />
Vgl. dazu u. a. die Einschätzung <strong>de</strong>s Tübinger Philosophieprofessors Th. Haering, Anm.<br />
16.<br />
30<br />
Professor „Dr. Otto Kein.“ [Nekrolog]. In: Temesvarer Zeitung, 25. April 1939, S. 6.<br />
181
182
BOGDAN MIHAI DASCALU<br />
TEMESWAR<br />
Aspekte <strong>de</strong>r Fremdheit in Herta Müllers Erzählungen<br />
Der Fremdheitsbegriff wur<strong>de</strong> sowohl von <strong>de</strong>r Exilforschung, als auch von <strong>de</strong>r<br />
Forschung <strong>de</strong>r Literatur <strong>de</strong>r Vertriebenen untersucht, doch diese haben bislang<br />
kein klares Fremdheitskonzept ausgebil<strong>de</strong>t. So ist die Notwendigkeit entstan<strong>de</strong>n,<br />
daß dieser Begriff zum Gegenstand einer an<strong>de</strong>ren, abgeson<strong>de</strong>rten Wissenschaft<br />
wird. Nach Wierlacher betrachtet die Xenologie die Fremdheit als Eigentum <strong>de</strong>s<br />
umfangreichen Literaturgebiets. Deswegen schließt die Xenologie mehrere<br />
Perspektiven, und zwar eine anthropologische, eine ethnologische, eine<br />
linguistische und eine literarische Perspektive ein. Sie erscheint somit als eine<br />
interdisziplinäre Wissenschaft, wie Wierlacher (1993b: 87) erklärt. Doch <strong>de</strong>n<br />
zentralen Gegenstandsbereich kulturwissenschaftlicher Xenologie bil<strong>de</strong>n nicht<br />
Fragen nach <strong>de</strong>r Unverständlichkeit von Leben o<strong>de</strong>r Tod und <strong>de</strong>r Fremdheit<br />
unseres Selbst und Nächsten, son<strong>de</strong>rn die Erscheinungsformen kultureller<br />
An<strong>de</strong>rsheit als Fremdheit.<br />
Das Eigene, das An<strong>de</strong>re und das Frem<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r kulturwissenschaftlichen<br />
Xenologie im übergeordneten Konzept <strong>de</strong>r kulturellen Alterität in Beziehung<br />
zueinan<strong>de</strong>r gesetzt. All diese Züge verleihen <strong>de</strong>m menschlichen Leben eine<br />
kulturelle Dimension.<br />
Es gibt viele vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Definitionen <strong>de</strong>s<br />
Frem<strong>de</strong>n: das normativ und das kognitiv Frem<strong>de</strong>, die intra – und interkulturelle<br />
Frem<strong>de</strong>, die ethnische An<strong>de</strong>rsheit, die Außenseiter und Ausgegrenzten, das<br />
Unbekannte als das Bedrohliche o<strong>de</strong>r exotisch Reizvolle und intellektuell<br />
Attraktive, das Ausländische o<strong>de</strong>r Nichtzugehörige, das zeitlich o<strong>de</strong>r räumlich<br />
Entfernte, das Verdrängte, Rätselhafte und Unheimliche o<strong>de</strong>r die Unbegreiflichkeit<br />
Gottes usw. (Vgl. Wierlacher 1993b: 39)<br />
Die Fremdheit bezieht sich nicht nur auf eine Wirklichkeit außerhalb <strong>de</strong>r Grenzen<br />
unserer eigenen I<strong>de</strong>ntität, son<strong>de</strong>rn sie bil<strong>de</strong>t eine relationale Kategorie, die eine<br />
Differenzrelation bezeichnet. Man kann folglich die Fremdheit nicht durch sich<br />
selbst <strong>de</strong>finieren, son<strong>de</strong>rn durch ihr Gegenteil: die I<strong>de</strong>ntität. Das Selbstverständnis<br />
ist zugleich Produkt interpersonaler und interkultureller Kommunikation. Die<br />
Gegenthese ist gleichermaßen gültig, und zwar Selbstverständnis beruht auf Akten<br />
<strong>de</strong>s Fremdverstehens. Daraus wird die Ambivalenz <strong>de</strong>r Fremdheit ersichtlich,<br />
welche gegensätzliche Wirkungen hervorruft. Diese außergewöhnlich wichtige<br />
Tatsache wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Xenologen wahrgenommen, und sie haben immer wie<strong>de</strong>r<br />
die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht. verantwortlich. Es ist nicht zufällig,<br />
daß sich die Xenologie in Deutschland eher als in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn entwickelt hat,<br />
<strong>de</strong>nn hier könnte man immer noch über ein Schuldgefühl sprechen, was die<br />
183
Auslän<strong>de</strong>r betrifft. Und gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen müßte man <strong>de</strong>n Grund herausfin<strong>de</strong>n,<br />
wieso die <strong>de</strong>utschen Fremdheitsforscher eine so wohlwollen<strong>de</strong> Haltung <strong>de</strong>r<br />
ethnologischen und <strong>de</strong>r kulturellen Wirklichkeit gegenüber aufweisen. Es fin<strong>de</strong>t<br />
nämlich eine Distanzierung von <strong>de</strong>r Wirklichkeit statt: Diese Realität erscheint nicht<br />
so wie sie ist, son<strong>de</strong>rn so wie sie sein sollte. Die Xenologie gewinnt <strong>de</strong>swegen<br />
eher das Aussehen einer Fremdheitspropaganda und nicht jenes einer<br />
Fremdheitswissenschaft. Die positive Wirkung <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Faktors gegenüber<br />
einer nationalen Kultur wird übertrieben. Der Akzent liegt nicht mehr auf <strong>de</strong>r<br />
kulturellen I<strong>de</strong>ntität, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>r Interkulturalität. Dieses Ereignis ist sowohl<br />
<strong>de</strong>n Gemeinschaften, als auch <strong>de</strong>n Individuen eigen. Der Höhepunkt <strong>de</strong>s<br />
I<strong>de</strong>ntitätsgefühls befin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Kindheit und wird mit <strong>de</strong>m Altwer<strong>de</strong>n immer<br />
schwächer:<br />
Das Erbe <strong>de</strong>r Kindheit verringert sich, während die neue Kultur in ihrer<br />
Selbsteinschätzung übernommen wird. Mit an<strong>de</strong>ren Worten, wird die kulturelle<br />
I<strong>de</strong>ntität eines Frem<strong>de</strong>n immer flexibler und beruht nicht mehr auf <strong>de</strong>r<br />
Mitgliedschaft zu <strong>de</strong>r ursprünglichen Kultur o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n Kultur allein,<br />
son<strong>de</strong>rn gewinnt einen fließen<strong>de</strong>n interkulturellen Charakter. (Barloewen 1993, S.<br />
307- 308)<br />
Diese Erkenntnis kann von hoher Be<strong>de</strong>utung für unsere Arbeit sein, da in Herta<br />
Müllers Werk <strong>de</strong>r Erzähler oft ein unschuldiges Kind ist. Das Kind nimmt die<br />
Fremdheit als eine Bedrohung wahr:<br />
Unbekanntes weckt vielfach Angst; entsprechen<strong>de</strong> Erfahrungen sind, wie das<br />
Frem<strong>de</strong>ln von Säuglingen anzeigt, anthropologische Konstanten. Die Erfahrung <strong>de</strong>s<br />
Kleinkin<strong>de</strong>s, daß Frem<strong>de</strong>s an Trennung gemahnt, bleibt eine <strong>de</strong>r Quellen von<br />
Angst- und Schuldgefühlen, <strong>de</strong>ren Abwehr durch die Xenophobie, durch die<br />
Vermeidung <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n, ermöglicht wer<strong>de</strong>n soll. (Wierlacher 1993b: 39).<br />
Von diesem Standpunkt aus könnte man die objektive Stimme <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s mit<br />
jener <strong>de</strong>s objektiven Wissenschaftlers vergleichen. Es taucht in bei<strong>de</strong>n Fällen eine<br />
Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Distanzierung gegenüber einer unbekannten Wirklichkeit auf. Diese<br />
Distanzierung ist sowohl <strong>de</strong>m Anthropologen:<br />
Distanz wird ausgehan<strong>de</strong>lt; <strong>de</strong>r Wahrnehmung und Erkenntnis ermöglichen<strong>de</strong><br />
Abstand zwischen Bild und Betrachter hängt sowohl von <strong>de</strong>r Materialität <strong>de</strong>s<br />
Gegenstan<strong>de</strong>s als auch von <strong>de</strong>r Beschaffenheit <strong>de</strong>r Augen <strong>de</strong>s Betrachten<strong>de</strong>n und<br />
von <strong>de</strong>ssen Blickwinkel ab. (Wierlacher 1993b: 92-93),<br />
als auch <strong>de</strong>m Ethnologen eigen:<br />
Die Ethnologie teilt mit allen Humanwissenschaften‚ die Behin<strong>de</strong>rung, die sich aus<br />
<strong>de</strong>r Tatsache ergibt, daß <strong>de</strong>r Forscher und sein Gegenstand eine Einheit bil<strong>de</strong>n und<br />
daß das sich daraus ergeben<strong>de</strong> persönliche Engagement eine objektive<br />
Betrachtung verhin<strong>de</strong>rt’ (Beuchelt 1988: 320). (Bargatzky 1993: 220)<br />
Ebenso wichtig für die vorliegen<strong>de</strong> Arbeit ist die Tatsache, daß die Fremdheit auch<br />
als literarisches Thema wahrgenommen wird; es hat sich sogar <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r<br />
Migrantenliteratur durchgesetzt. Das Verhältnis zwischen <strong>de</strong>r Migrantenliteratur<br />
und ihren Empfängern könnte mit <strong>de</strong>m Verhältnis zwischen einem Frem<strong>de</strong>n und<br />
seiner Gastumwelt vergleichbar sein. Die Beziehung zum frem<strong>de</strong>n Element ruft in<br />
bei<strong>de</strong>n Fällen Neugier und Überraschung hervor:<br />
Liest man Literatur als Fremdliteratur, sind mit <strong>de</strong>n hermeneutischen<br />
184
Voraussetzungen auch die Lese-Erwartungen verän<strong>de</strong>rt: Nicht nur bei <strong>de</strong>r<br />
Verknüpfung <strong>de</strong>s Gelesenen mit eigener Lebenserfahrung, son<strong>de</strong>rn auch bei <strong>de</strong>r<br />
Realisierung <strong>de</strong>s ‘ästhetischen Wertes‘ insgesamt ist man zu größerem Risiko<br />
bereit; man erwartet weniger Bestätigung, dafür mehr Überraschung;<br />
Nichtverstehen löst weniger Irritation aus, eher Neugier – und wenn wir hart<br />
betroffen sind von <strong>de</strong>r ‚Frem<strong>de</strong>‘, empfin<strong>de</strong>n wir allenfalls Bestürzung darüber, daß<br />
Menschlichkeit sich so verschie<strong>de</strong>ner Gestalt bedienen kann. So erhält <strong>de</strong>r Text,<br />
was seine potentielle ‘An<strong>de</strong>rsheit‘ angeht, eine größere Vorgabe. Wir sind bereit,<br />
weitere Lese-Wege zu gehen, ehe wir auf ‚Verstehen‘ zu insistieren beginnen.<br />
Auch wenn es befremdlich klingt: Der ‚frem<strong>de</strong>‘ Text hat – möglicherweise – gera<strong>de</strong><br />
dadurch, daß wir uns seiner kulturhistorischen Frem<strong>de</strong> bewußt sind, eine größere<br />
Chance, uns zu ,bewegen`. (Krusche 1985: 139).<br />
Man sollte die letzte Bestimmung <strong>de</strong>s Autors nicht vergessen, und zwar jene, daß<br />
ein Text aus <strong>de</strong>r Migrantenliteratur für <strong>de</strong>n Leser vom höheren Interesse ist, als ein<br />
Text, <strong>de</strong>r ein ihm vertrautes Thema enthält. Derselbe Autor weist auf dieselbe<br />
Chance hin:<br />
Die Lektüre von überkulturellen Grenzen hergeholter Fremdliteratur bietet die<br />
Möglichkeit einer exemplarischen Lese-Erfahrung; sie legt es nahe, eine extrem<br />
weite Distanz zwischen <strong>de</strong>n historischen Bedingungen <strong>de</strong>r Textproduktion<br />
einerseits und <strong>de</strong>r Textrezeption an<strong>de</strong>rerseits als überbrückbar zu erproben; die<br />
Chance <strong>de</strong>r lesen<strong>de</strong>n Überbrückung liegt in <strong>de</strong>r Einleitung eines dialektischen<br />
Prozesses, <strong>de</strong>r sowohl die Textfrem<strong>de</strong> in ihrer historischen Genese als auch die<br />
Bildungsgeschichte und damit die gesellschaftlich-institutionalen Interessen <strong>de</strong>s<br />
lesen<strong>de</strong>n Subjekts in sich aufnimmt. (Krusche 1985: 130-131)<br />
Ohne <strong>de</strong>n literarischen Wert <strong>de</strong>s Werkes von Herta Müller vermin<strong>de</strong>rn zu wollen,<br />
könnte man ihren Erfolg in Deutschland, wenigstens zum Teil, gera<strong>de</strong> durch<br />
vorhergehen<strong>de</strong> Behauptungen erklären: Sie wird als <strong>de</strong>utschsprachige Trägerin<br />
einer frem<strong>de</strong>n Kultur wahrgenommen. Diese kulturelle Differenz beeindruckt <strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>utschen Leser stark, welcher sich in eine ebenso frem<strong>de</strong> Welt eingela<strong>de</strong>n fühlt.<br />
Es ist die Welt einer Min<strong>de</strong>rheitsgemeinschaft, die im Zeichen <strong>de</strong>r Apokalypse<br />
steht.<br />
Es hat sich in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten eine Fremdliteraturwissenschaft entwickelt,<br />
die sich in min<strong>de</strong>stens drei Dimension entfaltet hat (Krusche 1985: 132):<br />
1. <strong>de</strong>r Rekonstruktion und Analyse <strong>de</strong>r ‚Werk-Welt‘, d.h. hier <strong>de</strong>r Welt, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
jeweilige Text entstan<strong>de</strong>n ist und worauf er reagiert;<br />
2. <strong>de</strong>r Rekonstruktion und Analyse <strong>de</strong>r ‚Rezipienten-Welt‘, d.h. hier <strong>de</strong>r Welt, in die<br />
hinein – über eine beträchtliche kulturhistorische Distanz hinweg – <strong>de</strong>r jeweilige<br />
Text realisiert wird, wobei neben <strong>de</strong>n allgemeinen Rezeptionsbedingungen<br />
insbeson<strong>de</strong>rs die institutionalisierten Interessen an <strong>de</strong>r Literatur frem<strong>de</strong>r Kulturen<br />
zu reflektieren sind;<br />
3. <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Bedingungen und Möglichkeiten <strong>de</strong>s Vermittlungsprozesses,<br />
innerhalb <strong>de</strong>ssen Wissenschaftler (Stu<strong>de</strong>nten, Lektoren, Professoren)<br />
verschie<strong>de</strong>ner Muttersprachen aus Anlaß <strong>de</strong>r Deutung eines literarischen Textes in<br />
einem methodisch organisierten Kommunikationsspiel sich aufeinan<strong>de</strong>r zu<br />
beziehen haben.<br />
Diese Bestimmung ist von Be<strong>de</strong>utung, da Herta Müllers Prosawerk auch von <strong>de</strong>r<br />
Fremdheitsperspektive betrachtet wer<strong>de</strong>n kann. Diese Untersuchung könnte auf<br />
zwei Arten geschehen:<br />
a) Die Fremdheit betrachtet als Verhältnis zwischen <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Autorin erwähnten<br />
Welt und jene ihrer Rezipienten – diese Beziehung wur<strong>de</strong> im vorhergehen<strong>de</strong>n<br />
185
Absatz besprochen (Siehe 2.1.)<br />
b) Die Fremdheit, von <strong>de</strong>n in Herta Müllers Werk erscheinen<strong>de</strong>n Personen als<br />
auswärtige Wirklichkeit wahrgenommen.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n gehen wir nur auf <strong>de</strong>n zweiten Aspekt ein.<br />
Die von Herta Müller in <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rungen und im Drücken<strong>de</strong>n Tango erschaffene<br />
Welt ist eine vorwiegend bäuerliche Welt. In ihrer Mitte befin<strong>de</strong>t sich das <strong>de</strong>utsche<br />
Dorf aus <strong>de</strong>r Banater Hei<strong>de</strong>. Es han<strong>de</strong>lt sich um eine konzentrische Welt, die aus<br />
drei Kreisen besteht: <strong>de</strong>r Familie – im Mittelpunkt – <strong>de</strong>m Dorf und <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n<br />
Umgebung. Diese drei Welten wer<strong>de</strong>n mit Hilfe <strong>de</strong>s Erzählers vereinigt. Es ist nicht<br />
zufällig, daß <strong>de</strong>r Erzähler in <strong>de</strong>n meisten Fällen die Gestalt eines Kin<strong>de</strong>s annimmt,<br />
weil das Kind, so wie im vorhergehen<strong>de</strong>n Absatz ausgeführt wur<strong>de</strong>, am besten die<br />
I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>r Gruppe, welcher es angehört, bewahrt. Es erfaßt mit Schärfe die<br />
Verschie<strong>de</strong>nheiten zwischen <strong>de</strong>r eigenen I<strong>de</strong>ntität und <strong>de</strong>r durch Fremdheit<br />
veranschaulichten Alterität.<br />
Ein umfassen<strong>de</strong>s Bild <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Dorfes wird in <strong>de</strong>r Erzählung Dorfchronik<br />
vorgestellt. Es offenbaren sich darin mit Genauigkeit die Gegensätze zwischen <strong>de</strong>n<br />
Traditionen <strong>de</strong>r Einheimischen und <strong>de</strong>n Institutionen, die als fremd wahrgenommen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Der erste Aspekt wird mit Hilfe <strong>de</strong>s obsessiven Bil<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ntischen bäuerlichen<br />
Häuser (Räume <strong>de</strong>r familiären I<strong>de</strong>ntität) ver<strong>de</strong>utlicht:<br />
Die Seitengassen sind Häuserreihen. Die Häuser <strong>de</strong>r Häuserreihen sind alle gleich<br />
rosa getüncht, haben die gleichen grünen Sockel und die gleichen braunen<br />
Rollä<strong>de</strong>n. Sie unterschei<strong>de</strong>n sich nur durch die Hausnummernschil<strong>de</strong>r voneinan<strong>de</strong>r.<br />
(Dorfchronik, DT: 38-39)<br />
Die Alterität wird nur selten in dieser verschlossenen Atmosphäre wahrgenommen.<br />
Wenn das geschieht, so wird die Alterität mit Hilfe eines künstlichen Gepräges<br />
ausgedrückt:<br />
Manchmal lehrt die Kin<strong>de</strong>rgärtnerin […], die eine gute Akkor<strong>de</strong>onspielerin ist, die<br />
Kin<strong>de</strong>r sogar Schlager, in <strong>de</strong>nen auch englische Wörter wie darling und love<br />
vorkommen. (Dorfchronik, DT: 29)<br />
Die Alterität wird nicht nur durch das Eindringen <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Elementes<br />
wahrgenommen, son<strong>de</strong>rn auch durch die Flucht in eine frem<strong>de</strong> Welt. Das<br />
Verlassen <strong>de</strong>s Dorfes verwan<strong>de</strong>lt sich in ein wahrhaftiges Zeremoniell, dann, wenn<br />
es um die Jungen geht, die in <strong>de</strong>n Krieg ziehen müssen:<br />
Denn so war es damals bei uns im Dorf, daß die Väter, wenn die Söhne in <strong>de</strong>n<br />
Krieg gingen, die Koffer bis zum Bahnhof, bis zum Zug, bis an <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s<br />
Krieges trugen. (Drosselnacht, DT: 78)<br />
Die Eltern versuchen, Martin, die Hauptfigur <strong>de</strong>r Kurzgeschichte, aufzuhalten, ohne<br />
daß es ihnen gelingt:<br />
Jakob sagte: Martin, die Mutter hat gesagt, daß ich dir noch mal sagen soll, du<br />
sollst nicht gehn. (Drosselnacht, DT: 77)<br />
Die Reaktion Martins ist <strong>de</strong>r Ausdruck seiner Notwendigkeit, die Tradition zu<br />
achten:<br />
Er schaut sein Gesicht im Spiegel an und schrie: Wenn ich gehen will, dann laßt<br />
mich gehn. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r im Dorf was zählt, muß gehn. (Drosselnacht, DT: 77)<br />
186
Die Vorahnung, daß Martin sich einer gefährlichen Welt nähert, ist <strong>de</strong>m Leser<br />
durch das erschüttern<strong>de</strong> Bild <strong>de</strong>s Wolfru<strong>de</strong>ls, das die Familie im verschneiten<br />
Wald angreift, übermittelt:<br />
Das Ru<strong>de</strong>l war schon auf <strong>de</strong>r Hügelspitze. Die bei<strong>de</strong>n Wölfe, die es durch <strong>de</strong>n<br />
Schnee führten, waren so nah, daß wir die Augen glänzen und <strong>de</strong>n weißen Dampf<br />
aus ihren Zähnen steigen sahen. Martin spannte <strong>de</strong>n schwarzen Schirm auf und lief<br />
zum Feuer. Die bei<strong>de</strong>n Wölfe sahen <strong>de</strong>n aufgespannten schwarzen Regenschirm<br />
und blieben stehen. Jakob riß <strong>de</strong>n Schirm aus Martins Hand und ging mit kleinen<br />
unsicheren Schritten auf die Wölfe zu. Ich lief zum Wagen un nahm Jakobs<br />
Regenschirm. Ich ging mit <strong>de</strong>m aufgespannten Schirm mit noch kleineren Schritten<br />
neben Jakob her. Die Wölfe kehrten uns <strong>de</strong>n Rücken. Sie liefen heulend durch <strong>de</strong>n<br />
Schnee, <strong>de</strong>n sie zertreten hatten, über <strong>de</strong>n Fluß ins Tal. Wir steigen mit <strong>de</strong>n<br />
aufgespannten Regenschirmen auf <strong>de</strong>n Wagen. Wir fuhren <strong>zur</strong>ück ins Dorf.<br />
(Drosselnacht, DT: 80-81)<br />
Es ist ersichtlich, daß ein je<strong>de</strong>s Verlassen <strong>de</strong>s Dorfes eine Bedrohung darstellt. Die<br />
Lösung ist die Rückkehr in die beschützen<strong>de</strong> Welt <strong>de</strong>s Dorfes. Wenn es <strong>de</strong>m<br />
kleinen Martin gelungen ist, sich selbst und die ganze Familie vor <strong>de</strong>n hungrigen<br />
Wölfen in Sicherheit zu bringen, so kann <strong>de</strong>r junge Martin im Krieg, wo er als<br />
Freiwilliger gekämpft hat, sein Leben nicht mehr retten.<br />
Man kann das Dorf nicht nur räumlich verlassen, son<strong>de</strong>rn auch durch das<br />
Eindringen in die fiktionale Welt <strong>de</strong>r Kunst. Die kleine Erzählerin aus Die große<br />
schwarze Achse gibt die Begebenheiten wie<strong>de</strong>r, welche sich im väterlichen Hof<br />
abspielen. Sie erwähnt gleichzeitig Bruchstücke aus <strong>de</strong>m Märchenbuch, das sie<br />
gera<strong>de</strong> liest:<br />
Ich las in meinem Buch: Da drehte sich <strong>de</strong>r Königin das Herz im Leibe um vor Haß.<br />
…………………………………………………………………………………………………<br />
Die Königin ließ das Herz im Salz kochen und aß es. (Die große schwarze Achse,<br />
DT: 55-56)<br />
Das Verlassen <strong>de</strong>s Dorfes führt zu einem wi<strong>de</strong>rsinnigen Effekt, <strong>de</strong>nn je kleiner das<br />
Dorf wird, <strong>de</strong>sto stärker wirken die Traditionen und die Festlichkeiten:<br />
Seit<strong>de</strong>m das Dorf immer kleiner wird, weil die Leute, wenn nicht woan<strong>de</strong>rshin, dann<br />
wenigstens in die Stadt abwan<strong>de</strong>rn, wer<strong>de</strong>n die Kerweihfeste immer größer und die<br />
Trachten immer festlicher […]. (Dorfchronik, DT: 35)<br />
Im allgemeinen sind die Festlichkeiten eine Gelegenheit <strong>de</strong>r Abschaffung <strong>de</strong>r<br />
Alterität durch die Beteiligung <strong>de</strong>rselben Menschen am selben Fest, nur in<br />
verschie<strong>de</strong>nen Ortschaften. Man gelangt somit <strong>zur</strong> I<strong>de</strong>ntifizierung <strong>de</strong>r dörflichen<br />
Alteritäten mit einer <strong>de</strong>utschen I<strong>de</strong>ntität:<br />
Da je<strong>de</strong> Kerweih in je<strong>de</strong>m Dorf an einem an<strong>de</strong>ren Sonntag stattfin<strong>de</strong>t, gehen die<br />
Kerweihpaare aus einem Dorf vor o<strong>de</strong>r nach ihrer eigener Kerweih, die in Dorf<br />
Kerweihfest genannt wird, auch <strong>zur</strong> Kerweih ins Nachbardorf, was im Dorf mithalten<br />
genannt wird. Da aber im Banat alle Dörfer Nachbardörfer sind, beteiligen sich an<br />
allen Kerweihfesten dieselben Paare, dieselben Zuschauer und dieselbe<br />
Musikkapelle. Dank <strong>de</strong>r Kerweihfeste kennnt sich die Jugend aus <strong>de</strong>m ganzen<br />
Banat, und so kommt es öfter zu zwischendörflichen Ehen, falls sich die Eltern<br />
davon überzeugen lassen, daß die Bei<strong>de</strong>n zwar nicht aus <strong>de</strong>mselben Dorf, aber<br />
immerhin Deutsche sind. (Dorfchronik, DT: 35-36)<br />
Wenn das frem<strong>de</strong> Element unbekannt ist, so kann es eine gewisse Faszination<br />
187
ausüben, um diese akzeptierbar zu machen.<br />
Auf <strong>de</strong>n Möbeln stehen Nippsachen, die im Dorf Figuren genannt wer<strong>de</strong>n und<br />
verschie<strong>de</strong>ne Tiere von Käfern und Schmetterlingen bis zu Pfer<strong>de</strong>n, darstellen.<br />
Sehr beliebt sind Löwen, Giraffen, Elefanten und Eisbären, da es diese Tiere in <strong>de</strong>r<br />
Banater Gegend, die in <strong>de</strong>n Zeitungen Banater Land und im Dorf Inland genannt<br />
wird, nicht gibt, die aber in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn, die im Dorf Ausland genannt wer<strong>de</strong>n,<br />
leben. (Dorfchronik, DT: 39-40)<br />
Die Alterität wird in <strong>de</strong>n meisten Fällen abgelehnt, auch dann wenn ihre Annahme<br />
ein nicht zu großes Opfer voraussetzt. Dies geschieht im Falle <strong>de</strong>s unschuldigen<br />
Spieles <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r:<br />
Bei diesem Spiel teilen sich die Schüler in Völker ein […]. Der Turnlehrer hat seine<br />
Schwierigkeiten beim Einteilen <strong>de</strong>r Schüler. Daher schreibt er sich nach je<strong>de</strong>r<br />
Stun<strong>de</strong> auf, welchem Volk je<strong>de</strong>r Schüler angehörte. Wer in <strong>de</strong>r vergangenen<br />
Stun<strong>de</strong> ein Deutscher sein dürfte, muß in <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n ein Russe sein, und wer<br />
in <strong>de</strong>r vergangenen Stun<strong>de</strong> ein Russe war, <strong>de</strong>r darf in <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n ein<br />
Deutscher sein. Es kommt vor, daß es <strong>de</strong>m Lehrer nicht gelingt, die nötige<br />
Schüleranzahl zu überzeugen, Russen zu sein. Wenn <strong>de</strong>r Lehrer nicht mehr weiter<br />
weiß, sagt er, seid eben alle Deutsche und los. Weil die Schüler in diesem Fall<br />
jedoch nicht begreifen, weshalb man da noch kämpfen sollte, teilen sie sich in<br />
Sachsen und in Schwaben ein. (Dorfchronik, DT: 28-29)<br />
In diesem Falle ist die starke Alterität (Deutsche vs. Russen) durch ihre<br />
Umwandlung in eine schwache Alterität (Sachsen vs. Schwaben) annehmbar,<br />
welche im Raume <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen ethnischen Einheit stattfin<strong>de</strong>t. Nicht nur das Spiel<br />
hat einen solchen vereinen<strong>de</strong>n Effekt, son<strong>de</strong>rn auch die Kunst. Die Dorfbewohner,<br />
vom Zigeunerschauspiel entzückt, drücken durch angemessene Gesten ihre<br />
Begeisterung aus:<br />
Genoveva winkte mit <strong>de</strong>r Hand, und das Kind winkte mit <strong>de</strong>m toten Schmetterling.<br />
Ionel winkte mit <strong>de</strong>m dicken Ring, <strong>de</strong>r Briefträger winkte mit <strong>de</strong>r Schirmmütze, <strong>de</strong>r<br />
Schmied winkte mit <strong>de</strong>r leeren Flasche. (Die große schwarze Achse, DT: 68)<br />
Den Gesten wer<strong>de</strong>n Wörter hinzugefügt, welche dieselbe Begeisterung<br />
ausdrücken:<br />
Die Schnei<strong>de</strong>rin rief: ‚Bravo’ […] und mein Onkel rief: ‚Deutsche Zigeuner sind<br />
Deutsche’. (Die große schwarze Achste, DT: 68)<br />
Die kategorische Alterität muß abgewiesen wer<strong>de</strong>n, da sie Verwüstungen<br />
hervorruft, auch dann, wenn sie sich nicht auf das menschliche Milieu bezieht.<br />
Je<strong>de</strong> Beziehung zwischen einem Frem<strong>de</strong>n und einer Einheimischen ist genauso<br />
unnatürlich, wie jene zwischen verschie<strong>de</strong>nen Arten, die <strong>zur</strong> Verlust <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität<br />
und <strong>zur</strong> Ausbreitung <strong>de</strong>r Gleichförmigkeit führen. Ein je<strong>de</strong>r Eindringling ist als<br />
solcher wahrgenommen und wird gleichzeitig dank <strong>de</strong>s Verhältnisses <strong>zur</strong><br />
dörflichen Wirklichkeit i<strong>de</strong>ntifiziert:<br />
Die Verkäuferin ist zuckerkrank und sicherlich aus <strong>de</strong>m Nachbardorf, weil es dort<br />
eine Kondi und <strong>de</strong>n Namen Franziska gibt. In unserem Dorf heißen die Frauen<br />
Magdalena, was im Dorf Leni, o<strong>de</strong>r Theresia, was im Dorf Resi genannt wird.<br />
(Dorfchronik, DT: 36)<br />
Die Eindringlinge leben sich schnell in das Dorf ein und passen sich an <strong>de</strong>ssen<br />
Institutionen an, auch wenn <strong>de</strong>r Grund dafür nicht amtlich ist. In solchen Fällen<br />
kann man nie das Risiko eingehen, die Institutionen zu verwechseln:<br />
188
Trotz <strong>de</strong>r vielen Ähnlichkeiten zwischen <strong>de</strong>m Volksrat und <strong>de</strong>r Kirche, ist es noch<br />
nie passiert, daß ein Frem<strong>de</strong>r statt zum Volksrat in die Kirche gegangen wäre [...]<br />
(Dorfchronik, DT: 34)<br />
Die Eindringlinge wer<strong>de</strong>n sonst als eine Bedrohung für die Erziehung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />
aufgefaßt:<br />
Und Vater schlurfte schon ein Suppenauge und sagte leis: ‚Die Zigeuner sind im<br />
Dorf. Sie sammeln Speck, und Mehl, und Eier ein.’ Mutter zwinkerte mit ihrem<br />
rechten Aug. ‚Und Kin<strong>de</strong>r’, sagte sie. Und Vater schwieg. (Die große schwarze<br />
Achse, DT: 49-50)<br />
Es erscheint in <strong>de</strong>r Dorfchronik ein stilistischer Ausdruck <strong>de</strong>s Verhältnisses<br />
zwischen <strong>de</strong>r Fremdheit und <strong>de</strong>r Innerlichkeit. Das Dorf erscheint hier als<br />
Schnittpunkt zwischen Alterität und I<strong>de</strong>ntität. Das erwähnte stilistische Verfahren<br />
besteht in <strong>de</strong>r Einsetzung eines synonymischen Verhältnisses zwischen zwei<br />
Wörtern: Das erste Verhältnis gehört <strong>de</strong>r Hochsprache an und bezeichnet somit<br />
die Fremdheit, das zweite Verhältnis ist ein mundartlicher Ausdruck, <strong>de</strong>r die<br />
dörfliche Wirklichkeit darstellt. Wenn das Wort ohne jegliche Determinierung im<br />
ersten Falle erscheint, so taucht es im zweiten Falle mit <strong>de</strong>r Erläuterung „was im<br />
Dorf so genannt wird“ auf:<br />
[...] sehr jung, was im Dorf blutjung genannt wird (S. 29)<br />
[...] die Rasse, die im Dorf Art genannt wird (S: 30)<br />
[...] <strong>de</strong>r Volksrat, <strong>de</strong>r im Dorf Gemein<strong>de</strong>haus genannt wird (S. 32)<br />
[...] Alkoholiker, die im Dorf Säufer genannt wer<strong>de</strong>n (S. 33)<br />
[...] Spottnamen, die im Dorf Spitznamen genannt wer<strong>de</strong>n (S. 37)<br />
[...] <strong>de</strong>r Papst, <strong>de</strong>r im Dorf <strong>de</strong>r heilige Vater genannt wird (S. 44)<br />
[...] die Hel<strong>de</strong>n, die im Dorf Gefallene genannt wer<strong>de</strong>n (S. 45) usw.<br />
Es kommt <strong>de</strong>r Autorin die Aufgabe zu, das Äußere mit <strong>de</strong>m Inneren mit Hilfe <strong>de</strong>s<br />
ange<strong>de</strong>uteten Verfahrens zu verbin<strong>de</strong>n. In dieser Hinsicht spielt die Erzählerin<br />
keine neutrale Rolle. Sie i<strong>de</strong>ntifiziert sich manchmal mit <strong>de</strong>r bäuerlichen Welt, so<br />
wie sie durch die Benützung <strong>de</strong>r einheimischen, mundartlichen Ausdrücke<br />
ge<strong>de</strong>utet wird:<br />
[…] da ja die Kirche an ihrem Kreuz zu erkennen ist und <strong>de</strong>r Volksrat an seiner<br />
Ehrentafel, die im Dorf Ehrenkasten genannt wird. Im Ehrenkasten sind Zeitungen<br />
ausgehängt […] (S. 34)<br />
[...] das Para<strong>de</strong>zimmer, das im Dorf Extrazimmer genannt wird […]. Im<br />
Extrazimmer stehen dunkle polierte Möbel aus Kirsch- o<strong>de</strong>r Lin<strong>de</strong>holz mit Nuß-<br />
o<strong>de</strong>r Rosenfurnier. (S. 39)<br />
[...] die Wiese, die im Dorf Hutwei<strong>de</strong> genannt wird. Auf <strong>de</strong>r Hutwei<strong>de</strong> stehen<br />
vereinzelte Bäume. (S.46)<br />
Ein ähnliches Verfahren erscheint auch in <strong>de</strong>r Erzählung Faule Birnen. Die kleine<br />
Erzählerin und die größere Käthe betreten eine ihnen unbekannte Welt, die als<br />
fremd wahrgenommen wird:<br />
Am Straßenrand ziehen Häuse vorbei. Die Häuser sind keine Dörfer, weil ich hier<br />
nicht wohne. Kleine Männer mit verschwommenen Hosenbeinen gehen fremd<br />
189
durch die Straßen. Auf schmalen rauschen<strong>de</strong>n Brücken flattern die Röcke frem<strong>de</strong>r<br />
Frauen. Kin<strong>de</strong>r mit nackten mageren Schenkeln stehen ohne Hosen allein unter<br />
vielen großen Bäumen. Sie halten Äpfel in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n. Sie essen nicht. Sie<br />
winken. Sie rufen mit leerem Mund. Käthe winkt kurz und schaute nicht mehr hin.<br />
Ich winke lange. Ich schaue lange auf die mageren Schenkeln, bis ich, weil sie<br />
zerfließen, nur noch die großen Bäume seh. (Faule Birnen, N: 95-96)<br />
Das Gefühl <strong>de</strong>s Eindringens in eine nicht familiäre Welt wird von <strong>de</strong>m Beiwort<br />
fremd verstärkt. (Im Unterschied zu <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn, mit <strong>de</strong>nen sie im Einklang stehen,<br />
erscheinen <strong>de</strong>r Erzählerin sowohl die Männer, als auch die Frauen fremd.)<br />
Diese unbekannte Welt schlägt <strong>de</strong>r Erzählerin Elemente vor, die sie mit <strong>de</strong>m ihr<br />
Vertrauten gleichstellt: Die Felsen erscheinen ihr als Steine, die Serpentinen als<br />
schmale, graue Wege, <strong>de</strong>r Bach als rauschen<strong>de</strong>s Wasser usw. Die ältere Käthe,<br />
die wahrscheinlich diesen Weg schon mehrmals <strong>zur</strong>ückgelegt hat, äußert sich in<br />
diesem Zusammenhang:<br />
Die Er<strong>de</strong> klettert aus <strong>de</strong>m Gras über kahle Steine, über Wurzeln und Rin<strong>de</strong>n. Käthe<br />
sagt: das sind Berge, und die Steine sind Felsen. (Faule Birnen, N: 96);<br />
Das Auto fährt auf schmalen grauen Wegen. Sie heißen Serpentinen, sagt Käthe.<br />
(Faule Birnen, N: 96)<br />
Durch die Zimmerwand rauscht das Wasser. Käthe sagt: Es ist <strong>de</strong>r Bach. (Faule<br />
Birnen, N: 97)<br />
Die Personen nehmen mit Schärfe die Unterschie<strong>de</strong> zwischen Fremdheit und<br />
Zuhause wahr. Diese Verschie<strong>de</strong>nheiten können räumlicher:<br />
Die Sonne fällt hinter <strong>de</strong>n höchsten Berg. Der Berg wackelt und schluckt das Licht.<br />
Zuhause geht die Sonne hinter <strong>de</strong>m Friedhof unter, sage ich. (Faule Birnen, N: 96),<br />
o<strong>de</strong>r zeitlicher Natur sein:<br />
Käthe ißt eine große Tomate und sagt: im Gebirge wird es früher Nacht als bei uns<br />
zu Haus. Käthe legt ihre schmale weiße Hand auf mein Knie. Das Auto summt<br />
zwischen Käthes Hand und meiner Haut. Im Gebirge wird es auch früher Winter als<br />
bei uns zuhaus, sage ich. (Faule Birnen, N: 96-97)<br />
Die Reise in eine frem<strong>de</strong> Welt ist nicht zufällig. Sie stellt <strong>de</strong>n epischen Rahmen<br />
dar, in <strong>de</strong>m die Erzählerin ihr Verhältnis zum Vater klärt. Der Ehebruch, bei <strong>de</strong>m<br />
sie zufällig Zeugin ist, wird von mehreren Szenen in suggestiver Weise<br />
vorausge<strong>de</strong>utet. Es han<strong>de</strong>lt sich um metonymische, sukzessive Wahrnehmungen<br />
<strong>de</strong>s Vaters. Die Erzählerin sieht ihn immer nur unvollkommen durch das Fenster<br />
<strong>de</strong>s Lastwagens:<br />
Der Vater wirft eine glühen<strong>de</strong> Zigarette durchs Fenster. Die Tante bewegt die<br />
Hän<strong>de</strong> und re<strong>de</strong>t. (Faule Birnen, N: 96)<br />
Vaters Hän<strong>de</strong> drehen das Lenkrad. Ich sehe Vaters Haar durch das kleine Fenster<br />
hinter <strong>de</strong>n Tomatenkisten. Das Auto fährt schnell. Das Dorf sinkt ins Blaue. Ich<br />
verliere <strong>de</strong>n Kirchturm aus <strong>de</strong>n Augen. Ich sehe <strong>de</strong>n Schenkel <strong>de</strong>r Tante dicht<br />
neben Vaters Hosenbein. (Faule Birnen, N: 95)<br />
Die weißen Kilometersteine schauen mich an. Vaters halbes Gesicht steht über<br />
<strong>de</strong>m Lenkrad. Die Tante greift Vater ans Ohr. (Faule Birnen, N: 96)<br />
Das partielle Bild <strong>de</strong>s Vaters, von <strong>de</strong>n Hin<strong>de</strong>rnissen gefiltert, suggeriert das Gefühl<br />
<strong>de</strong>r Entfremdung. Es ist nicht zufällig, daß ein je<strong>de</strong>s Mal die Körperteile <strong>de</strong>s Vaters<br />
190
das Bild <strong>de</strong>r Tante begleiten. Man gelangt somit zu einem kompensatorischen<br />
Effekt, wo das Bild <strong>de</strong>s Vaters mit <strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>r Tante androgynisch vereint wird.<br />
Die Reise weist also einen einweihen<strong>de</strong>n Charakter in eine unbekannte Welt auf,<br />
welche nicht nur jene einer an<strong>de</strong>ren (gebirgigen) Region, son<strong>de</strong>rn auch jene eines<br />
an<strong>de</strong>ren Alters (<strong>de</strong>r Reife) ist.<br />
Die Reise hat aber nur für das Kind eine einweihen<strong>de</strong> Rolle. Was die Erwachsenen<br />
betrifft, so kann man bemerken, daß diese ihre Gewohnheiten und Bräuche mit<br />
sich nehmen. Man könnte behaupten, daß die Erwachsenen ein unsichtbares Dorf<br />
mitschleppen, wohin sie auch gehen. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung Der<br />
Überlandbus. Wenn in Dorfchronik die Hauptgestalt das Dorf ist, so ist es in<br />
diesem Falle <strong>de</strong>r Bus, <strong>de</strong>r ein zusammengezogenes Dorf darstellt. Der Bus<br />
repräsentiert eine Welt <strong>de</strong>r Erwachsenen, die ungeachtet <strong>de</strong>r ethnischen<br />
Zugehörigkeit zum Miteinan<strong>de</strong>rleben gezwungen sind. Das Kind, das sich im Bus<br />
befin<strong>de</strong>t, steht seiner eigenen Welt fremd gegenüber. Es kann sich mit dieser Welt<br />
nicht in Verbindung setzen und wird von dieser auch nicht verstan<strong>de</strong>n.<br />
Die Rolle <strong>de</strong>s Erzählers ist somit nicht nur jene, <strong>de</strong>r Erzählung epischen Stoff zu<br />
verleihen, son<strong>de</strong>rn auch jene, Eigentümlichkeiten und die Lokalfarbe <strong>de</strong>s Erzählten<br />
wie<strong>de</strong>rzugeben. Es ist auch kein Zufall, daß das in Dorfchronik dargestellte Dorf<br />
keinen Namen hat. Es kann ebensogut Nitzkydorf wie auch ein an<strong>de</strong>res Dorf aus<br />
<strong>de</strong>r Banater Hei<strong>de</strong> sein. Das Dorf ist eine geschlossene Gemeinschaft, die unter<br />
<strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r Fremdheit steht und zugleich von dieser verführt wird.<br />
Literatur<br />
Bargatzky, Thomas (1993): Die Ethnologie und <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r kulturellen Frem<strong>de</strong>.<br />
In: Wierlacher 1993a, 219-234.<br />
Barloewen, Constantin von: Fremdheit und interkulturelle I<strong>de</strong>ntität. Überlegungen<br />
aus <strong>de</strong>r Sicht vergleichen<strong>de</strong>n Kulturforschung. In: Wierlacher 1993a, S. 297-318.<br />
Beuchelt, Eno: Psychologische Anthropologie. In: Fischer 1988, S.313-329.<br />
Fischer, Hans (Hrsg.) (1988): Ethnologie. Einführung und Überblick, Berlin: Dietrich<br />
Reimer.<br />
Müller, Herta (1982): Nie<strong>de</strong>rungen (N), Bukarest, Kriterion.<br />
Müller, Herta (1984): Drücken<strong>de</strong>r Tango (DT), Bukarest, Kriterion.<br />
Krusche, Dietrich (1985): Literatur und Frem<strong>de</strong>. Zur Hermeneutik kulturräumlicher<br />
Distanz, München, Iudicium Verlag.<br />
Wierlacher, Alois (1993): Kulturwissenschaftliche Xenologie. Ausgangslage,<br />
Leitbegriffe und Problemfel<strong>de</strong>r. In: Wierlacher 1993a, 17-112.<br />
Wierlacher, Alois (Hrsg.) (1993): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und<br />
Problemfel<strong>de</strong>r kulturwissenschaftlicher Fremheitsforschung, München: iudicium.<br />
191
192
DUMITRU TUCAN<br />
TEMESWAR<br />
The collapse of the poetical utopia<br />
This is compulsory for the poet, angel or <strong>de</strong>mon, to bring with himself the or<strong>de</strong>r and<br />
the reasons of a world perceived through the interspaces of the average man's real<br />
world. Thus, poetry is nothing else but the supreme expression of human condition:<br />
gran<strong>de</strong>ur and misery – a lucid consciousness of our chances and limits in brief. 1<br />
Man fights the world, which is hostile to him, on several levels. Poetry is one of<br />
these levels, in which naiveté, strength an intuition merge into an unitary whole –<br />
"the supreme expression of human condition" – which surpasses the circumstantial<br />
concreteness.<br />
Beyond the vastness of the adventure within the space created by poetry, beyond<br />
the tensions that enable the presumed tragedy, together with its different<br />
concretenesses, there is an important suggestion that this fascinating space<br />
generates – and this is the utopian instrument.<br />
But, first of all, poetry can be looked upon as an utopia, the generalization of a<br />
certain spectacular space. It is poetry that challenges reality, tries to fix it, and if it<br />
cannot finally offer truths, it can offer at least illusions. Truth, illusion or a way of<br />
discovering things, poetry projects its potentialities to the accomplishment of a new<br />
quixotic temptation that stems from man's everlasting anxiety, from his <strong>de</strong>sire to<br />
conceive himself differently from what he apparently is.<br />
We need to establish the fact that, simultaneously with philosophy and science,<br />
simultaneously with the universality of the approaches to knowledge, man trusts his<br />
capacity of wan<strong>de</strong>ring about certain fields, still and forever inaccessible to him, he<br />
perceives himself capable of longing for a science he is never going to dominate,<br />
he thinks he is able to cope with purposes which are inappropriate to the human<br />
being, since there is an abyss between his <strong>de</strong>stiny and the <strong>de</strong>stination he aims at,<br />
since what is essential in<strong>de</strong>ed, is that in his paramount activity he conceives himself<br />
differently from what he actually is. 2<br />
If we were to complete the <strong>de</strong>finition of the poetical space, we should also add that<br />
poetry is an uchrony as well. The sign <strong>de</strong>fined as poetry, seen as a conceptual<br />
whole sets asi<strong>de</strong> any <strong>de</strong>terminations, it tries to i<strong>de</strong>ntify the original, to find the<br />
ontological bases to our world so as to <strong>de</strong>fine its truths, whereas it projects all its<br />
images in a specific time 3 , during which the linear potentialities disintegrate.<br />
1 Ştefan Augustin Doinaş, Lampa lui Diogene, Bucureşti, Eminescu, 1970, p. 7.<br />
2 Jules <strong>de</strong> Gaultier, Le Bovarysme, Paris, Société Mercure <strong>de</strong> France, 1902, p. 51.<br />
3 Even when mo<strong>de</strong>rn poetry does nothing else but turn its look towards itself, still the main<br />
issue is exactly that of searching for its own bases, in their close connections to the great<br />
questions of the world, whichever they may be: "the poem tends to be o self-sufficient<br />
structure with long-effect meanings, highlighting them as a tension network of the absolute<br />
193
Nourishing the myth of human gran<strong>de</strong>ur, trying to surpass the <strong>de</strong>terminations, the<br />
contingent, the constraints, the institutionalized, wishing it were pure spirit, poetry<br />
eventually surpasses the actual utopia and finally becomes a universal, almighty,<br />
tragic generator, an utopian instrument.<br />
Eminescu's poetical discourse is set in a moment of transition from expressive<br />
Romantic poetry to objective mo<strong>de</strong>rn poetry, the statements about language lead to<br />
this, as well as to the <strong>de</strong>fining reflexivity for the creative process or to its impersonal<br />
self as the very lyrical self 4 .<br />
In Romanian poetry, Eminescu is a "transition point" between the poetical naiveté<br />
of imitating mo<strong>de</strong>ls, doubled by the <strong>de</strong>ep faith in the magic forces of the poetical<br />
language and the lucidity of self-assuming the poetical calling; it is a moment of<br />
transition in which the utopian instrument – poetry itself – changes its utility, shifts<br />
from a mere compensatory universe, as a reply (a mirror) to the original dimension<br />
of the universe (an "aesthetic dream" says I. Em. Petrescu) to an instrument of<br />
lucid investigation into history and the changes that occur at the level of our world's<br />
quintessence.<br />
Although, the beginnings of Romanian artistic language, and implicitly the very<br />
beginnings of poetry, can be localized in a far-off period of time (Cantemir, the<br />
Chroniclers, Dosoftei), the writing consciousness and all its consequent<br />
implications (the duty of fully expressing a <strong>de</strong>finite sentimental or abstract reality)<br />
manifests long after. However, beyond any evolution, Romanian literature,<br />
particulary poetry as its privileged space, starts its incursion among mo<strong>de</strong>ls, as any<br />
other mo<strong>de</strong>st literature does, coming thus with its own reply to history.<br />
After 1840, when Romantic psychology perva<strong>de</strong>d more profoundly, the poet began<br />
suffering from what was called and, to the<br />
same extent, he suffered from the threat of disor<strong>de</strong>r in both the physical and moral<br />
worlds. Chaos generated gloomy visions for him. An awakening sentiment of or<strong>de</strong>r<br />
attempted to reconcile those (in the case of Grigore<br />
Alexandrescu and Helia<strong>de</strong>, especially) that were to be perennially found besi<strong>de</strong> the<br />
sensation of stifling and the <strong>de</strong>sire of expansion. 5<br />
The great convulsive events of history, shaped by great cultural mo<strong>de</strong>ls, confer a<br />
dialogued configuration to the beginnings of the Romanian poetry. They are the<br />
revolt and i<strong>de</strong>als, turned into the so-called compensatory universe, on the one<br />
hand: revolt, eroticism, typical Romantic sentiments, created on the mo<strong>de</strong>ls of<br />
Western literature (namely Lamartine, Hugo etc.): these are the sentiments of the<br />
individual related to the world. On the other hand, there is the ten<strong>de</strong>ncy of<br />
conferring to this emancipated movement a specific or<strong>de</strong>r, a coherence that<br />
initially was not to be found except in the great classical literary mo<strong>de</strong>ls, and<br />
afterwards in the lucidity of questioning the world, in the taste for tragic contrasts,<br />
born out of interactions between epochs, out of the ruptures between them.<br />
The obsession for antithesis strengthens the i<strong>de</strong>a that Eminescu is a genuine<br />
forces that suggestively actions against the prerational strata, making the mysterious fields<br />
of the concepts vibrate". (Hugo Frie<strong>de</strong>rich, Structura liricii mo<strong>de</strong>rne, Bucureşti, E.L. U.,<br />
1969, p. 11).<br />
4<br />
I. Em. Petrescu, Eminescu. Mo<strong>de</strong>le cosmologice <strong>şi</strong> viziune poetică, Bucureşti, Minerva,<br />
1978, p. 72-73.<br />
5<br />
Eugen Simion, DimineaŃa poeŃilor, Bucureşti, Cartea Românească, 1980, p. 11.<br />
194
transition point. Antithesis is the bringing together of two antagonistic terms. Their<br />
opposition makes their bond manifest conspicuously, so that eventually the last<br />
peculiarity of their confrontation is the interrogative <strong>de</strong>nsity that is dialogistically<br />
tensioned, and beyond all these the rupture, the crisis.<br />
If we compare Eminescu's entire work to a labyrinth in which the fundamental<br />
themes (cosmogony, the dialectics of history, the genius, the <strong>de</strong>mon, the titan,<br />
nature, love, the aspiration for the artistic and folkloric innocence) are nothing but<br />
some obstacles or rather some misleading tracks, and if we were to find a rule so<br />
as to diminish the vastness of this labyrinth, there would be nothing else but<br />
antithesis. Antithesis between utopia and reality, antithesis between the enchanting<br />
mythic darkness and the mo<strong>de</strong>rn profane, exhausting light, the antithesis between<br />
poetry, as an utopian instrument, and the lucid prose 6 , the fundamental reference<br />
points are to be found on either si<strong>de</strong>s of antithesis, the repertoire being very rich.<br />
Beyond antithesis, beyond its dialogistic tension, nothing is left but the tragic<br />
dimension of a changing moment.<br />
The utility of this reduction proves to be beneficial in or<strong>de</strong>r to highlight the<br />
"systemic coherence" of this poetical universe, structured by Eminescu. This<br />
coherence does not imply one-si<strong>de</strong>dness, on the contrary it rather outlines the<br />
ontological bases, set in a direct link to a certain type of poetical strategy outcome,<br />
involved in the poetical process; and these strategies generate the variations of his<br />
entire work.<br />
An obvious systematic coherence prevails in Eminescu's work. As an implicit<br />
volition that <strong>de</strong>fines the poetical (and simultaneously cultural) process: "Eminescu<br />
is much more prone to systematization, which is characteristic of the first romantic<br />
theorists." 7 Eminescu's poetical universe is unitary in its essence, regardless of its<br />
inherent variations. Consequently, the presence of a creative energy is obvious, as<br />
well as the presence of an integratory force which confers coherence and a<br />
systematic horizon to this poetical universe. This coherence i<strong>de</strong>ntifies with a<br />
coherence in construction and the systematic horizon is looked upon as an<br />
architectural plan, <strong>de</strong>signed by some textual strategies which purposely activate<br />
the types of discourse.<br />
An analysis of the types of Eminescu's discourses has to consi<strong>de</strong>r this reality of<br />
poetry, as a precomprehension level, namely that of the utopian instrument, reality<br />
all the more specific of Romanticism, and implicitly specific of Eminescu, reality<br />
that <strong>de</strong>fines and dominates the poetical self, "the creative energy" which generates<br />
these types of discourse. The poetical self notion has to be fathomed as an attitu<strong>de</strong><br />
that assumes a textually implicit reply, as an action that carries a wealth of<br />
meaning. More than that, since each type of discourse implies a specific<br />
manifestation of the poetical self (resembling that confession <strong>de</strong> foi found in the<br />
Biblical writings – P. Ricoeur 8 ), the consequent tensions between these types of<br />
discourse or the very tensions stirred within them, beget, throughout the entire<br />
6<br />
The meaning of the word "prose" is different from its usual meaning. For Eminescu the<br />
word means "banality".<br />
7<br />
Dan C. Mihăilescu, Perspective eminesciene, Bucureşti, Cartea Românească, 1982, p.<br />
9.<br />
8<br />
Paul Ricoeur, Essais <strong>de</strong> herméneutique, Paris, Edition du Seuil, 1986, p. 119-133.<br />
195
work, fundamental contrasts that reveal the unity and the specificity of Eminescu's<br />
poetical universe.<br />
Perceived as a vast concordia discors Eminescu's proves an in<strong>de</strong>structible unity,<br />
based on an unlimited intricate body of symbolic constellation between the<br />
cognitive field and sensitivity field (this is a fundamental feature of early<br />
Romanticism), that implies, on the one hand, the undoing of the universal or<strong>de</strong>r, on<br />
behalf of the self's willingness, and on the other hand, the restoration of this or<strong>de</strong>r in<br />
a spiritual summa poetica. 9<br />
Reason, sensibility, <strong>de</strong>termination to act seem to be the imperatives of Eminescu's<br />
cultural process and these imperatives are in full concordance with Romantic<br />
imperatives. As a result, reason is correlated to a certain mentality, specific to the<br />
epoch; in its turn, sensibility supports the former and the <strong>de</strong>termination to act<br />
germinatively manifests itself in the realm of art.<br />
One part of Eminescu's poetry tends to revive the lost mo<strong>de</strong>ls. Cosmogony<br />
mo<strong>de</strong>ls, reason mo<strong>de</strong>ls, materializing in aphorism-like statements, erotic mo<strong>de</strong>ls,<br />
poetical mo<strong>de</strong>ls that are meant to recreate the mythical harmony. Thus poetry<br />
becomes a weapon against time or a weapon against divinity:<br />
The song? The highest and the bol<strong>de</strong>st<br />
Is nothing but an echo of the great voice<br />
Of the terrible waves, high and noisy<br />
Of a river, that one cannot see<br />
they are the waves of time<br />
brought by the future only to banish them back to the past. (Andrei Mureşanu).<br />
Thus poetry becomes a way of mirroring the poetical self against the whole<br />
universe, through a <strong>de</strong>miurgic dimension, and in this case the self is a globalizing,<br />
all-conquering one – in other words it is the titan, the genius.<br />
Un<strong>de</strong>r the circumstances, Eminescu's Romantic self reveals itself as an<br />
essentialized spirit that becomes the centre, it radically opposes the reality that<br />
becomes a projection of the latter, by overthrowing the perspective. For the<br />
Romantic hero reality is but an extension of his own soul. The space groups<br />
around this creative energy as if around a generating centre of an ontological<br />
circular mo<strong>de</strong>l. The circularity of such a mo<strong>de</strong>l (a rather point-like circularity)<br />
already announces a negative limitation, a relative confinement which is especially<br />
characteristic of mo<strong>de</strong>rn poetry.<br />
Ultimately, Eminescu's poetical universe can be drawn according to a circular<br />
pattern which assumes a centre (the poetical self) as a generating point and a<br />
constancy of establishing relations with the periphery, besi<strong>de</strong>s a wealth of manyfaceted<br />
reflections on the insi<strong>de</strong>. This wealth of reflection implies a series of faith<br />
confessions a series of discursive strategies as the very operating manner of the<br />
major themes that compose Eminescu's poetical universe.<br />
The different types of discourses are the thematic structures coming out of the<br />
intertextual contaminations, as a result of their relations with the historical literary<br />
philosophical mo<strong>de</strong>ls; these subjects are in the limelight of the criticism about<br />
9 Dan C. Mihăilescu, op. cit., p. 7.<br />
196
Eminescu. However, beyond being some ordinary cultural fields, beyond being<br />
mere intuitions or a poetical game, these themes are the essence of a quasidramatic<br />
10 project, apparently typical of Eminescu's poetical universe.<br />
On the whole, Eminescu's work bears a complex construction. G. Călinescu 11<br />
numbers over twenty themes and fundamental motifs. Yet some of these, through<br />
their projective proportion, pregnantly participate in the reactive tensions of the<br />
work: cosmogony, the dialectics of history, the genius (with its versions: the<br />
<strong>de</strong>mon, the titan), nature, the aspiration for the artistic and folkloric innocence and<br />
the aphorism-like discourse.<br />
Although these types of discourse, these polarized themes are the natural outcome<br />
of the manner in which Eminescu makes this utopian instrument (poetry itself)<br />
function, they also participate, conversely, in the staging Eminescu chooses to be<br />
the right one. All these types of discourse are actually built on an antithetical<br />
scheme (or they belong to a body with antithetical specificity), they take part in a<br />
conflict, they generate dialogic tensions and last but not least they generate a<br />
rhetorical strategy.<br />
One of these types of discourse is the cosmogony construction (expunerea<br />
cosmogonică). Since G. Călinescu, literary criticism has consi<strong>de</strong>red Eminescu's<br />
work "to have its sources in the cosmogony thrill" 12 . Ioana Em. Petrescu 13<br />
establishes a cosmogony typology consi<strong>de</strong>ring the <strong>de</strong>fining stages in Eminescu's<br />
entire work. There is a specific stage, in Eminescu's poetry, in which the sentiment<br />
of togetherness between the divine reason and the human reason is lost and this<br />
stage is to be found where Plato's cosmogony mo<strong>de</strong>l and the so-called Kantian<br />
mo<strong>de</strong>l meet. Plato's cosmogony mo<strong>de</strong>l "is no longer consi<strong>de</strong>red a formative reality<br />
in the universe, but the aspiration of the poetical reason which revises an absurd<br />
universe by means of an illusory harmonic compensatory project." 14 The belief in<br />
the reality of the absolute turns into a crisis in thinking, changes into the utmost<br />
adventure that experiences the assumed rupture. Consequently, resentment 15 is<br />
the attitu<strong>de</strong> that faces universal incoherence. This is the ground from which the<br />
images in the third stage of Eminescu's poetry stem; this stage, as I. Em. Petrescu<br />
states proves "a tragic consciousness over the existence in an universe in which<br />
10<br />
The meaning of the word dramatic is connected to the dialogue that is produced within<br />
these types of discourse and it has also a spectacular, exhibited aspect, beyond the specific<br />
Romantic rhetoric. Even if Romanticism is a prelu<strong>de</strong> to Mo<strong>de</strong>rnity (or a disease of Tradition),<br />
it still preserves the poetical criterion unchanged, and the latter presumes a certain rhetoric,<br />
a certain anecdote and an overt sentimentalism (cf. Nicolae Manolescu, Despre poezie,<br />
Bucureşti, Cartea Românească, 1987, p. 142).<br />
11<br />
G. Călinescu, Opera lui Mihai Eminescu, în Opere, Bucureşti, Minerva, 1969, vol XII.<br />
12<br />
I<strong>de</strong>m., ibid., p. 10.<br />
13<br />
I. Em. Petrescu, op. cit.<br />
14<br />
i<strong>de</strong>m., ibid., p. 18.<br />
15<br />
The word resentment (fr.
the gods sought their refuge in inexistence and still they coercively urge the world<br />
into existence" 16 . As a result, the cosmogonic solutions and their existential mirror<br />
are the marks of an antinomy whose last suggestion is the rupture, the crisis.<br />
The other types of discourse are built on the same antithetical schemes. Dialectics<br />
of history (in Eminescu's case this theme is a blend between Schopenhauer's<br />
metaphysical static view and Hegel's dynamic view), precisely the comprehension<br />
of "the historical plan as the materialization of the absolute spirit" 17 , is supported by<br />
the consciousness regarding the estrangement of the constituting elements of the<br />
world, by the consciousness of their voidance. This antinomy is directly linked to<br />
another one, namely that of erotic i<strong>de</strong>alism, followed by an unavoidable fall in the<br />
flesh. By building up erotic utopias, by i<strong>de</strong>alizing this sentiment (in a Romantic<br />
manner), Eminescu intimates everything was a dream from which awakening is<br />
imperatively:<br />
Fancy, naught but fancy's farce. Whene'er we are alone we two<br />
how oft you take me on the lake, what seas and forests you gui<strong>de</strong> me through!<br />
Where did you see these unknown lands of which you speak to me today?<br />
And where these joys? Since then I <strong>de</strong>em five hundred years have passed away" 18 .<br />
"For you are drunken with the magic of a wondrous summer dream<br />
That in you is lighted... but ask her longing and I <strong>de</strong>em<br />
That she will speak to you of frills and bows, and the latest mo<strong>de</strong>,<br />
While secretly within your heart there beats the rhythm of an o<strong>de</strong> 19 .<br />
Throughout the entire work, the genius, the titan is opposed to the common,<br />
becoming the expression of an individualism shaped in a narcissus – like fashion in<br />
Eminescu's own myth.<br />
Yet this personal myth (the genius) expresses the lack of communication between<br />
the individualities, ultimately it is the expression of a broken harmony, of a world<br />
which is now shattered to pieces 20 . Eminescu is still <strong>de</strong>eply involved in this<br />
scenario. He balances the Romantic rhetoric on one part, and the prosaic<br />
dimension of the existence, on the other. On the one hand, there is the verticality of<br />
the spirit that voyages towards the I<strong>de</strong>a; on the other hand there is the horizontality<br />
of a world in which the values have lost their intimate essence. Un<strong>de</strong>r the<br />
circumstances, poetry as an utopian instrument changes into the symbol of a new<br />
world. This new type of poetry falls short of expressing something original, it fails to<br />
attain the original, the myth:<br />
16<br />
I. Em. Petrescu, op. cit., p. 19.<br />
17<br />
Eugen Todoran, Eminescu, Bucureşti, Minerva, 1972.<br />
18<br />
Mihai Eminescu, Satire IV, in Poems, English version by Corneliu M. Popescu, Bucureşti,<br />
Cartea Românească, 1989.<br />
19<br />
i<strong>de</strong>m., ibid. (Satire V)<br />
20<br />
Still earth shall only earth remain,<br />
Let luck its course unfold,<br />
And I in my own kingdom reign<br />
immutable and cold. (Lucifer in M. Eminescu, op. cit.)<br />
198
Oh! cursed calling, not being given the chance to tell<br />
But stories that have already been told<br />
Thousands of times by Homer and others (Icoană <strong>şi</strong> privaz).<br />
The same i<strong>de</strong>a is reiterated in Dumnezeu <strong>şi</strong> om (God and Man) or in Epigonii<br />
(Epigones). It is the rupture between past and present, a rupture that disintegrates<br />
even the essence. Poetry is no longer an utopian instrument but a skill that<br />
perfectly imitates the world, it is no longer the mirror of the divinity, but a profane<br />
<strong>de</strong>cor in which the limitations grow unbearable.<br />
"Antitheses make up life itself", Eminescu wrote down in his manuscripts.<br />
Antithesis seems to be an obsessive macrotextual <strong>de</strong>vice to Eminescu. The<br />
antithesis involves the dialogue, the spectacular and the tragedy of the poetical<br />
consciousness. Ultimately, we have to un<strong>de</strong>rline that it is opposition whose last<br />
suggestion is the rupture, the crisis and its consciousness. The meanings born out<br />
of the tensions generated by this rhetoric <strong>de</strong>vice (which is the instrument of an<br />
implicit strategy) are numerous. Either there is the contrast between poetry as an<br />
utopian instrument and poetry as an instrument to lucidly investigate history, or<br />
there is the opposition between reality and the compensatory universe (those<br />
"aesthetic dreams" in I. Em. Petrescu's criticism), the world of Eminescu's work is<br />
split in two, it is the world that came into being out of a contradictory consciousness<br />
which objectively remarks on a lack of continuity, a paradigm change. The world,<br />
its elements, ultimately the individual is looked upon as an in<strong>de</strong>structible complex<br />
of dialogic tensions. First of all, these dialogic tensions are the outcome of the<br />
contacts between epochs and secondly of the need to convey a certain direction to<br />
a culture whose i<strong>de</strong>ntity is in <strong>de</strong>ficit. Eminescu's strategy tends actually to reveal<br />
the evil hid<strong>de</strong>n in a particular "reality":<br />
So what strange fancy holds your mind<br />
What dreaming thus belates you?<br />
Return to earth and there you'll find<br />
The awakening that awaits you? (Lucifer) 21 .<br />
This attitu<strong>de</strong> announces nihilism, yet while the mo<strong>de</strong>rn nihilist i<strong>de</strong>alizes by<br />
proliferating ugliness, leaving the past shattered to pieces, Eminescu still feels a<br />
<strong>de</strong>ep nostalgia for the essence. Given his everlasting nostalgia, <strong>de</strong>ep and sincere<br />
to such an extent that the dialogue is practically refused, Eminescu will forever be<br />
an inveterate Romantic. His option will forever be balanced towards the I<strong>de</strong>a. As a<br />
matter of fact, what is important in<strong>de</strong>ed is that beyond his "option" there is the<br />
anxiety due to the paradigm change.<br />
Eminescu versifies this anxiety. He either does it directling from the perspective of<br />
his personal myth, as he does in Lucifer, Satire I and Satire V, or indirectly, through<br />
past – present antithesis (Satire III, Epigones, God and Man etc.) or else through<br />
reality – i<strong>de</strong>al antithesis (Satire IV and Icoană <strong>şi</strong> privaz). The corpus of his feelings<br />
and aspirations – the utopian instrument – is replaced by the fall in the lucidity of<br />
the epic, of the prose:<br />
21 Lucifer in M. Eminescu, op. cit.<br />
199
O, I'm weary of life composed of disillusion's stuff,<br />
Of misery and bitter prose... of such a life I've had enough 22 .<br />
The integral assumption of paradigm is unpretentiously ma<strong>de</strong> in Romanian<br />
literature after Eminescu, <strong>de</strong>spite the series of epigones that are to follow.<br />
Eventually, Bacovia will consi<strong>de</strong>r the utopian instrument a real mirror to reflect the<br />
<strong>de</strong>gradation of the world, what Eminescu inferred half a century ago Bacovia will<br />
later on experience to its utmost. The Utopia of the Romantic revolutionary mo<strong>de</strong>ls,<br />
necessary in its time, by disintegrating itself, left space for new manners of<br />
reconsi<strong>de</strong>ring values. It left space for Romanian mo<strong>de</strong>rn poetry.<br />
22 Satire IV in M. Eminescu, op. cit.<br />
200
CARMEN BLAGA<br />
TEMESWAR<br />
Paradigms and crisis in early Romanian mo<strong>de</strong>rnity<br />
From the two-hea<strong>de</strong>d eagle to the hole in the flag<br />
While reading Slavoj Zizek's Tarrying With the Negative, one cannot help being<br />
struck by the philosopher's consi<strong>de</strong>ring the image of the Romanian flag with the<br />
Communist emblem cut out by the 1989 revolutionaries as an emblem of what<br />
might be called pure negativity:<br />
The most sublime image that emerged in the political upheavals of the last years –<br />
and the term "sublime" is to be conceived here in the strictest Kantian sense – was<br />
undoubtedly the unique picture from the time of the violent overthrow of Ceauşescu<br />
in Romania: the rebels waving the national flag with the red star, the Communist<br />
symbol, cut out, so that instead of the symbol standing for the organizing principle<br />
of the national life, there was nothing but a hole in its center. It is difficult to imagine<br />
a more salient in<strong>de</strong>x of the "open" character of a historical situation "in its<br />
becoming", as Kierkegaard would have put it, of that intermediate phase when the<br />
former Master Signifier, although it has already lost the hegemonical power, has<br />
not yet been replaced by a new one. (Zizek 1995: 1)<br />
Not only is Zizek's perception of the symbolical meaning very accurate, but, to us<br />
Romanians, it is even more significant, as it recalls another image from a previous<br />
revolution, an image every Romanian school child is familiar with from the ordinary<br />
history books. A group of lean gentlemen wearing their smart Western suits and (to<br />
my eyes) fancy top hats, sternly striding from the right to the left of an indistinct,<br />
pale background and waving the national flag with the emblem of the Bassarabs, a<br />
two-hea<strong>de</strong>d eagle. It was happening in 1848, the year of the pan-European<br />
revolution against "l'ancien régime", when in one of the provinces of future<br />
Romania 1 the ascending middle class outlook inclu<strong>de</strong>d not only human rights and<br />
the restructuring of economy on industrial, free market grounds, but also the<br />
centering of political life around the national values symbolized by the arms of the<br />
Royal House that had done so much to preserve the country's in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nce, to<br />
<strong>de</strong>velop its culture through out the Middle Ages and up to the 17th century. Those<br />
stern, lean gentlemen in smart Western suits had studied in Paris, Viena, Berlin, or<br />
Rome, were familiar with Michelet, Garibaldi, Herbart, Her<strong>de</strong>r, and had become<br />
aware of their national i<strong>de</strong>ntity in the archives and libraries of the Western world<br />
rather than in their Turkified and Phanariotized country. 2 The two-hea<strong>de</strong>d eagle<br />
holding a Christian cross in one of its beaks was raised against the symbols of that<br />
Oriental world in which the Romanians would rather see a hindrance in the way of<br />
their progress than a source of cultural richness, which nevertheless it had been<br />
201
un<strong>de</strong>r certain aspects. But all that belonged to a world that Romanians were<br />
anxious to break free form, especially after the 1789 French revolution, which had<br />
first been mentioned in a Romanian political document in 1804 3 . For the coming<br />
<strong>de</strong>ca<strong>de</strong>s, the want for novelty [i.e., opening toward the Western world, i.e., another<br />
acculturation] would become one of the key words and would be adopted as a<br />
political slogan by the sixth <strong>de</strong>ca<strong>de</strong> of the 19 th century, at the end of which<br />
Vallachia and Moldavia united to form the core of the mo<strong>de</strong>rn Romanian state. Up<br />
to World War I, Romania would un<strong>de</strong>rgo a process of mo<strong>de</strong>rn institutionalization,<br />
would found its industrial units and banks, would build its railroads and enlarge its<br />
ports, but would also become subject to the paradoxes of mo<strong>de</strong>rnity like all the<br />
other mo<strong>de</strong>rn nations. And like in all the other nations, literature and the visual arts<br />
were to offer space for meditation, hypothesis-making and creation of new possible<br />
worlds in contrast with the actual world 4 , whose paradoxes were or seemed to be<br />
insoluble.<br />
If the two-hea<strong>de</strong>d eagle may very well represent the paradox of a nation looking<br />
ahead to its future at the very same time as it reconsi<strong>de</strong>red (with a nostalgic or a<br />
critical eye) its history it stands for more, as far as literature is concerned. The head<br />
trends of Tradition, the outward Realism and the self-centered Romanticism, each<br />
corresponding to one of the basic meanings of mimesis 5 , came to be challenged by<br />
Mo<strong>de</strong>rnist poetics infused with a clear dynamic spirit shortly after their<br />
crystallization as aesthetic matrices for literary creation in the national language. It<br />
was as if the two heads of the eagle had turned to nibble at each other up to the<br />
point of mutual consumption. Up to the point of leaving a hole in the flag.<br />
Socially speaking, the hole in the flag can only represent a momentary combination<br />
of events: more or less legitimately, a Master Signifier will supplant the rejected<br />
one in the best interest of society. Aesthetically speaking, the conversion that the<br />
Mo<strong>de</strong>rnists ten<strong>de</strong>d to operate consisted in ren<strong>de</strong>ring permanent the void that<br />
replaced the Master Signifier of literary Tradition, in their raising of discontinuity to<br />
an absolute value. Trying to see how the Romanian context prepared such artists<br />
as Tristan Tzara, Constantin Brâncu<strong>şi</strong>, Eugene Ionesco and others to become<br />
chief figures of European Avant-gar<strong>de</strong> literary and visual art schools offers the<br />
opportunity for a challenging excursus through a complex cultural space.<br />
Clues and landmarks<br />
The issue of the number of acculturation processes the Romanian people has<br />
un<strong>de</strong>rgone and especially of the extent to which they had been effective, has long<br />
been discussed by literary historians and critics, by sociologists and cultural<br />
anthropologists. A thorough analysis of this subject actually exceeds the regular<br />
dimensions of a scientific paper. However, it should be pointed out that the issue of<br />
Romanian Mo<strong>de</strong>rnity and literary Mo<strong>de</strong>rnism has generally been treated as an<br />
acculturation, either by its advocates (among which Eugen Lovinescu was the chief<br />
figure in the early 20 th century) or by its opponents (the conservative circles<br />
grouped around the Junimea [Youth], Sămănătorul [The Sower], and later<br />
Gândirea [Thought] magazines). Actually, for a century and a half this <strong>de</strong>bate, put<br />
in terms of national specificity versus internationalization of culture, has remained<br />
202
open. It has aroused passions, unbridled rivalry manifest in press polemics, led the<br />
writers to group around distinct literary i<strong>de</strong>ologies supported by distinct literary<br />
clubs and magazines. 6<br />
If the variety of standpoints and the complexity of the issue largely contributed to its<br />
remaining a subject open to Romanian specialists exclusively, another factor with<br />
the same effect was the eclectic i<strong>de</strong>ological climate of the late 19th and early 20 th<br />
centuries. Its repercussions on the literary i<strong>de</strong>ologies make the consecrated terms<br />
of the Western theory of literature partly inoperable in the Romanian context. On<br />
the other hand, the specific terms used by the Romanian specialists of the field<br />
with reference to their national literature and attitu<strong>de</strong> towards culture are<br />
meaningless to the foreign research scientists. Therefore, re-opening a <strong>de</strong>bate so<br />
old and difficult is not simply a matter of erudition or synthesis, but always a trial. A<br />
trial, in the first place, on account of the difficulty to bring into accord the<br />
terminology previously used.<br />
A first topic to approach is that of the mental matrix any acculturation is supposed<br />
to modify. Why, in the case of Romania, one cannot help remarking that the mental<br />
matrix that the Western mo<strong>de</strong>rnity was opposed to was not by far homogeneous. It<br />
is generally referred to as ‘romanitate orientală’ [Eastern Romance language<br />
and/or culture], an idiom expressing both our appurtenance to the Romance family<br />
of languages and culture, and its peculiarity. This peculiarity is seen as opposed to<br />
Western Romance languages, but also to the Catholic, and later the secularized,<br />
rationalistic outlooks upon the world or history, with their respective symbolic<br />
networks functioning in i<strong>de</strong>ology and visual imagery. This peculiarity is, in itself, the<br />
result of a previous synthesis having occurred during the Middle Ages, through the<br />
epochs at which Byzantium had un<strong>de</strong>rtaken the imperial i<strong>de</strong>als formerly<br />
represented by Rome.<br />
After the conquest of the Eastern Empire of the Palaeologues by the Ottomans<br />
(1453), some elements of the Byzantine mindscape passed on to the Turks and<br />
blen<strong>de</strong>d with Muslim i<strong>de</strong>as and/or images that spread all over the Balkans to be<br />
absorbed or rejected by the local cultural communities (Iorga 1933: 158, Russo<br />
1939: 505). Therefore the concept of national Romanian specificity cannot be<br />
interpreted in terms of ethnic-cultural homogeneity (”pureness”), but only in those<br />
of mental synthesis including, among others, certain Oriental components. In fact a<br />
reputed historian, Dinu C. Giurescu, recommends “the complex civilization of<br />
South-Eastern European peoples” to be consi<strong>de</strong>red “in the light of the dialectical<br />
‘unity in variety’ principle” (Giurescu 1964: 359).<br />
While analyzing the Oriental components of Romanian literature, Constantin<br />
Ciopraga points out that "[w]ith most Romanian writers, ‘Balkan mentality’, as<br />
expression of an ethical attitu<strong>de</strong>, rather involves rejection than emotional adhesion,<br />
rather brings about irony directed against a second-rate life style seen as a mixture<br />
of triviality and foul temptations." (Ciopraga 1973: 114) Yet, further on, when<br />
consi<strong>de</strong>ring the meanings of ‘Balkanism’ as applicable to some other, mostly<br />
Moldavian (such as Sadoveanu), writers, Ciopraga retains "the blend of refinement,<br />
passivity, and <strong>de</strong>ca<strong>de</strong>nce" of Byzantine source, appearing "in a super-reality in<br />
which straightforward sense is supplanted by the poetry of remoteness, by a<br />
timeless, immaterial, sumptuous or <strong>de</strong>ca<strong>de</strong>nt, fantastic universe of essences."<br />
(Ciopraga 1973: 115)<br />
203
Three years after Ciopraga, Mircea Muthu distinguishes between balcanitate<br />
[‘Balkan mindscape’], by which he un<strong>de</strong>rstands “the mindscape of an essentially<br />
Mediterranean civilization to which the alluvial forms of a few other transitory<br />
cultures were ad<strong>de</strong>d through slow sedimentation” (Muthu 1976: 28), and balcanism<br />
[‘Balkanism’], that is, “a [trend in] literary art which recoups and ‘re<strong>de</strong>ems’ – un<strong>de</strong>r<br />
the sign of tragedy or parody – a dramatic national history, thus ren<strong>de</strong>ring the<br />
feeling of our permanence in time and space”. (Muthu 1976: 21)<br />
Obviously, in this sentence, which chiefly refers to the early 20 th century writers and<br />
their propensity to ignore the synthesis of cultural elements that had already been<br />
achieved in the Romanian nation along the 2000 years of its history, Ciopraga’s<br />
note above resumes the point of view of the “Mo<strong>de</strong>rnists”. However, in the author's<br />
own opinion, the term 'Balkanism' covers several, more or less distinct notions<br />
whose implications and sha<strong>de</strong>s of meaning it displays.<br />
One should distinguish between the Balkanism of folklore, first signaled out by<br />
Odobescu in the poetic 'echoes' from the Pindus [mountains] that were being softly<br />
heard in the Carpathians, and an anxious Balkanism, a chimerical, absoluteseeking<br />
one, as seen in Master Manole's longing for beauty (a motif endowed with<br />
strong autochthonous notes in Romania), on the other hand between the jovial<br />
Nasr-al-Din-like [‘nastratinesc’] Balkanism of Anton Pann, and, finally, a kind of<br />
Balkanism which materialized in outward forms... (Ciopraga 1973: 113)<br />
Thus in Ciopraga, ‘Balkanism’ covers both the meaning of appurtenance to the<br />
cultural community of the Balkan peoples (which Muthu <strong>de</strong>signs by ‘Balkanness’),<br />
and that of a style (Muthu says more: ‘a literary trend’ comparable to Classicism,<br />
Romanticism etc.) manifested in the images induced by literary texts, as well as in<br />
the visual arts. To these Constantin Ciopraga adds a pragmatic (‘action’)<br />
component, reflected in the lexical borrowings enriching the sphere of everyday-life<br />
vocabulary: clothing, table and leisure accessories, individual and/or social actions.<br />
This author’s <strong>de</strong>scription very well reflects the textual character of the civilization<br />
referred to the fact that the latter’s intricacy and overlapping of levels is transposed<br />
as such into a <strong>de</strong>finition having a synthetic character.<br />
On the contrary, Mircea Muthu prefers an analytical approach of the textual<br />
Romanian civilization of the Middle Ages and subsequent centuries. This allows<br />
him to reveal the multiple sources of the Romanian synthesis in <strong>de</strong>tail and to follow<br />
the stages that the Eastern Romance area has witnessed along the last thousand<br />
years.<br />
Nevertheless, the views of the two scientists agree upon the basic outlines of the<br />
traditional Romanian mindscape. By the mid-nineteenth century there were in<br />
Romania at least two mental matrices of the traditional, Balkan type: the folklore<br />
matrix, characterizing the country life, and the learned one, characteristic of city<br />
life. However, beyond this (normal, in fact, un<strong>de</strong>r those social circumstances)<br />
partition of cultural subsystems, Mircea Muthu discovers a split having the<br />
importance and proportions of arch-structural duality, inherent to Byzantine culture.<br />
The Byzantine inheritance transmitted to the Romanians through the 4 th – 7 th and<br />
10 th – 13 th centuries was <strong>de</strong>eply marked by these multiple oppositions.<br />
The two-hea<strong>de</strong>d eagle – that emblem of the Byzantine Empire adopted by Neagoe<br />
Bassarab, the learned prince of 16 th century Vallachia – was the symbol of this<br />
basic duality in Byzantine society, which was represented by the State and the<br />
204
Church, two parallel organizations which would both bow over the body of the<br />
nation with majesty and concern.<br />
“Byzantium after Byzantium” and the two heads of the eagle<br />
In one of his chief books about Romanian history, BizanŃ după BizanŃ, Nicolae<br />
Iorga pointed out that, due to the continuity of relationships between the Romanian<br />
provinces and Byzantium, after the Muslim conquest of Constantinople, the spirit of<br />
the Empire continued to exist in the form of three elements: the i<strong>de</strong>al of a<br />
Constantinopolitan throne, the Serbian dynasty, and the Vallachian monarchy<br />
(1972: 82). It is, therefore, clear why Neagoe Bassarab, “the all-pious lord, the<br />
great prince and master and autocrat” (as Gabriel Protos <strong>de</strong>scribed him) had<br />
adopted an emblem so eloquent of the former empire’s duality. In a case like this,<br />
one cannot refer to this phenomenon as ‘acculturation’, because the Byzantine<br />
social and political dualism was only the expression in organizational terms of a<br />
<strong>de</strong>eper dualism characteristic of the South-east-European mental matrix, that<br />
researchers like Louis Bréhier (1924) or Charles Diehl (1969) did not fail to note in<br />
their studies on Byzantine culture and art, and which is notable in the folklore of the<br />
neighbouring nations as well.<br />
This dualism fundamentally resi<strong>de</strong>s in the theological outlook on the world relying<br />
on the Christian duality between the body and the spirit, further leading to those<br />
between the sacred and the profane, the religious and the lay. It coagulated and<br />
revealed itself in culture as a double, learned and folk tradition, while in the visual<br />
arts it is manifest in the opposition between the hieratism of the icon and the quasinaturalism<br />
of emotional, dramatic painting (Diehl 1969: 150).<br />
During the Middle Ages, a fusion of the opposing concepts has been noticed to<br />
have occurred in the Christian philosophy of the Byzantine area, leading to what<br />
was called ‘Christian Humanism’ (Meyendorff 1959). Its roots were found in the<br />
ancient conception on the double, divine and human nature of Christ, and in the<br />
influences of Averroes’ post-Aristotelianism. The cultural paradox un<strong>de</strong>rlying the<br />
epoch’s <strong>de</strong>bate on the basic dogmas of Christianity led Theophilos Corydaleos to<br />
formulate his ‘theory of the double truth’ in the early 17 th century. This theory – by<br />
which “the intellectual relationships between the East and the West [of Europe]<br />
were resumed”(Tsourkas 1967: 211) – was spread by the Greek teachers of the<br />
17 th and 18 th centuries throughout the Balkan area, reaching far beyond the<br />
Danube.<br />
Un<strong>de</strong>r the circumstances, the Southeastern European cultures were prepared by<br />
the former Christian Humanism to adopt a dialectical view on the world in terms of<br />
which oppositions were interpreted as theoretical moments of actual synthesis, and<br />
the concept of 'complementary entities' was becoming an acceptable one. The<br />
Romanian provinces witnessed this process occur pretty early, as Petre Lucaciu<br />
points out: “the Aristotelian theory of categories was part of the intellectual<br />
patrimony of the learned Romanians as early as the 14th and 15th centuries”<br />
(1970: 39). This was a fact that must have favoured their contamination with the<br />
contemporary Western humanism (Muthu 1976: 81).<br />
205
Dualistic literary myths<br />
The dualistic arch-structure of thought is observed in the Romanian myths and<br />
literary motifs as well, whether they are <strong>de</strong>veloped in folklore or in learned fiction.<br />
In a later comparative approach of Southeastern European literatures, Mircea<br />
Muthu shows that the basic myths present in these participate of the same dualism<br />
and correlate symbols of totemic, un<strong>de</strong>rworld-mythological and bookish origin.<br />
(Muthu 1986: 13) Given the various sources of such symbols relating to different<br />
epochs and types of human organization, Muthu’s research is directed towards<br />
individualizing the <strong>de</strong>eper, mental roots of the dual mo<strong>de</strong>l in Romanian culture. A<br />
survey of the Romanian ethnologists’ studies regarding the phenomenon (Buhociu<br />
1979, Cretu 1980) leads him to the conclusion that the type of civilization having<br />
<strong>de</strong>veloped in Ancient, pre-Roman, Dacia continued after the Roman acculturation<br />
of the Carpathian-Danubian area, which explains the coexistence of<br />
anthropomorphous symbols with vegetal, mineral and animal ones at an early<br />
stage of this area’s culture.<br />
After the break between the pastoral and the agrarian, the sense of continuity of<br />
the universe was lost and the archaic culture rapidly split into folklore and city, then<br />
élite culture. Two aspects are to be mentioned in this context. One is that “the<br />
contact of myth with city life only occurred after the crystallization of its dual<br />
structure” (Muthu 1986: 16). The other refers to the fact that the origins of<br />
fictionalization may be found in an ethical shift. A leap was taken from “the i<strong>de</strong>a of<br />
man’s unity with the cosmos”, proper of folklore (CreŃu 1980: 52), to the awareness<br />
of a gap between nature and culture, leading to “man’s propensity to associate his<br />
own moral concepts with animals, [which] amplifies the scope of this [fictional – our<br />
note, C.B.] world, making it ever more fictitious” (Muthu 1986: 16). Later on, the<br />
i<strong>de</strong>ntification of country life with ‘nature’ and of city life with ‘culture’ would bring<br />
about the creation of the estrangement song, a thematic subspecies of the folklore<br />
lamentation (‘doina’), as well as the rise of an intense, though often hazy,<br />
unconscious feeling of guilt experienced by the early Mo<strong>de</strong>rn intellectuals of the<br />
late 19 th and early 20 th centuries.<br />
Thus, the so-called ‘native balance’ of the Romanian spirit, which seems to<br />
characterize our civilization and, especially, literature at a bird’s eye view, only<br />
projects into the absolute an i<strong>de</strong>al (i.e., mental) synthetic mo<strong>de</strong>l of what is “the<br />
permanence of a state of crisis, set up in the folklore creation and resumed by the<br />
learned artists” throughout our history (Muthu 1986: 16).<br />
Elharekietul Berekiet<br />
As early as the 17 th century, the learned Romanian literature witnessed the apex of<br />
this synthesis within the boundaries of the paradigm of Tradition. It was carried out<br />
by a prince educated in Istanbul (the former Constantinople protected by the twohea<strong>de</strong>d<br />
eagle), but nonetheless familiar with Western European culture thanks to<br />
his extraordinary foreign language proficiency and his chance to learn in an, after<br />
all, cosmopolitan centre as Istanbul. It was Dimitrie Cantemir (1673 – 1723), a<br />
writer of genius but a failed politician who, <strong>de</strong>feated at Stănileşti in 1711, exiled<br />
206
himself at the Court of Peter the Great in Russia. There he raised his son, Antioch<br />
(1708 – 1744), who was to become Russia’s ambassador to England and France,<br />
as well as one of the chief representatives of Russian Classicism.<br />
In spite of the greater literary interest of his other works, it is beneficial to the<br />
progress of this study to consi<strong>de</strong>r Dimitrie Cantemir’s Incrementa atque<br />
<strong>de</strong>crementa aulae ottomanicae [“Rise and Decline of the Ottoman Empire”] 7 . The<br />
author’s notes and comments allow us to specify the effects of the Turkish<br />
influence on the literatures of Southeastern Europe, especially on ours. That<br />
enables the researcher to better envisage the basis for the future relationships they<br />
entered into with the bourgeois-mo<strong>de</strong>rn (Călinescu 1995: 46-47) Western cultures.<br />
In this connection it is important to remember that the mo<strong>de</strong>l of the Western<br />
sequence of literary trends, from Neoclassicism through ‘High’ and ‘Bie<strong>de</strong>rmeyer’<br />
Romanticism to the late 19 th century Post-Romanticism, is only applicable cum<br />
grano salis to the ‘peripheral’ areas of the Continent. While consi<strong>de</strong>ring the<br />
passage from Romanticism to Mo<strong>de</strong>rnism and further to Surrealism in the<br />
‘peripheral’ areas including Greece and Romania, Victor Ivanovici points out in the<br />
first place that “the ‘peripheral’ literatures are unable to overcome the Neoclassical<br />
aesthetics on their own: therefore, […] they need a spur from outsi<strong>de</strong> […]”<br />
(Ivanovici 1996: 67). This is generally what the Western mo<strong>de</strong>ls provi<strong>de</strong>d them<br />
with, but it should be clear that professional artists would not have followed such<br />
mo<strong>de</strong>ls, however bright, for the pure and simple sake of imitation. The less so in<br />
cultural areas in which and at such epochs when the written word is thought to<br />
express a <strong>de</strong>ep and strong belief it is worth living (or dying) for. And it was the case<br />
with the Southeastern European countries from the late 18 th century through the<br />
1880’s, when in this part of the world <strong>de</strong>veloping a national culture ma<strong>de</strong> sense as<br />
an act of political resistance.<br />
Un<strong>de</strong>r the circumstances, it is only legitimate to ask oneself whether the ‘Turkified’<br />
and ‘Phanariotized’ provinces of Southern and Eastern Romania were somehow<br />
prepared to receive and, of course, select elements from the Western mo<strong>de</strong>ls so<br />
as to found their national literatures as components of mo<strong>de</strong>rn European culture.<br />
Well, Cantemir’s work as an Oriental scientist is very helpful to this end.<br />
A basic dualism strikes the anthropologist when he comes to un<strong>de</strong>rstand from<br />
Cantemir’s notes that the Muslim belief in Provi<strong>de</strong>nce coexisted with the i<strong>de</strong>a that<br />
‘Elharekietul Berekiet’, which is to say, ‘movement is happiness’ (Cantemir 1876:<br />
197, note 52). Mircea Muthu interprets this as a basis for “the Oriental’s perhaps<br />
unconscious propensity towards inner freedom which is, of course, but illusory as<br />
long as the shell of <strong>de</strong>eply rooted prejudice origin-ating in the Koran lore cannot be<br />
broken” (Muthu 1976: 77).<br />
Nevertheless, real dynamism was proper of the Turks as both warriors and<br />
businessmen. They must have set, along with the Greeks, a good example for the<br />
Romanians to follow in business at least, so well that by 1774 the Romanian<br />
sellers of agrarian products had become strong enough to impose, among other<br />
things, the liberalization of commercial exchanges in their favour, upon the<br />
Ottoman Empire, at Kuciuk-Kainargi. (Pătrăşcanu 1969: 18 sq.) It is also true that,<br />
in the last <strong>de</strong>ca<strong>de</strong>s of the 19 th century, such dynamism was to appear to the more<br />
lucid Romanian wits of the epoch more as a source of ‘Brownian movement’ than<br />
as a spur towards progress. But, whatever the interpretation, the need for<br />
207
movement and variety was a fact in 19 th century Romania and it could not have<br />
<strong>de</strong>rived from the centripetal movement towards the ‘totemic ancestor’ or<br />
‘un<strong>de</strong>rworld wizard’ of folklore that Mircea Muthu rightfully mentions as figures of a<br />
tragic myth.<br />
No less paradoxical than the i<strong>de</strong>a of movement within pre<strong>de</strong>stination are the<br />
importance conce<strong>de</strong>d to the person, to one’s individual uniqueness, and the i<strong>de</strong>a<br />
that personal value stands above birth (Cantemir 1876: I, 58, n. 29). Nothing is<br />
closer to the mentality of the daring, industrious, self-centered Western middle<br />
class hero than this appraisal of the human being, which imposed itself in the<br />
Balkans too, on the background of the previous Christian acknowledgement of the<br />
body (with Gregorios Palamas) and the diffusion of hesychasm.<br />
Historically speaking, these paradoxes gave way to two successive leading<br />
attitu<strong>de</strong>s.<br />
The first attitu<strong>de</strong> was one favourable to Balkan co-operation and can be <strong>de</strong>scribed<br />
as openness within the Balkan community. It arose from both historical experience<br />
and cultural creations that blen<strong>de</strong>d to generate a climate of co-operation of the<br />
rising Balkan nations against the Ottoman Empire un<strong>de</strong>r the cultural and political<br />
lea<strong>de</strong>rship of Greeks. (Cornea 1972: 63, Muthu 1976: 102-108) The century-long<br />
economic, cultural and political relationships in which the three Romanian<br />
provinces were engaged in spite of their autonomy and/or appurtenance to<br />
different states and régimes showed that co-operation was possible beyond state<br />
bor<strong>de</strong>rs. At the moment when the Greek Etheria was foun<strong>de</strong>d, its political goals<br />
involved the Romanian provinces insofar as the restoration of the former<br />
multinational, orthodox Christian Byzantine Empire was conceived to be carried out<br />
on the territory of Vallachia and Moldavia. Besi<strong>de</strong>s, the revolutionary movement led<br />
by Tudor Vladimirescu (1821), aiming at the Romanians’ national emancipation,<br />
arose with the outspoken support of the then lea<strong>de</strong>rs of the Etheria. The split<br />
between Vladimirescu and Etheria was caused, among other factors, by the<br />
different outlooks upon a key-issue: the political statute of the Romanians among<br />
the Balkan nations. This compels us to consi<strong>de</strong>r the cultural factors involved in the<br />
dialectics of Romanian political thought, which were less obvious in the 1821<br />
revolutionary process but would become so in the subse-quent years. Such cultural<br />
factors fostered the emergence of a new attitu<strong>de</strong>, favour-able to the ‘grammatical’<br />
organization of a nation-centered society, whose immediate correlative was the<br />
aspiration towards in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nce.<br />
The political frustrations arising from the political statute of the Romanian<br />
provinces 8 through the 16 th – 18 th centuries created an intense need for<br />
compensations, which could be only cultural in nature. (Alexandrescu 1999: 21)<br />
Whilst the i<strong>de</strong>a that «a fe<strong>de</strong>rative system would have been highly characteristic of<br />
early Christianity and, generaly speaking, of the Orthodox Christian Church»<br />
(Tomoioagă 1971: 236) may have been used by the Church as an argument to<br />
preserve the status-quo, the lay historians and politicians <strong>de</strong>veloped what may be<br />
called the three basic cultural myths of pre-Mo<strong>de</strong>rn Romania. As Sorin<br />
Alexandrescu points out, this phrase should not be un<strong>de</strong>rstood as referring to the<br />
inconsistency of these so-called ‘myths’ with historical facts, but to their constituting<br />
the cultural support for future political attitu<strong>de</strong>s finally resulting in action<br />
(Alexandrescu 1999: 22). These three i<strong>de</strong>as forming the hard core of Romania’s<br />
208
cultural movements from the 16 th century through the present are: the Latin origins<br />
of the Romanians and their language, their unity and continuous historical<br />
presence on both si<strong>de</strong>s of the Carpatian Mountains, and the in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nce of their<br />
ancestors. The mental pattern involved in this project is clearly based on the selfcentering<br />
of the nation, on the <strong>de</strong>cision to severe the links with the oppressive<br />
Master-Signifiers i<strong>de</strong>ntified in Romania’s geopolitical neighbourhood (the Ottoman<br />
and the Habsburg Empires), which entailed two simultaneous consequences. One<br />
was the need for cultural emancipation from the Balkan influences, the other was<br />
the opening towards the Enlightenment values, which are obvious enough in the<br />
interest that the rising middle class showed in the social and political innovations<br />
brought about by the 1789 French revolution. A later (19 th century) cultural creation<br />
is represented by theories. Although they are the result of now secularized thought<br />
upon society and in spite of their claim at rationalistic foundations, they show the<br />
extent to which the earlier cultural creations had been assimilated to true facts<br />
usable as arguments for or against the matters in hand. So is Ion Helia<strong>de</strong><br />
Rădulescu’s Equilibru între anthitesi sau spiritul <strong>şi</strong> materia [Balancing Antitheses,<br />
or Spirit and Substance], construed on the concept of an eternally dual archstructure<br />
of reality (involving political reality as well) which would resolve in<br />
metaphysical synthesis. Helia<strong>de</strong>’s theory is politically relevant in that it urged the<br />
Balkan nations to carry out that synthesis by founding a fe<strong>de</strong>ration (un<strong>de</strong>r the<br />
Ottomans as political gui<strong>de</strong>s!) 9 apt to contribute to the social and moral<br />
regeneration of Eastern, and eventually, Western Europe. The <strong>de</strong>ficient logical<br />
mo<strong>de</strong>l un<strong>de</strong>rlying Helia<strong>de</strong>’s view of antithetic units as non-interfering monads,<br />
which ma<strong>de</strong> no dialectics possible, was not only the result of previous local cultural<br />
myths, but also of his <strong>de</strong>ep knowledge of Middle-East dualistic doctrines. Anyway,<br />
at the time when it appeared (1859-1869), the author’s conservatism and attempt<br />
at reconciliation with the Ottomans were <strong>de</strong>emed as obsolete, half-hearted<br />
positions. After 1845, Nicolae Bălcescu’s studies of the Ottoman laws concerning<br />
the Romanians (Drepturile românilor către Inalta Poartă, 1848) and Romania’s<br />
revolutionary movements (Mersul revoluŃiei în istoria românilor, 1850), to say<br />
nothing of his analysis of the economic question of the Lower-Danube provinces<br />
(Question économique <strong>de</strong>s Principautés Danubiennes, 1850), had ma<strong>de</strong> it clear<br />
that the Romanian provinces nee<strong>de</strong>d to re-organize themselves on clear-cut<br />
grammatical bases (a constitutional régime), capitalistic economic foundations, to<br />
unite and win their political in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nce if they were to survive. ‘Breakage’,<br />
‘separation’ became the leading concepts of middle class political attitu<strong>de</strong> towards<br />
the Balkan – Ottoman past around 1848, and they were to remain so for nearly two<br />
<strong>de</strong>ca<strong>de</strong>s, after which a new set of more complex slogans was to <strong>de</strong>fine the endcentury<br />
official discourse. From institutional mo<strong>de</strong>rnity through artistic Mo<strong>de</strong>rnism,<br />
‘breakage’ and ‘separation’ were not only the key-concepts, but also the outcome<br />
of a dynamic conjuncture bringing about the gradual atomization of the Romanian<br />
political class around the year 1900.<br />
209
Notes<br />
(1) This is not to say that Vallachia (the Southern part of nowadays Romania) was<br />
the only Romanian principality in which the economic background and the middle<br />
class mentalities would foster the institutionalization of capitalism. The 1848<br />
revolution burst out in all three of Romanian provinces, which were, at that time,<br />
separated and politically dominated by the Ottomans (Moldavia and Vallachia) and<br />
by the Habsburgs (Transsylvania). We are referring here to but one of these<br />
because the image in question represents the Vallachian rebels of 1848.<br />
(2) In his Istoria literaturii române in secolul al XVIII-lea [History of 18 th Century<br />
Romanian Literature) Nicolae Iorga presented the Turkish and Phanar influences<br />
upon the late 17th and 18th century Romanian writers in terms of outlook, attitu<strong>de</strong>,<br />
and style. More recently, this <strong>de</strong>bate has been reopened by historians like A.D.<br />
Xenopol, Demostene Russo (1939), Al. Elian (1958), Dinu C. Giurescu (1964) etc.,<br />
while the issue of the Byzantine, Balkan and Western influences on Romanian<br />
culture was treated by Mihail Kogălniceanu, Titu Maiorescu, Garabet Ibrăileanu<br />
before World War I, then by Eugen Lovinescu (1924-1926), Pompiliu Elia<strong>de</strong> (1939),<br />
P.P. Panaitescu (1969), Corina Nicolescu (1971), Constantin Ciopraga (1973),<br />
Răzvan Theodorescu (1974), Mircea Muthu (1976, 1986), etc.<br />
(3) Significantly, it was an appeal for political <strong>de</strong>mocratization ma<strong>de</strong> by<br />
representatives of the gentry to the then prince of Moldavia, followed in 1821 by<br />
the revolt of the Vallachians lead by Tudor Vladimirescu in alliance with the Greek<br />
'Etheria', then in 1822 by the project of a <strong>de</strong>mocratic Constitution construed un<strong>de</strong>r<br />
the reign of Ion Alexandru Sturdza (Ornea 1972: 87-88).<br />
(4) In a quite recent <strong>de</strong>bate on possible worlds, Jaakko Hintikka pointed out that in<br />
logic possible worlds are interesting only as part of a semantic game, but never in<br />
themselves, on account of their being void. “A semantic game is not played on a<br />
single mo<strong>de</strong>l, but on a mo<strong>de</strong>l space on which proper alternation relations are<br />
<strong>de</strong>fined.” (Hintikka 1989: 58) In literature, as Umberto Eco shows, one has never to<br />
do with void possible worlds, but only with “furnished” ones (1996: 223). In<br />
“furnishing” the worlds of fiction, one uses perception-based mental images, which<br />
may subsequently be modified by reduction, <strong>de</strong>composition, agglutination etc.<br />
(Kosslyn 1989). Whether one admits it or not, the main reference point in this game<br />
is one’s mental construct of “the actual world” against which the construction of any<br />
fictional world is a reaction. We find this implication as early as in Aristotle, who<br />
points out that the image of the world obtained by mimesis may result more<br />
beautiful or uglier than the perceived image of the actual world (Poetics, 1448 a, 2).<br />
(5) Wladyslaw Tatarkiewicz i<strong>de</strong>ntifies two basic meanings in the ancient Greek<br />
authors: one refers to “copying the appearances of things” and the other <strong>de</strong>notes<br />
“symbolizing the dynamics of the soul” (Tatarkiewicz 1973: III, 227).<br />
(6) Z. Ornea (1972) gives <strong>de</strong>tails in this connection.<br />
(7) The work has been available in English since 1735, in French since 1743, and<br />
in German since 1747, on account of its being one of the first works of erudition<br />
regarding the Ottoman history and culture.<br />
(8) While Vallachia and Moldavia were neither in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nt states, nor vassals of<br />
210
the Ottoman Empire (Alexandrescu 1999: 20), Transylvania was part of the<br />
Habsburg Empire. In Transylvania, Romanians were not officially recognized as an<br />
ethnic group and were not granted the right to use their mother tongue in the<br />
institutions of the state and in education.<br />
(9) Helia<strong>de</strong> saw in the Ottomans a people of fierce but honest warriors able to<br />
balance the Byzantine propensity at intrigue and corruption.<br />
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Tsourkas, Cléobule (1967): Les débuts <strong>de</strong> l’enseignement philosophique et <strong>de</strong> la<br />
libre pensée dans les Balkans. La vie et l’oeuvre <strong>de</strong> Théophile Corydalée.<br />
Thésalonique: Institute for Balkan Studies. Apud Muthu 1976: 60-61.<br />
Zusammenfassung<br />
Vorliegen<strong>de</strong> Arbeit setzt sich zum Ziel, einige Elemente <strong>de</strong>r weitverbreiteten<br />
Mentalität im rumänischen Raum aus historischer Perspektive darzustellen, einer<br />
Perspektive, die sich ausschließlich auf die Zeitspanne <strong>de</strong>s Übergangs vom<br />
Mittelalter <strong>zur</strong> Mo<strong>de</strong>rne bezieht. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um eine Perio<strong>de</strong> von<br />
ungefähr 300 Jahren, in <strong>de</strong>r sich die rumänische Mentalität als eine Komponente<br />
211
<strong>de</strong>r süd-östlichen Kultur Europas (genauer gesagt <strong>de</strong>s Balkans) erwiesen hat. In<br />
dieser Perio<strong>de</strong> kommt es zu einer Synthese und Differenzierung <strong>de</strong>r rumänischen<br />
Kultur im balkanischen Kontext. Außer<strong>de</strong>m wird die Existenz einiger polaren<br />
Mentalitätsstrukturen hervorgehoben, die <strong>de</strong>n balkanischen Kulturen und somit<br />
auch <strong>de</strong>r rumänischen Kultur eigen sind. Diese Strukturen beeinflussen die<br />
Rezeption <strong>de</strong>r westlichen Mo<strong>de</strong>rne positiv, so daß ein Gebil<strong>de</strong> von Darstellungen<br />
und Werten entsteht, das ebenfalls als polare, ja sogar paradoxale Struktur<br />
organisiert ist. Dabei wer<strong>de</strong>n die von historischen und literarischen Quellen<br />
bestätigten orientalischen Einflüsse in Betracht gezogen. Was wir hervorheben<br />
wollen, ist die Tatsache, daß die Mo<strong>de</strong>rne nicht ausschließlich “importiert” wur<strong>de</strong>,<br />
son<strong>de</strong>rn daß ein günstiges Milieu als Voraussetzung <strong>zur</strong> Aufnahme <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne<br />
schon existiert hat. Diese als Katalysatoren wirken<strong>de</strong>n Faktoren haben zu einer<br />
Beschleunigung <strong>de</strong>r Verbreitung <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Mentalität in allen Bereichen <strong>de</strong>s<br />
sozialen Lebens beigetragen.<br />
212
MICHAEL FERNBACH<br />
TEMESWAR<br />
Ästhetische Erziehung als Politikum: Friedrich Schiller und<br />
Richard Wagner<br />
Praeliminarien<br />
Ziel <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit ist es, das Konzept <strong>de</strong>r ästhetischen Erziehung<br />
anhand zweier so einflußreicher Dichter und Denker wie Friedrich Schiller und<br />
Richard Wagner zu <strong>de</strong>finieren und damit einerseits auf die Kontinuität klassischer<br />
<strong>de</strong>utscher Denkkonzepte im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt hinzuweisen, also Wagner in <strong>de</strong>r<br />
Nachfolge <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen I<strong>de</strong>alismus zu betrachten, an<strong>de</strong>rerseits die<br />
i<strong>de</strong>engeschichtliche Transformation eben dieses <strong>de</strong>utschen I<strong>de</strong>alismus in <strong>de</strong>r<br />
zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts ansatzweise in <strong>de</strong>n Blick zu bekommen.<br />
In meinem kurzen Exkurs soll <strong>de</strong>shalb über eine <strong>de</strong>r einflußreichsten<br />
Kunstschriften Wagners, Die Kunst und die Revolution (1849), auf <strong>de</strong>m<br />
Hintergrund von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung <strong>de</strong>s Menschen<br />
(1795) die Re<strong>de</strong> sein.<br />
In seinem Essay Lei<strong>de</strong>n und Größe Richard Wagners (1933) schreibt kein<br />
geringerer als Thomas Mann über Wagner, <strong>de</strong>n Theoretiker:<br />
Was ich beanstan<strong>de</strong>te, von jeher, o<strong>de</strong>r besser, was mich gleichgültig ließ, war<br />
Wagners Theorie – kaum habe ich mich je bere<strong>de</strong>n können, zu glauben, daß je<br />
jemand sie ernst genommen habe […] Wagners Prosaaufsätze, diese ästhetischen,<br />
kulturkritischen Manifeste und Selbsterläuterungen [sind] Künstlerschriften von<br />
erstaunlicher Gescheitheit und <strong>de</strong>nkerischer Willenskraft, die man freilich als<br />
Sprach- und Geisteswerke nicht mit <strong>de</strong>n kunstphilosophischen Arbeiten Schillers<br />
[…] vergleichen darf. Etwas schwer Lesbares, zugleich Verschwommenes und<br />
Steifes gehört zu ihnen, wie<strong>de</strong>rum etwas wild- und nebenwüchsig Dilettantisches;<br />
sie gehören nicht eigentlich <strong>de</strong>r Welt großer <strong>de</strong>utscher und europäischer Essayistik<br />
an. 1<br />
Die Kritik <strong>de</strong>s wohl be<strong>de</strong>utendsten Wagnerianers wiegt zweifellos schwer, muß<br />
aber cum grano salis betrachtet wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Tat legt Thomas Mann mit seinem<br />
Urteil wesentliche Charakteristika <strong>de</strong>r Wagnerschen Schriften schonungslos bloß:<br />
Ihr unsystematischer, Eklektizismus paart sich mit entschie<strong>de</strong>ner Radikalität und<br />
einem naiven Prophetismus, in <strong>de</strong>ssen Zentrum <strong>de</strong>r Künstler Wagner selbst steht.<br />
Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb aber sind diese Schriften, bei all ihren Unzulänglichkeiten, ihrer<br />
Lei<strong>de</strong>nschaftlichkeit und ihrem Utopismus, wichtige Quellen für das Verständnis<br />
nicht nur <strong>de</strong>s musikdramatischen Werkes Wagners. Sie enthalten vielmehr sein<br />
1 Thomas Mann, Lei<strong>de</strong>n und Größe Richard Wagners. In: Ders., Re<strong>de</strong>n und Aufsätze,<br />
Band 1. Fischer: Frankfurt/Main 1960, S. 363-426, hier: S. 373 und 378.<br />
213
kulturästhetisches, kulturpolitisches und kulturreformatorisches Credo und damit<br />
jenes Cluster von I<strong>de</strong>ologemen, das die reifen Musikdramen Wagners überhaupt<br />
erst hervorbringt.<br />
Der Kontext<br />
Bezeichnen<strong>de</strong>rweise entstehen die ästhetischen Schriften Schillers und Wagners<br />
in Perio<strong>de</strong>n vorwiegend theoretischer Überlegungen, in <strong>de</strong>nen bei<strong>de</strong> Autoren für<br />
einige Jahre keine dramatischen Werke verfassen. Mit Don Carlos (1787) zieht<br />
Schiller einen Schlußstrich unter die Epoche seiner Jugenddramen, um sich fortan<br />
„<strong>de</strong>r Menschheit große[n] Gegenstän<strong>de</strong>“ 2 zuzuwen<strong>de</strong>n. Er widmet sich <strong>de</strong>m<br />
Studium <strong>de</strong>r Geschichte, vornehmlich <strong>de</strong>s Dreißigjährigen Krieges, studiert die<br />
Kantische Philosophie und verfaßt ab 1792 seine ästhetischen Schriften, darunter<br />
Über Anmut und Wür<strong>de</strong> (1793), Über die ästhetische Erziehung <strong>de</strong>s Menschen<br />
(1795), Über naive und sentimentalische Dichtung (1795). Nach neunjähriger<br />
Unterbrechung wen<strong>de</strong>t er sich erst En<strong>de</strong> dieses Jahrzehnts wie<strong>de</strong>r jenem Bereich<br />
zu, <strong>de</strong>r ihm Ruhm gebracht hatte, <strong>de</strong>r Dramatik. Das Ergebnis ist sein Meisterwerk,<br />
<strong>de</strong>r Wallenstein (1799/1800). In diesen Jahren reift Schillers Stil, und es vollzieht<br />
sich die Wen<strong>de</strong> zu seinen „klassischen“ Werken.<br />
Im Falle Wagners fällt <strong>de</strong>r Einschnitt mit <strong>de</strong>r Revolution von 1848/49 zusammen.<br />
Wie Schiller in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren seines Lebens (“nel mezzo <strong>de</strong>l camin”), ist<br />
Wagner, <strong>de</strong>r Verfasser <strong>de</strong>s Rienzi (1842), <strong>de</strong>s Fliegen<strong>de</strong>n Hollän<strong>de</strong>rs (1843), <strong>de</strong>s<br />
Tannhäuser (1845) und <strong>de</strong>s Lohengrin (1848), zu jener Zeit Hofkapellmeister in<br />
Dres<strong>de</strong>n. Der Unzufrie<strong>de</strong>nheit über <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Hofverwaltung gegenüber<br />
seinen reformatorischen Plänen macht er Luft, in<strong>de</strong>m er sich <strong>de</strong>n republikanischen<br />
Ten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r Zeit anschließt. Sein Engagement ist dabei jedoch an äußerst<br />
eigennützige Vorstellungen gebun<strong>de</strong>n: Der Sieg <strong>de</strong>r Revolution soll zugleich und<br />
notwendigerweise <strong>de</strong>r Theorie und Praxis <strong>de</strong>s Künstlers Richard Wagner <strong>zur</strong><br />
Durchsetzung verhelfen. Doch es kam an<strong>de</strong>rs. Der Maiaufstand in Dres<strong>de</strong>n 1849<br />
wur<strong>de</strong> nach ein paar Tagen durch eine Militärintervention unterdrückt, und Wagner,<br />
<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>m Aufstand aktiv teilgenommen hatte, mußte ins Schweizer Exil fliehen.<br />
Er sollte bis zu seiner Berufung nach München 1864 durch König Ludwig II. nicht<br />
wie<strong>de</strong>r nach Deutschland reisen.<br />
In Zürich erreicht die schriftstellerische Tätigkeit Wagners ihren Höhepunkt. Die<br />
drei Kunstschriften jener Jahre – Die Kunst und die Revolution (1849), Das<br />
Kunstwerk <strong>de</strong>r Zukunft (1850), Oper und Drama (1851) – formulieren die<br />
Quintessenz <strong>de</strong>r Ästhetik Richard Wagners. In dieser Zeitspanne, in <strong>de</strong>r er nicht<br />
komponiert, bereitet sich die Wen<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>m eigentümlichen reifen Wagner-Stil <strong>de</strong>s<br />
Ring <strong>de</strong>s Nibelungen (vollen<strong>de</strong>t 1874), <strong>de</strong>s Tristan (1859) und <strong>de</strong>s Parsifal (1882)<br />
vor.<br />
2 Zitiert nach: Norbert Oellers, Friedrich Schiller. In: Gunter E. Grimm und Frank Rainer<br />
Max, Deutsche Dichter, Reclam: Stuttgart 1989, S. 261-312, hier S. 286.<br />
214
Friedrich Schillers „ästhetischer Staat“<br />
Die Briefe über die ästhetische Erziehung <strong>de</strong>s Menschen sind eine direkte<br />
Konsequenz <strong>de</strong>r Beschäftigung Schillers mit <strong>de</strong>r Französischen Revolution und<br />
darin <strong>de</strong>r Wagnerschen Revolutionserfahrung nahe. Schiller publizierte sie 1795 in<br />
<strong>de</strong>n Horen, strich jedoch in <strong>de</strong>r Endfassung sämtliche Bezüge <strong>zur</strong> Revolution von<br />
1789, die in <strong>de</strong>r ursprünglichen Form <strong>de</strong>r Ästhetischen Briefe an seinen Gönner,<br />
<strong>de</strong>n Erbprinzen Friedrich Christian von Augustenberg vorhan<strong>de</strong>n waren, um<br />
dadurch <strong>de</strong>r Politikferne <strong>de</strong>r Horen Genüge zu tun. Christian Garve bestätigt er am<br />
25. Januar 1795 brieflich gleichwohl mit wünschenswerter Klarheit, die Briefe seien<br />
sein „politisches Glaubensbekenntnis“ 3 .<br />
Die Enttäuschung über die Revolution, die er anfangs begrüßt hatte, weil er mit<br />
ihren Zielen sympathisierte, kam angesichts <strong>de</strong>r Septembermor<strong>de</strong> 1792 in Paris<br />
und ist in <strong>de</strong>r Urfassung nachzulesen:<br />
Der Versuch <strong>de</strong>s französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte<br />
einzusetzen und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen<br />
und die Unwürdigkeit <strong>de</strong>sselben an <strong>de</strong>n Tag gebracht und nicht nur dieses<br />
unglückliche Volk, son<strong>de</strong>rn mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europas und<br />
ein ganzes Jahrhun<strong>de</strong>rt in Barbarei und Knechtschaft <strong>zur</strong>ückgeschleu<strong>de</strong>rt. Der<br />
Moment war <strong>de</strong>r günstigste, aber er fand eine ver<strong>de</strong>rbte Generation, die ihn nicht<br />
wert war und we<strong>de</strong>r zu würdigen noch zu benutzen wußte. [B, 287]<br />
Schillers Überzeugung ist es, daß politische Probleme nicht „durch die blin<strong>de</strong><br />
Macht <strong>de</strong>s Stärkeren“, son<strong>de</strong>rn „von <strong>de</strong>m Richterstuhl <strong>de</strong>r Vernunft“ gelöst wer<strong>de</strong>n<br />
müssen. Dennoch stellt die Vernunft für ihn nicht das unanfechtbar höchste Gebot<br />
dar. Als Gegenpol <strong>zur</strong> Natur ist sie vielmehr nur eine Instanz in <strong>de</strong>r dualen Welt <strong>de</strong>r<br />
Gegensätze, mit <strong>de</strong>nen Schiller gedanklich operiert. Sein Argument lautet daher<br />
dann auch:<br />
[M]an muß durch das Ästhetische <strong>de</strong>n Weg nehmen, um ein politisches Problem in<br />
<strong>de</strong>r Erfahrung zu lösen, weil es die Schönheit ist, durch die man <strong>zur</strong> Freiheit<br />
wan<strong>de</strong>rt 4 .<br />
Vernunft und Natur sind zentrale Begriffe <strong>de</strong>s Schillerschen Denkens und damit<br />
auch seiner Ästhetik. Vernunft kennzeichnet das Gesetz <strong>de</strong>r Ratio, <strong>de</strong>r<br />
Gesetzmäßigkeit und Sittlichkeit, das Unverän<strong>de</strong>rliche und Objektive, Natur<br />
dagegen die Sinnlichkeit, das Triebhafte und Zeitverhaftete sowie die Materie.<br />
Dieser Typologie entspricht auch eine menschliche: Der rein sinnliche Mensch<br />
erscheint ihm als ein „Wil<strong>de</strong>r“, <strong>de</strong>r nur vernünftige als „Barbar“. „Der gebil<strong>de</strong>te<br />
Mensch“ aber, so Schiller, „macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre<br />
Freiheit, in<strong>de</strong>m er bloß ihre Willkür zügelt“ (S, 14).<br />
Die Essenz <strong>de</strong>r Ästhetik Schillers liegt gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r unlösbaren Spannung<br />
3 Zitiert nach: Dieter Borchmeyer, Weimarer Klassik. Beltz Athenäum: Weinheim 1998, S.<br />
286. Im folgen<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Sigle B und unmittelbar im Text angeschlossener Seitenangabe<br />
zitiert.<br />
4 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehund <strong>de</strong>s Menschen in einer Reihe von<br />
Briefen. Reclam: Stuttgart 1997, S. 7. Im folgen<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Sigle S und unmittelbar im Text<br />
angeschlossener Seitenangabe zitiert.<br />
215
zwischen <strong>de</strong>m sinnlichen Trieb (Stofftrieb) und <strong>de</strong>m vernünftigen Trieb (Formtrieb).<br />
Bei<strong>de</strong> aneinan<strong>de</strong>r zu vermitteln und miteinan<strong>de</strong>r zu vereinbaren ist für ihn die<br />
Aufgabe <strong>de</strong>s Spieltriebes. Dieser wird „dahin gerichtet sein, die Zeit in <strong>de</strong>r Zeit<br />
aufzuheben, Wer<strong>de</strong>n mit absolutem Sein, Verän<strong>de</strong>rung mit I<strong>de</strong>ntität zu<br />
vereinbaren“, vor allem jedoch soll es seine Aufgabe sein, „<strong>de</strong>n Menschen sowohl<br />
physisch als moralisch in Freiheit zu setzen“ (S, 57), <strong>de</strong>nn „<strong>de</strong>r Mensch ist nur da<br />
ganz Mensch, wo er spielt“ (S, 63). Ist Gegenstand <strong>de</strong>s sinnlichen Triebes das<br />
Leben, jener <strong>de</strong>s Formtriebes die Gestalt, so ist – als <strong>de</strong>ren Synthese – Objekt <strong>de</strong>s<br />
Spieltriebes die „leben<strong>de</strong> Gestalt”, d.h. nach Schiller die Schönheit.<br />
Durch die Schönheit wird <strong>de</strong>r sinnliche Mensch <strong>zur</strong> Form und zum Denken<br />
geleitet; durch die Schönheit wird <strong>de</strong>r geistige Mensch <strong>zur</strong> Materie <strong>zur</strong>ückgeführt<br />
und <strong>de</strong>r Sinnenwelt wie<strong>de</strong>rgegeben [S, 71].<br />
Der Schönheitsbegriff wird so zum absoluten Integrationsbegriff, als sein Ausdruck<br />
gilt Schiller die Freiheit. Letztere hat ihr Wesen „nicht in <strong>de</strong>r Gesetzlosigkeit,<br />
son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Harmonie von Gesetzen“ (S, 73).<br />
Beispiel dieser Harmonie ist für Schiller die Welt <strong>de</strong>s antiken Griechentums.<br />
Hiermit befin<strong>de</strong>t er sich in <strong>de</strong>r Tradition <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ästhetik, die seit<br />
Winckelmann und Lessing eine Synthese von Antikem und Mo<strong>de</strong>rnem anstrebte.<br />
Spielerische Leichtigkeit und Unbeschwertheit kennzeichnen <strong>de</strong>n<br />
Repräsentanten <strong>de</strong>r antiken Welt. Der Mensch <strong>de</strong>r griechischen Polis ist in das<br />
Leben <strong>de</strong>r Gemeinschaft auf selbstverständliche Weise integriert, er hat seinen<br />
wohl bestimmten und klar umrissenen Platz, ist Teil <strong>de</strong>rselben. Er erkennt sich im<br />
Chor <strong>de</strong>r Bürger wie<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>n Stücken seiner Dramatiker, er bestimmt das Leben<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft mit. „Er qualifiziert sich zum Repräsentanten seiner Zeit“ (S, 19)<br />
und stellt <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n Gegenentwurf zum Bürger <strong>de</strong>s absolutistischen Zeitalters<br />
dar, in <strong>de</strong>m nämlich „<strong>de</strong>r Staat <strong>de</strong>n Bürgern fremd bleibt“ (S, 22). Die griechische<br />
Polis und die von ihr i<strong>de</strong>alerweise hergestellte Einheit von Individuum und Staat ist<br />
in diesem Sinne für Schiller mustergültig.<br />
Die Aufgabe <strong>de</strong>r ästhetischen Erziehung muß <strong>de</strong>mentsprechend in <strong>de</strong>r<br />
Versöhnung <strong>de</strong>r Mannigfaltigkeit <strong>de</strong>r Individuen mit <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Staates liegen,<br />
also eine politische sein.<br />
In letzter Konsequenz soll die angestrebte ästhetische Erziehung zu einem<br />
ästhetischen Staat führen, <strong>de</strong>r einerseits die Harmonisierung von Gegensätzlichem<br />
(Physischem und Ethischem) leistet, an<strong>de</strong>rerseits das „I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Gleichheit“<br />
(S,128) verwirklichen soll. Schiller argumentiert gleich zu Beginn seines Essays<br />
wie folgt:<br />
Alle Verbesserung im Politischen soll von <strong>de</strong>r Veredlung <strong>de</strong>s Carakters<br />
ausgehen aber wie kann sich unter <strong>de</strong>n Einflüssen einer barbarischen<br />
Staatsverfassung <strong>de</strong>r Charakter vere<strong>de</strong>ln? Man müßte zu diesem Zwecke ein<br />
Werkzeug aufsuchen, welches <strong>de</strong>r Staat nicht hergibt, und Quellen dazu<br />
eröffnen, die sich bei aller politischer Ver<strong>de</strong>rbnis rein und lauter erhalten […]<br />
Dieses Werkzeug ist die Schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren<br />
unsterblichen Mustern (S, 31/ 32).<br />
Allein das Ästhetische schafft, eben weil es in die Wirklichkeit nicht eingreifen<br />
kann, die Bedingungen vernünftigen Han<strong>de</strong>lns. Und es ist gera<strong>de</strong> das Schöne, so<br />
Schiller, das wir „als Individuum und Gattung zugleich“ (S, 126) zu geniessen<br />
vermögen.<br />
216
Ästhetik und ästhetische Erziehung wer<strong>de</strong>n somit zum Analogon <strong>de</strong>r Revolution,<br />
nicht aber in <strong>de</strong>ren radikaler politischer Ausprägung, wie sie in Frankreich sich<br />
verwirklicht hatte. Schiller <strong>de</strong>nkt vielmehr an eine „evolutionäre Überwindung <strong>de</strong>s<br />
Staates“. Dieter Borchmeyer bemerkt dazu, daß Evolution als Alternative <strong>zur</strong><br />
Revolution nicht die reformieren<strong>de</strong> Um-Bildung <strong>de</strong>s bestehen<strong>de</strong>n Staates be<strong>de</strong>utet,<br />
son<strong>de</strong>rn, radikaler, <strong>de</strong>ssen allmähliche Auflösung intendiert – einen Prozeß, <strong>de</strong>n<br />
Schiller vom Standpunkt <strong>de</strong>r Vernunft her <strong>de</strong>nkt (B, 292).<br />
Richard Wagners radikaler Utopismus<br />
Die rational – philosophischen Konstruktionen Schillers entwickelt Wagner zu<br />
einem ungleich radikaleren ästhetischen Utopismus weiter.<br />
Deutliche Unterschie<strong>de</strong> lassen sich schon im stilistischen Bereich erkennen. Die<br />
abstrakt-argumentative Sprache <strong>de</strong>s Klassikers Schiller ist in Wagners<br />
Lei<strong>de</strong>nschaftlichkeit und Bildlichkeit nicht wie<strong>de</strong>rzufin<strong>de</strong>n; zu sehr ist ihr Autor in<br />
die politischen Geschehnisse involviert, zu sehr hat er sich das materialistische<br />
Gedankengut seiner Zeit zu eigen gemacht.<br />
Wesentlich für das Verständnis von Wagners Theorie und Werk ist die Kenntnis<br />
<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen i<strong>de</strong>ologischen Einflüsse. Hans Mayer charakterisiert Wagner<br />
treffend als „geistigen Mitläufer“ 5 , <strong>de</strong>r sich vom Zeitgeschehen, so wie seine<br />
Zeitgenossen, die Jung<strong>de</strong>utschen und Vormärzler, in <strong>de</strong>n Bann ziehen ließ. Seine<br />
Lektüre in dieser Zeit schließt <strong>de</strong>n Roman Ardinghello und die glückseeligen Inseln<br />
(1785) <strong>de</strong>s Sturm-und-Drang-Autors Wilhelm Heinse – Verkün<strong>de</strong>r eines<br />
eudämonistischen, auf Sinneslust gegrün<strong>de</strong>ten Lebensprinzips – ebenso ein wie<br />
Ludwig Feuerbachs Schriften, darunter Das Wesen <strong>de</strong>s Christentums (1841). In<br />
dieser damals nicht nur von Wagner begeistert aufgenommenen Schrift paart sich<br />
die Kritik <strong>de</strong>s Christentums mit <strong>de</strong>m Entwurf einer neuen Diesseitsreligion <strong>de</strong>r<br />
Menschenliebe. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch Pierre-Joseph<br />
Proudhons Essay Qu’est-ce que la propriété? (1840; dt.: Was ist Eigentum?), <strong>de</strong>n<br />
Wagner in seiner Pariser Zeit kennenlernte. Darin erarbeitet Proudhon nicht nur die<br />
I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit. Er lehnt vielmehr auch das<br />
Recht auf ein Einkommen ohne Arbeit, also die Selbstvermehrung von Kapital, ab.<br />
Diese mannigfaltigen Einflüsse verbin<strong>de</strong>n sich miteinan<strong>de</strong>r und kulminieren in<br />
Wagners Schrift Die Revolution (1849):<br />
Näher und näher wälzt sich <strong>de</strong>r Sturm, auf seinen Flügeln die Revolution; weit<br />
öffnen sich die wie<strong>de</strong>r erweckten Herzen <strong>de</strong>r zum Leben Erwachten, und siegreich<br />
zieht ein die Revolution in ihr Gehirn, ihr Fleisch, und erfüllt sie ganz und gar. In<br />
göttlicher Entzückung springen sie auf von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, nicht die Armen, die<br />
Hungern<strong>de</strong>n, die vom Elen<strong>de</strong> Gebeugten sind sie mehr, stolz erhebt sich ihre<br />
Gestalt, Begeisterung strahlt von ihrem vere<strong>de</strong>lten Antlitz, ein leuchten<strong>de</strong>r Glanz<br />
entströmt ihrem Auge, und mit <strong>de</strong>m himmelerschüttern<strong>de</strong>n Rufe: ‚Ich bin ein<br />
Mensch!‘ stürzen sie die Millionen, die lebendige Revolution, <strong>de</strong>r Mensch<br />
gewor<strong>de</strong>ne Gott, hinab in die Täler und Ebenen und verkün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r ganzen Welt<br />
5 Zitiert nach: Hans Mayer, Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt. Belser:<br />
Stuttgart/Zürich 1978, hier S. 31.<br />
217
das neue Evangelium <strong>de</strong>s Glückes! 6<br />
Die erste <strong>de</strong>r systematischen Kunstschriften Wagners ist Die Kunst und die<br />
Revolution (1849). Sie steht einerseits in <strong>de</strong>r Tradition <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen I<strong>de</strong>alismus<br />
Schillerscher Prägung, an<strong>de</strong>rerseits unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Hegelschen Linken, <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus, <strong>de</strong>n Wagner streng von <strong>de</strong>m Kommunismus Marx- und Engelsscher<br />
Prägung trennt.<br />
Wagners Argumentation setzt mit <strong>de</strong>r programmatischen Aussage ein: „Wir können<br />
bei einigem Nach<strong>de</strong>nken in unserer Kunst keinen Schritt tun, ohne auf <strong>de</strong>n<br />
Zusammenhang <strong>de</strong>rselben mit <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>r Griechen zu treffen“ 7 .<br />
Inbegriff <strong>de</strong>s „schönen und starken freien“ Griechentums ist dabei Apollon, für<br />
Wagner <strong>de</strong>r Hauptgott <strong>de</strong>r Griechen und I<strong>de</strong>ntifikationsfigur <strong>de</strong>s griechischen<br />
Volkes, da mit ihm Stabilität und Regelhaftigkeit in Verbindung zu bringen sind, in<br />
gleichem Maße aber auch <strong>de</strong>r Beschützer <strong>de</strong>r Künste, vornehmlich <strong>de</strong>s Dramas.<br />
Nietzsche vorwegnehmend, unterstreicht Wagner bereits die Dualität zwischen<br />
<strong>de</strong>m „heitern Ernst“ Apollos und <strong>de</strong>m „von Dionysos begeisterten tragischen<br />
Dichter“, aus <strong>de</strong>ren Vereinigung das Drama als höchste Kunstform entsteht. Sein<br />
privilegierter Status ist dadurch gegeben, daß sich im Drama, wie schon bei<br />
Schiller zu sehen war, die Gemeinschaft wie<strong>de</strong>rerkennt – das Drama also als<br />
Ausdruck <strong>de</strong>r „lebendigen Kunst“ – <strong>de</strong>r Dichter dabei als Vermittler zwischen Gott<br />
und <strong>de</strong>m Menschen. In diesem gesellschaftlichen und politischen I<strong>de</strong>alzustand<br />
befin<strong>de</strong>n sich Individuum und Gemeinschaft, privates und öffentliches Interesse im<br />
Einklang.<br />
Der Verfall <strong>de</strong>s athenischen Staates geht für Wagner zwangsläufig mit <strong>de</strong>m Verfall<br />
<strong>de</strong>r Tragödie einher, die ihren zentralen 'Sitz im Leben' <strong>de</strong>r Athener verliert. In<strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>r „Gemeingeist“ nicht mehr vorhan<strong>de</strong>n ist, kann auch das antike Drama als<br />
„Gesamtkunstwerk“ nicht länger bestehen. Konsequenz dieser Entwicklung ist <strong>de</strong>r<br />
Verlust <strong>de</strong>r Freiheit, in <strong>de</strong>r allein höchste Kunst entstehen kann.<br />
Die Versklavung <strong>de</strong>s Menschen im Römischen Reich, das in Wagners Theorie für<br />
Barbarei und Erniedrigung steht, gilt ihm auch als Basis für <strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>s<br />
Christentums:<br />
Das Christentum rechtfertigt eine ehrlose, unnütze und jämmerliche Existenz <strong>de</strong>s<br />
Menschen auf Er<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rbaren Liebe Gottes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Menschen<br />
keinesweges für ein freudiges, selbstbewußtes Dasein auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> geschaffen,<br />
son<strong>de</strong>rn ihn hier in einen ekelhaften Kerker eingeschlossen habe, um ihm, nach<br />
<strong>de</strong>m To<strong>de</strong> einen endlosen Zustand allerbequemster und untätigster Herrlichkeit zu<br />
bereiten (W, 16).<br />
Wagners Kritik am Christentum, das er für gänzlich unkünstlerisch hält, fußt auf <strong>de</strong>r<br />
Philosophie Feuerbachs, <strong>de</strong>ssen Anhänger er war. Vor allem die<br />
Sinnenfeindlichkeit <strong>de</strong>s Christentums ist es, die Wagner verneint, <strong>de</strong>nn „aus <strong>de</strong>r<br />
sinnlichen Welt allein kann er [...] <strong>de</strong>n Willen zum Kunstwerk fassen“ (W, 18). Darin<br />
ist ein erheblicher Unterschied zu Schillers Ästhetik zu bemerken, die für die<br />
6 Zitiert nach: Hans Mayer, Richard Wagner. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1997, S. 61.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Sigle M und unmittelbar im Text angeschlossener Seitenangabe zitiert.<br />
7 Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution. In: Ders., Drei Essays, hrsg. von Tibor<br />
Kneif. Rogner und Bernhard: München 1970, S. 7-50, hier S. 10. Im folgen<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Sigle<br />
W und unmittelbar im Text angeschlossener Seitenangabe zitiert.<br />
218
Überwindung <strong>de</strong>r Sinnlichkeit und <strong>de</strong>ren Harmonisierung mit <strong>de</strong>r Vernunft durch<br />
ästhetische Erziehung plädiert. Wagner verteidigt <strong>de</strong>mgegenüber gera<strong>de</strong> die<br />
Sinnlichkeit als fundamentale Quelle menschlicher Erfahrung.<br />
Die Versklavung <strong>de</strong>s Menschen durch das Christentum wird für ihn durch die<br />
mo<strong>de</strong>rne Industriegesellschaft zusätzlich verschärft. Wagner diagnostiziert im<br />
Sinne <strong>de</strong>r Kritik am Kapitalismus die Entfremdung <strong>de</strong>s Menschen vom Produkt<br />
seines Tuns: „Gibt er das Produkt seiner Arbeit von sich, verbleibt ihm davon nur<br />
<strong>de</strong>r abstrakte Geldwert“ (W,31). Damit hängt <strong>de</strong>nn auch <strong>de</strong>r Verfall <strong>de</strong>r Kunst im<br />
19. Jahrhun<strong>de</strong>rt zusammen: In diesen Zeiten ist „[i]hr wirkliches Wesen die<br />
Industrie, ihr moralischer Zweck <strong>de</strong>r Gel<strong>de</strong>rwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die<br />
Unterhaltung <strong>de</strong>r Gelangweilten" (W, 23).<br />
Die hier kritisierte Merkantilisierung <strong>de</strong>r Welt, die krassen Gegensätze <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Industriegesellschaft – das Elend <strong>de</strong>s Volkes einerseits, die<br />
Prachtentfaltung <strong>de</strong>r Bankiers und <strong>de</strong>r Industriellen an<strong>de</strong>rerseits – hatte Wagner in<br />
seinen Pariser Jahren nicht nur kennen und hassen gelernt, son<strong>de</strong>rn als sich<br />
notorisch in Geldnot befin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Bohèmien auch am eigenen Leibe erfahren. Sein<br />
späteres Weltbild wird dadurch entschei<strong>de</strong>nd geprägt. Sein Meisterwerk, Der Ring<br />
<strong>de</strong>s Nibelungen, postuliert mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Götter auch das En<strong>de</strong> einer auf die<br />
Herrschaft <strong>de</strong>s Gol<strong>de</strong>s (= Gel<strong>de</strong>s) gegrün<strong>de</strong>ten Gesellschaft und feiert im Paar<br />
Siegfried – Brünnhil<strong>de</strong> wahre Menschenliebe. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise fällt die<br />
Konzeption dieses Werkes in die Zeit seiner theoretischen Ausführungen.<br />
Die äußerste Pervertierung <strong>de</strong>r Kunst besteht für Wagner in <strong>de</strong>ren merkantilem<br />
Gebrauchswert. Im Gegensatz zum Griechen, „<strong>de</strong>r selbst Darsteller, Sänger und<br />
Tänzer“ war, sei <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Mensch <strong>de</strong>m künstlerischen Akt wesentlich fremd,<br />
so Wagner: „[D]ie griechische öffentliche Kunst war eben Kunst, die unsrige –<br />
künstlerisches Handwerk“. Während <strong>de</strong>r Künstler mit seinem Tun Genuß verbin<strong>de</strong>t,<br />
reduziert sich die Kunst für <strong>de</strong>n Handwerker auf ihren puren Nutzen und d.h. nicht<br />
zuletzt ihren geldwerten Vorteil für ihn.<br />
Aus dieser Argumentation folgt für Wagner notwendigerweise, daß die Kunst <strong>de</strong>r<br />
Griechen konservativ war, da sie ja im Einklang mit <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>r Bürger<br />
existierte, die mo<strong>de</strong>rne Kunst als echte Kunst aber revolutionär sein müsse. Das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r konservativen griechischen Kunst, <strong>de</strong>ren höchster Ausdruck die Dramen<br />
<strong>de</strong>s Aischylos seien, habe sich durch die Auflösung <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s<br />
Gesamtkunstwerkes in seine Einzelteile, in die Kunstdisziplinen also, vollzogen:<br />
Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik usw.<br />
Das Ziel <strong>de</strong>r Revolution ist es nun laut Wagner, das „Kunstwerk <strong>de</strong>r Zukunft“,<br />
nämlich das neu belebte Gesamtkunstwerk zu ermöglichen, welches <strong>de</strong>r Künstler<br />
Wagner selbst vorbil<strong>de</strong>t und das „<strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s freien Menschen über alle<br />
Schranken <strong>de</strong>r Nationen hinaus umfassen“ (W, 36) soll. Ein Zurück zum<br />
Griechentum ist dabei we<strong>de</strong>r möglich noch wünschenswert; aus <strong>de</strong>ssen Fall<br />
müsse gelernt wer<strong>de</strong>n. Allein durch Menschenliebe, Freu<strong>de</strong> am Leben und „an uns<br />
selbst“, an <strong>de</strong>r Sinnlichkeit (<strong>de</strong>r „Natur“) „kann die Entwirrung <strong>de</strong>s großen<br />
Weltgeschickes“ vollzogen wer<strong>de</strong>n. Durch die Emanzipation <strong>de</strong>s Individuums und<br />
<strong>de</strong>r Aufhebung <strong>de</strong>r Unterschie<strong>de</strong> zwischen Arm und Reich entstehe das<br />
künstlerische, freie Menschentum, das durch Revolution an Stärke und durch die<br />
Kunst an Schönheit gewinnt.<br />
Die Erziehung widmet sich in diesem I<strong>de</strong>alstaate <strong>de</strong>r Schönheit, <strong>de</strong>r Kunst, auf daß<br />
219
je<strong>de</strong>r einzelne Mensch zum Künstler und damit die Kunst in letzter Konsequenz<br />
wie<strong>de</strong>r konservativ wer<strong>de</strong>.<br />
Diese Gesellschafts- und Kunsterneuerung müsse zu<strong>de</strong>m eine Synthese ergeben<br />
im Zeichen von Jesus von Nazareth (seine Gestalt trennt Wagner vom<br />
Christentum), an <strong>de</strong>m zu erfahren sei, „daß wir Menschen alle gleich und Brü<strong>de</strong>r<br />
sind“, und im Zeichen Apollons, <strong>de</strong>r „<strong>de</strong>m großen Brü<strong>de</strong>rbun<strong>de</strong> das Siegel <strong>de</strong>r<br />
Stärke und Schönheit aufgedrückt haben [wird]“ (W,50).<br />
Conclusio<br />
Ästhetische Erziehung – Erziehung <strong>zur</strong> Kunst und durch die Kunst – ist bei Schiller<br />
gleichwie bei Wagner an ein politisches I<strong>de</strong>al geknüpft, das I<strong>de</strong>al einer Welt <strong>de</strong>r<br />
Harmonie, <strong>de</strong>r Freiheit und <strong>de</strong>r Gleichheit, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kunst eine leiten<strong>de</strong> Rolle<br />
zukommt. Das Kulturmo<strong>de</strong>ll, das diesem Konzept als gemeinsames Mythologem<br />
zugrun<strong>de</strong>liegt, ist das <strong>de</strong>s antiken Griechentums, das auf einzigartige Weise die<br />
Kunst und das Leben <strong>de</strong>s Einzelnen verbun<strong>de</strong>n und diesen in eine freie<br />
Gemeinschaft von Gleichen integriert haben soll.<br />
Während Schillers klassisches Humanitätsi<strong>de</strong>al vorwiegend elitär-aristokratisch<br />
anmutet, ist in Wagners Fall das Konzept sozialistisch-feuerbachianisch entwickelt.<br />
Erkennbar wird darin ein für das 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt typischer Paradigmenwechsel.<br />
Die zu konstatieren<strong>de</strong> Transformation <strong>de</strong>s ästhetischen Erziehungskonzepts<br />
verdankt sich zumal Wagners Analyse <strong>de</strong>r als schlecht empfun<strong>de</strong>nen eigenen<br />
Gegenwart durch materialistische I<strong>de</strong>ologeme. Der Schritt von Schiller zu Wagner<br />
entspricht damit genau <strong>de</strong>r Radikalisierung <strong>de</strong>s Hegelschen Denkens in <strong>de</strong>r<br />
politischen Linken jener Zeit und damit <strong>de</strong>r Abwendung von einem philosophischen<br />
I<strong>de</strong>alismus, wie Kant ihn für Schillers Generation und die Hegels als leitend<br />
geprägt hatte.<br />
220
GUNDULA-ULRIKE FLEISCHER<br />
KLAUSENBURG<br />
Kulturspezifik und Übersetzerposition – anhand von zwei Faust-<br />
Übertragungen <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
Wenn wir uns die Frage nach <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>r Übersetzung stellen, die doch viel<br />
mehr als eine einfache Umkodierung von Wörtern aus einer Ausgangssprache in<br />
eine Zielsprache be<strong>de</strong>utet, so müssen wir uns <strong>de</strong>r Meinung jener<br />
Übersetzungswissenschaftler anschließen, die <strong>de</strong>m kulturellen Transfer eine<br />
primäre Funktion beimessen. So stellt Mary Snell-Hornby fest:<br />
Übersetzen ist eine Neugestaltung <strong>de</strong>s Textes, entsprechend einer vorgegebenen<br />
Situation, als ‘Teil <strong>de</strong>r Zielkultur’.1<br />
und Katharina Reiß und Hans J. Vermeer behaupten:<br />
Translation ist ein Informationsangebot in einer Zielkultur und <strong>de</strong>ren Sprache über<br />
ein Informationsangebot aus einer Ausgangskultur und <strong>de</strong>ren Sprache. 2<br />
Diese Definitionen visieren die Übersetzung im allgemeinen, sind aber für nicht<br />
vorrangig sachbezogene Texte, das heißt für sen<strong>de</strong>r- o<strong>de</strong>r empfängerorientierte<br />
beson<strong>de</strong>rs zutreffend, weil hier die Kulturspezifik als Hin<strong>de</strong>rnis im<br />
Translationsprozess erscheint.<br />
Der Kulturbegriff in Hinblick auf die Übersetzung läßt sich in engerem und<br />
weiterem Sinn fassen. Laut Koller wer<strong>de</strong>n unter kulturspezifischen Elementen<br />
“Ausdrücke und Namen für Sachverhalte politischer, institutioneller, soziokultureller<br />
und geographischer Art verstan<strong>de</strong>n, die spezifisch für bestimmte Län<strong>de</strong>r<br />
sind”3 und die Beschäftigungen <strong>de</strong>r Übersetzungswissenschaftler auf diesem<br />
Gebiet beschränken sich zumeist auf Empfehlungen <strong>zur</strong> Übersetzung eines in <strong>de</strong>r<br />
Zielsprache nicht existieren<strong>de</strong>n Wortes. Dabei wird vernachlässigt, dass auch<br />
existieren<strong>de</strong> Begriffe bei Sprechern <strong>de</strong>r Ausgangssprache und jenen <strong>de</strong>r<br />
Zielsprache oftmals nicht mit <strong>de</strong>n gleichen Vorstellungen verbun<strong>de</strong>n sind und <strong>de</strong>r<br />
Grund dafür gleichfalls in <strong>de</strong>m unterschiedlichen kulturellen Hintergrund zu suchen<br />
ist. Dies wäre die Erfassung <strong>de</strong>s Kulturbegriffs in seinem weiteren Sinne und aus<br />
diesem Blickwinkel wollen wir die Kulturspezifik beim Übersetzen beleuchten.<br />
1<br />
Snell-Hornby, Mary: Übersetzen, Sprache, Kultur. In: Snell-Hornby, Mary (Hrsg.):<br />
Übersetzungswissenschaft – Eine Neuorientierung. Zur Integrierung von Theorie und<br />
Praxis. Tübingen: Francke. 1986. S.13.<br />
2<br />
Reiß, Katharina/Vermeer, Hans J.: Grundlegung einer allgemeinen<br />
Translationstheorie. Tübingen: Niemeyer. 1984. S.105.<br />
3<br />
Koller, Werner: Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Hei<strong>de</strong>lberg:<br />
Quelle&Meyer.1992. S.232.<br />
221
Bei <strong>de</strong>r Übertragung kulturspezifischer Elemente ist die gute Kenntnis sowohl <strong>de</strong>r<br />
Ausgangs- als auch <strong>de</strong>r Zielkultur unabdingbare Voraussetzung, aber noch keine<br />
Garantie für eine gute Übersetzung, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Übersetzer steht vor <strong>de</strong>r schweren<br />
Entscheidung, ob er <strong>de</strong>n Adressaten in <strong>de</strong>r Zielsprache das Frem<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Ausgangskultur zumuten, o<strong>de</strong>r aber das Original richtiggehend in das heimische<br />
Medium <strong>de</strong>r Zielkultur verpflanzen soll. Um mit Schleiermacher zu sprechen:<br />
Entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Übersetzer läßt <strong>de</strong>n Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt <strong>de</strong>n<br />
Leser ihm entgegen; o<strong>de</strong>r er läßt <strong>de</strong>n Leser möglichst in Ruhe und bewegt <strong>de</strong>n<br />
Schriftsteller ihm entgegen.4<br />
Bestimmend für die Übersetzerposition gegenüber Ausgangs- und Zielkultur ist <strong>de</strong>r<br />
mit <strong>de</strong>r Übersetzung verfolgte Zweck, ob <strong>de</strong>r Übersetzer das Fremdartige bekannt<br />
machen will, o<strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>n Leser durch seine Übersetzung ansprechen will. Im<br />
ersten Fall wird die Übersetzung einen sen<strong>de</strong>rorientierten Charakter haben, im<br />
zweiten einen empfängerorientierten.<br />
Weil wir <strong>de</strong>n Begriff Kulturspezifika in seinem weitesten Sinne fassen und die<br />
Implikationen von kulturgebun<strong>de</strong>nen Vorstellungen im allgemeinen für <strong>de</strong>n<br />
Übersetzungsvorgang untersuchen wollen, haben wir einen Auszug aus Goethes<br />
Faust gewählt, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n ersten Blick diesbezüglich keine auffälligen Merkmale<br />
vorweist. Es han<strong>de</strong>lt sich um Fausts Frühlingsmonolog in <strong>de</strong>r Szene Vor <strong>de</strong>m Tor<br />
5. Aus <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt gibt es zwei rumänische Übertragungen dieses Teils,<br />
die in <strong>de</strong>r Gesamtübersetzung <strong>de</strong>s Faust I von Vasile Pogor und Nicolae Skelitty6<br />
enthaltene und die als Fragment unter <strong>de</strong>m Titel Faust erschienene Version<br />
Maiorescus7. Wegen <strong>de</strong>r unterschiedlichen Einstellung <strong>de</strong>r Übersetzer gegenüber<br />
<strong>de</strong>m Original bieten sich die bei<strong>de</strong>n Texte zu einem kontrastiven Vergleich an, <strong>de</strong>r<br />
einerseits die Schwierigkeiten <strong>de</strong>r Übersetzung kulturell geprägter Sachverhalte<br />
und die Gewichtigkeit <strong>de</strong>r Auswirkungen <strong>de</strong>s übersetzerischen<br />
Entscheidungsprozesses <strong>de</strong>utlich machen soll, andrerseits aber auch einen<br />
Ausgangspunkt für rezeptionsgebun<strong>de</strong>ne Betrachtungen be<strong>de</strong>utet. Die<br />
Untersuchung beschränkt sich nur auf kulturbezogene Passagen, die wir zu<br />
diesem Zweck im Monolog i<strong>de</strong>ntifiziert haben.<br />
Ein erster Begriff, in diesem Sinne von Relevanz, ist “Stadt”. Während Skelitty und<br />
Pogor neutral mit “oraş“ übersetzen, verwen<strong>de</strong>t Maiorescu “cetatea neguroasã”,<br />
wodurch er <strong>de</strong>m Leser das Bild einer mittelalterlichen, von Wehrmauern<br />
umgebenen Stadt vermittelt, was in etwa <strong>de</strong>n Vorstellungen von einer <strong>de</strong>utschen<br />
Stadt zu Lebzeiten <strong>de</strong>s historischen Faust entspricht. Somit hat Maiorescu es<br />
vorgezogen, hier <strong>de</strong>n Leser in die Realität <strong>de</strong>s Faust einzuführen.<br />
Kulturbezogen sind auch die <strong>zur</strong> Stadt gehörigen aufgezählten Elemente, <strong>de</strong>nen<br />
die Bürger am Ostermorgen durch ihren Spaziergang vor die Tore <strong>de</strong>r Stadt zu<br />
entfliehen suchen.<br />
4<br />
Schleiermacher, Friedrich Ernst: Sämtliche Werke. II. Berlin. 1838. S.218.<br />
5<br />
Goethes Werke. III. Hamburg: Christian Wegner. 1962. S.35-36.<br />
6<br />
Faust. Tragedie <strong>de</strong> Goethe. Tradusă <strong>de</strong> V. Pogor <strong>şi</strong> N. Skelitty. Ia<strong>şi</strong>: Adolf Berman. 1862.<br />
S.32-33.<br />
7<br />
M. [Maiorescu]: “Din Faust. De Goethe”. In: Convorbiri literare. III. Ia<strong>şi</strong>. 1870. S.399-400.<br />
222
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,<br />
Aus Handwerks- und Gewerbesban<strong>de</strong>n,<br />
Aus <strong>de</strong>m Druck von Giebeln und Dächern,<br />
Aus <strong>de</strong>r Straßen quetschen<strong>de</strong>r Enge,<br />
Aus <strong>de</strong>r Kirchen ehrwürdiger Nacht.<br />
Pogor und Skelitty übertragen diesen Abschnitt mit<br />
Din întunecimea odăilor <strong>şi</strong> al apartamentelor, din atelii, din fabrici, <strong>de</strong> sub boltele<br />
apăsătoare, din strîmtoarea înădu<strong>şi</strong>tă a stra<strong>de</strong>lor, din întunericul misterios a<br />
templelor.<br />
Da die Übersetzer sich keinen metrischen Zwängen unterordnen mußten, wäre<br />
eine genauere Übertragung wünschenswert gewesen. An die Stelle <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r<br />
niedrigen Häuser mit dumpfen Zimmern, die für die soziale Schicht <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Nährstands kennzeichnend waren, tritt jenes von dunklen Zimmern und<br />
Appartments. Wenn die Dunkelheit <strong>de</strong>r Zimmer <strong>de</strong>n dumpfen Gemächern noch<br />
entsprechen kann, so fällt die Information bezüglich <strong>de</strong>r Häuser weg und <strong>de</strong>r<br />
Zusatz <strong>de</strong>s neologistischen Terminus aus <strong>de</strong>m Französischen “apartamente” wirkt<br />
im Kontext <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts, in <strong>de</strong>m sich die Fausthandlung abspielt, höchst<br />
unpassend und störend. Das gleiche gilt auch für die Verwendung von “fabrici”,<br />
wohl für Gewerbe, da “atelii”, eine veraltete Form für “ateliere” <strong>de</strong>m Handwerk<br />
entspricht. Auch wenn man unter Gewerbe ein kleinindustrielles Unternehmen<br />
versteht, so gab es im Deutschland <strong>de</strong>r Refomationszeit noch lange keine<br />
Fabriken, die ersten entstan<strong>de</strong>n erst En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Somit haben wir<br />
es hier mit einer historischen Verfälschung zu tun, die Pogor und Skelitty<br />
unterlaufen ist, sei es nun aus Unachtsamkeit o<strong>de</strong>r im Bestreben, <strong>de</strong>m<br />
rumänischen Leser <strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>s Originals näher zu bringen. Auch die Giebel, als<br />
typisches Bauelement <strong>de</strong>r Gotik, in Deutschland weit verbreitet, unterschlagen die<br />
bei<strong>de</strong>n Übersetzer, “bolte” be<strong>de</strong>utet “Gewölbe” und kann keineswegs als Ersatz<br />
dafür gelten. Eine beson<strong>de</strong>rs unglückliche Entscheidung trafen die Übersetzer mit<br />
“temple” für “Kirchen”. Selbst wenn sie Anhänger <strong>de</strong>r latinisieren<strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s<br />
Rumänischen waren, so ist die Verwendung dieses Oberbegriffs doch nicht<br />
gerechtfertigt. Das umso weniger, da die Deutschen, wie auch die Rumänen,<br />
Anhänger <strong>de</strong>r christlichen Religion sind und auch damals waren und es im<br />
Rumänischen <strong>de</strong>n Begriff “bisericã” <strong>zur</strong> Bezeichnung einer christlichen<br />
Glaubensstätte gibt, <strong>de</strong>r Begriff “Tempel” jedoch auf eine an<strong>de</strong>re, nichtchristliche<br />
Religion hinweist und unnötig verfrem<strong>de</strong>nd wirkt. Im allgemeinen wirkt die<br />
Übersetzung ungeschickt, es läßt sich we<strong>de</strong>r eine durchgehen<strong>de</strong> sen<strong>de</strong>rorientierte,<br />
noch eine empfängerorientierte Ten<strong>de</strong>nz erkennen, son<strong>de</strong>rn ein Schwanken<br />
dazwischen, was sich beson<strong>de</strong>rs nachteilig auf die Übertragung auswirkt.<br />
Demgegenüber ist Maiorescus Übersetzungsvariante viel freier:<br />
Din lucru <strong>şi</strong> din osteneală,<br />
Din griji, din zile amărâte,<br />
Din strâmte-odăi posomorâte,<br />
Din a stra<strong>de</strong>lor îmbulzeală,<br />
223
Din biserica-ntunecată.<br />
Auch er vernachläßigt es, Elemente <strong>de</strong>r damaligen Architektur <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Städte wie<strong>de</strong>rzugeben, wie niedrige Häuser und Giebel, jedoch gelingt es ihm<br />
besser, die Dumpfheit <strong>de</strong>r Zimmer durch zwei Epithete (“strâmte” und<br />
“posomorâte”) zu aktualisieren. Die Hinweise auf das Alltagsleben <strong>de</strong>r Bürger aus<br />
<strong>de</strong>m Original wer<strong>de</strong>n durch freie Zusätze substituiert, die zwar nicht ein<strong>de</strong>utig die<br />
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht illustrieren, dafür aber <strong>de</strong>m<br />
rumänischen Leser <strong>de</strong>ren Alltag mit seinen Auswirkungen umso näher bringen,<br />
insbeson<strong>de</strong>re wenn wir <strong>de</strong>r Tatsache Rechnung tragen, dass in <strong>de</strong>r Moldau das<br />
Handwerk und Gewerbe nicht die gleiche Tradition hatte wie in Deutschland. Trotz<br />
zahlreicher Auslassungen kann Maiorescus Übertragung als viel besser eingestuft<br />
wer<strong>de</strong>n, weil er durchgehend eine empfängerorientierte Haltung beim Übersetzen<br />
einnimmt.<br />
Die Gärten, durch die die Bürger lustwan<strong>de</strong>ln, nach<strong>de</strong>m sie aus <strong>de</strong>m Stadttor<br />
getreten sind, Gärten also, die außerhalb <strong>de</strong>r mittelalterlichen, durch ihre<br />
Wehrmauern eingeengte Stadt liegen, konstituieren sich gleichfalls zu einem<br />
kulturspezifischen Element. Während Skelitty und Pogor dieses Spezifikum nicht<br />
weiter beachten und mit “grãdini” übertragen, auch wenn die rumänischen Städte<br />
nicht über solche Gärten außerhalb <strong>de</strong>r Stadtmauern verfügten, so übergeht<br />
Maiorescu in seiner viel freieren Übertragung dieses Element, ob aus metrischen<br />
Grün<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r seiner zieltextorientierten Ten<strong>de</strong>nz entsprechend, bleibt<br />
dahingestellt.<br />
Ein letztes Beispiel von Kulturbezogenheit aus diesem Auszug ist das Jauchzen<br />
<strong>de</strong>r Dorfbevölkerung. Diesem Verb haftet etwas Onomatopöisches an, es geht auf<br />
Interjektionen wie “juchhei!” <strong>zur</strong>ück, die im Deutschen Freu<strong>de</strong> ausdrücken.<br />
Dadurch wirft es beim Übersetzen Probleme auf. Wenn Goethe das Volk seine<br />
Freu<strong>de</strong> durch Jubelrufe (“jauchzet”) äußern lässt, so vernachlässigen Skelitty und<br />
Pogor in ihrer Übertragung das auditive Element und ersetzen es durch ein<br />
gestisches: “saltă cu bucurie”. Dieserart umgehen sie das strittige Problem <strong>de</strong>r<br />
Ersetzung dieses Verbs mit einem gleichwertigen im Rumänischen (“a chiui”), das<br />
<strong>de</strong>m Text aber rumänisches Lokalkolorit verliehen hätte. Die Einbuße <strong>de</strong>r<br />
akustischen Suggestivität ist eher in Kauf zu nehmen. Maiorescus Übersetzung<br />
geht noch stärker die Anschaulichkeit ab, da er das Verb durch das recht blasse<br />
“se bucură” überträgt.<br />
Die von uns oben ausgeführten Untersuchungen erlauben die Schlußfolgerung,<br />
daß Maiorescus Übersetzungsvariante vom Standpunkt <strong>de</strong>r Kulturspezifik viel<br />
gelungener ist als jene von Skelitty und Pogor. Dabei berücksichtigen wir beim<br />
Fällen unseres Urteils folgen<strong>de</strong> Aspekte:<br />
Den Autoren <strong>de</strong>r Prosaübertragung fehlt je<strong>de</strong> Übersetzerstrategie, man kann<br />
we<strong>de</strong>r von Sen<strong>de</strong>r- noch von Empfängerorientiertheit sprechen, da sie zwischen<br />
zwei Extremen schwanken – von wörtlicher Wie<strong>de</strong>rgabe in <strong>de</strong>r rumänischen Kultur<br />
nicht existieren<strong>de</strong>r Realien, wie die Gärten außerhalb <strong>de</strong>r Stadt, bis zu unerlaubt<br />
freier Übersetzerhaltung, die alle zeitlichen und räumlichen Abstän<strong>de</strong> aufhebt, wie<br />
im Falle <strong>de</strong>r Verwendung <strong>de</strong>s Neologismus “apartamente” für “Gemächer”. Bei<br />
Maiorescu läßt sich von einer durchgehend empfängerorientierten Übertragung<br />
sprechen, er versucht <strong>de</strong>m rumänischen Leser als einen ersten Schritt <strong>zur</strong><br />
Rezeption <strong>de</strong>n Faust näherzubringen und verständlich zu machen. Wir haben es<br />
224
hier mit <strong>de</strong>r “parodistischen” Art <strong>de</strong>r Übersetzung zu tun – um mit Goethe zu<br />
sprechen.<br />
Außer<strong>de</strong>m lassen sich in Skelittys und Pogors Übertragung richtige kulturelle<br />
Verfälschungen ent<strong>de</strong>cken, die auf die Oberflächlichkeit verweisen, mit <strong>de</strong>r die<br />
Übersetzer ans Werk gegangen sind: die Übersetzung von “Gewerbe” mit “fabrici”<br />
und von “Kirchen” mit “temple”, die nicht nur eine mögliche Vorstellung von Fausts<br />
Welt verhin<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn ein groteskes Bild einer kapitalistischen Welt fremdartiger<br />
Konfession im Deutschland <strong>de</strong>r Reformationszeit anzusie<strong>de</strong>ln versucht.<br />
225
226
CLAUDIA ICOBESCU<br />
TEMESWAR<br />
Zur Evaluation von Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen<br />
Die Evaluation von Dolmetschleistungen<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n zunächst einige Ergebnisse <strong>de</strong>r Untersuchung von Peter<br />
Moser zitiert und kommentiert, die anhand von 15-20minutigen Interviews mit über<br />
200 Konferenzteilnehmern bei 84 Konferenzen in 25 verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn<br />
gewonnen wur<strong>de</strong>n.<br />
Aus <strong>de</strong>r Sicht ihrer Klienten sollten sich Dolmetscher so verhalten: Sie sprechen<br />
mit klarer und lebendiger Stimme, sind aber nicht theatralisch. Sie verstehen etwas<br />
von <strong>de</strong>r Sache und kennen die Terminologie, re<strong>de</strong>n in kompletten, grammatisch<br />
korrekten Sätzen mit <strong>de</strong>utlicher Aussprache. Am meisten wünschen sich die<br />
Delegierten Klarheit <strong>de</strong>r Formulierung.<br />
I<strong>de</strong>ale Dolmetscher bemühen sich vor allem um sinngemäße Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>r<br />
Aussagen; sie konzentrieren sich dabei auf das Wesentliche und versuchen nicht,<br />
alles wörtlich zu reproduzieren, was gesagt wur<strong>de</strong>. Sie sprechen gleichmäßig und<br />
mit möglichst geringer Verzögerung (Asynchronität) gegenüber<br />
ausgangssprachlichen Re<strong>de</strong>n.<br />
So lassen sich die wichtigsten Ergebnisse <strong>de</strong>r Untersuchung Mosers<br />
zusammenfassen. Sie sind wenig überraschend, bemerkenswert ist allenfalls, daß<br />
die Klienten klar <strong>de</strong>r sinngemäßen Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>n Vorzug geben.<br />
Dies bestätigen die Antworten auf die Frage, welche <strong>de</strong>r drei angebotenen<br />
Kriterien als sehr wichtig bewertet wur<strong>de</strong>n:<br />
Klarheit <strong>de</strong>r Formulierung 97%<br />
Präzision in <strong>de</strong>r Terminologie 87%<br />
Vollständigkeit <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgabe 86,6%<br />
(Moser 1995)<br />
Auf die Frage, was ihnen wichtiger sei: Der/die Dolmetscher(in) konzentriert sich<br />
auf das Wesentliche o<strong>de</strong>r liefert eine vollständige Wie<strong>de</strong>rgabe ergaben sich<br />
folgen<strong>de</strong> Antworten:<br />
auf das Wesentliche konzentrieren 43%<br />
vollständige Wie<strong>de</strong>rgabe 31,8%<br />
(Moser 1995)<br />
Differenziert man jedoch weiter und fragt nach <strong>de</strong>r Konferenzerfahrung <strong>de</strong>r<br />
227
Befragten und nach <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Konferenz, so ergibt sich folgen<strong>de</strong>s Bild:<br />
Über- 60jährige:<br />
Auf das Wesentliche konzentrieren 74% wichtiger<br />
Unter –30jährige:<br />
Auf das Wesentliche konzentrieren und<br />
Vollständige Wie<strong>de</strong>rgabe sind Gleich wichtig<br />
(Moser 1995)<br />
Diese Differenzierung <strong>de</strong>r Erwartungen – und eine entsprechen<strong>de</strong> Differenzierung<br />
<strong>de</strong>r Bewertungskriterien – ist aus <strong>de</strong>r Sicht meines Beitrags ein beson<strong>de</strong>rs<br />
wichtiges Ergebnis. Eine weitere Differenzierung ergibt sich, wenn die<br />
Bewertungskriterien zu <strong>de</strong>m Konferenztyp in Beziehung gesetzt wer<strong>de</strong>n:<br />
Bei großen Fachkongressen bezeichnen 81% <strong>de</strong>r Teilnehmen<strong>de</strong>n mit viel<br />
Kongreßerfahrung die korrekte Terminologie als sehr wichtig; bei kleinen<br />
Fachseminaren sind es nur 48%. (Moser 1995)<br />
Dafür bietet sich folgen<strong>de</strong> Erklärung an: Bei kleinen Fachseminaren geht es um<br />
wichtige Entscheidungen, über die <strong>de</strong>r Zuhörer selektiv und vorrangig informiert<br />
wer<strong>de</strong>n sollte; bei großen Fachkongressen sind die Re<strong>de</strong>n stark ritualisiert und<br />
konventionalisiert, gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb kommt es oft auf Nuancen und Untertöne an.<br />
Als überraschend wer<strong>de</strong>n viele Dolmetscher(innen) die Antworten auf die offene<br />
Frage nach ihren „Unarten“ empfin<strong>de</strong>n. Auf die Frage: Was empfin<strong>de</strong>n Sie (bei<br />
einer Dolmetschleistung) als beson<strong>de</strong>rs störend? ergaben sich folgen<strong>de</strong><br />
Antworten:<br />
Mikrofondisziplin 13,9%<br />
Asynchronie 10,9%<br />
Zögerliche Wie<strong>de</strong>rgabe 8,5%<br />
Pausen, Schweigen 8,5%<br />
Monotonie 7,0%<br />
Unrhythmische Re<strong>de</strong> 6,5%<br />
Technische Pannen 5,5%<br />
Unvollen<strong>de</strong>te Sätze 5,5%<br />
Terminologiefehler 5,0%<br />
Mangeln<strong>de</strong> Originaltreue 4,5%<br />
Stimme unangenehm 4,5%<br />
Mangeln<strong>de</strong> Neutralität 4,5%<br />
Übertriebene Intonierung, Show 3,5%<br />
„ÄÄÄÄÄH“ 3,0%<br />
Frem<strong>de</strong>r Akzent 2,5%<br />
Es scheint signifikant, daß unter <strong>de</strong>n ersten fünfzehn <strong>de</strong>r spontan genannten<br />
„Unarten“ <strong>de</strong>r Dolmetscher(innen) nur drei im eigentlichen Sinne inhaltliche<br />
Gesichtspunkte berühren. Erst an achter Stelle wer<strong>de</strong>n unvollen<strong>de</strong>te Sätze, erst an<br />
neunter bzw. zehnter wer<strong>de</strong>n Terminologiefehler bzw. mangelhafte Originaltreue<br />
genannt. Daraus kann <strong>de</strong>r Schluß gezogen wer<strong>de</strong>n, daß die Klienten an die<br />
Dolmetschleistung vorrangig die Anfor<strong>de</strong>rungen richten, die für je<strong>de</strong>n Diskurs<br />
228
gelten sollten: Er sollte nicht durch technische Mängel beeinträchtigt wer<strong>de</strong>n, er<br />
sollte angenehm und zuhörerfreundlich vorgetragen wer<strong>de</strong>n, natürlich, ohne<br />
Manierismen, und in <strong>de</strong>r sprachlichen Form zumin<strong>de</strong>st unauffällig.<br />
Dazu kommt jedoch noch ein an<strong>de</strong>res Element: Dolmetscher(innen) sollen vor<br />
allem unauffällig sein, d.h., sie sollen einerseits nicht ihre Persönlichkeit in <strong>de</strong>n<br />
Vor<strong>de</strong>rgrund rücken, an<strong>de</strong>rseits <strong>de</strong>n Klienten durch asynchrones Dolmetschen<br />
nicht zu sehr daran erinnern, daß er nicht <strong>de</strong>r Originalre<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m<br />
gedolmetschten Text zuhört. Be<strong>de</strong>utend ist dafür die Tatsache, daß ausgerechnet<br />
die schlechte Mikrofondisziplin mit einem Prozentsatz von 13,9% an <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r<br />
Tabelle <strong>de</strong>r „Unarten“ steht. Was hier als störend empfun<strong>de</strong>n wird, sind Signale<br />
von <strong>de</strong>r Person, die in <strong>de</strong>r Kabine unter großem Streß arbeitet. Aber gera<strong>de</strong> an<br />
diesen Streß möchte <strong>de</strong>r Zuhöhrer offensichtlich nicht erinnert wer<strong>de</strong>n.<br />
Zusammenfassend könnte man die spontanen Antworten auf die Frage nach <strong>de</strong>n<br />
„Unarten“ <strong>de</strong>r Dolmetscher(innen) so interpretieren: Am liebsten wäre <strong>de</strong>n meisten<br />
Klienten eine neutrale Dolmetschmaschine, die ohne Zögern,<br />
Individualitätsmerkmale und Persönlichkeitssignale arbeitet.<br />
Dolmetschorientierung in <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Literatur<br />
Daß die Leistung von Dolmetschern nur mit Bezugnahme auf ihren realen Auftrag<br />
beurteilt wer<strong>de</strong>n kann, wird auch in <strong>de</strong>r dolmetschwissenschaftlichen Literatur<br />
anerkannt. Zum Beispiel von Hei<strong>de</strong>marie Salewsky (1990), die in ihrer<br />
schematischen Darstellung die Interaktion verschie<strong>de</strong>ner Einflußgrößen auf <strong>de</strong>n<br />
Prozeßablauf beim Dolmetschen <strong>de</strong>finiert. Salewsky nennt als fixe Einflußgrößen:<br />
Dolmetscher<br />
Auftrag<br />
AS-Text<br />
Sprecher<br />
Sprachen und Kulturen<br />
Rezipienten<br />
Situatives Bedingungsgefüge<br />
(Salewsky 1990, 148).<br />
Diese fixen Größen wer<strong>de</strong>n nach Salewsky durch die jeweilige konkrete<br />
Dolmetschsituation dynamisch o<strong>de</strong>r schwächer aktiviert, so daß sich für je<strong>de</strong><br />
individuelle Dolmetschleistung ein ganz individuelles Anfor<strong>de</strong>rungsprofil ergibt.<br />
Ähnlich Pöchhacker (1994), <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Beurteilung von einem Hypertext ausgehen<br />
möchte, und Gile (1995), <strong>de</strong>r in seinem “efforts mo<strong>de</strong>l” darstellt, daß Dolmetscher<br />
nur eine beschränkte Prozeßkapazität <strong>zur</strong> Verfügung haben, die in bestimmten<br />
Dolmetschsituationen überfor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n kann (overloading), so daß die<br />
hierarchisierte Selektion <strong>de</strong>r jeweils wichtigsten Daten ein ganz wesentliches Ziel<br />
<strong>de</strong>r Dolmetscherausbildung sein muß.<br />
229
Schlußfolgern<strong>de</strong> Bemerkungen<br />
Dolmetscherevaluation geht nicht von einem linguistischen Konzept <strong>de</strong>r absoluten<br />
o<strong>de</strong>r vorgegebenen „Richtigkeit“ <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgabe einzelner Textkonstituenten aus.<br />
Sie versucht, Adressaten und Dolmetschern in <strong>de</strong>r spezifischen Situation gerecht<br />
zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Sie erforscht mit wissenschaftlich fundierten Befragungen die vorrangigen<br />
Bedürfnisse von Konferenzteilnehmern in bezug auf Dolmetschleistungen.<br />
Sie geht davon aus, daß eine Dolmetschleistung nur in Relation zu <strong>de</strong>m<br />
spezifischen Anfor<strong>de</strong>rungsprofil einer realen Dolmetschsituation beurteilt wer<strong>de</strong>n<br />
kann. Sie erkennt damit ausdrücklich, daß bei hoher Anfor<strong>de</strong>rungsdichte ein<br />
“overloading” unvermeidbar ist, so daß linguistisch nachweisbare Konstituenten<br />
<strong>de</strong>r A-Re<strong>de</strong> (Ausgangsre<strong>de</strong>) in <strong>de</strong>r Verdolmetschung unter solchen Umstän<strong>de</strong>n<br />
notwendigerweise verloren gehen müssen. Sie sieht darin keinen Mangel, son<strong>de</strong>rn<br />
sieht im Gegenteil ein wesentliches Element dolmetscherischer Kompetenz gera<strong>de</strong><br />
darin, daß (im empirisch nachgewiesenen Interesse <strong>de</strong>r Adressaten) vorrangige<br />
Elemente vorrangig selektiert und gedolmetscht wer<strong>de</strong>n.<br />
Sie kombiniert insofern diagnostische und therapeutische Gesichtspunkte <strong>de</strong>r<br />
Evaluation, aber sie bezieht bei<strong>de</strong> auf die Komplexität <strong>de</strong>r gesamten<br />
Dolmetschsituation.<br />
Die Bewertung von Übersetzungsleistungen<br />
Weshalb brauchen wir Evaluation?<br />
Empirische Untersuchungen <strong>zur</strong> Evaluation von Übersetzungsfehlern fehlen, in <strong>de</strong>r<br />
umfangreichen wissenschaftlichen Literatur fin<strong>de</strong>n sich nur vereinzelt Ansätze zu<br />
einer grundsätzlichen Diskussion <strong>de</strong>r Evaluationsgrundlagen. Dabei ist die<br />
Bewertung für professionelle Übersetzer beson<strong>de</strong>rs wichtig, weil sie sich nur<br />
aufgrund <strong>de</strong>r besseren Qualität ihrer Arbeit gegen die billiger anbieten<strong>de</strong><br />
Konkurrenz <strong>de</strong>r Amateurübersetzer durchsetzen können.<br />
Wer braucht Evaluation? Nutzer von Übersetzungen brauchen sie, um zu wissen,<br />
ob <strong>de</strong>r Übersetzer und die Qualität seiner Arbeit ihr Vertrauen verdient, aber auch<br />
um eine fundierte Kosten-Nutzen-Kalkulation durchzuführen (und nicht einfach <strong>de</strong>n<br />
billigsten Anbieter zu nehmen).<br />
Professionelle Übersetzer brauchen sie, vor allem wegen <strong>de</strong>r Konkurrenz <strong>de</strong>r<br />
Amateure, die billiger arbeiten können. Die Qualität ihrer Arbeit muß beweisbar<br />
sein, wenn sie sich durchsetzen soll. Und dazu bedarf es einer nachprüfbaren<br />
Evaluation.<br />
Auch die wissenschaftliche Forschung muß das Thema „Evaluation“ ansprechen,<br />
wenn <strong>de</strong>r Praktiker es ernst nehmen soll.<br />
Schließlich brauchen auch Studieren<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Studiengangs „Übersetzen“ die<br />
kontinuierliche Evaluation ihrer Arbeiten, wenn sie die Qualität ihrer Übersetzungen<br />
planmäßig verbessern sollen. Deshalb braucht die Evaluation auf wissenschaftlichempirischen<br />
Grundlagen einen festen Platz in <strong>de</strong>r Übersetzungsdidaktik:<br />
Die Qualität ihrer Evaluation baut die Autorität <strong>de</strong>r Lehren<strong>de</strong>n auf o<strong>de</strong>r ab; sie<br />
230
motiviert o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>motiviert die Studieren<strong>de</strong>n; sie vermittelt über die Ausgebil<strong>de</strong>ten<br />
hinaus die Qualitätsstandards einer begrün<strong>de</strong>t guten Übersetzung.<br />
In <strong>de</strong>r Evaluation von Übersetzungen sind häufig zwei Positionen vertreten. Ich<br />
nenne sie „therapeutisch“ und „diagnostisch“.<br />
Der Therapeut stellt sich Fragen wie: Weshalb wur<strong>de</strong> dieser Fehler gemacht? Was<br />
sagt uns dieser Fehler über die sprachliche Kompetenz bzw. Inkompetenz <strong>de</strong>s<br />
Übersetzers? Somit wird <strong>de</strong>r Fehler als Symptom für eine vermutete<br />
translatorische Inkompetenz gewertet; „elementare“ Irrtümer auf sprachlicher<br />
Ebene schließen translatorische Kompetenz a priori aus.<br />
Der Diagnostiker dagegen meint, ein Fehler müsse als solcher auch von einem<br />
relevanten Nutzer <strong>de</strong>r Übersetzung erkannt wer<strong>de</strong>n (Linguisten sind in diesem<br />
Sinne keine relevanten Nutzer). Wenn ein Fehler von <strong>de</strong>n relevanten Nutzern nicht<br />
erkannt wird, dann kann es auch kein Fehler sein.<br />
Unter diesen Gesichtspunkten wen<strong>de</strong>n wir uns jetzt einer Übersicht über typische<br />
Evaluationsszenarien zu (Tab.1).<br />
Tab. 1: Bewertung von Übersetzungsleistungen in verschie<strong>de</strong>nen<br />
Evaluationsszenarien<br />
Kriterien Tod-Sün<strong>de</strong>n Textproduktions- AT/ZT- TH/DIA<br />
standards<br />
Orient.<br />
Evaluations-<br />
Situation<br />
Spracherwerb<br />
Bonus-Malus<br />
(Schule)<br />
(Lehrer)<br />
Übersetzungsüb.<br />
JA KAUM ZT TH<br />
(Universität)<br />
(Dozenten)<br />
Beurteilung<br />
JA/NEIN JA/NEIN AT/ZT TH/DIA<br />
Probeübersetzungen JA JA/NEIN AT/ZT DIA<br />
Nutzer von Übersetz. JA JA/NEIN eher ZT DIA/TH<br />
Aus <strong>de</strong>r Gegenüberstellung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Evaluationsszenarien lassen sich<br />
folgen<strong>de</strong> Schlußfolgerungen ziehen:<br />
Es gibt keine allgemein verbindlichen o<strong>de</strong>r durchgängig angewandten Kriterien.<br />
Das am häufigsten verwen<strong>de</strong>te Kriterium ist das Bonus – Malus Kriterium.<br />
In <strong>de</strong>n meisten Evaluationssituationen wer<strong>de</strong>n therapeutische und diagnostische<br />
Kriterien gemischt bzw. sie überlagern sich.<br />
Den homogensten Kriterienkatalog fin<strong>de</strong>n wir bei Übersetzungsbewertungen im<br />
Rahmen <strong>de</strong>s Spracherwerbs.<br />
Den heterogensten Kriterienkatalog fin<strong>de</strong>n wir bei <strong>de</strong>n Übersetzungsbewertungen<br />
im Rahmen <strong>de</strong>r universitären Ausbildung.<br />
Der Faktor Zeit spielt bei <strong>de</strong>r Bewertung von Übersetzungsleistungen keine Rolle.<br />
Lehren<strong>de</strong> im Bereich <strong>de</strong>r Übersetzerausbildung sind sich zum Teil nicht <strong>de</strong>r<br />
Komplexität <strong>de</strong>r Situation bewußt und ersetzen häufig die Reflexion über diese<br />
Komplexität durch die Autorität ihrer Position. Das Resultat ist verhängnisvoll:<br />
231
Studieren<strong>de</strong> gewinnen <strong>de</strong>n Eindruck, daß die Bewertung ihrer Leistung weitgehend<br />
subjektiv und willkürlich ist.<br />
Sie verwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb einen Großteil ihrer Zeit dazu, sich diesen willkürlichen<br />
Kriterien anzupassen, was sich jedoch als schwierig erweist, da diese in keinem<br />
systematischen Zusammenhang stehen.<br />
Sie halten es aufgrund <strong>de</strong>r Prägung durch die Subjektivität auch nicht für<br />
notwendig, sich mit <strong>de</strong>n objektiven Einsichten zu beschäftigen, die von <strong>de</strong>r<br />
Übersetzungswissenschaft erarbeitet wur<strong>de</strong>n.<br />
Und sie haben <strong>de</strong>shalb wenig Möglichkeiten, in ihrer Ausbildung jenes<br />
Selbstbewußtsein aufzubauen, das sie brauchen, um sich später in <strong>de</strong>r realen Welt<br />
<strong>de</strong>s Arbeitsmarkts zu orientieren und durchzusetzen.<br />
Schlußfolgerungen<br />
Die in <strong>de</strong>r übersetzungswissenschaftlichen Literatur behauptete, stringente<br />
Evaluation erweist sich bei näherer Untersuchung als eine unsystematische<br />
Kombination therapeutischer und diagnostischer Kriterien.<br />
Für eine Fundierung <strong>de</strong>r Evaluation bedarf es zunächst empirischer<br />
Untersuchungen, aus <strong>de</strong>nen hervorgeht, nach welchen Kriterien in typischen<br />
Evaluationsszenarien bewertet wird.<br />
Evaluation darf kein autoritäres und <strong>de</strong>m kognitiven Zugriff <strong>de</strong>r Studieren<strong>de</strong>n<br />
entzogenes Instrument bleiben, son<strong>de</strong>rn sie sollte methodisch in <strong>de</strong>n Unterricht <strong>zur</strong><br />
Vermittlung übersetzerischer Kompetenz integriert wer<strong>de</strong>n. Dadurch können<br />
mehrere Ziele erreicht wer<strong>de</strong>n:<br />
Die Lehren<strong>de</strong>n sind nicht mehr gezwungen, sich hinter <strong>de</strong>m Schild ihrer Autorität<br />
zu verstecken;<br />
Die Studieren<strong>de</strong>n erkennen, daß Evaluation nicht gegen sie verwen<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn<br />
mit ihnen erarbeitet wird;<br />
Durch die Simulation verschie<strong>de</strong>ner Evaluationsszenarien erkennen die<br />
Studieren<strong>de</strong>n die Notwendigkeit, ihre übersetzerischen Strategien entsprechend zu<br />
adaptieren und akzeptieren damit die Grundsätze <strong>de</strong>s funktionalen Übersetzens.<br />
Sie wer<strong>de</strong>n motiviert, diese Strategien in <strong>de</strong>r Diskussion auch argumentativ zu<br />
vertreten, und erwerben damit eine wichtige Fertigkeit für ihre berufliche Tätigkeit,<br />
bei <strong>de</strong>r sie häufig angewiesen sind, die höhere Qualität ihrer Arbeit gegenüber <strong>de</strong>r<br />
von Amateurübersetzern zu beweisen.<br />
Literatur<br />
Gerzymisch-Arbogast, Heidrun, Übersetzungswissenschaftliches Propä<strong>de</strong>utikum,<br />
UTB 1782, Tübingen: Francke, 1994.<br />
Hönig, Hans G., Konstruktives Übersetzen, Tübingen: Stauffenburg, 1995.<br />
Kussmaul, Paul, Training the Translator, Amsterdam: Benjamins, 1995.<br />
Moser, Peter, Simultanes Konferenzdolmetschen. Anfor<strong>de</strong>rungen und<br />
Erwartungen <strong>de</strong>r Benutzer, Wien: SRZ Stadt- und Regionalforschung GmbH, 1988.<br />
Pöchhacker, Franz, Simultandolmetschen als komplexes Han<strong>de</strong>ln, Tübingen:<br />
232
Gunter Narr, 1994.<br />
Salewsky, Hei<strong>de</strong>marie, „Interne Abläufe beim Dolmetschen und externe<br />
Dolmetschkritik – ein unlösbares Problem <strong>de</strong>r Übersetzungswissenschaft?“ In:<br />
TEXTconTEXT 5 (1990): 143-165.<br />
233
234
TANJA BECKER<br />
DAAD<br />
Die Produktion fachbezogener Texte als Schwerpunkt <strong>de</strong>s<br />
Faches “Schriftlicher Ausdruck” im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Übersetzerausbildung<br />
Vorbemerkungen<br />
Im Rahmen meiner Tätigkeit an <strong>de</strong>r TU Timisoara unterrichte ich am<br />
Übersetzerkolleg unter an<strong>de</strong>rem das Fach “Communicare scrisă” o<strong>de</strong>r “Schriftlicher<br />
Ausdruck”. Die Deutschkenntnisse <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntinnen reichen von mittel bis sehr<br />
gut.<br />
An dieser Stelle möchte ich einflechten, daß es in <strong>de</strong>r Übersetzerausbildung in<br />
Rumänien ein beson<strong>de</strong>res Problem gibt. In <strong>de</strong>r Regel übersetzen professionelle<br />
Übersetzer und Dolmetscher nur in ihrer Muttersprache, da es aber kaum<br />
ausländische Übersetzer gibt, die Rumänisch studieren, muß man bei einer<br />
Ausbildung von Übersetzern hier in Rumänien immer be<strong>de</strong>nken, daß sie auch für<br />
eine Übersetzung in die Fremdsprache geschult wer<strong>de</strong>n müssen. Dies setzt eine<br />
sehr hohe Kompetenz in unserem Fall im Deutschen voraus. Oft konnte ich<br />
feststellen, daß viele Stu<strong>de</strong>ntinnen fließend sprechen und annähernd fehlerfrei<br />
schreiben konnten, sobald es um allgemeine Aussagen und Texte ging. Ganz<br />
an<strong>de</strong>rs stellt sich die Situation im Bereich Fachtexte dar, bei <strong>de</strong>nen oft schon die<br />
bloße Rezeption Schwierigkeiten bereitet.<br />
Produktion fachbezogener Texte<br />
Wenn man dieses Problem nun von <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Seite her angeht,<br />
erscheint zunächst einmal eine genaue Definition <strong>de</strong>s Begriffs Fachtext vonnöten,<br />
wobei ich eigentlich mit Susanne Göpferich1 lieber von fachbezogenen Texten<br />
sprechen möchte. Gemeint sind hiermit nicht nur Fachtexte im engeren Sinn,<br />
son<strong>de</strong>rn auch “allgemeinverständliche” Texte über Fachliches, die auch und<br />
gera<strong>de</strong> für Nicht-Fachleute geschrieben wur<strong>de</strong>n. Die Produktion solcher Texte<br />
bezeichnet nun Susanne Göpferich als “Technical Writing”, das sie wie folgt<br />
<strong>de</strong>finiert:<br />
die funktions- und adressatengerechte Erstellung fachbezogener schriftlicher Texte<br />
1 Göpferich, Susanne, Technical Writing als integraler Bestandteil <strong>de</strong>r<br />
Übersetzerausbildung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd 24, München 1998,<br />
S. 251.<br />
235
inklusive nonverbaler Informationsträger (Photographien, Zeichnungen,<br />
Diagramme, Piktogramme, etc.), insbeson<strong>de</strong>re die Erstellung Technischer<br />
Dokumentationen wie Produktbeschreibungen, Installations-, Benutzungs-,<br />
Wartungs- und Reparaturanleitungen, Ersatzteillisten sowie Schulungsunterlagen<br />
(als Printmedien, für computergestützte Lernprogramme und Online-<br />
Dokumentationen o<strong>de</strong>r für Multimedia-Systeme).<br />
Ich möchte diesen Begriff <strong>de</strong>s “Technical Writing” für diesen Vortrag übernehmen –<br />
nicht weil ich eine Vorliebe für englische Terminologie habe, son<strong>de</strong>rn weil ich mit<br />
Susanne Göpferich <strong>de</strong>r Meinung bin, daß eine Ein<strong>de</strong>utschung schwierig ist. Sie<br />
schlägt zum Beispiel ein: “Produktion fachbezogener Texte” vor, das mir ungleich<br />
schwerfälliger erscheint.<br />
“Technical Writing” umfasst eine gewisse Bandbreite von verschie<strong>de</strong>nen Arten <strong>de</strong>r<br />
Textproduktion. Angefangen beim “freien Technical Writing”, bei <strong>de</strong>m nicht<br />
schwerpunktmäßig auf an<strong>de</strong>re schriftliche o<strong>de</strong>r mündliche Texte o<strong>de</strong>r Textteile<br />
<strong>zur</strong>ückgegriffen wird, son<strong>de</strong>rn primär eigene Erkenntnisse versprachlicht wer<strong>de</strong>n,<br />
bis zum “Intertextualität schaffen<strong>de</strong>n Technical Writing”, bei <strong>de</strong>m Texte auf <strong>de</strong>r<br />
Grundlage von an<strong>de</strong>ren schriftlichen o<strong>de</strong>r mündlichen Texten o<strong>de</strong>r Textteilen<br />
erstellt wer<strong>de</strong>n. Bei Bedarf kann zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Kategorien eine dritte<br />
eingführt wer<strong>de</strong>n, die man als “textverwerten<strong>de</strong>s Technical Writing” bezeichnen<br />
könnte, bei <strong>de</strong>m sowohl massiv eigene Erkenntnisse versprachlicht als auch<br />
massiv auf an<strong>de</strong>re Texte rekurriert wird.<br />
Im Bereich <strong>de</strong>s “Intertextualität schaffen<strong>de</strong>n Technical Writing” können<br />
verschie<strong>de</strong>ne Texttransformationsverfahren angewandt wer<strong>de</strong>n, die ich zunächst<br />
auflisten und dann <strong>de</strong>r Reihe nach näher erläutern möchte.<br />
1. Verän<strong>de</strong>rungen im Explizitheitsgrad<br />
2. Terminusexpansionen und Textkon<strong>de</strong>nsationen<br />
3. Analogisierungen<br />
4. Intersemiotische Texttransformationen<br />
5. Textsortentransfers<br />
6. Textoptimierungen unter Verständlichkeitsperspektive<br />
7. Korrekturen<br />
8. Lokalisierungen und Internationalisierungen (interkulturelle<br />
Texttransformationen)<br />
9. Interlinguale Texttransformationen<br />
Diese Texttransformationsverfahren können getrennt voneinan<strong>de</strong>r angewandt o<strong>de</strong>r<br />
kombiniert wer<strong>de</strong>n. Sie bestimmen die Art <strong>de</strong>r Intertextualität zwischen<br />
Ausgangstext und Zieltext. Obenstehen<strong>de</strong> Liste erhebt keinesfalls Anspruch auf<br />
Vollständigkeit. Bei <strong>de</strong>n Verfahren von 1-7 han<strong>de</strong>lt es sich um intralinguale<br />
Texttransformationen. Lokalisierungen können sowohl intra- als auch interlingual<br />
auftreten. Dabei unterschei<strong>de</strong>n sie sich – wie auch Korrekturen – von allen<br />
an<strong>de</strong>ren Verfahren dadurch, daß durch sie die Inhalte im Verlauf <strong>de</strong>r<br />
Texttransformation so verän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n können, daß sie im Wi<strong>de</strong>rspruch stehen<br />
zu <strong>de</strong>n Informationen im Ausgangsmaterial. Bei allen an<strong>de</strong>ren Verfahren können<br />
Inhalte zwar modifiziert wer<strong>de</strong>n, jedoch stets nur so, daß sie <strong>de</strong>n Inhalten <strong>de</strong>s<br />
Ausgangsmaterials nicht wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n Teil wer<strong>de</strong> ich Beispiele für die einzelnen Verfahren näher erläutern<br />
mit <strong>de</strong>m Ziel jeweils aufzuzeigen, welche Be<strong>de</strong>utung sie für die<br />
Texttransformationsverfahren <strong>de</strong>r 9. Kategorie, die interlinguale<br />
236
Texttransformation, haben, die uns ja im Rahmen <strong>de</strong>r Übersetzerausbildung primär<br />
interessiert. Untersucht wer<strong>de</strong>n soll dabei die These, daß interlinguale<br />
Texttransformationen nur zu funktionieren<strong>de</strong>n, d.h. funktions- und<br />
adressatengerechten Zieltexten führen, wie sie in <strong>de</strong>r Praxis gebraucht wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn sie in Kombination mit einem o<strong>de</strong>r mehreren <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Verfahren<br />
durchgeführt wer<strong>de</strong>n.<br />
1. Verän<strong>de</strong>rungen im Explizitheitsgrad<br />
Verän<strong>de</strong>rungen im Explizitheitsgrad gehören in <strong>de</strong>r Dokumentationserstellung mit<br />
zu <strong>de</strong>n am häufigsten angewandten Texttransformationsverfahren. Das<br />
Ausgangsmaterial, auf das dieses Verfahren angewandt wird, stammt oftmals aus<br />
<strong>de</strong>n Entwicklungs- und Konstruktionsabteilungen, die <strong>de</strong>m technischen Redakteur<br />
das Informationsmaterial für die Erstellung von Benutzerinformationen liefern. Der<br />
Technische Redakteur hat die Aufgabe, dieses für die fachinterne Kommunikation<br />
bestimmte Textmaterial in Texte für fachexterne Kommunikation zu überführen.<br />
Dabei gilt es zu beachten, daß in <strong>de</strong>n Texten für die fachinterne Kommunikation<br />
vieles implizit gelassen wird, da die Verfasser dieser Texte bei ihren Fachkollegen<br />
als Adressaten davon ausgehen können, daß sie sie aufgrund ihres Fachwissens<br />
ohne Probleme rezipieren können. Dem Laien muß dagegen je<strong>de</strong>r für ihn relevante<br />
Sachverhalt explizit dargestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
Typisch ist beispielsweise die folgen<strong>de</strong> Information, die Entwicklungsingenieure an<br />
die technischen Redakteure weiterleiten, <strong>zur</strong> Vorbereitung <strong>de</strong>r Installation eines<br />
neu entwickelten Programms:<br />
Pfad einrichten<br />
Gemeint ist damit, daß ein Unterverzeichnis anzulegen ist, in das das Programm<br />
anschließend installiert wird. Der EDV-Laie weiß nun aber in <strong>de</strong>r Regel nicht, wie<br />
man einen Pfad einrichtet o<strong>de</strong>r wie man ein Unterverzeichnis anlegt. Damit auch<br />
<strong>de</strong>r Computer-Neuling versteht, was zu tun ist, muß die komplexe Handlung “Pfad<br />
anlegen” in einzelne Schritte zerlegt wer<strong>de</strong>n:<br />
Ausgangssituation<br />
Ihr Computer ist eingeschaltet und zeigt die DOS-Eingabeauffor<strong>de</strong>rung C:\> an. Im<br />
folgen<strong>de</strong>n wird vorausgestzt, daß Sie das Programm in einem Unterverzeichnis<br />
von Laufwerk C: installieren möchten, das <strong>de</strong>n Namen PROG trägt.<br />
Möchten Sie das Programm auf einem an<strong>de</strong>ren Laufwerk installieren, z. B.<br />
Laufwerk D:, dann müssen Sie zunächst das Laufwerk wechseln.<br />
Beispiel: Auf ihrem Bildschirm wird C:\> angezeigt, Sie möchten das Programm<br />
aber auf Laufwerk D: installieren.<br />
Geben Sie hierzu hinter C:\> ein D: (enter)<br />
Auf Ihrem Bildschirm erscheint dann: D:\><br />
Legen Sie das Unterverzeichnis an, in<strong>de</strong>m Sie eingeben: md PROG (enter)<br />
Achten Sie auf das Leerzeichen zwischen md und PROG.<br />
Sollten Sie Probleme haben, schlagen Sie bitte in Ihrem DOS-Handbuch nach.<br />
237
Die knappe nur aus zwei Wörtern bestehen<strong>de</strong> Instruktion wur<strong>de</strong> hier also auf einen<br />
Text von einer halben Seite Länge “expandiert” und die Information expliziter<br />
gemacht.<br />
2. Terminusexpansionen und Textkon<strong>de</strong>nsationen<br />
Wird <strong>de</strong>r Explizitheitsgrad eines Textes dadurch erhöht, daß Termini durch<br />
entsprechen<strong>de</strong> Erklärungen ersetzt o<strong>de</strong>r ergänzt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren Inhalte in <strong>de</strong>n<br />
Termini semantisch verankert sind, so bezeichne ich sie als Terminusexpansionen,<br />
im umgekehrten Fall als Textkon<strong>de</strong>nsationen.<br />
In Fachübersetzungen sind Terminusexpansionen oftmals dann zwingend<br />
erfor<strong>de</strong>rlich, wenn im Ausgangstext Termini <strong>zur</strong> Bezeichnung von<br />
Neuentwicklungen auftreten, die in <strong>de</strong>r Zielkultur noch unbekannt sind und für die<br />
es in <strong>de</strong>r Zielkultur daher noch keine Benennungen gibt.<br />
3. Analogisierungen<br />
Den Terminus Analogisierung möchte ich <strong>zur</strong> Bezeichnung von<br />
Texttransformationen verwen<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen die Referenz auf einen Gegenstand<br />
o<strong>de</strong>r Sachverhalt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Adressatengruppe <strong>de</strong>s Zieltextes unbekannt o<strong>de</strong>r<br />
un<strong>zur</strong>eichend bekannt ist und daher bei diesen Adressaten auf keines o<strong>de</strong>r zu<br />
geringes Vorwissen stößt, mit <strong>de</strong>m sie assoziiert wer<strong>de</strong>n könnte, durch die<br />
Referenz auf an<strong>de</strong>re Gegenstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Sachverhalte ersetzt wird, die im<br />
Erfahrungsbereich <strong>de</strong>r Adressaten liegen und eine Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>n<br />
Gegenstän<strong>de</strong>n und Sachverhalten aufweisen, auf die im Ausgangstext referiert<br />
wird und zu diesen erklärend in Relation gesetzt wer<strong>de</strong>n. Auf diese Weise wer<strong>de</strong>n<br />
im Gedächtnis <strong>de</strong>r Adressaten vorhan<strong>de</strong>ne Schemata als Verankerungspunkte für<br />
neues Wissen aktiviert, so daß die so aktivierten Schemata durch Analogiestiftung<br />
als kognitives Strukturgerüst für die Speicherung <strong>de</strong>r neu vermittelten Inhalte<br />
genutzt wer<strong>de</strong>n können.<br />
Analogisierungen kommen häufig beim interlingualen Texttransfer vor. Sie wer<strong>de</strong>n<br />
z.B. beim funktionskonstanten Übersetzen informativer Texte eingesetzt, wenn im<br />
Ausgangstext Bräuche, wie “Poltern bei einer Hochzeit” o<strong>de</strong>r “Kirchweihbaum<br />
aufstellen” auftauchen, die es in <strong>de</strong>r Zielkultur nicht gibt. Hier bietet es sich an, im<br />
Zieltext auf Bräuche in <strong>de</strong>r Zielkultur zu referieren, die <strong>de</strong>n im Ausgangstext<br />
erwähnten Bräuchen möglichst nahe kommen und dann auf die jeweiligen<br />
Unterschie<strong>de</strong> hinzuweisen.<br />
4. Intersemiotische Texttransformationen<br />
Bei intersemiotischen Texttransformationen wer<strong>de</strong>n Zeichen eines semiotischen<br />
Systems ganz o<strong>de</strong>r teilweise in Zeichen eines an<strong>de</strong>ren semiotischen Systems<br />
überführt: zum Beispiel rein verbal vermittelte Instruktionen in eine kombinierte<br />
Bild/Text-Anleitung. Im Bereich <strong>de</strong>r interlingualen Texttransformation bedient man<br />
sich dieser Vorgehensweise vor allem, wenn man Sachverhalte, die in einer<br />
Sprache mit ausgeprägter Schriftkultur rein verbal dargestellt wer<strong>de</strong>n in eine<br />
238
Sprache transferieren soll, die von einem hohen Prozentsatz von Analphabeten<br />
gesprochen wird. Man <strong>de</strong>nke nur an Aufklärungskampagnen zum Thema AIDS in<br />
Afrika.<br />
5.Textsortentransfers<br />
Textsortentransfers sind für mich, wenn das Ausgangsmaterial eine an<strong>de</strong>re<br />
Textsortenzugehörigkeit aufweist als <strong>de</strong>r zu erstellen<strong>de</strong> Zieltext.<br />
Textsortentransfers sind häufig vorzunehmen, wenn Anleitungen für <strong>de</strong>n Benutzer<br />
auf <strong>de</strong>r Grundlage von Informationsmaterial wie zum Beispiel<br />
Konstruktionsunterlagen aus <strong>de</strong>r Entwicklungsabteilung zu erstellen sind.<br />
Interlingual gesehen sind Textsortentransfers z.B. bei <strong>de</strong>r Übersetzung von<br />
Textsorten o<strong>de</strong>r Gattungen nötig, die in <strong>de</strong>r Zielkultur kein Pendant aufweisen.<br />
Selbst dann, wenn <strong>de</strong>r Übersetzer hier versucht, die entsprechen<strong>de</strong> Textsorte o<strong>de</strong>r<br />
Gattung in <strong>de</strong>r Zielkultur neu zu etablieren, kann man hier trotz<strong>de</strong>m von einem<br />
Textsorten- bzw. Gattungstransfer sprechen, weil <strong>de</strong>r neuen Textsorte o<strong>de</strong>r<br />
Gattung in <strong>de</strong>r Zielkultur zwangsläufig ein an<strong>de</strong>rer Status zukommt als in <strong>de</strong>r<br />
Ausgangskultur, in <strong>de</strong>r sie ja bereits etabliert war. Man <strong>de</strong>nke nur an die<br />
japanischen Haikus, die in verschie<strong>de</strong>nen Sprachen übersetzt wur<strong>de</strong>n, wobei sich<br />
die Übersetzer bemüht haben, stets die Form zu wahren. Allein die Haltung für<br />
einen japanischen und einen europäischen Leser bei <strong>de</strong>r Rezeption dieser<br />
Gedichtform ist nicht dieselbe.<br />
6.Textoptimierungen unter Verständlichkeitsperspektive<br />
Nach <strong>de</strong>m Hamburger Verständlichkeitskonzept von Langer/Schulz von<br />
Thun/Tausch sind es vier Faktoren, die die Verständlichkeit eines Textes<br />
<strong>de</strong>terminieren und zwar:<br />
sprachliche Einfachheit<br />
kognitive Glie<strong>de</strong>rung<br />
semantische Kürze/Redundanz<br />
motivationale Stimulanz<br />
Unter Textoptimierungen im Bereich <strong>de</strong>r sprachlichen Einfachheit versteht man<br />
beispielsweise die Ersetzung von <strong>de</strong>n Laien unverständlichen Fachbegriffen durch<br />
im Alltag geläufigere Wörter, das Ersetzen eines extremen Nominalstils in<br />
Verbalstil o<strong>de</strong>r das Umwan<strong>de</strong>ln bestimmter Passiv- in Aktivkonstruktionen.<br />
Die Optimierung <strong>de</strong>r kognitiven Glie<strong>de</strong>rung eines Textes, die häufig auch mit <strong>de</strong>r<br />
äußeren Glie<strong>de</strong>rung eines Textes einhergeht, dient dazu, Informationen in kurze<br />
Einheiten zu zerlegen, die vom Leser sequentiell aufgenommen wer<strong>de</strong>n können.<br />
Im Bereich <strong>de</strong>r semantischen Kürze können Textoptimierungen durch Vermeidung<br />
von überflüssigen Füllwörtern und redundanten Informationen vorgenommen<br />
wer<strong>de</strong>n. Dies führt häufig zu besserer Verständlichkeit.<br />
Zum Beispiel vergleichen Sie<br />
Mit Hilfe <strong>de</strong>r im Menü ZUSÄTZE vorhan<strong>de</strong>nen Option ZEILENLINEAL ist es<br />
möglich, das standardmäßig angezeigte Zeilenlineal abzuschalten.<br />
239
Mit <strong>de</strong>r Option ZEILENLINEAL im Menü Zusätze können Sie das Zeilenlineal<br />
abschalten.<br />
Ersatzlos gestrichen wer<strong>de</strong>n können die Wörter “Hilfe, vorhan<strong>de</strong>nen“ und<br />
“standardmäßig angezeigt”. Der Informationsgehalt <strong>de</strong>r zusammengesetzten<br />
Präposition “mit Hilfe” kann auch durch die einfache Präposition “mit” übermittelt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Eine hohe motivationale Stimulanz ist nicht in allen Textsorten gleichermaßen von<br />
Be<strong>de</strong>utung. Bei Gebrauchsanweisungen können motivieren<strong>de</strong> Elemente sogar<br />
stören, da sie in <strong>de</strong>r Regel zu einer Verlängerung <strong>de</strong>s Textes führen. Wichtig sind<br />
sie vor allem bei populärwissenschaftlichen Texten. Man vergleiche zum Beispiel:<br />
a. Das Atom gibt sehr schnell ein Wellenpaket ab, das sich mit<br />
Lichtgeschwindigkeit ausbreitet.<br />
b. Wie eine hart angezupfte Saite schießt das Atom das Wellenpaket ab, das sich<br />
mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet.<br />
7. Korrekturen<br />
Häufig ist das Ausgangsmaterial, das einem Technischen Redakteur <strong>zur</strong><br />
Verfügung gestellt wird, fehlerhaft o<strong>de</strong>r veraltet. Zum Beispiel wenn eine neue<br />
Version eines Gerätes auf <strong>de</strong>n Markt kommt und die Bedienungsanleitung<br />
angepaßt wer<strong>de</strong>n muß. Viele Informationen können zwar einfach übernommen<br />
wer<strong>de</strong>n, aber an<strong>de</strong>re Stellen müssen entsprechend <strong>de</strong>n technischen Än<strong>de</strong>rungen<br />
verän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Bei Übersetzungen stellen Korrekturen oft ein großes Problem dar, weil sie <strong>de</strong>m<br />
Invarianzbegriff entgegenstehen. Nach neueren Erkenntnissen <strong>de</strong>r Übersetzungswissenschaft<br />
sollte man sich jedoch weniger an <strong>de</strong>r exakten Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>s<br />
Ausgangstextes orientieren als an <strong>de</strong>r Autorintention. Offensichtlich vom Autor<br />
nicht intendierte Defekte sollten korrigiert wer<strong>de</strong>n, da man in einem Fachtext davon<br />
ausgehen kann, daß es sich schlicht und einfach um einen Fehler han<strong>de</strong>lt, wenn<br />
z. B. <strong>de</strong>r Autor die Entfernung zwischen zwei Städten in cm statt in km angibt.<br />
8. Lokalisierungen und Internationalisierungen (interkulturelle Transformationen)<br />
Unter Lokalisierung versteht man die Anpassung eines Produktes, zu <strong>de</strong>m auch<br />
seine Dokumentation gehört, an die Gegebenheiten eines an<strong>de</strong>ren Absatzmarktes.<br />
Von einer Internationalisierung spricht man, wenn Dokumente möglichst<br />
“kulturneutral” formuliert wer<strong>de</strong>n, um bei einer späteren Übersetzung das<br />
erfor<strong>de</strong>rliche Maß an Anpassung so gering wie möglich zu halten.<br />
Interlingual gesehen können Lokalisierungen zum Beispiel verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn eine Standardformulierung im Ausgangstext durch eine<br />
Standardformulierung im Zieltext ersetzt wird, <strong>de</strong>ren Inhalt zwar von <strong>de</strong>r<br />
Standardformulierung im Ausgangstext abweicht aber in <strong>de</strong>r Zielkultur in exakt <strong>de</strong>r<br />
gleichen Situation verwen<strong>de</strong>t wird wie die Standardformulierung im Ausgangstext<br />
in <strong>de</strong>r Ausgangskultur. Man betrachte beispielsweise die Hinweisschil<strong>de</strong>r, die<br />
240
sowohl in Rumänien als auch in Frankreich die Straßenrän<strong>de</strong>r zieren, auf <strong>de</strong>nen da<br />
steht:<br />
Aici sunt banii dumneavostră.<br />
bzw. Ici l’Etat investit dans votre avenir.<br />
Ähnliche Hinweisschil<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>utschen Straßen sind mir nicht bekannt.<br />
Abschließend kann man feststellen, daß Lokalisierungen, d. h. die Anpassung von<br />
Produkten und ihrer Dokumentation an an<strong>de</strong>re Absatzmärkte, und<br />
Internationalisierungen, d. h. die möglichst “kulturneutrale” Abfassung von<br />
Dokumenten, durch die zunehmen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung internationaler Zusammenarbeit<br />
eine immer größere Rolle spielen. Übersetzer bringen aus ihrer Ausbildung die<br />
Sprach- und lan<strong>de</strong>skundlichen Kenntnisse mit, die <strong>zur</strong> Überwindung von Sprach-<br />
und Kulturbarrieren nötig sind. Aus meinen Ausführungen dürfte dabei <strong>de</strong>utlich<br />
gewor<strong>de</strong>n sein, daß die Texttransformationsverfahren, die <strong>de</strong>r Technische<br />
Redakteur erlernen muß, integraler Bestandteil <strong>de</strong>r Übersetzerausbildung sein<br />
müssen. Dabei bleibt folgen<strong>de</strong>s zu beachten:<br />
A. Nur <strong>de</strong>rjenige ist in <strong>de</strong>r Lage, eine funktions- und adressatengerechte<br />
Übersetzung zu erstellen, <strong>de</strong>r auch fähig wäre, einen entsprechen<strong>de</strong>n Text originär<br />
in <strong>de</strong>r Zielsprache zu erstellen, sofern ihm dazu die nötigen Informationen geliefert<br />
wer<strong>de</strong>n. Denn ohne Textproduktionskompetenz in <strong>de</strong>n Arbeitssprachen ist <strong>de</strong>r<br />
Übersetzer gegen Interferenzfehler kaum gefeit. Je<strong>de</strong>r Übersetzer muß auch ein<br />
guter Textproduzent sein. Hieraus folgt, daß <strong>de</strong>r Vermittlung translatorischer<br />
Kompetenz ein Modul <strong>zur</strong> Seite gestellt wer<strong>de</strong>n sollte, in <strong>de</strong>m<br />
Textproduktionskompetenz in <strong>de</strong>r Muttersprache und min<strong>de</strong>stens einer<br />
Fremdsprache vermittelt wird. Hier schließe ich mich Hönig voll an, wenn er<br />
rhetorisch fragt:<br />
Wie kann es angehen, daß eine Person muttersprachliche Texte aufgrund einer<br />
fremdsprachlichen Vorlage produzieren kann, wenn sie bisher nicht in <strong>de</strong>r Lage<br />
war, solche Texte ohne Vorlage in <strong>de</strong>r Muttersprache zu produzieren? 2<br />
Aus rumänischer Perspektive kommt wie<strong>de</strong>r das zusätzlich Problem <strong>de</strong>r<br />
Übersetzung in die Fremdsprache hinzu.<br />
B. Da Konventionen (u. a. Textsortenkonventionen) oftmals dann erst bewußt<br />
wer<strong>de</strong>n, wenn man mit Textsorten an<strong>de</strong>rer Sprachen konfrontiert wird und in<br />
diesen Unterschie<strong>de</strong> <strong>zur</strong> eigenen Sprache feststellt, sollte neben das Studienmodul<br />
<strong>zur</strong> Vermittlung translatorischer Kompetenz ein Modul mit Übungen treten, in<br />
<strong>de</strong>nen systematisch intra- und interlinguale Vergleiche <strong>de</strong>r übersetzungsfrequenten<br />
Textsorten durchgeführt wer<strong>de</strong>n.<br />
Schwierig ist nun die didaktische Umsetzung. Wie vermittle ich <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>ntinnen<br />
die Fertigkeit, Gebrauchsanweisungen, Packungsbeilagen für Medikamente,<br />
Werbeprospekte, etc. zu verfassen.<br />
Eine Möglichkeit besteht darin, sich eine Textsorte, zum Beispiel<br />
2 Hönig, Hans G. und Kußmaul, Paul, Strategie <strong>de</strong>r Übersetzung, Tübingen, 1991, S. 28.<br />
241
Gebrauchsanweisungen, auszusuchen und dann eine gewisse Anzahl typischer<br />
<strong>de</strong>utscher Gebrauchsanweisungen mitzubringen und nach Vorgabe gewisser<br />
linguistischer Kategorien, die <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>ntinnen natürlich geläufig sein müssen,<br />
möglichst in Eigenregie analysieren zu lassen.<br />
In einem nächsten Schritt wer<strong>de</strong>n die Ergebnisse dieser Analyse<br />
zusammengetragen diskutiert und nach Möglichkeit verglichen mit rumänischen<br />
o<strong>de</strong>r auch englischen o<strong>de</strong>r französischen Gebrauchsanweisungen, die bis auf die<br />
rumänischen auch von <strong>de</strong>r Dozentin mitgebracht wer<strong>de</strong>n müssen. Meist tritt bei<br />
<strong>de</strong>m Vergleich mit rumänischsprachigen, spezifischen Texten das Problem auf,<br />
daß man sehr schwer für das Rumänische eigenständige linguistische Kategorien<br />
fin<strong>de</strong>n kann, da es sich meist um Übersetzungen han<strong>de</strong>lt. Kompliziertere Geräte,<br />
für die man eine Gebrauchsanweisung benötigt, wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rzeit in Rumänien fast<br />
ausschließlich in Kooperation mit ausländischen Partnern hergestellt. Die<br />
zugehörigen Gebrauchsanweisungen sind in aller Regel aus <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>s<br />
jeweiligen Kooperationspartners übersetzt. Wichtig erscheint mir in diesem<br />
Zusammenhang, daß in einer Analyse auch nonverbale Informationsträger, wie<br />
zum Beispiel Piktogramme, einbezogen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn von einem Übersetzer wird<br />
seitens eines potentiellen Arbeitgebers die Erstellung fertiger Dokumente erwartet,<br />
die sowohl bildliche als auch verbale Informationsträger nutzen und sinnvoll<br />
miteinan<strong>de</strong>r verknüpfen. Eine reine Übersetzung <strong>de</strong>s Textes führt häufig zu<br />
Mißverständnissen, wenn nicht gar zu Fehlern.<br />
In einem nächsten Schritt entwerfen die Stu<strong>de</strong>ntinnen eigene<br />
Gebrauchsanweisungen für entwe<strong>de</strong>r vorgegebene o<strong>de</strong>r frei gewählte Geräte.<br />
Auch dies geschieht wie<strong>de</strong>r unter Einbeziehung nonverbaler Hilfsmittel. Da ich<br />
feststellen mußte, daß viele Stu<strong>de</strong>ntinnen gera<strong>de</strong> mit formalen Kategorien enorme<br />
Schwierigkeiten haben, empfiehlt es sich, meiner Meinung nach, möglichst fertige<br />
Dokumente erstellen zu lassen.<br />
Die angefertigten Stu<strong>de</strong>ntenarbeiten wer<strong>de</strong>n dann für alle Kursteilnehmerinnen<br />
vervielfältigt und wie<strong>de</strong>rum einer genauen Analyse unterzogen.<br />
Dieses zugegebenermaßen sehr aufwendige Verfahren auf verschie<strong>de</strong>ne für<br />
Übersetzungen relevante Textsorten im Bereich <strong>de</strong>r Fachtexte und<br />
fachsprachlichen Texte angewandt bringt im Laufe eines Studienjahres <strong>de</strong>n<br />
Stu<strong>de</strong>ntinnen eine umfassen<strong>de</strong> Kompetenz im Bereich <strong>de</strong>s “Technical Writing” in<br />
unserem Fall sogar in einer Fremdsprache ein.<br />
Durch diese Vorgehensweise wird außer<strong>de</strong>m <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>ntinnen klar, daß<br />
Ausgangstexte auch fehlerhaft sein können, schließlich ent<strong>de</strong>cken sie schon bei<br />
<strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>s jeweiligen Textkorpus einer bestimmten Textsorte Fehler o<strong>de</strong>r<br />
Ungenauigkeiten in <strong>de</strong>n Ausgangstexten. Ganz zu schweigen von <strong>de</strong>n eigenen<br />
Fehlern, die ihnen bei <strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>r Texte unterlaufen. Dadurch wird auch <strong>de</strong>r<br />
Glaube <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nten an <strong>de</strong>n Ausgangstext als “heiliges Original” erschüttert, “<strong>de</strong>r”<br />
wie Brigitte Horn-Helf schreibt “beim technischen Übersetzen einer professionellen<br />
Arbeit im Wege steht.”3 Je<strong>de</strong> Reproduktion übersetzungsrelevanter AT-Defekte<br />
(z.B.: von Redaktions- und Ortographiefehlern, <strong>de</strong>nen eine Intention unterstellt<br />
wird) verrät einen Mangel an fachlicher Souveränität, die nur durch Fachwissen<br />
3 Horn-Helf, Brigitte, Technisches Übersetzen in Theorie und Praxis, Tübingen, 1999, S.<br />
303.<br />
242
und das Wissen um die genaue Struktur <strong>de</strong>r jeweiligen Textsorte erlangt wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
Aus diesen Grün<strong>de</strong>n möchte ich an dieser Stelle noch einmal mit allem Nachdruck<br />
für ein Training <strong>de</strong>s “Technical Writing” – natürlich mit interkultureller Komponente<br />
– als integralen Bestandteil <strong>de</strong>r Übersetzerausbildung plädieren.<br />
Literatur<br />
Buhlmann Rosemarie/Fearns Anneliese, Handbuch <strong>de</strong>s Fachsprachenunterrichts,<br />
Langenscheidt, Berlin und München, 1987.<br />
Galle, Helmut, Bericht <strong>zur</strong> Übersetzerausbildung am Instituto <strong>de</strong> Enseñanza<br />
Superior en Lenguas Vivas “Juan Ramón Fernán<strong>de</strong>z”, Buenos Aires. In: Jahrbuch<br />
Deutsch als Fremdsprache – Intercultural German Studies, hrsg. von<br />
Wierlacher, Alois, Bd. 24, 1998, S. 461-466.<br />
Gerzymisch-Arbogast, Heidrun/Mu<strong>de</strong>rsbach Klaus, Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
wissenschaftlichen Übersetzens, Francke-Verlag, Tübingen und Basel, 1998.<br />
Göpferich, Susanne, Interkullturelles Technical Writing, Gunter Narr Verlag,<br />
Tübingen, 1998.<br />
Göpferich Susanne, Technical Writing als integraler Bestandteil <strong>de</strong>r<br />
Übersetzerausbildung. In Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd. 24 1998,<br />
S.251-289<br />
Hönig, Hans G., Konstruktives Übersetzen, Stauffenburg Verlag, Tübingen,<br />
1995.<br />
Hönig, Hans G./Kußmaul, Paul, Strategie <strong>de</strong>r Übersetzung, Gunter Narr Verlag,<br />
Tübingen, 1991.<br />
Horn-Helf, Brigitte, Technisches Übersetzen in Theorie und Praxis, Francke-<br />
Verlag, Tübingen und Basel, 1999.<br />
Königs, Frank G., Übersetzungswissenschaft und Fremdsprachenunterricht,<br />
Goethe-Institut München, 1989.<br />
Kußmaul, Paul, Funktionale Ansätze in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Übersetzungswissenschaft.<br />
In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd. 24 1998, S. 203-215.<br />
Vaerenbergh, van Leona, Deutsch als Fremdsprache im Kontext <strong>de</strong>r<br />
Übersetzerausbildung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd. 24 1998, S.<br />
457-459.<br />
Zwilling Michail, Allgemeinwissen in <strong>de</strong>r Ausbildung von Übersetzern und<br />
Dolmetschern. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd. 24 1998, S. 303-<br />
309.<br />
243
244
KARL STOCKER<br />
MÜNCHEN<br />
Literaturunterricht im 21. Jahrhun<strong>de</strong>rt – im Zeichen <strong>de</strong>r digitalen<br />
Medien und einer verän<strong>de</strong>rten Lehrerrolle<br />
Einer <strong>de</strong>r Vorzüge <strong>de</strong>r Universitätsbildung ist, daß sie <strong>de</strong>m jungen Mann zeigt, wie<br />
wenig sie ihm nützt.<br />
Ralph Waldo Emerson<br />
Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben <strong>de</strong>r Deutschdidaktik<br />
Das Emerson-Zitat gehört schon <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>r Vergangenheit an, weil im<br />
Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Studium <strong>de</strong>r „junge Mann“ apostrophiert ist: Inzwischen<br />
haben sich – nicht im technisch-naturwissenschaftlichen, dafür beson<strong>de</strong>rs im<br />
geisteswissenschaftlichen Bereich – die Verhältnisse gewan<strong>de</strong>lt, was zuweilen in<br />
Seminaren für Lehrerbildung die Anre<strong>de</strong> nötig macht: „Meine Damen, mein Herr<br />
…“ Wenn <strong>de</strong>r Ausspruch <strong>de</strong>nnoch „zeitlos“ ist, dürfte sich inhaltlich die<br />
Germanistik, hoffen wir das wenigstens, nicht betroffen fühlen (angesprochen<br />
schon), die sich heute <strong>de</strong>finiert als Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft,<br />
Textwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft, Kulturwissenschaft und – verstärkt –<br />
als interkulturelle Wissenschaft.<br />
Auch wenn eine Aufspaltung dieser Einzeldisziplin in Forschung und in Lehre droht<br />
– für Schreibtischexperten und Empiriker waren Studieren<strong>de</strong> oft, laut <strong>de</strong>ren Klagen,<br />
eher zeitrauben<strong>de</strong> Störfaktoren -, wird nach unserem Verständnis <strong>de</strong>r Didaktik ein<br />
wichtiges und verzweigtes Aufgabenfeld zufallen (Grundfragen dieser Art stan<strong>de</strong>n<br />
<strong>zur</strong> Debatte, als es um die Einführung <strong>de</strong>s Magisterstudienganges in Germanistik<br />
an <strong>de</strong>r West-Universität in Temeswar 1999 ging.) Dies setzt Vorklärungen und<br />
Kürzesterläuterungen voraus:<br />
Didaktik im weiteren Sinne ist die Wissenschaft vom Lernen und Lehren, eine<br />
Disziplin, die u.a. die Voraussetzungen <strong>de</strong>s Lernens in möglichst optimaler Weise<br />
zu organisieren hat.<br />
Fachdidaktik ist daraus befaßt mit <strong>de</strong>r Konkretisierung von Elementen,<br />
Beziehungen und Prozessen im Rahmen eines bestimmten Faches, in unserem<br />
Falle <strong>de</strong>s Faches Deutsch. Germanistische Didaktik ist erstens (und primär) <strong>de</strong>r<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Fachwissenschaft zugeordnet, also <strong>de</strong>r germanistischen Sprach-<br />
und Literaturwissenschaft. Ein zweites Bezugssystem sind die Erziehungs- und<br />
Verhaltenswissenschaften, dabei vor allem Pädagogik, Psychologie und<br />
Schulpädagogik. Drittens spielen eine be<strong>de</strong>utsame Rolle die Belange von Schule<br />
und Unterricht (unter Einbeziehung außerschulischer Lernorte). In das<br />
245
Universitätsstudium bringt die Fachdidaktik Erfahrungen und Erkenntnisse aus<br />
langjähriger unerläßlicher Berufspraxis in <strong>de</strong>r Schule ein.<br />
Literaturdidaktik ist dann die Wissenschaft vom Literaturunterricht, sie erschließt<br />
Objektbereiche/Gegenstän<strong>de</strong>, Metho<strong>de</strong>n und Forschungsergebnisse <strong>de</strong>r Literaturwissenschaft<br />
für Erziehungs- und Bildungsaufgaben. 1<br />
Sprachdidaktik ist, in vergleichbarer Weise, die Theorie <strong>de</strong>s Lehrens und Lernens<br />
im Gegenstandsbereich Sprache.<br />
Die Didaktik <strong>de</strong>s Faches Deutsch sucht Positionen zwischen Ist- und Soll-Zustand<br />
von Studium und Beruf zu ver<strong>de</strong>utlichen, und da ist an <strong>de</strong>r Schwelle eines neuen<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts sehr wohl zukunftsorientierte Reflexion angebracht. Deutschdidaktik,<br />
die sowohl hermeneutische wie empirische Forschung betreibt, konzentriert sich<br />
erst recht nicht nur auf <strong>de</strong>n Text, son<strong>de</strong>rn auch auf <strong>de</strong>ssen (intendierten wie<br />
tatsächlichen) Leser, <strong>de</strong>r zugleich auch Rezipient von Literatur in <strong>de</strong>n<br />
publizistischen wie elektronischen bzw. digitalen Medien ist. Um <strong>de</strong>n Stellenwert<br />
<strong>de</strong>r Lesekultur im Zeichen <strong>de</strong>r digitalen Medien(kultur) soll es in diesem Beitrag<br />
gehen. 2 Die Didaktik <strong>de</strong>s Faches Deutsch wie <strong>de</strong>r Germanistik ist we<strong>de</strong>r eine<br />
Überwissenschaft, die „alles“ integriert, noch ist sie eine Hilfswissenschaft, eine mit<br />
bloßen Vermittlungsaufgaben, die womöglich noch „auf Weisung“ han<strong>de</strong>lt. Sie<br />
könnte eine Schlüsselposition einnehmen mit einer integrativen Funktion, wenn es<br />
darum geht, Lesewelt und Medienwelt miteinan<strong>de</strong>r zu verbin<strong>de</strong>n, wobei man oft<br />
übersieht, daß schließlich auch das Buch ein Medium ist. 3<br />
Literatur und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> – Literatur als Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong><br />
Diese Kapitelüberschrift könnte im Sinne <strong>de</strong>r Sprechakt-Theorie eine<br />
Feststellungs- (mit Punkt am En<strong>de</strong>), eine Behauptungs- bzw. Befehlshandlung (mit<br />
Ausrufezeichen), könnte aber auch eine Fragehandlung (mit Fragezeichen)<br />
darstellen. Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> ist das Erforschen und die Kenntnis eines bestimmten<br />
geographischen Raumes, eines Gebietes mit Blick auf die Gesamtheit <strong>de</strong>r sie<br />
gestalten<strong>de</strong>n Faktoren; Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> ist eng verknüpft mit Geschichte, historischer<br />
Geographie, und <strong>de</strong>mentsprechend gewinnt die Sozialgeographie Be<strong>de</strong>utung.<br />
Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> verbin<strong>de</strong>t Längsschnitt- wie Querschnittbetrachtung, also diachrone<br />
wie synchrone Annäherung an Kultur, technische Leistungen, Geographie und<br />
Geschichte, dabei Sozialgeschichte, eines Lan<strong>de</strong>s und seiner Bevölkerung. An <strong>de</strong>r<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtschwelle ist Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> Lehr- und Forschungsbereich nicht nur <strong>de</strong>s<br />
jeweiligen Unterrichts in Fremdsprache(n), son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>s Unterrichts als<br />
1 Dazu: Cf. Karl Stocker (Hrsg.): Taschenlexikon <strong>de</strong>r Literatur- und Sprachdidaktik.<br />
Frankfurt/M. 1987 2 ; hier: Karl Stocker: Literaturdidaktik, S. 224-243.<br />
2 Dazu: Karl Stocker: Postulat o<strong>de</strong>r Utopie? Anmerkungen <strong>zur</strong> Frage einer Rückkehr ins<br />
`Leseland`. In: Zagreber Germanistische Beiträge. Jahrbuch für Literatur- und<br />
Sprachwissenschaft. H.1 (1992), S. 115-131.<br />
3 Dazu: Karl Stocker: Wahrung <strong>de</strong>r Tradition durch Innovation. Didaktische Überlegungen<br />
zum Einsatz <strong>de</strong>r digitalen Medien in <strong>de</strong>r universitär-interdisziplinären Lehre. In: Leitmotive.<br />
Kulturgeschichtliche Studien <strong>zur</strong> Traditionsbildung. Festschrift für Dietz-Rüdiger<br />
Moser zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Marianne Sammer, u. Mitarbeit v. Lutz Röhrig/Walter<br />
Salmen/Herbert Zeman. Kallmünz 1999, S. 44-50.<br />
246
Muttersprache o<strong>de</strong>r Zweitsprache. Schulische wie aka<strong>de</strong>mische Situation<br />
ermöglicht z.B. in Temeswar ein Nebeneinan<strong>de</strong>r/Miteinan<strong>de</strong>r von<br />
Zielgruppenorientierung. Anschauung, Dosierung, Faktoren- und Trendanalyse<br />
spielen eine be<strong>de</strong>utsame Rolle; das Kennenlernen, das Verstehen-Wollen und das<br />
Verstehen <strong>de</strong>s „an<strong>de</strong>ren“ sind fundamentale politische Bedürfnisse. Eigenbeobachtung<br />
und Fremdbeobachtung sind elementare Grundgegebenheiten in<br />
Leben und Psychologie. Es gibt sicherlich unverwechselbare Be<strong>de</strong>utungseinheiten,<br />
die an <strong>de</strong>n jeweiligen Kulturkreis gebun<strong>de</strong>n und nicht ohne weiters<br />
einklagbar/übertragbar sind.<br />
Im Zeitalter <strong>de</strong>s Internet, im Rahmen also eines in Sekun<strong>de</strong>nschnelle<br />
vermittelbaren Wissens-Austausches, scheint auf <strong>de</strong>n ersten Blick, die kognitive,<br />
also die `verstan<strong>de</strong>smäßig` eingestellte Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> die erste Stelle<br />
einzunehmen. Ergebnisse sollten sein: Völkerverständigung, verbesserte Kenntnis<br />
voneinan<strong>de</strong>r, Abbau von Vorurteilen, von Klischees und Stereotypen – eben durch<br />
das intensivierte Wissen um eine Zielkultur, wobei wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r<br />
Zielsprache erinnert sei. Die Begegnung, mag sie Erst- o<strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rbegegnung<br />
mit zunächst „frem<strong>de</strong>m Kulturgut“ sein, vollzieht sich vielfältig, in Texten <strong>de</strong>r<br />
pragmatischen wie <strong>de</strong>r literarischen Art, in Kurztexten o<strong>de</strong>r Ganzschriften also,<br />
dann durch das stehen<strong>de</strong> (Photographie, Diapositiv, Skizze) und das bewegte Bild<br />
(Film, Vi<strong>de</strong>o, Fernsehen, Internet).<br />
Sehr wichtig ist und bleibt die persönliche Begegnung bzw. <strong>de</strong>r direkte Meinungs-<br />
und Erfahrungsaustausch; sie geht aus o<strong>de</strong>r gipfelt in <strong>de</strong>r „erlebten“ Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>,<br />
ist die an<strong>de</strong>re, die emotionale Schiene. Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> steht in <strong>de</strong>r Germanistik und<br />
ihrer Didaktik in Wechselwirkung mit <strong>de</strong>r Linguistik, mit <strong>de</strong>r Literaturwissenschaft<br />
und mit <strong>de</strong>r Komparatistik.<br />
Es ist danach zu fragen, inwieweit die – hier: <strong>de</strong>utschsprachige – Literatur ein<br />
wichtiges Element sein kann, wenn es um das nähere Kennenlernen von Land und<br />
Leuten, um die Beobachtung, das Studium <strong>de</strong>r Gesellschaft in <strong>de</strong>n<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Sprachräumen, in Vergangenheit (= Entwicklungen) und<br />
Gegenwart (Trendanalysen) geht.<br />
Unterschei<strong>de</strong>n sollte man, in Abstufung (nach Prioritäten) gelenkte, erlebte,<br />
historisch orientierte, aktualitätsbezogene, prospektiv-zukunftsgerichtete,<br />
vergleichen<strong>de</strong> (und damit erhellen<strong>de</strong>) Ansätze; einzeln o<strong>de</strong>r in Bün<strong>de</strong>lung eröffnen<br />
sie ein Spektrum an Möglichkeiten, die zu Recht heute so gefragte kontextuelle<br />
Interpretation – diese im Spannungsfeld von inner- und außenliterarischen<br />
Aspekten. Die Einsicht, daß literarische, ästhetisch kodierte, „uneigentliche“ Texte<br />
Stützfunktionen und „Quellen markieren können, hat sich erst zögerlich<br />
durchgesetzt; an<strong>de</strong>rerseits hat sich die „Gefahrenzone“ erweitert, daß nämlich<br />
Texte in (gesuchte) Bedarfspositionen gerückt wur<strong>de</strong>n/wer<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>r Devise:<br />
Gegeben ist (=wird) ein Lernziel, gesucht <strong>de</strong>r es `sekundieren<strong>de</strong>` Text, auch als<br />
herausgenommene Textstelle, Kern- o<strong>de</strong>r Gelenkstelle. Die Vorstellung von <strong>de</strong>r<br />
Zweigleisigkeit, von <strong>de</strong>r Dichotomie von Texten, hat sich durchgesetzt, global und<br />
gera<strong>de</strong>zu verbindlich: hier die pragmatischen Textsorten, dort die literarischen<br />
Gattungsformen (o<strong>de</strong>r Genres) – zwei Stränge, die für die Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong><br />
247
unentbehrlich sind. 4 Mo<strong>de</strong>rn konzipierte Lesebücher für Schulen aller Schularten<br />
bedienen sich <strong>de</strong>r vergleichen<strong>de</strong>n Sequenzmetho<strong>de</strong>, um Sachverhalte zu<br />
beleuchten, die Synthese dabei <strong>de</strong>m Leser überlassend. Beispiel: Weihnachten in<br />
<strong>de</strong>r Lyrik <strong>de</strong>s Barock, <strong>de</strong>r Klassik, <strong>de</strong>s 19., <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts (dazu eventuell<br />
Kurz- und Kürzestgeschichten, Auszüge), daneben o<strong>de</strong>r dazwischen –<br />
Weihnachten in <strong>de</strong>r Werbung, in <strong>de</strong>r Kritik, in Medienbezügen: Das Ganze<br />
motivähnlich, motivgleich, kontrastiv. Nur <strong>de</strong>r Vollständigkeit halber sei verwiesen<br />
darauf, daß sich die Grenzlinien zwischen sach- bzw. zweckorientierten Texten<br />
und fiktionalen Texten verwischen, und man <strong>de</strong>nkt dabei an Texte aus <strong>de</strong>m O-Ton-<br />
Bereich, aus <strong>de</strong>r dokumentarischen Literatur, an Schöpfungen aus verschie<strong>de</strong>nen<br />
Sprachebenen und Sprachschichten, von Regiolekten und Soziolekten.<br />
Innovativer Literaturunterricht bedient sich längst vorhan<strong>de</strong>ner Strategien (wie<br />
Lernzielorientierung, Projektorientierung, fächerübergreifen<strong>de</strong> und auf<br />
Kontrastivierung abzielen<strong>de</strong> unterrichts-methodische Maßnahmen). Es gilt ferner,<br />
kreatives Potential zu wecken durch kreatives Lesen, Sprechen, Sehen, audiovisuelles<br />
Aufnehmen. Eigentlich wollten das auch früher Generationen von<br />
Schülern und Studieren<strong>de</strong>n „wissen“ (d.h. mitgeteilt bekommen): warum man<br />
etwas lernt, z.B. eine frem<strong>de</strong> Sprache und mit ihr die Kultur und Literatur in dieser<br />
Sprache. Es geht angesichts globalistischer Konkurrenzsituationen auch um<br />
Wettbewerb, um Denkanstöße, um Lernprozesse (ihre Einleitung, ihre<br />
Durchführung, ihre Evaluation), wo sich Zusammenhänge erkennen lassen<br />
zwischen Leben und Sprache, Sprache und Kultur, Sprache und Literatur. 5<br />
Kulturelle Beson<strong>de</strong>rheiten sind, theoretisch gesehen, ein System, eine „Welt von<br />
Zeichen“ – so wie man auch von einer „Welt <strong>de</strong>r Texte“ gesprochen hat, die freilich<br />
auch wie<strong>de</strong>r (sprachliche) Zeichen sind. Diese kennzeichnet die Ebene <strong>de</strong>r<br />
Kultursemiotik. Welche Fundgrube sind da etwa Besuch und Würdigung <strong>de</strong>s<br />
Dorfmuseums in fast zentraler Lage in Bukarest, Stadtkern, Josefstadt und<br />
Industriestadt in Temeswar, das noch erkennbare „alte“ und das (sehr) „neue“<br />
Bukarest. Schule und Hochschule müßten in <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> eine Schule <strong>de</strong>s<br />
Sehens, Hörens, Lesens und, vor allem, Lernens sein. Solche Anleitungen,<br />
Kompetenz <strong>de</strong>s Anaylisieren<strong>de</strong>n vorausgesetzt, ermöglichen das Entschlüsseln<br />
von Zeichen, Signalen, Chiffren und Symbolen. 6<br />
Lernziel ist das Erkennen <strong>de</strong>r Tiefenstruktur vor <strong>de</strong>m Hintergrund (bzw.<br />
Vor<strong>de</strong>rgrund) <strong>de</strong>r Oberflächenstruktur, das Diagnostizieren von Superzeichen. Man<br />
spricht von einem „nationalen Konsens“, wenn es um die Ein- und Wertschätzung<br />
von Sprach<strong>de</strong>nkmälern geht wie Goethes „Faust“ – Dichtung, Gemäl<strong>de</strong> von<br />
Albrecht Altdorfer, Albrecht Dürer, Kaspar David Friedrich o<strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>r und Grafiken<br />
führen<strong>de</strong>r Expressionisten. Diese „<strong>de</strong>utschen“, vorher rumänischen<br />
Markierungspunkte, ermöglichen Schlüsselerlebnisse und eröffnen<br />
4<br />
Vgl. Karl Stocker: Textsorten. In: Taschenlexikon <strong>de</strong>r Literatur- und Sprachdidaktik,<br />
op.cit., S. 475-488.<br />
5<br />
Weiterführend: Helmar G. Frank u. Herbert W. Franke: Ästhetische Information. Eine<br />
Einführung in die kybernetische Ästhetik. München 1997; ferner: Georg Bollenbeck:<br />
Tradition, Avantgar<strong>de</strong>, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Mo<strong>de</strong>rne<br />
1880-1945. Frankfurt/M. 1999.<br />
6<br />
Ergänzend dazu: Erika Fischer-Lichte: Semiotik <strong>de</strong>s Theaters. Eine Einführung. 3 B<strong>de</strong>.<br />
Tübingen Bd. 1 1998 4 , Bd. 2 1995 3 , Bd. 3 1995 3.<br />
248
Zugangsmöglichkeiten – Zugänge zu einem besseren Verständnis. Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong><br />
kann nicht mehr auskommen ohne die Berücksichtigung <strong>de</strong>s Angebots an<br />
Programmen <strong>de</strong>r elektronischen wie digitalen Medien, will sie auf <strong>de</strong>m möglichst<br />
neuesten Stand sein. Stimmen aus <strong>de</strong>r Schweiz und aus Kroatien sollen belegen,<br />
daß es sich dabei um übernationale Belange han<strong>de</strong>lt. So sagt <strong>de</strong>r Schweizer<br />
Schriftsteller Adolf Muschg: 7<br />
Ich bin als Leser noch auf die Gutenberg’sche Linearität geprägt. Das können sich<br />
die Kin<strong>de</strong>r als Zivilisationsteilnehmer weniger leisten. Ihr Sensorium hat beim<br />
Lesen, durchaus nicht bei an<strong>de</strong>ren Spielen, kürzere Aufmerksamkeitsspannen.<br />
In<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>re Medien, Beispiel Vi<strong>de</strong>oclip, diese kürzere Spannen benützen,<br />
verstärken sie das kurzzeitige Wahrnehmungsmuster und verallgemeinern es zum<br />
vorwalten<strong>de</strong>n.<br />
Daß Sprach- und Literaturunterricht Ziele anstreben (müssen), geht auch aus<br />
For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r kroatischen Germanistin Ana Petravic hervor; sie for<strong>de</strong>rt für die<br />
OECD-Län<strong>de</strong>r: 8<br />
Der Fremdsprachenunterricht soll […] das Bewußtsein entwickeln, daß<br />
Fremdsprachenkenntnisse nicht nur für das zukünftige Berufsleben wichtig sind,<br />
son<strong>de</strong>rn auch in ihrem Alltag bei <strong>de</strong>r Bewältigung von Aufgaben in an<strong>de</strong>ren<br />
Fächern behilflich sein können (z.B. Erkennen von Argumentationsstrategien,<br />
interkulturelles Lernen, Sprachbewußtsein etc.). Hierzu ist ein intensiver Einsatz<br />
neuer Medientechnologien im Fremdsprachenunterricht (Internet, E-Mail) bzw. die<br />
gezielte Einbeziehung <strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n privaten Umgang mit diesen Medien<br />
gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse <strong>de</strong>r Schüler im Unterricht erwünscht.<br />
Abzuleiten ist aus diesen bei<strong>de</strong>n Zitaten, daß (hier: in <strong>de</strong>utschsprachigen Län<strong>de</strong>rn,<br />
also Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland, Schweiz, Österreich) die Wissensebenen<br />
an<strong>de</strong>rs gewor<strong>de</strong>n sind, daß Faktenwissen abrufbar ist, in Simultaneität und<br />
Ubiquität, daß es jetzt und in Zukunft auf ein Überblicks-, Orientierungs- und<br />
Strategiewissen ankommt; im übrigen bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Sprach- und vor allem <strong>de</strong>r<br />
Literaturwissenschaftler `Gleiches` aus, aber eine Sprache, ihre Beherrschung,<br />
wird auch an<strong>de</strong>re Verwendungsmöglichkeiten im Auge behalten müssen,<br />
beispielsweise in Wirtschaft, Technik, Diplomatie und im Medienbereich.<br />
Multimedia und Germanistik<br />
Multimedia – Desi<strong>de</strong>rat wie Postulat <strong>de</strong>s 21. Jahrhun<strong>de</strong>rts – verbin<strong>de</strong>t die<br />
bekannten digitalen Medien – also Text, Bild, Ton, Sprache, Musik, Animation,<br />
Vi<strong>de</strong>o, um nur die wichtigsten zu nennen – in einem Gerät, das ein<br />
leistungsstarker, ein mit hoher Speicherkapazität ausgestatteter Computer ist. Ein<br />
solches Gerät läßt auch Interaktivität zu, also Programmstrukturen, die <strong>de</strong>m<br />
Benutzer ein aktives Eingreifen (nicht nur das gewohnte rezeptive) in <strong>de</strong>n sachlichinhaltlich<br />
angebotenen Ablauf ermöglichen. Nun war <strong>de</strong>r angestammte Germanist<br />
o<strong>de</strong>r Philologe nicht gera<strong>de</strong> als Technik-Freak bekannt, es gab eine Min<strong>de</strong>rheit, die<br />
7 Adolf Muschg: Lesen? Lesen! In: Münchener Medientage 1991. München 1992, S. 171.<br />
8 Ana Petravic: Die Bildungsdiskussion <strong>zur</strong> Unterrichtsqualität in <strong>de</strong>n OEDC- Län<strong>de</strong>rn.<br />
Konsequenzen für <strong>de</strong>n Fremdsprachenunterricht. In: Zagreber Germanistische Beiträge.<br />
Jahrbuch für Literatur- und Sprachwissenschaft. H. 7 (1998), S. 152.<br />
249
sich mit <strong>de</strong>n „drei o“ (Auto, Radio, Televisio) eher nicht anfreun<strong>de</strong>n mochte. Nun<br />
<strong>de</strong>r plötzliche Schwenk zum digitalisierten Arbeitsplatz? Wie immer bei solchen<br />
Innovationsschüben lassen sich zumin<strong>de</strong>st drei Gruppen <strong>de</strong>s Rezipierens<br />
unterschei<strong>de</strong>n: Die erste ist die <strong>de</strong>r Befürworter (Experten, dann auch Fans o<strong>de</strong>r<br />
gar Freaks), eine zweite die <strong>de</strong>r Zau<strong>de</strong>rer im Wartestand (o<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m<br />
Ruhestand), die dritte ist die <strong>de</strong>r erklärten Ablehner, die sich als<br />
„Kulturpessimisten“ er- o<strong>de</strong>r ausweisen, wenn schon o<strong>de</strong>r auch nur das Wort<br />
„Medienkompetenz“ (als Lernziel) fällt. 9 Diese Grun<strong>de</strong>instellungen gehen – um das<br />
Jahr 2000 noch – quer durch alle Berufe, Wissenschaftsdisziplinen und –<br />
Generationen.<br />
Es ist je<strong>de</strong>nfalls beeindruckend, zu sehen, was heutige Studieren<strong>de</strong>, die<br />
„geborenen“ Angehörigen <strong>de</strong>r Computer- und Internetgeneration, in<br />
Hochschulseminaren (und „vorher“ auch schon an <strong>de</strong>n Schulen) an Knowhow<br />
einbringen. Und sie „analysieren“ nicht nur, sie „produzieren“ bereits. Wie<strong>de</strong>r für<br />
das Hochschul- und das Schul-„Fach“ Deutsch gilt schließlich, daß primäre,<br />
sekundäre und tertiäre (darunter elektronische/digitale) Medien in einem innovativ<br />
verstan<strong>de</strong>nen Deutschunterricht sowohl Mittel als auch Gegenstand darstellen. Die<br />
rezeptive bis interaktive Nutzung <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Medien läßt von „Anwendungen“<br />
einer neuen Kulturtechnik sprechen. Folgerung einer rasanten und steten<br />
Weiterentwicklung ist eine <strong>de</strong>utliche Revision <strong>de</strong>ssen, was man „herkömmlich“<br />
unter Medienwissenschaft, Medienpädagogik, Mediendidaktik und Medienkun<strong>de</strong> zu<br />
verstehen pflegte. Globalisten ahnen, daß die „Gutenberg-Galaxis“, also die<br />
Dominanz <strong>de</strong>s Geschriebenen und Gedruckten, <strong>de</strong>m „elektronischen Informations-<br />
Universum“ weichen wird, das – wie es <strong>de</strong>r Kritiker Eberhard Falcke formuliert hat -<br />
, „Realität weniger abbil<strong>de</strong>t als verschluckt und nach eigenen Regeln formatiert“. 10<br />
Ob die Prognose zutrifft, daß Literatur in wenigen Jahren nur mehr (sic!) im<br />
Internet stattfin<strong>de</strong>, mag dahingestellt bleiben. (Man möchte in Zukunft sagen:<br />
hoffentlich ist <strong>de</strong>m nicht so.) Über die Lehrerrolle wird noch zu sprechen sein: aber<br />
ist die Lehrperson von heute so ausgebil<strong>de</strong>t, daß „Leselust und Bil<strong>de</strong>rmacht“ sich<br />
nicht neutralisieren? 11<br />
Literaturunterricht im Zeichen digitaler Medien – Konkurrenz,<br />
Herausfor<strong>de</strong>rung, Chance, Kompromiß?<br />
Gewonnene Erkenntnisse seien vorgeschlagen in Thesenform:<br />
Die bereits eingetretene Nicht-mehr-Überblickbarkeit <strong>de</strong>s sich ständig<br />
verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Angebotes und Marktes für Multimedia, für Hardware- und Software-<br />
Entwicklung, verlangt kreative Antworten, nicht nur Reaktionen, in bestimmten<br />
9 Hans Dieter Kübler: Medienkompetenz – Dimension eines Schlagworts. In: Fred Schell et<br />
al. (Hrsg.): Medienkompetenz. Grundlagen und pädagogisches Han<strong>de</strong>ln. Reihe<br />
Medienpädagogik. Bd. 11. München 1999, S. 25.; ferner: Karl Stocker: „Die mediale<br />
Herausfor<strong>de</strong>rung: Zur pädagogischen Gratwan<strong>de</strong>rung zwischen Medienkultur und Literatur“.<br />
In: DaF in Argentinien. Zeitschrift für Deutschlehrer. Buenos Aires. H. 4 (1995), S. 9-12.<br />
10 Süd<strong>de</strong>utsche Zeitung v. 29.7.1997, Literaturseite.<br />
11 Dazu: Hubert Winkels: Leselust und Bil<strong>de</strong>rmacht. Über Literatur, Fernsehen und<br />
Neue Medien. Köln 1997.<br />
250
Stadien allerdings auch reflektierte Gegensteuerung: Man erzieht nach wie vor<br />
durch die Medien, man bil<strong>de</strong>t aus für die Medien, wirkt aber auch gegen die<br />
Medien, ihren Mißbrauch, ihre Überbewertung, die durchaus gegebenen<br />
Manipulationsmöglichkeiten. So gibt es berechtigte Vorbehalte gegen<br />
„übernommene“ Interpretationen, die etwa von einem Big Teacher vorgegeben<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Die sich fast übergangslos ablösen<strong>de</strong>n Innovationen sollten nicht auf einen kleinen<br />
Kreis <strong>de</strong>r Insi<strong>de</strong>r begrenzt bleiben, son<strong>de</strong>rn zu einem vor allem für die universitäre<br />
Lehre wichtigen – zunächst als fakultativ angebotenen – Prinzip wer<strong>de</strong>n, das<br />
Studieren<strong>de</strong>n überdies einen Blick auf die Arbeitsmarktsituationen im In- wie im<br />
Ausland offen hält. Für die Lehrerbildung be<strong>de</strong>utet dies, sich die Frage zu stellen,<br />
wie Professionalität in <strong>de</strong>r Ausbildung mit Polyvalenz konform gehen kann.<br />
Grundlegen<strong>de</strong> Frage ist, ob Multimedia aufzufassen ist als integratives Leitmedium<br />
o<strong>de</strong>r – mehr additiv, als Zusatzangebot – als Informationsträger. Die technischen<br />
Möglichkeiten eröffnen sich in <strong>de</strong>n Bereichen <strong>de</strong>r Off-line-Multimedia (CD-ROM)<br />
und <strong>de</strong>r On-line-Multimedia (Telekommunikationsdienste); bei<strong>de</strong> geben die<br />
Grundlage(n) ab für interaktive Systeme, die wichtig sind für die Neustrukturierung<br />
und Organisation von Lehren und Lernen. (Das Wörterlernen wird lei<strong>de</strong>r<br />
unumgänglich bleiben.)<br />
Voraussetzung für eine sinnvolle Anwendung von Multimedia ist <strong>de</strong>ren<br />
Verankerung im Lehrbetrieb, ist die Motivierbarkeit und Mitarbeit <strong>de</strong>r Studieren<strong>de</strong>n.<br />
Dies steht im Einklang mit <strong>de</strong>r Themenstellung einschlägiger Zulassungs-,<br />
Magister- und Doktorarbeiten; auch die Durchführung von Habilitationen auf <strong>de</strong>m<br />
Sektor Multimedia (hier: Geisteswissenschaften) wird ratsam.<br />
Anzustreben ist eine Kooperation von universitätsinternen und –externen<br />
Ansprechstationen, ist das Einbeziehen von regionalen und überregionalen, von in-<br />
und ausländischen Vernetzungen – wichtig für Grundlagenforschung wie für<br />
Son<strong>de</strong>rforschungsbereiche.<br />
Telekooperation soll arbeitsteilige Verfahren erleichtern, wird Team-work<br />
begünstigen, bestehen<strong>de</strong> Kommunikationsstrukturen o<strong>de</strong>r auch –barrieren<br />
verän<strong>de</strong>rn bzw. abbauen helfen. Bisher galt das (sehr <strong>de</strong>utsche) Motto: „Niemand<br />
weiß, was <strong>de</strong>r bzw. die an<strong>de</strong>re macht“; die splendid isolation als disziplinär<br />
begrenzte Vereinsamung ist je<strong>de</strong>nfalls nicht mehr das Gebot <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> …<br />
Das Phänomen Multimedia besitzt eine technische, fachlich-wissenschaftliche,<br />
dabei nicht nur formale, son<strong>de</strong>rn auch eine pädagogisch-didaktische, eine lern- wie<br />
entwicklungspsychologische Dimension.<br />
Der Umgang mit Computer und Internet bedingt z.B. psychologische<br />
Präventivmaßnahmen, <strong>de</strong>nkt man an das Sucht-Verhalten passionierter Internet –<br />
„Surfer“ und vor allem an jugendgefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> und gewaltverherrlichen<strong>de</strong><br />
Computer-Spiele (Ergebnisse können sein: Aggressivität, latente<br />
Gewaltbereitschaft, Vereinsamung, Eskapismus in Traum-Welten).<br />
Neben zweifellos achtbaren ästhetischen Bildungs- und Erziehungsaufgaben<br />
stellen sich <strong>de</strong>n Universitäten auch pragmatisch „anmuten<strong>de</strong>“ Verpflichtungen mit<br />
Blick auf Zugzwänge in <strong>de</strong>r generellen Ausbildung, von <strong>de</strong>r weltweiten<br />
Ausbildungssituation war bereits die Re<strong>de</strong>. Die Universitäten sollten sich nicht<br />
mehr „wohl“ fühlen bei <strong>de</strong>m Gedanken, für „Ziele“ auszubil<strong>de</strong>n, die keinen Bezug<br />
<strong>zur</strong> Arbeit, <strong>zur</strong> Arbeitsmarktsituation aufweisen: Sie müssen <strong>de</strong>n Blick auch auf die<br />
251
jeweils gegebene Gesellschaftssituation richten.<br />
Anmerkungen <strong>zur</strong> verän<strong>de</strong>rten Lehrerrolle im 21. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
Nichts ist so beständig wie <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l, hört man allenthalben. Das tangiert gera<strong>de</strong><br />
auch die universitäre Lehre, die zwischen Tradition und (technischer, u.a.)<br />
Innovation ihren zielorientierten Stellenwert leben muß. Tradition: sie hat zu tun mit<br />
<strong>de</strong>m Festhalten und <strong>de</strong>m Weitergeben von übernommenen und überkommenen<br />
Kenntnissen und Einstellungen; eine Bün<strong>de</strong>lung von Lernzielen steht in einem<br />
Spannungsverhältnis zu <strong>de</strong>m, was man Aufklärung, Progression,<br />
gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>l, Um<strong>de</strong>nken (eben: Innovation) nennt. Innovation heißt<br />
soviel wie Erneuerung; sie schließt <strong>de</strong>n Willen und die Bereitschaft dazu ein,<br />
versteht sich als Strukturwan<strong>de</strong>l, auch Paradigmenwechsel in einer Gesellschaft<br />
und bezieht sich, wie gesagt, auf die drei Hauptstränge an<br />
Wissenschaftsdisziplinen, von <strong>de</strong>n Geistes- über die Verhaltens- bzw.<br />
Gesellschafts- bis zu <strong>de</strong>n Naturwissenschaften. Die Innovationsforschung<br />
konzentriert sich auf Entstehung, Verbreitung und Wirkung solcher<br />
Neuerungsprozesse.<br />
Das heutige Lernen, das Lernen im 21. Jahrhun<strong>de</strong>rt, stellt sich “innovativ” dar als<br />
situatives und als prospektives Lernen, als Erwerb von (Spitzen-) Qualifikationen,<br />
basierend auf primären und sekundären Motivationen und justiert bis hin zum<br />
Prinzip <strong>de</strong>s lebenslangen Lernens, einem Begriff, <strong>de</strong>n viele Sprachen kennen<br />
(rumänisch klingt er kompliziert), <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nfalls an <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rt-, ja<br />
Jahrtausendwen<strong>de</strong> bildungspolitisch weltweit vorrangig gewor<strong>de</strong>n ist. Er ist<br />
vorstellbar als fächerübergreifend, im universitären Bereich als interdisziplinär und<br />
als globalistisch. Reformzwänge und Wettbewerbssituationen forcieren<br />
Innovationsbereitschaft, Projektorientierung (d.h. auch mittel- und längerfristiges<br />
Projektieren) und, natürlich, Teamarbeit. Leitprojekte auf lokalen, regionalen,<br />
nationalen und übernationalen Ebenen lösen als integratives Prinzip das additive,<br />
das punktuelle (und entsprechend isoliert vorangetriebene) Forschen und Lehren<br />
ab; und dies wird begleitet von einem vorauszusetzen<strong>de</strong>n Gesinnungs- und<br />
Bewußtseinswan<strong>de</strong>l. Dabei nehmen – zwangsläufig – didaktische, damit auch<br />
hochschuldidaktische Überlegungen einen immer stärkeren Notwendigkeitsgrad<br />
ein. Hochschuldidaktik ist inzwischen selbst in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland<br />
ein Auch-Kriterium bei Hochschul- und Lehrstuhlberufung gewor<strong>de</strong>n …<br />
Desi<strong>de</strong>rat ist heute <strong>de</strong>r Blick über die Lan<strong>de</strong>s- und Sprachgrenzen hinaus. Von<br />
einem Dozenten wie von einem Kulturpolitiker kann man zumin<strong>de</strong>st die<br />
Bereitschaft für <strong>de</strong>n interkulturellen Dialog erwarten. Eine Überprüfung jüngster<br />
Publikationen in aller Welt, zu diesem Anliegen und Thema, stimmt<br />
hoffnungsfroh. 12 Zur interkulturellen Aufgeschlossenheit ermutigen die allgemeinen<br />
For<strong>de</strong>rungen nach einem zwar nicht beliebigen, aber doch erweiterten, einem<br />
offenen Kulturbegriff. Das Interesse daran mag sich einpen<strong>de</strong>ln zwischen <strong>de</strong>n<br />
12 Ergänzend: Cha Bonghi: Infragestellung <strong>de</strong>r interkulturellen Kommunikation <strong>de</strong>r Rezeption<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literaturtheorie in Korea: Perspektiven <strong>de</strong>r Rezeption fremdsprachiger<br />
Literaturtheorie als interkulturelle Kommunikation. In: Asiatische Germanistentagung<br />
1997. Koreanische Gesellschaft für Germanistik. Bd. 1 1998, S. 235-247.<br />
252
Erscheinungsformen einer Hochkultur und solchen einer Subkultur, wie man die<br />
bei<strong>de</strong>n „Eckwerte“ theoretisch gerne bezeichnet. Hochkulturelle Ausprägungen<br />
sind Bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Künste, Literatur, Theater, Musik, Philosophie,<br />
Wissenschaftsbetrieb, Architektur. Wer sich mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Zielkultur<br />
beschäftigt, steht vor <strong>de</strong>r Eingangsentscheidung, ob er/sie sich <strong>de</strong>m<br />
„vergangenen“, <strong>de</strong>m gegenwärtigen o<strong>de</strong>r (prospektiv) <strong>de</strong>m künftigen Deutschland<br />
verschreiben möchte; ein solches (Deutschland-) Bild wird nicht nur durch die<br />
Literatur, son<strong>de</strong>rn mehr noch durch die Medien (einschließlich von Lehrwerken,<br />
Lesebüchern, Anthologien) vermittelt. 13 Zielkultur wird nicht i<strong>de</strong>ntisch sein mit einer<br />
(in diesem Falle europäischen) Einheitskultur, <strong>de</strong>nn schließlich gibt es hier Län<strong>de</strong>r<br />
ohne Renaissance, ohne Reformation, ohne Aufkärung. Dann existieren Fixpunkte,<br />
Höhepunkte im Gesamtverbund von Geschichte und Literatur, die gera<strong>de</strong>zu<br />
kanon-„verbindlich“ sind, ein Stück Welterbe wie z.B. die <strong>de</strong>utsche Klassik mit<br />
Goethe als Hauptvertreter. 14<br />
Ein Vermittler von Kultur muß sich heute fragen lassen, ob er Spezialisten o<strong>de</strong>r<br />
Generalisten ausbil<strong>de</strong>n will; die Trends wechseln in <strong>de</strong>r Tat. Läßt sich ein Raster<br />
fin<strong>de</strong>n, das die Rolle, <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l im Rollenverständnis <strong>de</strong>s Typus Erzieher<br />
umreißt, ohne eine Checkliste o<strong>de</strong>r eine abzuhaken<strong>de</strong> Meritentafel darstellen zu<br />
wollen? Schon gar nicht kann es um „Vollständigkeit“ gehen (noch dazu wo die<br />
gestiegenen Anfor<strong>de</strong>rungen in manchen Län<strong>de</strong>rn in absolutem Kontrast stehen zu<br />
Gehältern und Löhnen dieser so wichtigen Berufsgruppe!):<br />
Das Lebensumfeld von Studieren<strong>de</strong>n und Schülern hat sich auf fast allen Gebieten<br />
verän<strong>de</strong>rt; das muß nicht immer Fortschritt be<strong>de</strong>uten o<strong>de</strong>r automatische Wendung<br />
zum Positiven – es ist ein Faktum, <strong>de</strong>r Prozeß einer Akzeleration. Lehren<strong>de</strong> und<br />
Lernen<strong>de</strong> sind einem Wan<strong>de</strong>l unterworfen, und Verweigerung ist nicht die beste<br />
Lösung. Faktenwissen allein genügt nicht mehr, vernetztes Denken ist angesagt<br />
als Notwendigkeit, als lernbare sogar.<br />
Von einer verbürgten „Technikfeindlichkeit“ <strong>de</strong>r Philologen kann keine Re<strong>de</strong> mehr<br />
sein. Forschung bedient sich <strong>de</strong>r neuen Möglichkeiten, die Geisteswissenschaftler<br />
sind Kun<strong>de</strong>n von Rechenzentren, wenn sie empirisch forschen wollen. 15<br />
Neue Fragestellungen drängen in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. Man sieht heute, an <strong>de</strong>r<br />
13 Als Ergänzung: Burkhard Haneke: „Das Deutschlandbild in <strong>de</strong>n Medien –<br />
Podiumsdiskussion <strong>de</strong>r Hanns-Sei<strong>de</strong>l-Stiftung bei <strong>de</strong>n Münchener Medientagen `97“. In:<br />
Informationen. H. 3/4 (1997), S. 11-15; ferner: Internet-Adressen und Homepages, die<br />
Unterrichtsmaterialien für Deutsch anbieten (Auswahl). In: Das Gymnasium in Bayern. H.<br />
8/9 (1999), S. 36.<br />
14 Cf. Karl Stocker: Klassik heute: Motivation-Reflexion-Rezeption bei <strong>de</strong>r jüngeren<br />
Generation in Deutschland (als Beitrag <strong>zur</strong> Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>). In: Dscheng, Fang-hsiung/ Peter<br />
Jaumann/Suitbert Oberreiter (Hrsg.): Erstes Symposion für <strong>de</strong>utschsprachige Literatur<br />
in Taiwan. Beiträgesammlung: Klassiker heute? FLLD, National Taiwan University.<br />
Taipei 1998, S. 3-23 (Übers. ins Chinesische: S. 24-39); dazu auch: Yoshitaka Toyama:<br />
„Anwendungsmöglichkeiten <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht in<br />
Japan“. In: Zeitschrift Nor<strong>de</strong>n. Hokkaido University, Sapporo. H.2 (1994), S. 13-37.<br />
15 Hans Schiefele u. Karl Stocker: Literatur-Interesse. Ansatzpunkte einer<br />
Literaturdidaktik. Reihe Pädagogik. Weinheim u. Basel 1990; ferner: Hans Schiefele:<br />
„Interesse. Neue Antworten auf ein altes Problem“. In: Zeitschrift für Pädagogik. 32. Jg.,<br />
H.2 (1986), S. 153-173.<br />
253
Schwelle zum digitalen Zeitalter die pädagogische Entwicklung in einer Trasse von<br />
<strong>de</strong>r lehren<strong>de</strong>n <strong>zur</strong> lernen<strong>de</strong>n Schule, und es gibt Fragen wie: Was för<strong>de</strong>rt, was<br />
hemmt Innovation, wie geht man mit Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>n und Konflikten um, wie gelangt<br />
ein Bildungssystem von einer Vision zum Schulprogramm, was ist Evaluation? 16<br />
Das Lehrer-Schüler-„Abwärtsverhältnis“ wird auch in Rumänien lebhaft diskutiert;<br />
die Entwicklung hat dahin geführt, daß längst ein „gegenseitiges Lernen“<br />
stattfin<strong>de</strong>t. Gera<strong>de</strong> in Haupt- und Oberseminaren hat man es in <strong>de</strong>r aka<strong>de</strong>mischen<br />
Lehre mit echten Experten in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong>ntenschaft zu tun. Aus <strong>de</strong>m<br />
Nebeneinan<strong>de</strong>r, früher Gegeneinan<strong>de</strong>r könnte ein Miteinan<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n – eine im<br />
Moment noch ungewohntere Form <strong>de</strong>s Dialogs, aber <strong>de</strong>r „Generationsvertrag“<br />
könnte neue Aspekte hinzu gewinnen. 17<br />
Über Telefonat, Korrespon<strong>de</strong>nz, Fax, E-Mail hinaus wird es die „virtuelle<br />
Universität“ geben, Vi<strong>de</strong>okonferenzen, Schaltkonferenzen. Die Übergänge müßten<br />
gleitend sein; es geht nicht an, beispielsweise, daß die „amtieren<strong>de</strong> Generation“<br />
<strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n (nachdrängen<strong>de</strong>n) für das Morgen überläßt, was heute schon<br />
nötig ist. Digitale Medien stehen in Stützfunktion zu <strong>de</strong>m, was man „verän<strong>de</strong>rte<br />
Lernkultur“ nennt, was für Fremd- o<strong>de</strong>r Zielsprachen-, Zweitsprachen- und<br />
Muttersprachenunterricht gilt. 18<br />
Zur För<strong>de</strong>rung stehen gleichermaßen an <strong>de</strong>r intrakulturelle und <strong>de</strong>r interkulturelle<br />
Dialog (<strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Multikulturalität mit <strong>de</strong>m eher zu passiven, gedul<strong>de</strong>ten<br />
Nebeneinan<strong>de</strong>r hat an Glanz verloren zugunsten <strong>de</strong>r aktiv-handlungsorientierten<br />
Konzeption <strong>de</strong>r Interkulturalität). 19<br />
Die Unterrichten<strong>de</strong>n haben sich in <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>r Vermittlungsverfahren <strong>de</strong>n<br />
Herausfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Gegenwart zu stellen, was die Anleitung zu selbständigem<br />
und kreativem Arbeiten (z.B. im Team) einschließt. Einige wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckte und<br />
weiterentwickelte Metho<strong>de</strong>n im Literaturunterricht sind unter <strong>de</strong>m Oberbegriff<br />
`produktions- und handlungsorientierte Verfahren` in die Fachsprache<br />
eingegangen und sollten zum festen Metho<strong>de</strong>nrepertoire aller Lehren<strong>de</strong>n<br />
16 Aus inzwischen reichhaltig angewachsener Literatur dazu: Michael Schratz u. Ulrike<br />
Steiner Löffler: Die lernen<strong>de</strong> Schule. Arbeitsbuch pädagogische Schulentwicklung.<br />
Beltz-Reihe: Neue Lehrerbildung und Schulentwicklung. Weinheim 1998; und: Karl Stocker<br />
(Interview) über Computer im Germanistikunterricht“. In: Allgemeine Deutsche Zeitung für<br />
Rumänien, Bukarest 14.10.1999, S. 3.<br />
17 Zur Lehrerbildung vgl.: Jakob Lehmann u. Karl Stocker (Hrsg.): Fachdidaktisches<br />
Studium in <strong>de</strong>r Lehrerbildung. Ol<strong>de</strong>nbourg-Reihe <strong>de</strong>r Fachdidaktik. 2 B<strong>de</strong>. München<br />
1981.<br />
18 Verän<strong>de</strong>rte Lernkultur und Literaturunterricht; dazu Karl Stocker: „Rettung und För<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>s Lesens auch durch gezielte Medienpädagogik“. In: Bayerische Schule, 43. Jg., H. 7<br />
(1990), S. 13-18; und: Wolfgang Frühwald: „Literaturunterricht im Zeitalter <strong>de</strong>r Medien“. In:<br />
Gymnasium in Bayern. H. 11 (1989), S. 19-22.<br />
19 Zur Begriffsbestimmung Multi-/Interkulturalität vgl. Kurt Franz u. Horst Pointner (Hrsg.):<br />
Interkulturalität und Deutschunterricht. Festschrift für Karl Stocker. Neuried 1994, u.a.<br />
S. 23-25.; Stefan Rieger/Schamma Schahadat/Manfred Weinberg (Hrsg.): Interkulturalität.<br />
Zwischen Inszenierung und Archiv. Reihe: Literatur und Anthropologie 6, Tübingen 1999<br />
und Roxana Nubert/Grazziella Predoiu: “Multi- und Interkulturalität im Deutschunterricht I”.<br />
In: Deutsch Aktuell. Aus <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>s Deutschunterrichts in Rumänien, Bucuresti,<br />
4/1996, S. 6-9.<br />
254
wer<strong>de</strong>n. 20<br />
Zum Auftakt <strong>de</strong>s Magisterstudiengangs in Germanistik an <strong>de</strong>r West-Universität in<br />
Temeswar gab es Begleitpapiere (Karl Stocker), u.a. mit Hinweisen auf Internet-<br />
Adressen und Homepages, die – in Auswahl – Unterrichtsmaterialen anbieten für<br />
das Fach Deutsch. 21<br />
Sprachen-Lernen – heute, für morgen: Das impliziert auch die Kernfrage nach <strong>de</strong>m<br />
Warum, reicht beispielsweise (beim Erlernen einer frem<strong>de</strong>n Sprache) von einer<br />
Bildungsentscheidung bis <strong>zur</strong> Muß-Prüfung. Kinga Gall argumentiert so: 22<br />
Doch jenseits von hervorragen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r schwachen Leistungen vermittelt eine<br />
`neue` Sprache weit mehr als nur eine Menge Wörter und <strong>de</strong>ren Gebrauchsregeln.<br />
Für groß und klein ermöglicht sie <strong>de</strong>n direkten Zugang zu <strong>de</strong>n sprachlichen<br />
Eigentümlichkeiten, zum Schrifttum und zu <strong>de</strong>n diese Sprache sprechen<strong>de</strong>n<br />
Menschen, also zu einer Sprachgemeinschaft/einem Volk, folglich zu all <strong>de</strong>m, was<br />
<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>r im Verlaufe ihrer Existenz erlebt, geschaffen und bewirkt haben.<br />
Anleitung zum Improvisieren, Bereitstellen von Lernarrangements, <strong>zur</strong><br />
spontansprachlichen Handlungsfähigkeit, <strong>zur</strong> Kreativität mittels neuer<br />
Lerntechniken und –strategien im Sprach- wie im Literaturunterricht: das hört sich<br />
(an Anfor<strong>de</strong>rungsprofilen) an<strong>de</strong>rs an als <strong>de</strong>r immer noch grassieren<strong>de</strong><br />
Frontalunterricht, auch wenn die „Institution Vorlesung“ an Be<strong>de</strong>utsamkeit<br />
abnimmt. Selbst Ringvorlesungen wer<strong>de</strong>n heute fast nur mehr in Verbindung mit<br />
anschließen<strong>de</strong>r Diskussion angeboten; in <strong>de</strong>r Fortbildungsarbeit haben sich<br />
Lehren<strong>de</strong> wie Lernen<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n Wechsel von Plenum und Arbeitsgruppen in aller<br />
Welt gewöhnt. Ein gegenseitiger Lernprozeß gewinnt an Raum, ebenso wie<br />
Ergebnisse <strong>de</strong>r Toleranzforschung. 23<br />
So wird verständlich, warum Konsens darüber besteht, daß <strong>de</strong>r Unterrichten<strong>de</strong> in<br />
<strong>de</strong>r Zukunft nicht nur „Stoff“-Vermittler ist (man kennt <strong>de</strong>n bösen Spruch: „Lehrer<br />
sind wie Dealer: Sie <strong>de</strong>nken immer nur an <strong>de</strong>n Stoff“), son<strong>de</strong>rn Berater,<br />
Anleiten<strong>de</strong>r, im I<strong>de</strong>alfall Partner in einem Team.<br />
Anmerkungen <strong>zur</strong> Frage: Warum weiterhin Deutsch lernen?<br />
Faktum ist, daß das Deutsche nie das war, was man eine Weltsprache nennt.<br />
„Deutsch sprechen viele, Englisch verstehen alle“, ist ein Zeitungsbericht<br />
überschrieben, <strong>de</strong>r die „Brüskierung und Hintansetzung“ <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache<br />
bei <strong>de</strong>r 99er ER-Konferenz in Helsinki aufgreift und mit <strong>de</strong>m Satz en<strong>de</strong>t: „eines<br />
sollten die Deutschen trotz ihrer Gewichtigkeit schlicht als fact of life hinnehmen:<br />
20 Karl Stocker u. Margit Rie<strong>de</strong>l: Thesen <strong>zur</strong> Literaturdidaktik. In: Bildung für morgen.<br />
Zukunftsorientierte Fachdidaktik. Dokumente <strong>de</strong>s fachdidaktischen Dies aca<strong>de</strong>micus<br />
1996 (Ludwig-Maximilians-Universität München). München 1999, S. 73.<br />
21 Aus: Gymnasium in Bayern. H.8-9 (1999).<br />
22 Kinga Gáll: Sprachen und Kulturen in Schule und Familie. In Roxana Nubert (Hrsg.):<br />
Temeswarer Beiträge <strong>zur</strong> Germanistik. Bd. 2, Temeswar 1999, S. 257.<br />
23 Dazu: Karl Stocker: Formen <strong>de</strong>r Kulturbegegnung aus didaktischer Sicht. In: Bernd Thum<br />
u. Gonthier-Louis Fink (Hrsg.): Praxis interkultureller Germanistik. Beiträge zum II.<br />
Internationalen Kongreß <strong>de</strong>r Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik, Straßburg<br />
1991. München 1993, S. 633-644.<br />
255
Deutsch sprechen in <strong>de</strong>r EU viele, Englisch o<strong>de</strong>r Französisch verstehen fast<br />
alle.“ 24<br />
Prompt gibt es inzwischen einen „Verein <strong>zur</strong> Wahrung <strong>de</strong>r Deutschen Sprache“, wo<br />
man zwar zugibt, daß – z.B. – die Kommunikationssprache <strong>de</strong>r internationalen<br />
Flugsicherung Englisch ist, wo man sich aber entschie<strong>de</strong>n gegen das<br />
„pseudokosmopolitische Imponiergefasel“ darüber hinaus wen<strong>de</strong>t, nämlich im<br />
Umgang mit (Flug-) Kun<strong>de</strong>n bzw. Passagieren.<br />
An<strong>de</strong>rerseits wi<strong>de</strong>rfährt <strong>de</strong>m so favorisierten Englischen Schlimmes durch das<br />
sogenannte Computerenglisch, das mit Oxford o<strong>de</strong>r King`s English kaum zu tun<br />
hat. Die vielfach mit lingua franca quittierte „Aufwärtsentwicklung“ im Gebrauch <strong>de</strong>s<br />
Englischen hat ein Berliner Romanist mit <strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>s Lateinischen im<br />
Mittelater verglichen. In seinem Beitrag „Deutsch ist nicht planetarisch“ setzt sich<br />
Gebhard Hielscher aus Anlaß einer Tagung im japanischen Kyoto mit <strong>de</strong>r<br />
„Anglisierung“ <strong>de</strong>r Welt und ihren Folgen für <strong>de</strong>n „kulturellen Wettbewerb“<br />
auseinan<strong>de</strong>r: 25 „Wer nicht auf Englisch publiziert, wird außerhalb <strong>de</strong>s eigenen<br />
Sprachraums kaum noch wahrgenommen. Das verengt <strong>de</strong>n wissenschaftlichen<br />
und kulturellen Wettbewerb, es min<strong>de</strong>rt auch <strong>de</strong>n wirtschaftlichen Wert o<strong>de</strong>r das<br />
politische Gewicht <strong>de</strong>r Aussage.“ Der Autor beruft sich auf eine statistische<br />
Erhebung <strong>de</strong>s Jahres 1996: „Deutsch hat nur noch einen Anteil von 1,2 Prozent<br />
gegenüber 90,7 Prozent für Englisch und 2,1 Prozent für Russisch. Das<br />
Japanische bringt es auf 1,7 Prozent – immerhin mehr als Deutsch.“ Der Beitrag<br />
schließt mit einer Kyoto-Erfahrung und mit Nach<strong>de</strong>nklichem: „Wie sollen sich nun<br />
<strong>de</strong>utsche Institutionen im Ausland verhalten? Es leuchtet ein, wenn außer <strong>de</strong>r<br />
Sprache <strong>de</strong>s Gastlan<strong>de</strong>s auch ins Englische übersetzt wird. Rechtfertigt es aber<br />
<strong>de</strong>n Enthusiasmus für eine größere Breitenwirkung, auf Deutsch ganz zu<br />
verzichten? Zumin<strong>de</strong>st für Aktivitäten, die aus <strong>de</strong>utschen Steuergel<strong>de</strong>rn finanziert<br />
wer<strong>de</strong>n, darf das bezweifelt wer<strong>de</strong>n.“<br />
Die Zeichen stehen so, daß – beobachtungsmäßig – Symposien, Konferenzen,<br />
Kongresse und Kolloquien auch schon über <strong>de</strong>utschsprachige Literatur in<br />
englischer Sprache abgehalten wer<strong>de</strong>n: Vision, Wirklichkeit? In Frankreich o<strong>de</strong>r<br />
England wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>rgleichen sicher nicht geschehen!<br />
Beispielsweise stehen die rumänischen Germanisten auf vorgeschobenem Posten,<br />
und sie sollten – wie in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn ringsum auch – nicht allein gelassen,<br />
son<strong>de</strong>rn mit Rückhalt und Unterstützung bedacht wer<strong>de</strong>n. Bildungsanspruch mit<br />
Traditionswahrung hier, wirtschaftspolitische Pragmatik dort: es gibt sie, die<br />
politischen, wirtschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen, dann natürlich auch<br />
geistesgeschichtlich-kulturellen Begründungen <strong>de</strong>s (Deutsch-) Lernens, will<br />
besagen, daß die Begründungslage vom Deutschen als Techniksprache und<br />
Wissenschaftssprache bis <strong>zur</strong> Bildungssprache reicht, als „Denksprache“ (Harald<br />
Weinrich).<br />
Kein Zweifel: Wer heute im In- und (vor allem) im Ausland Deutsch unterrichtet,<br />
kommt nicht (mehr) umhin, zu erklären warum. Ist Deutsch wirklich – wie Jürgen<br />
Schiewe anmerkt – eine eher „ungeliebte“ Sprache gewor<strong>de</strong>n, die gegenüber <strong>de</strong>m<br />
Englischen als Welt-, Computer- und Kommunikationssprache fortlaufend an<br />
24 In: Süd<strong>de</strong>utsche Zeitung v. 5.7.1999.<br />
25 In: Süd<strong>de</strong>utsche Zeitung v. 5.7.1999.<br />
256
Terrain verliert? 26<br />
Schon diskutiert man bei uns über „Englisch als <strong>de</strong>utsche Hochschullehre“, und<br />
Ulrich Ammon spekuliert: 27 „Englisch in <strong>de</strong>r (Anm.: <strong>de</strong>utschen) Lehre verbessert<br />
auch die Englischkenntnisse <strong>de</strong>r Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.“<br />
Dann aber doch: „Man muß alles daran setzen, Deutsch als Wissenschaftssprache<br />
beizubehalten und weiter zu pflegen.“ 28<br />
Mögen die vielfach verlangten Abstracts o<strong>de</strong>r Summaries, voran- o<strong>de</strong>r<br />
nachgestellt, als internationale „Übereinkunft“ auch bei <strong>de</strong>utschsprachigen<br />
Beiträgen in Englisch als Serviceleistung üblich wer<strong>de</strong>n, so geht es doch um <strong>de</strong>n<br />
Volltext z.B. für germanistische Arbeiten o<strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Deutschunterricht. Man<br />
könne, so heißt es heute bei Auffor<strong>de</strong>rungen o<strong>de</strong>r Einladungen „im Ausnahmefall“<br />
auch Texte (für Publikationen in Deutschland und für Deutschland) auch einmal<br />
Deutsch liefern … Es kommen nostalgische Gefühle auf für jene Zeit, in <strong>de</strong>r das<br />
Deutsche noch fungierte als Eintrittsbillett in die Spitzenforschung ...<br />
Auch wenn man, wie <strong>de</strong>r Verfasser dieses Beitrags, einige Semester u.a. in <strong>de</strong>n<br />
USA studiert hat, wird man alles versuchen, um die Germanistik-Kolleginnen und –<br />
Kollegen im Ausland nicht allein zu lassen in <strong>de</strong>n Bemühungen um die Pflege <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Sprache und Literatur, <strong>de</strong>r Wissenschaft von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur<br />
und ihrer Didaktik – neben <strong>de</strong>m Englischen.<br />
26 Weiterführend: Jürgen Schiewe: Die Macht <strong>de</strong>r Sprache. Eine Geschichte <strong>de</strong>r<br />
Sprachkritik von <strong>de</strong>r Antike bis <strong>zur</strong> Gegenwart. München 1998.<br />
27 Vgl. dazu: Ulrich Ammon: „Englisch für die <strong>de</strong>utsche Hochschullehre? Diskussion<br />
Wissenschaftssprache“. In: Münchner Uni Magazin, Zeitschrift <strong>de</strong>r LMU. H 4 (1998), S. 4-<br />
5; „Replik auf: Konrad Ehlich: Mit Englisch auf Du und Du?“ In: Münchner Uni Magazin,<br />
Zeitschrift <strong>de</strong>r LMU. H. 2 (1998), S. 10-12.<br />
28 Ebenda, H. 4 (1998), S. 5.<br />
257
258
ANGELIKA IONAS<br />
TEMESWAR<br />
Der Einsatz didaktischer Strategien im Literaturunterricht DaM<br />
bzw. DaZ<br />
Was <strong>de</strong>r chinesische Philosoph Laotse schon im 6. Jahrhun<strong>de</strong>rt vor Christus<br />
lehrte:<br />
Jeman<strong>de</strong>n einen Fisch geben, das reicht ihm nur für eine Mahlzeit; jeman<strong>de</strong>n<br />
fischen lehren, das reicht ihm für das ganze Leben. 1<br />
gilt auch heute noch, insbeson<strong>de</strong>re im Bereich <strong>de</strong>s Lehren und Lernens. Auf<br />
unseren Gegenstand bezogen, heißt das, Schüler lehren selbständig zu arbeiten,<br />
sich aus <strong>de</strong>r Abhängigkeit von <strong>de</strong>r Lehrkraft zu lösen.<br />
Dieses Problem ist in unseren Schulen sehr aktuell, weil das rumänische<br />
Unterrichtssystem in <strong>de</strong>n letzten 50 Jahren vorherrschend informativ stat formativ<br />
war. Kreativität wur<strong>de</strong> bei Schülern nicht geför<strong>de</strong>rt. Es geht also darum, Schülern<br />
effektive Wege zu zeigen, mit <strong>de</strong>m Unterrichtsstoff fertig zu wer<strong>de</strong>n. Schüler<br />
müssen lernen zu beurteilen, ob eine bestimmte Vorgehensweise – Übungen und<br />
Aufgaben- für sie nützlich sind o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Geht man davon aus, daß Gesellschaft und Schule als Richtziel haben,<br />
Schülerinnen und Schüler zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen, so<br />
gehören implizit Selbständigkeit und Emanzipation dazu. Folgerung dieser<br />
Tatsache ist, das <strong>de</strong>r Schüler auch in <strong>de</strong>r Schule autonom sein muß – also ist<br />
Lernautonomie als pädagogisches Ziel anzustreben.<br />
Um dies zu gewährleisten, müssen in <strong>de</strong>r Schule Lernstrategien 2 vermittelt wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Curricula in Rumänien befin<strong>de</strong>n sich <strong>zur</strong> Zeit im Umbruch, <strong>de</strong>mentsprechend<br />
steht eine Verän<strong>de</strong>rung zum Guten nicht aus, wobei zu unterstreichen ist, daß sich<br />
das Curriculum für das Fach Deutsch schon seit einigen Jahren an <strong>de</strong>n<br />
westeuropäischen orientiert. Die Schüler unserer <strong>de</strong>utschsprachigen Schulen sind<br />
allesamt zweisprachig. Alle lernen <strong>de</strong>mentsprechend sowohl Deutsch als auch<br />
Rumänisch d.h. <strong>de</strong>utsche bzw. auch rumänische Literatur.<br />
Dieser Zustand erfor<strong>de</strong>rt um so mehr das Erlernen von Lernstrategien, da ja <strong>de</strong>r<br />
Schüler mit mehreren Schwierigkeiten zugleich konfrontiert wird: erstens die<br />
unterschiedliche Vorgehensweise im Umgang mit Literatur, zweitens die<br />
1 Übernommen von Ni Jenfu: ”Fisch geben o<strong>de</strong>r fischen lehren/Lesestrategien für<br />
chinesische Stu<strong>de</strong>nten”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8, 1/1993, S.46-50.<br />
2 Vgl. Peter Bimmel: ”Lernstrategien im Deutschunterricht”. In: Fremdsprache Deutsch, H.<br />
8, 1/1993, S.4.<br />
259
mangelhaften Sprachkenntnisse, die <strong>zur</strong> Bewältigung so komplexer Problematik<br />
nicht ausreichen und nicht zuletzt die Schattenseite <strong>de</strong>s<br />
Unterichtssystems – wie schon erwähnt – Unterricht, <strong>de</strong>r prädominant informativ<br />
gestaltet wird.<br />
Um diese Mängel zu beseitigen sind Lernstrategien beson<strong>de</strong>rs wichtig, <strong>de</strong>nn<br />
einmal von <strong>de</strong>n Schülern erlernt und praktiziert, wer<strong>de</strong>n sie auch<br />
fächerübergreifend eingesetzt. Von diesem Transfer sind nur Vorteile für <strong>de</strong>n<br />
Unterricht zu erwarten.<br />
Wie Ute Rampillon 3 es einleuchtend unterstreicht, sollten erst die Lehrer, über<br />
Fortbildung (schulintern o<strong>de</strong>r fachspezifisch) mit <strong>de</strong>m Thema: Das Lernen lernen,<br />
das heißt mit Lerntechniken/Lernstrategien vertraut gemacht wer<strong>de</strong>n und<br />
anschließend kann dann das Lernen gelehrt wer<strong>de</strong>n. Allerdings ist die<br />
Terminologie unter Fachleuten noch nicht ein<strong>de</strong>utig abgesegnet. Was versteht<br />
man eigentlich unter Lernstrategie?<br />
Der Terminus Strategie 4 be<strong>de</strong>utet Kriegskunst, d.h. oberste Führung und Planung,<br />
trägt also das Merkmal <strong>de</strong>s Schöpferischen, Kreativen. Im Klartext be<strong>de</strong>utet das:<br />
System ins Lernen bringen, diese Art und Weise <strong>de</strong>s Vorgehens wird <strong>zur</strong><br />
Gewohnheit, <strong>zur</strong> Routine. Lernstrategien sind als Lernroutinen gut o<strong>de</strong>r schlecht,<br />
d.h. effizient o<strong>de</strong>r ineffizient. Wir wissen aber auch, daß Routinen sehr schwer zu<br />
überwin<strong>de</strong>n sind. Dementsprechend müssen wir dafür sorgen, daß nur effektive<br />
Lernstrategien angeeignet wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Fachliteratur herrscht noch Unklarheit,<br />
einerseits, ob Lernstrategien bewußt o<strong>de</strong>r unbewußt sind, an<strong>de</strong>rerseits, ob sie als<br />
Techniken, Prozeduren, Operationen, Prozesse o<strong>de</strong>r Pläne einzustufen sind. 5<br />
Zur Klärung bzw. als Plädoyer für <strong>de</strong>n Terminus Strategie wi<strong>de</strong>rgeben wir P.<br />
Bimmels Äußerungen zu diesem Thema. Der Autor ist<br />
<strong>de</strong>r Meinung, daß es im Grun<strong>de</strong> ziemlich egal ist, ob man von Lernstrategien o<strong>de</strong>r<br />
Lerntechniken re<strong>de</strong>t, vorausgesetzt, das je<strong>de</strong>r weiß, was gemeint ist. Wir re<strong>de</strong>n<br />
[...] konsequent von ,Lernstrategien’. Dieser Begriff hat (im Unterschied zu<br />
,Lerntechniken’) <strong>de</strong>n ten<strong>de</strong>nziellen Vorteil, daß er fest in <strong>de</strong>r kognitiven Lerntheorie<br />
und in <strong>de</strong>r Spracherwerbstheorie verankert ist. Seine Verwendung bringt also vor<br />
allem <strong>de</strong>n Anspruch zum Ausdruck, fachdidaktische Entscheidungen in diesem<br />
Bereich auf einer einigermaßen soli<strong>de</strong>n spracherwerbs- und lerntheoretischen<br />
Grundlage treffen zu wollen. 6<br />
während <strong>de</strong>m Begriff ”Lerntechnik” eher <strong>de</strong>r Sinn von<br />
Listeninventare mit ,Tips und Tricks’ anhaftet. 7<br />
Eine konkret brauchbare und von <strong>de</strong>r kognitiven Lernpsychologie akzeptierte<br />
Definition liefert uns P. Bimmel in <strong>de</strong>m schon zitierten Artikel:<br />
Strategien sind (mentale) Handlungspläne, um ein Ziel zu erreichen. Lernstrategien<br />
sind also (mentale) Handlungspläne, <strong>de</strong>ren Ziel es ist, etwas selbständig zu<br />
3<br />
Vgl. Ute Rampillon: Lerntechniken im Fremdsprachenunterricht/Handbuch, München:<br />
Hueber ,1989 S. 8.<br />
4<br />
Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig: Verlag von S. Hirzel<br />
1957, Bd.19, Sp. 934.<br />
5<br />
Peter Bimmel: ”Aktuelles Fachlexikon”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8, 1/1993, S. 51.<br />
6<br />
Peter Bimmel: ”Aktuelles Fachlexikon”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8, 1/1993, S. 51.<br />
7<br />
Peter Bimmel: ”Aktuelles Fachlexikon”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8, 1/1993, S. 51.<br />
260
lernen. 8<br />
Geht man von dieser Definition aus, so stufen wir – mit Bimmel – die Strategien als<br />
bewußte und aktive Handlung <strong>de</strong>s menschlichen erkennen<strong>de</strong>n Geistes (engl.<br />
mind) ein, als überlegten und gewollten Akt <strong>de</strong>s geistigen Arbeitens.<br />
Heute weiß man, daß es zwischen <strong>de</strong>m Einsetzen von Lernstrategien und <strong>de</strong>m<br />
Lernerfolg einen Zusammenhang gibt. Ferner läßt sich auch ein Zusammenhang<br />
”zwischen <strong>de</strong>m methodischen Ansatz im Fremdsprachunterricht und erfolgreichen<br />
Lernstrategien” 9 feststellen.<br />
Im Fremdsprachunterricht wer<strong>de</strong>n vorzugsweise Sprachlernstrategien und erst in<br />
einer fortgeschritteneren Phase Sprachgebrauchsstrategien eingesetzt.<br />
Da wir uns ja vor allem auf <strong>de</strong>n Literaturunterricht bei Muttersprachlern und<br />
Zweitsprachlern beziehen, sind Sprachlernstrategien von zweitrangiger Be<strong>de</strong>utung,<br />
während Sprachgebrauchsstrategien zu erlernen und verstärkt einzusetzen sind.<br />
Zu letzteren gehören:<br />
Lesestrategien<br />
Hörstrategien<br />
Gesprächsstrategien<br />
Kompensationsstrategien 10<br />
Strategien zum Erwerb interkultureller Kompetenz<br />
Strategien <strong>zur</strong> Herausbildung einer grammatischen Metasprache.<br />
Sieht man sich die wesentlichem Merkmale von lernstrategischem Han<strong>de</strong>ln an, so<br />
kann man folgen<strong>de</strong> Schritte erkennen:<br />
1. Aufgabe analysieren<br />
↓<br />
2. Ziel bestimmen<br />
↓<br />
3. Plan ausarbeiten ↓ Handlungsprozeß evaluieren<br />
↓<br />
4. Plan durchführen; d.h.<br />
steuern<br />
überwachen<br />
korrigieren<br />
↓<br />
5. Resultat kontrollieren<br />
Bei falscher Option wird korrigierend in die Planung eingegriffen.<br />
Diese Schritte sind zugleich metakognitive Stratgien, wobei die Ziele in <strong>de</strong>r<br />
8<br />
Peter Bimmel: ”Lernstrategien im Deutschunterricht”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8,<br />
1/1993, S. 5.<br />
9<br />
Manfred Prokop: ”Lernen lernen-aber ja! Aber Wie? Klassifikation von Lernstrategienim<br />
Zweit- und Fremdsprachenunterricht”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8, 1/1993,S.13.<br />
10<br />
Strategien,die eingesetzt wer<strong>de</strong>n, um bei mangelhaften (sprachlichen) Kenntnissen das<br />
Abbrechen <strong>de</strong>r Kommunikation zu vermei<strong>de</strong>n.<br />
261
Strategie inbegriffen sind und zu ver<strong>de</strong>utlichen durch die Auflistung <strong>de</strong>r Ziele 11 :<br />
1. <strong>de</strong>n eigenen Lernprozeß planen<br />
2. die eigene Aufmerksamkeit steuern<br />
3. die Ausführung überwachen<br />
4. mögliche Probleme während <strong>de</strong>r Ausführung ent<strong>de</strong>cken<br />
Das oben angeführte Handlungsmuster ist für eine Vielzahl von Aufgaben<br />
einsetzbar eben durch seinen hohen Grad <strong>de</strong>r Verallgemeinerung.<br />
Was die Klassifikation von Strategien betrift, so gibt es in eine ganze Reihe von<br />
Typologien. 12<br />
So stammt die hier verwen<strong>de</strong>te Bezeichnung ”metakognitive Strategie” aus <strong>de</strong>r<br />
Typologie, von <strong>de</strong>n Autoren O’Malley,J./Chamot, A.U, die drei Gruppen von<br />
Lernstrategien aufzählen, Typologie die wir (zum Teil) übernehmen. Neben <strong>de</strong>n<br />
angeführten metakognitiven Strategien gibt es dieser Typologie nach noch<br />
affektive Strategien; eigentlich nur Mutmacher durch Belohnung und Entspannung,<br />
sowie die kognitiven Strategien, die sich auf die direkte Arbeit mit <strong>de</strong>m Lernstoff<br />
beziehen.<br />
Die Lernstrategien, so wie sie von Prokop angeführt wer<strong>de</strong>n, sind für <strong>de</strong>n Fremd-<br />
und Zweitsprachenunterricht gedacht und vorwiegend praxisorientiert, und<br />
<strong>de</strong>mentsprechend auch im <strong>de</strong>utschsprachigen Literaturunterricht einsetzbar. Im<br />
folgen<strong>de</strong>n bringen wir eine graphisch systematisierte und für unsere Lerninhalte<br />
selektiere bzw. angepaßte Übersicht <strong>de</strong>r von Prokop vorgenommenen<br />
Klassifikation.<br />
I.GRUPPE<br />
bezieht sich auf Detailbeachtung<br />
Vergleich richtig/falsch; Strukturen u.ä.<br />
achten auf: Intonationkurve, Satzmelodie und auf non-verbale Sinnträger<br />
Erstellen von Fehlerlisten <strong>zur</strong> Vermeidung und <strong>zur</strong> Selbstkorrektur<br />
Suchen /markieren bestimmter Wörter <strong>zur</strong> Erleichterung <strong>de</strong>s Globalverständnisses<br />
und Detailverständnisses<br />
Kennzeichnen von Schlüsselwörtern <strong>zur</strong> Erschließung <strong>de</strong>s Inhalts<br />
Erläutern <strong>de</strong>r sprachlichen Funktionen und Schaffen ”kognitiver Aufhänger”<br />
II.GRUPPE<br />
unterstützt die natürliche und selbstbewußte Sprachverwendung d.h. kreative<br />
Verwendung<br />
Verwen<strong>de</strong>n neuer Wörter und Strukturen in bekanntem o<strong>de</strong>r neuem semantischen<br />
Kontext<br />
11 Ebenda, S.9.<br />
12 Vgl. dazu: ”Manfred Prokop, Lernen lernen-aber ja! Aber Wie? Klassifikation von<br />
Lernstrategienim Zweit- und Fremdsprachenunterricht”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8,<br />
1/1993, S.13.<br />
262
Assozieren mit bekannten Wörtern als Assoziogramm o<strong>de</strong>r Wortfel<strong>de</strong>r<br />
Deutschsprachigen Kontakt aufnehmen und pflegen<br />
III.GRUPPE<br />
Relationaler Lernansatz<br />
Unbekanntes wird mit Bekanntem verknüpft<br />
Funktions- und Formunterschie<strong>de</strong> feststellen<br />
Zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong> Muster suchen<br />
Neues mit Bekanntem verbin<strong>de</strong>n<br />
Gesetzmäßigkeiten fin<strong>de</strong>n<br />
Von konkreten Beispielen Verallgemeinerungen ableiten d.h. Konzepte formulieren<br />
und/ o<strong>de</strong>r Systematisieren<br />
IV.GRUPPE<br />
Vermitteln<strong>de</strong> Strategien<br />
nicht Gefestigtes verankern<br />
Vermitteln<strong>de</strong> Assoziationen betätigen<br />
persönliche Assoziationen<br />
Eselsbrücken<br />
Sich ”ein Bild machen” (auch wortwörtlich)<br />
sein ”Weltwissen”einbringen<br />
Klischee-Vorstellungen verwen<strong>de</strong>n<br />
V.GRUPPE<br />
Globaler Lernansatz<br />
Globales Verstehen unterstützen<br />
globales Hörverstehen<br />
globales Leseverstehen<br />
globale mündliche Textpräsentation<br />
Suchen nach Grundgedanken und Konzepten<br />
Mit<strong>de</strong>nken und Hypothesen aufstellen bei <strong>de</strong>r Entwicklung einer I<strong>de</strong>e/Handlung<br />
VI.GRUPPE<br />
Linearer Lernansatz<br />
ineffiziente Strategien<br />
Wort für Wort übersetzen<br />
Regeln lernen ohne auf die Sprachanwendung zu achten<br />
Wichtig ist es, daß je<strong>de</strong>m klar sein muß, daß ein Lernziel über verschie<strong>de</strong>ne<br />
Strategien erreichbar ist, was be<strong>de</strong>utet: je<strong>de</strong>r Lerner kann die für sich passen<strong>de</strong><br />
Strategie auswählen. Man kann auch nicht über ein Effektivitätskriterium sprechen<br />
nach welchem Strategien auszuwählen sind. Was für <strong>de</strong>n einen gut/effektiv ist, ist<br />
263
für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren schlecht/ineffektiv.<br />
Wenn wir davon ausgehen, daß <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>r Sache <strong>de</strong>r Erfolg im Lehren bzw.<br />
Lernen ist, so muß man darüber sprechen<br />
1. wie man an Aufgaben herangeht<br />
2. was man daraus bzw. damit lernen kann<br />
Somit geht es vorrangig um <strong>de</strong>n WEG nicht nur um das ZIEL.<br />
Unter diesen Umstän<strong>de</strong>n muß <strong>de</strong>r Lehrer seine Rolle als ”Alleswisser” und<br />
Autoritätsperson im Frontalunterricht aufgeben und sich künftig als Lernberater,<br />
Regisseur und Mo<strong>de</strong>rator verstehen, <strong>de</strong>r Handlungsmo<strong>de</strong>lle vorführt und so<br />
Wissen über Wege/ Strategien vermittelt.<br />
Im Anschluß versuchen wir die bisher theoretisch präsentierten Aspekte an<br />
praktischen Lösungsvorschlägen anhand <strong>de</strong>r Kurzgeschichte Das Brot von<br />
Wolfgang Borchert zu ver<strong>de</strong>utlichen.<br />
Die erste Gruppe von Strategien kann über folgen<strong>de</strong> konkrete Lernaufgaben<br />
eingesetzt bzw. geübt wer<strong>de</strong>n:<br />
Bei <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>llektüre <strong>de</strong>s Lehrers kann auf Intonationkurve, Satzmelodie und nonverbale<br />
Sinnträger geachtet wer<strong>de</strong>n.<br />
Bewußtes Mitlesen <strong>de</strong>r Schüler kann Verbesserung <strong>de</strong>r Vortragsweise bringen.<br />
Tonbandaufzeichnungen <strong>de</strong>r Schülerlektüre sollen <strong>zur</strong> Erstellung von Fehlerlisten<br />
und <strong>zur</strong> Selbstkorrektur eingesezt wer<strong>de</strong>n.<br />
Der Vergleich richtig / falsch kann als bewußtes Aneignen von Inhalt und<br />
Strukturen anhand von sogenannten Restauratiosübungen dienen.<br />
Restaurationsübungen sorgen dafür, daß <strong>de</strong>r Schüler auf einem Arbeitsblatt<br />
begonnene Sätze im Originaltext sucht und ergänzt. z.B.:<br />
1. Wenn sie abends zu Bett gingen,....................................................<br />
2. Sie fühlte, wie die Kälte...................................................................<br />
3. Sie sah ihn nicht an, weil.................................................................<br />
4. Als er am nächsten Abend nach Hause kam,..................................<br />
5. .......................<br />
Suchen/markieren bestimmter Wörter (Schlüsselwörter) <strong>zur</strong> Erleichterung <strong>de</strong>s<br />
Verständnisses kann absatzweise geschehen. Den Bezug kann man z.B. zum Titel<br />
herstellen. Als Sozialform kann <strong>de</strong>r Lehrer Partnerarbeit vorschlagen<br />
Für die Gruppe von Strategien können folgen<strong>de</strong> konkrete Lernaufgaben eingesetzt<br />
bzw. geübt wer<strong>de</strong>n:<br />
Ein Assoziogramm aufstellen, d.h. graphisch agieren und zum Thema BROT<br />
Assotiationen wie: Hunger, Krieg, Armut, Nahrung, Überleben u.ä.notieren.<br />
Im Anschluß die Assoziationen sprachlich ausformulieren.<br />
Dies kann in Kleingruppen (4-6 Schüler) realisiert wer<strong>de</strong>n. Die Leistungen je<strong>de</strong>r<br />
Schülergruppe können zu einem (gesteuerten) Gespräch führen, wobei das<br />
Einbringen von ”Weltwissen”( Strategiegruppe IV.) gefragt ist; z.B.:<br />
264
Krieg be<strong>de</strong>utet Armut und Not. Der Hunger ist allgegenwärtig. Nahrung ist knapp.<br />
Die Menschen kämpfen ums Überleben. Brot ist als Grundnahrungsmittel in<br />
unseren Breiten überlebenswichtig, darum ist es auch zum Symbol gewor<strong>de</strong>n; so<br />
das religiöse Symbol ”Brot” = Christus als ”Brot <strong>de</strong>s Lebens”; Brot und Wein als<br />
Symbole in <strong>de</strong>r Liturgie.<br />
Der Schüler wird somit <strong>zur</strong> realen Konversation provoziert ( Strategiegruppe II.).<br />
Neue Wörter, Wendungen und Strukturen können bewußt <strong>zur</strong> Bereicherung <strong>de</strong>s<br />
Wortschatzes und <strong>zur</strong> Vorentlastung (sprachlich und inhaltlich) gesucht und in<br />
bekanntem o<strong>de</strong>r neuem Kontext verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n; z.B.:<br />
sein Brot verdienen (arbeiten)<br />
brotlos sein (keine Arbeit haben)<br />
jeman<strong>de</strong>m Lohn und Brot geben (ihn in seinem Dienst haben)<br />
jeman<strong>de</strong>s Brot essen (von jeman<strong>de</strong>m erhalten wer<strong>de</strong>n)<br />
ein hartes Brot haben (sein Brot sauer verdienen)<br />
bei Wasser und Brot sitzen (etwas abbüßen)<br />
sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen (sich wehren)<br />
etwas nötig haben wie das tägliche Brot (unbedingt brauchen)<br />
Selbstbewußte, kreative Verwendung (Strategiegruppe II.) kann auch über<br />
folgen<strong>de</strong> Lernaufgabe geübt wer<strong>de</strong>n:<br />
Dem zu bearbeiten<strong>de</strong>n Text wer<strong>de</strong>n eine mäßige Anzahl von Wörtern entnommen,<br />
die zu einer inhaltlichen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Thema <strong>de</strong>s Textes führen<br />
sollen. Diese Wörter wer<strong>de</strong>n als Wortkarten-Set <strong>de</strong>n Schülergruppen <strong>zur</strong><br />
Verfügung gestellt mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung die Wortkarten <strong>zur</strong> Gestaltung eines<br />
zusammenhängen<strong>de</strong>n Textes zu gebrauchen 13 :<br />
Ausgewählte Wörter:<br />
(das) Brot (das) Messer essen lügen<br />
(die) Küche (die) Nacht da liegen still<br />
ER Licht machen abschnei<strong>de</strong>n hinschieben<br />
SIE eine Scheibe Brot aufwachen<br />
älter aussehen nicht ertragen können nicht vertragen können<br />
durch die dunkle Wohnung tappen etwas gehört haben<br />
Die Aufstellung sollte so aussehen, daß die einzelnen Wortkarten untereinan<strong>de</strong>r<br />
gelegt wer<strong>de</strong>n. zu einem<br />
13 Arbeitsi<strong>de</strong>e: Monika Bischof, Gastvortrag, Fortbildungsseminar, Goethe-Institut, München,<br />
Sommer 1997.<br />
265
Die Kärtchen sind also beliebig austauschbar bis <strong>de</strong>r gewünschte rote Fa<strong>de</strong>n für<br />
einen Text entsteht.. Nun sollte diese zusammenhängen<strong>de</strong> Textvariante<br />
nie<strong>de</strong>rgeschrieben wer<strong>de</strong>n und mit freigewähltem Titel versehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Die III. Gruppe von Strategien kann erfolgreich für folgen<strong>de</strong> konkrete Lernaufgaben<br />
eingesetzt wer<strong>de</strong>n:<br />
Funktion- und Formunterschie<strong>de</strong> feststellen durch Textumformung o<strong>de</strong>r<br />
Textsortenumwandlung; so z.B. kann man <strong>de</strong>n Text umbauen lassen, eine an<strong>de</strong>re<br />
Reihenfolge <strong>de</strong>r Abschnitte (o<strong>de</strong>r Verse in Gedichten) vorschlagen. Konkret soll<br />
<strong>de</strong>r Text auf Papierstreifen satzweise augeschrieben wer<strong>de</strong>n wobei das<br />
Zusammenbauen voraussetzt, daß <strong>de</strong>r Schüler Hypothesen bei <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Handlung aufstellt (Strategiegruppe V.).<br />
Es war still, und als sie mit <strong>de</strong>r Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es<br />
leer.<br />
Auf <strong>de</strong>m Küchentisch stand <strong>de</strong>r Brotteller.<br />
Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, daß er log.<br />
Bei <strong>de</strong>r Textsortenumwandlung muß auf typische Merkmale je<strong>de</strong>r Sorte<br />
eingegangen wer<strong>de</strong>n um die Transformation machen zu können. (z.B. Aus einem<br />
Prosatext ein Rollenspiel mit Regieanweisungen machen lassen)<br />
Ein zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>s Muster suchen ist <strong>de</strong>r umgekehrte Weg. Anhand <strong>de</strong>r<br />
Textform sollen typische Merkmale erkannt, bzw. das Gerüst gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Systematisieren be<strong>de</strong>utet in unserem Fall Hauptgedanken herausfiltern und<br />
<strong>de</strong>n Inhalt zusammenzufassen.<br />
Wichtig ist, daß globales Verstehen aus durch mündliche o<strong>de</strong>r schriftliche<br />
Textpräsentation weitergeführt wird.<br />
Das ”Sich-ein-Bild-machen” sollte ganz konkret dazu führen Bild-Vorstellungen zu<br />
beschreiben und wenn möglich als Standbil<strong>de</strong>r darzustellen (pantomimisch); z.B.:<br />
(1) Jemand steht in <strong>de</strong>r Küche und ißt Brot.<br />
(2) Jemand schnei<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>m Messer eine Scheibe Brot ab.<br />
(3) Jemand tappt (in <strong>de</strong>r Nacht) durch die dunkle Wohnung. u.ä.<br />
Abschließend soll darauf hingewiesen wer<strong>de</strong>n, daß arbeiten mit Lernstrategien bei<br />
Schülern Kompetenz schafft und bei Lehrern voraussetzt.<br />
266
Literatur<br />
Bausch, Karl-Richard,/ Christ, Herbert / Hüllen, Werner / Könmer, Hans- J. (Hrsg.):<br />
Handbuch Fremdsprachenunterricht, Franke Verlag, Tübingen 1989.<br />
Bimmel, Peter: ”Aktuelles Fachlexikon”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8., 1/1993,<br />
S. 52.<br />
Bimmel, Peter: ”Lernstrategien im Deutschunterricht”. In: Fremdsprache Deutsch,<br />
H. 8, 1/1993, S. 4-6.<br />
Jenfu, Ni: ”Fisch geben o<strong>de</strong>r fischen lehren/Lesestrategien für chinesische<br />
Stu<strong>de</strong>nten”. In: Fremdsprache Deutsch, H. 8, 1/1993, S. .46-50.<br />
Kast, B.: ”Vom Wort zum Satz zum Text. Methodisch – didaktische Überlegungen<br />
<strong>zur</strong> Schreibfertigkeit”. In: Fremdsprache Deutsch, H.1, 1/1989, S. 9-16<br />
Prokop, Manfred: ”Lernen lernen – aber ja! Aber Wie? Klassifikation von<br />
Lernstrategienim Zweit- und Fremdsprachenunterricht.” In: Fremdsprache<br />
Deutsch, H. 8, 1/1993, S. 12-17.<br />
Rampillon,Ute: Lerntechniken im Fremdsprachenunterricht/Handbuch, München:<br />
Hueber, 1989.<br />
Stocker, Karl: Praxis <strong>de</strong>r Arbeit mit Texten, Ludwig Auer, Donauwörth,1975.<br />
267
268
ALINA CRĂCIUNESCU<br />
TEMESWAR<br />
Das Drama im Unterricht Deutsch als Muttersprache<br />
Eine neuzeitliche Dramenbehandlung<br />
Einleitung<br />
Diese Arbeit entstand auf Grund eines experimentellen Unterrichtprojekts, das<br />
insgesamt fünfzehn Stun<strong>de</strong>n umfaßte und als Unterrichtsmodul zum Thema Das<br />
Drama im Unterricht Deutsch als Muttersprache abgerun<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>.<br />
Die Anregung <strong>zur</strong> Beschäftigung mit diesem Thema ging davon aus, daß man im<br />
Deutschunterricht meistens mit <strong>de</strong>m Dramentext arbeitet und nur selten Filmteile<br />
und Begleitmateriale als optische und gedankliche Ergänzungen eingesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Ein Vorschlag <strong>zur</strong> systematischen Behandlung <strong>de</strong>r dramatischen Formen sieht so<br />
aus:<br />
1. Es soll in breiterem Umfang versucht wer<strong>de</strong>n, die Behandlung dramatischer<br />
Formen im Deutschunterricht lernzielorientiert vorzunehmen.<br />
2. Die prospektive Literaturdidaktik, die literarische Erziehung für das „Später“ ist<br />
ein beson<strong>de</strong>res Anliegen.<br />
3. Dramenbehandlung im Unterricht macht ein parallel laufen<strong>de</strong>s Eingehen auf<br />
Medienkun<strong>de</strong>, Medienpädagogik und Filmästhetik erfor<strong>de</strong>rlich.<br />
4. Ziel <strong>de</strong>s Deutschunterrichts und speziell <strong>de</strong>s Dramenunterrichts muß die<br />
Ganzschrift bleiben; ausgewählte Kontrast- o<strong>de</strong>r Komplementär-Texte dienen <strong>de</strong>r<br />
Erhellung und Erschließung <strong>de</strong>r dramatischen Formen.<br />
5. Es soll gezeigt wer<strong>de</strong>n, daß in diesem Verfahren Kernstellen – und<br />
Gelenkstelleninterpretationen auch im Bereich <strong>de</strong>r dramatischen Formen an<br />
Be<strong>de</strong>utung gewinnen.<br />
6. Von einem mo<strong>de</strong>rnen Lehrer darf man erwarten, daß er sich geistig stärker<br />
angesprochen und gefor<strong>de</strong>rt fühlt, wenn er sich ehrlich und persönlich mit <strong>de</strong>m von<br />
ihm ausgewählten dramatischen Werk auseinan<strong>de</strong>rsetzt. Die Vorrangigkeit einer<br />
Reflexionsstufe bei <strong>de</strong>r Unterrichtsplanung ist unabdingbar gewor<strong>de</strong>n.<br />
Ausgehend von diesen Voraussetzungen, wählt <strong>de</strong>r Lehrer als Einstieg in <strong>de</strong>n<br />
Dramenunterricht erläutern<strong>de</strong> Texte über das dramatische, epische und absur<strong>de</strong><br />
Theater, sowie auch eine Szene aus <strong>de</strong>r Komödie Der zerbrochene Krug von<br />
Heinrich von Kleist aus. Der Umgang mit dieser Szene gilt als Mo<strong>de</strong>ll für die<br />
weitere Arbeit mit <strong>de</strong>m Text <strong>de</strong>s Dramas Woyzeck.<br />
Bei <strong>de</strong>r Planung <strong>de</strong>r Unterrichtsreihe wur<strong>de</strong>n die Schwierigkeiten <strong>de</strong>s Zugangs zu<br />
269
Büchners Werk berücksichtigt: sprachliche, emotionale und inhaltliche Fremdheit.<br />
Die hun<strong>de</strong>rtsechzig Jahre seit <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Dramas Woyzeck be<strong>de</strong>uten für<br />
die jungen Leser eine erhebliche Distanz. Ein ernster Wi<strong>de</strong>rstand gilt <strong>de</strong>r<br />
sprachlichen Form. Das gedankliche Niveau <strong>de</strong>s Dramas ist für die meisten<br />
Schüler nicht zu hoch, doch die Form <strong>de</strong>r sprachlichen Gestaltung bereitet<br />
erhebliche Probleme für <strong>de</strong>n gedanklichen und emotionalen Zugang <strong>de</strong>r Schüler.<br />
Mo<strong>de</strong>rne Möglichkeiten <strong>zur</strong> Erweiterung <strong>de</strong>s Verstehenshorizontes<br />
<strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n<br />
Die Inszenierung<br />
Zum besseren Textverständnis wur<strong>de</strong> die Inszenierung <strong>de</strong>s Gespräches zwischen<br />
Woyzeck und Andreas herangezogen. Die Inszenierung <strong>de</strong>s Textes fügte als<br />
dramatische Interpretation von Handlung, Zeit und Ort diesen Kontext hinzu und<br />
brachte ihn als Handlungsführung, Rollenbesetzung ein. Ohne diese Ergänzungen,<br />
die in Wirklichkeit vom Autor schon mitbedacht sind, bleibt <strong>de</strong>r Text unvollständig<br />
und leblos. Darum ist es notwendig, daß sich die Schüler zuerst auf das<br />
theaterorientierte Lesen konzentrieren, das <strong>de</strong>n Text als Spracheleistung mit<strong>de</strong>nkt.<br />
Da muß beson<strong>de</strong>rs auf das Lesen <strong>de</strong>r Rollen mit bewußter Intonation geachtet<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Nach Dietrich Harth läßt sich die Lesbarkeit eines Textes aus <strong>de</strong>ssen Spielbarkeit<br />
begreifen 1 .Die Schüler haben <strong>de</strong>n Text verstan<strong>de</strong>n, wenn sie wissen, wie er zu<br />
spielen ist. Aus diesem Grund sollen die Schüler je<strong>de</strong>n Satz <strong>de</strong>s Textes auf seine<br />
Bühnenerscheinung hin erkun<strong>de</strong>n, zu je<strong>de</strong>r Äußerung eine Bühnensituation und<br />
eine emotionale Handlung hinzu<strong>de</strong>nken.<br />
Die Notwendigkeit <strong>de</strong>s Heranziehens von Bühnen- und Regieanweisungen in <strong>de</strong>r<br />
Inszenierungsarbeit muß unterstrichen wer<strong>de</strong>n, weil diese Hinweise immer etwas<br />
über die Art <strong>de</strong>s Spiels, über die han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Personen und über ihr Milieu<br />
verraten 2 . Es ist wichtig, daß die Schüler ins Spiel versetzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Präsentierung <strong>de</strong>r Filmsequenz und Rezeption<br />
Eine an<strong>de</strong>re Möglichkeit <strong>zur</strong> Erweiterung <strong>de</strong>s Verstehenshorizontes <strong>de</strong>r Schüler<br />
stellt die Präsentierung <strong>de</strong>r Filmsequenz und die Besprechung ihrer Rezeption dar.<br />
Ein wichtiger Aspekt im Literaturunterricht ist nach Hannah Marks die Relation von<br />
Film und Drama:<br />
Noch stärker ist <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>s Films auf das Drama, <strong>de</strong>nn dieses setzt als einzige<br />
Dichtgattung <strong>de</strong>n Wunsch nach optischer Darstellung voraus und kann die äußere<br />
Handlung weit weniger einschränken, als es bei Epik und Lyrik möglich ist. (zitiert<br />
nach Stocker 1972: 328)<br />
Erneut stellt sich die Frage nach grundsätzlichen Erörterungen, wie die<br />
Filmsequenz o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Film im Literaturunterricht, speziell im Zusammenhang mit<br />
<strong>de</strong>n dramatischen Formen, didaktisch einzubauen ist.<br />
1 Vgl. Harth (1989), Texte spielen und Haas (1988), Theater lesen, sehen, spielen.<br />
2 Gerth (1973) hat sich intensiv mit <strong>de</strong>r Inszenierung als komplexer pädagogischer Vorgang<br />
beschäftigt.<br />
270
Für die Vorbereitung dieser Stun<strong>de</strong> muß sich <strong>de</strong>r Lehrer Zeit <strong>zur</strong> Vorbesichtigung<br />
<strong>de</strong>s Films nehmen. Nur so kann er die Relation von Vorbereitung und Nacharbeit<br />
vernünftig abwägen und mit größerer Sicherheit entschei<strong>de</strong>n, ob die <strong>de</strong>n Schülern<br />
gestellten Aufgaben schulisch o<strong>de</strong>r häuslich vorgenommen wer<strong>de</strong>n sollen, welche<br />
Sozialform <strong>de</strong>s Unterrichts sich anbietet, ob man mit o<strong>de</strong>r ohne Fragen arbeiten<br />
soll.<br />
Als erfolgreich erwies sich folgen<strong>de</strong> Vorbereitung <strong>de</strong>r Besichtigung <strong>de</strong>r<br />
Filmsequenz: Den Schülern wur<strong>de</strong>n die drei Grundzüge eines Films, Bildkunst,<br />
Ethos, Dokument, gezeigt, und man erklärte ihnen die wichtigsten Aspekte, die<br />
diese Züge einbeziehen. Während <strong>de</strong>r Präsentierung <strong>de</strong>r Filmsequenz mußten die<br />
Schüler feststellen, inwieweit diese Grundzüge <strong>de</strong>s Films wier<strong>de</strong>rzuerkennen sind.<br />
Der erste Zug ist die Bildkunst, Optik, Bewegung, Atmosphäre, die <strong>de</strong>n Film<br />
abgrenzt und ihm Stil gibt.<br />
Der zweite Zug ist das filmische Ethos: Anliegen, Aussage, Sinn. Das innere<br />
Anliegen eines Films, sein guter o<strong>de</strong>r böser Geist, seine Haltung <strong>zur</strong> Welt, trifft <strong>de</strong>s<br />
Beschauers Herz, löst psychische Emotion aus o<strong>de</strong>r hinterläßt, wenn er schwach<br />
ist, Gleichgültigkeit.<br />
Der dritte Zug ist das Dokumentarische: die Fähigkeit und Funktion <strong>de</strong>s Films als<br />
Spiegel und Zeichen <strong>de</strong>r Zeit. Sie erzeugt, mit <strong>de</strong>m Gefühl <strong>de</strong>r Echtheit o<strong>de</strong>r<br />
Unechtheit, das Vergnügen o<strong>de</strong>r Entsetzen <strong>de</strong>s Wie<strong>de</strong>rerkennens, wird Klärung,<br />
Kontrolle, Warnung o<strong>de</strong>r, wenn <strong>de</strong>r dokumentarische Zug sich absichtlich verzerrt,<br />
Propaganda.<br />
Nach <strong>de</strong>r sachlich-inhaltlichen Vorbereitung und <strong>de</strong>r Rezeption bleibt Raum für die<br />
Auswertung. Die Schüler wer<strong>de</strong>n aufgefor<strong>de</strong>rt, analytische und inhaltiche Fragen<br />
zu beantworten und ihre Meinungen in Bezug auf die Filmsequenz zu äußern.<br />
Schlußbemerkungen<br />
Diese Aspekte <strong>zur</strong> Erweiterung <strong>de</strong>s Verstehenshorizontes <strong>de</strong>r Schüler sind<br />
notwendig im Dramenunterricht, man muß aber auch auf die strukturellen<br />
Gegebenheiten <strong>de</strong>s zu interpretieren<strong>de</strong>n Dramas eingehen, auf seinen Aufbau,<br />
seine Glie<strong>de</strong>rung, seine Einteilung in Szenen. Da Woyzeck ein Paradigma für die<br />
geschlossene Dramenform ist, konnten diese Probleme durch <strong>de</strong>n Vergleich <strong>de</strong>s<br />
offenen und geschlossenen Dramas behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Der Kontrast wur<strong>de</strong><br />
anhand <strong>de</strong>r studierten Werke Woyzeck und Iphigenie auf Tauris veranschaulicht.<br />
Durch die zahlreichen Anregungen konnte die Eintönigkeit zugunsten eines<br />
motivieren<strong>de</strong>n und anschaulichen Deutschunterrichts vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Damit<br />
hat die vorliegen<strong>de</strong> Arbeit nicht nur die schwachen Punkte <strong>de</strong>s Deutschunterrichts<br />
aufge<strong>de</strong>ckt, son<strong>de</strong>rn experimentierte Unterrichtssequenzen vorgestellt, um<br />
schließlich eine Reihe von Thesen darzubieten, die als methodische Hinweise für<br />
<strong>de</strong>n künftigen Unterricht dieses Moduls gedacht sind:<br />
1. Im Mittelpunkt eines mo<strong>de</strong>rnen Literaturunterrichts müssen die Überlegungen<br />
stehen, wie man Schüler für Literatur und <strong>de</strong>n Umgang mit ihr motivieren kann.<br />
2. Im “didaktischen Dreieck” zwischen Schüler, literarischem Werk und <strong>de</strong>m Lehrer<br />
sollte <strong>de</strong>r Lehren<strong>de</strong> etwas in <strong>de</strong>n Hintergrund treten. Das ist keine<br />
271
Be<strong>de</strong>utungsabwertung, son<strong>de</strong>rn eine Bewertungsverlagerung für die Funktion <strong>de</strong>s<br />
Lernen<strong>de</strong>n.<br />
3. Die Aufgabe <strong>de</strong>s Lehrers ist es einerseits handlungs- und erfahrensbezogene<br />
Lernprozesse zu för<strong>de</strong>rn, an<strong>de</strong>rerseits für eine angemessene Berücksichtigung<br />
fachspezifischer Metho<strong>de</strong>n Sorge zu tragen.<br />
4. Der Lehrer hat auch die Pflicht, <strong>de</strong>n Bezug zum “Draußen” herzustellen. Darum<br />
ist es notwendig, daß er von <strong>de</strong>r Aktualität <strong>de</strong>s Bildungsangebots – Theater, Film,<br />
Fernsehen – ausgeht, die Interessenlage <strong>de</strong>r Klasse erkun<strong>de</strong>t, einkalkuliert und<br />
<strong>de</strong>n Unterricht auf Lernziele abstimmt.<br />
5. Außer <strong>de</strong>r Reflexionsstufe bei einer Unterrichtsvorbereitung muß <strong>de</strong>r Leser auf<br />
die planen<strong>de</strong> Sorgfalt achten. Nicht die Zahl <strong>de</strong>r im Unterricht einbezogenen<br />
Stücke ist entschei<strong>de</strong>nd, son<strong>de</strong>rn das exemplarische Auswählen, das Setzen von<br />
Akzenten und das Schaffen von Vergleichsmöglichkeiten.<br />
6. Ein Werk ist repräsentativ, wenn es stellvertretend für an<strong>de</strong>re steht, die<br />
thematisch o<strong>de</strong>r vom Formalen her wesensverwandt sind. Nur so läßt sich Lernen<br />
am Erfolg realisieren und durch Einsicht för<strong>de</strong>rn.<br />
7. Beim Umgang mit dramatischen Texten sollen nicht nur wesentliche Elemente<br />
<strong>de</strong>s Dramatischen – wie Problementwurf, Dialogstruktur, Figurenkonstellation,<br />
Handlungsaufbau behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn über Inszenierungsversuche und<br />
Filmsequenzen lassen sich Aspekte <strong>de</strong>r Medienerziehung und <strong>de</strong>s<br />
problemorientierten Schreibens einbeziehen.<br />
8. Intensive Arbeit in gut gewählten Sozialformen (Kleingruppenarbeit) soll anstatt<br />
<strong>de</strong>s herkömmlichen Frontalunterrichts eingeführt wer<strong>de</strong>n.<br />
9. Es sollte erwogen wer<strong>de</strong>n, Paralleldarstellungen: Text ↔ Bühnenfassung<br />
(Spiel), Text ↔ Hörspiel, Text ↔ Verfilmung nicht nur als Verstehens-Stütze<br />
einzusetzen, son<strong>de</strong>rn auch um die präsentationsbedingten Abän<strong>de</strong>rungen<br />
auszuwerten 3 .<br />
Literatur<br />
Gerth, K. (Hrs.): Kommentare und methodische Inszenierungen, Hannover:<br />
Schrö<strong>de</strong>l, 1973.<br />
Haas, R: Theater lesen, sehen, spielen, Stuttgart: Metzler Verlag, 1988.<br />
Harth, D: Texte spielen, Stuttgart: Klett Verlag, 1989.<br />
Mahier, G/Setzle, E: Lehrpläne für die Hauptschule in Bayern mit Erläuterungen<br />
und Handreichungen, Donauwörth: Ludwig Auer Verlag, 1980.<br />
Pfister, M: Das Drama. Theorie und Analyse, München: Fink Verlag, 1997.<br />
Stocker, K: Die dramatischen Formen in didaktischer Sicht, Donauwörth:<br />
Ludwig Auer Verlag, 1972.<br />
3 Zum Vergleich <strong>de</strong>r offenen und geschlossenen Dramen, siehe Pfister (1997).<br />
272
KARLA SINITEAN-SINGER<br />
TEMESWAR<br />
Phantasiereisen im Unterricht<br />
Einleitung<br />
In einer Gesellschaft, die Anzeichen einer sozialen Entfremdung vorweist, die<br />
eines Tages zu ernst zu nehmen<strong>de</strong>n Rissen im sozialen Gewebe führen kann, in<br />
einer Gesellschaft, die zu Individualisierung, Autonomie, von dort zum<br />
Konkurrenzkampf und schließlich zu wachsen<strong>de</strong>r Isolierung <strong>de</strong>s Einzelnen führt,<br />
treten nun auch Anzeichen einer verschärften emotionalen Krise, beson<strong>de</strong>rs bei<br />
Kin<strong>de</strong>rn, auf.<br />
Wir leben in einer Zeit, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Zusammenhalt <strong>de</strong>r Gesellschaft sich immer<br />
schneller aufzulösen scheint, in <strong>de</strong>r Egoismus, Gewalt und Nie<strong>de</strong>rtracht die<br />
Qualität unseres Gemeinschaftslebens zu untergraben drohen.<br />
Die Schule, noch viel zu stark an steife Normen gebun<strong>de</strong>n, legt großen Wert auf<br />
eine soli<strong>de</strong> Basis an Grundwissen, das schon weit die Grenzen <strong>de</strong>r<br />
Allgemeinbildung überschreitet. Sie beurteilt Schüler nach <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s IQ;<br />
Emotionen bleiben dadurch auf <strong>de</strong>r Strecke.<br />
Speziell im Aufsatzunterricht geht es um die Erarbeitung und Einübung<br />
syntaktischer und stilistischer Muster. Starre Denkschemata und Regeln grenzen<br />
<strong>de</strong>n Schüler ein. Der Druck, <strong>de</strong>r durch Noten ausgeübt wird, führt zu Zweifeln an<br />
eigenen Leistungen und dadurch zum Aufkommen von Schreibblocka<strong>de</strong>n. Der<br />
Körper wird gespalten und alles wird vom Kopf verlangt, geschrieben wird mit <strong>de</strong>r<br />
rechten Hand, die die rationalen Muster <strong>de</strong>r linken Gehirnhälfte umsetzt und die<br />
rechte Gehirnhälfte nicht zum Zuge kommen läßt.<br />
Um die emotionale Bildung, die Phantasie und Kreativität <strong>de</strong>r Schüler zu för<strong>de</strong>rn,<br />
habe ich die Phantasiereise angewen<strong>de</strong>t, eine Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gestaltpädagogik –<br />
ein mentales Verfahren, das Eingang in die Psychotherapie gefun<strong>de</strong>n hat.<br />
Innerhalb von 8 Unterrichtseinheiten (8 Stun<strong>de</strong>n) habe ich mit Schülern <strong>de</strong>r 5.<br />
Klasse versucht, durch Phantasiereisen ihre Sinne anzusprechen, um sie dann<br />
durch Schreiben zum Ausdruck zu bringen.<br />
Der Zeitfaktor spielte eine wichtige, aber hemmen<strong>de</strong> Rolle. Die Schüler sind immer<br />
offen gegenüber neuer Metho<strong>de</strong>n, jedoch die Anwendung gleicher Verfahren in<br />
je<strong>de</strong>r Unterrichtseinheit spricht sie weniger an und führt <strong>zur</strong> Langweile.<br />
Noch zu erwähnen wäre, daß ich während dieser Stun<strong>de</strong>n nur eine Vorstufe dieser<br />
Metho<strong>de</strong> ausgearbeitet habe: das bloße Notieren von Gefühlen. Die nächste Stufe<br />
– die Diskussionen anhand <strong>de</strong>r entstan<strong>de</strong>nen Texte, ihre Überarbeitung und die<br />
Rückkopplung, die die Schüler ausdrücklich beansprucht haben, habe ich aus<br />
Zeitmangel nicht miteinbegriffen.<br />
273
Das Ergebnis dieser Aufsatzstun<strong>de</strong>n stellen ungefähr 250 Aufsätze dar und dazu<br />
eine Vi<strong>de</strong>okassette, als Filmdokument und gleichzeitig als Zeuge effektiver und<br />
affektiver Arbeit <strong>de</strong>r Schüler und ihrer Begeisterung gegenüber dieser<br />
Unterrichtsmetho<strong>de</strong>.<br />
Die Phantasiereise – eine psychologisch orientierte<br />
Schreibmetho<strong>de</strong> <strong>zur</strong> För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Kreativität<br />
Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Phantasiereise<br />
Die Phantasie <strong>de</strong>s Menschen braucht ständiges Training, genau wie die Muskeln,<br />
sonst verkümmert sie. Die Phantasie ist ein wichtiger Bestandteil zu einem<br />
vielseitigen, in allen Facetten schimmern<strong>de</strong>n Leben.<br />
Phantasie ist etwas, was in <strong>de</strong>r Kindheit geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n muß, die "magische"<br />
Phase <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ist eine wichtige Stufe in seiner Entwicklungsgeschichte.<br />
Die Phantasie ist die Fähigkeit, Sinneseindrücke, Bewußtseins- und Erlebnisinhalte<br />
so zu kombinieren o<strong>de</strong>r umzugestalten, daß neue Vorstellungsbil<strong>de</strong>r entstehen.<br />
Durch Phantasieren und Träumen wird das Bewußtsein erweitert, es wer<strong>de</strong>n aber<br />
auch neue Möglichkeiten von Konfliktbewältigung erlebt.<br />
Phantasievolle Menschen erleben ihren Alltag viel farbiger, reicher. Aus vielen<br />
Situationen und Bewegungen gewinnen sie neue Anregungen und Reize, die ihre<br />
eigene Erlebnisbreite erweitern.<br />
Über die Hilfe hinaus, die lese- und schreibschwache Schüler erhalten können,<br />
haben Phantasiereisen für eine Schülergeneration, die extrem stark mit Bil<strong>de</strong>rn von<br />
außen überflutet wird (Fernsehen, Werbung usw.) eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung.<br />
Viele Jugendliche entwickeln teils unbewußt ein elementares Bedürfnis nach<br />
Bil<strong>de</strong>rn, die sie in sich erleben und mit <strong>de</strong>r eigenen Phantasie und Vorstellungskraft<br />
gestalten können. Sie spüren, daß die eigene Erlebniswelt eine an<strong>de</strong>re Qualität hat<br />
als die, die sie über die Medien konsumieren.<br />
Eine ähnliche Sensibilisierung läßt sich auch bei <strong>de</strong>n Hörgewohnheiten<br />
beobachten. Das Bedürfnis, sich durch phonstarke Musik zu betäuben, kann bei<br />
einigen Jugendlichen durchbrochen wer<strong>de</strong>n, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt,<br />
differenziertere, leisere Musik kennenzulernen o<strong>de</strong>r Geräusche wie<br />
Wasserrauschen, Vogelstimmen u.a. zu ent<strong>de</strong>cken.<br />
Zu meinen positiven Erfahrungen gehören Phantasiereisen, die ich mit Schülern<br />
<strong>de</strong>r 5. Klasse durchführte, wenn die Konzentration mit an<strong>de</strong>ren pädagogischen<br />
Mitteln nur schwer herzustellen war. Die ersten Versuche dieser Art machte ich<br />
selbst mit Skepsis und zweifelte daran, ob diese Art von "Beruhigung" überhaupt<br />
angenommen wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Doch die Reaktionen waren überzeugend; es wur<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>utlich, daß diese Jugendlichen sich wohlfühlten, wenn sie sich in ihre eigene<br />
Bil<strong>de</strong>rwelt und Stille fallen ließen; so waren die eigenen Zweifel schnell<br />
ausgelöscht.<br />
Phantasiereisen in Kombination mit Entspannungsübungen helfen Lernblocka<strong>de</strong>n<br />
zu überwin<strong>de</strong>n. Sie unterstützen die Koordination von rechter und linker<br />
Gehirnhälfte und schaffen dadurch positive Lernvoraussetzungen für<br />
unterschiedliche Lerntypen.<br />
274
Beobachtet man lese- und rechtschreibeschwache Schüler über einen längeren<br />
Zeitraum genauer, verfolgt man ihr Lernverhalten, ihre Reaktionen in<br />
Streßsituationen, dann kann man oft feststellen, daß sie sich nicht zu wenig<br />
anstrengen, son<strong>de</strong>rn zu sehr. Dieser verspannte Willenimpuls führt zu einer<br />
Blocka<strong>de</strong>. Es gibt eine vergleichbare Erfahrung bei Erwachsenen: jemand fragt uns<br />
nach einem Namen, wir versuchen, uns angestrengt zu erinnern, sind aber<br />
blockiert – <strong>de</strong>r Name ist weg. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn wir uns nicht<br />
mehr anstrengen, wird uns <strong>de</strong>r Name einfallen. Die erwünschte Information ist da,<br />
wenn die krampfhafte Überkonzentration nachgelassen hat.<br />
Energieblocka<strong>de</strong>n sind häufig auf <strong>de</strong>n Mangel an Koordination <strong>de</strong>r Funktionen von<br />
rechter und linker Gehirnhälfte <strong>zur</strong>ückzuführen. Roger V. Sperry, <strong>de</strong>r 1981 für<br />
seine Forschungen <strong>de</strong>n Nobelpreis erhielt, hat nachgewiesen, daß durch<br />
einseitiges Lernen, durch Überbewertung <strong>de</strong>s logischen, analytischen Denkens nur<br />
<strong>de</strong>r linke Bereich unseres Gehirns in Anspruch genommen, <strong>de</strong>r rechte Bereich<br />
vernachlässigt wird.<br />
Die Forschungsergebnisse <strong>zur</strong> zerebralen Dominanz sind inzwischen weitgehend<br />
bekanntgewor<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n jedoch in <strong>de</strong>r praktischen Pädagogik noch kaum<br />
berücksichtigt. Die üblichen Inhalte und Strukturen <strong>de</strong>s Unterrichts för<strong>de</strong>rn weit<br />
stärker die Aktivitäten <strong>de</strong>r linken Hemisphäre. Eine Aktivierung <strong>de</strong>r rechten<br />
Hemisphäre beim schulischen Lernen könnte erreicht wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r musische<br />
Unterricht ernst genommen wird, in<strong>de</strong>m kreative Fähigkeiten auch in an<strong>de</strong>ren<br />
Fächern geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n (z.B. im Fach Deutsch: Texte selber schreiben, Theater<br />
spielen usw.), durch ein Lernen mit allen Sinnen und die Einbeziehung von<br />
Entspannungsübungen, Phantasiereisen u.a.<br />
So stellt Doris Müller in ihrem Buch Phantasiereisen im Unterricht die positiven<br />
Wirkungen <strong>de</strong>r Phantasiereisen heraus:<br />
Der Wert <strong>de</strong>r Phantasiereisen für das persönliche und soziale Lernen ist darin zu<br />
sehen, daß die Kin<strong>de</strong>r in ihren individuellen Bil<strong>de</strong>rn und Erzählungen ernst<br />
genommen wer<strong>de</strong>n, was ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärkt und zu<br />
gegenseitiger Achtung führt.<br />
Die gleichzeitige Beobachtung intellektueller und kreativer Prozesse erleichtert das<br />
stoffliche Lernen und macht es effektiver: Motivation von seiten <strong>de</strong>s Lehrers / <strong>de</strong>r<br />
Lehrerin erübrigt sich weitgehend, Interesse und Aufmerksamkeit wer<strong>de</strong>n geweckt<br />
sowie Konzentration und Merkfähigkeit verbessert, eine fächerübergreifen<strong>de</strong><br />
Arbeitsweise wird unterstützt, das Lernen und die Gestaltung <strong>de</strong>r Hefte macht mehr<br />
Spaß. 1<br />
Technik <strong>de</strong>r Phantasiereise<br />
Die Phantasiereise ist eine Metho<strong>de</strong> vor allem <strong>de</strong>r Gestaltpädagogik, ein mentales<br />
Verfahren, das Eingang in die Psycho- und Sporttherapie gefun<strong>de</strong>n hat.<br />
Man unterschei<strong>de</strong>t zwischen <strong>de</strong>r gelenkten und ungelenkten Phantasiereise. Bei<br />
<strong>de</strong>r ungelenkten kann <strong>de</strong>r Teilnehmer mit geschlossenen Augen die Bil<strong>de</strong>r und<br />
Phantasien auf einer „weißen Leinwand“ entstehen lassen, die spontan in ihm<br />
aufsteigen. Bei <strong>de</strong>r gelenkten gibt <strong>de</strong>r Lehrer Bil<strong>de</strong>r und Situationen (z.B. Urlaub,<br />
Wiese, Strand, Begegnung mit einem frem<strong>de</strong>n Menschen usw.) vor.<br />
1 Müller, D.: Phantasiereisen im Unterricht. Braunschweig: Westermann, 1994, S. 6.<br />
275
Helga Bleckwenn und Rainer Loska haben mit diesem Verfahren in <strong>de</strong>r<br />
Hauptschule (5. Klasse) experimentiert und fassen als Fazit zusammen:<br />
Dabei fiel uns auf, daß es gegenüber sonst von uns angewandten Verfahren <strong>de</strong>n<br />
meisten Schülern relativ leicht fiel, die Texte zu schreiben. Offenbar wer<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>r<br />
gelenkten Phantasie durch die verbalen Impulse <strong>de</strong>s Lehrers unmittelbar<br />
Imaginationen bei <strong>de</strong>n Schülern hervorgerufen. 2<br />
Was die Technik <strong>de</strong>r Phantasiereisen anbelangt, geht es grundsätzlich darum, das<br />
Kind aus <strong>de</strong>m Alltag herauszuführen, es in <strong>de</strong>r Phantasie etwas erleben zu lassen,<br />
es (auf <strong>de</strong>mselben Weg) wie<strong>de</strong>r <strong>zur</strong>ückzuholen und das Erlebte festzuhalten.<br />
Einleitung und Entspannung (nach Bleckwenn / Loska: die Expositionsphase)<br />
Der Lehrer als Reiseleiter führt die Kin<strong>de</strong>r durch entsprechen<strong>de</strong> Suggestionen in<br />
einen Zustand, in <strong>de</strong>m sie körperlich und seelisch entspannt sind.<br />
Musik (Vangelis: The Conquest of Paradise, Kitaro: Silk Road, Mike Oldfield:<br />
Tubular Bells, Islands usw.) kann Entspannung unterstützen, muß jedoch nicht<br />
sein. Entspannung meint hier einfach: nicht verkrampft sein und dies ist<br />
grundsätzlich in je<strong>de</strong>r Körperhaltung möglich.<br />
Die Augen sind dabei in <strong>de</strong>r Regel geschlossen. Manchen Kin<strong>de</strong>rn fällt dies<br />
anfangs nicht leicht, doch es übt sich ein und wird mit <strong>de</strong>r Zeit selbstverständlich.<br />
Einige Kin<strong>de</strong>r "träumen" auch mit offenen Augen.<br />
Die einleiten<strong>de</strong>n Suggestionen betreffen: 3<br />
Körperhaltung (sitzend, stehend, liegend)<br />
Schließen <strong>de</strong>r Augen<br />
Sicherheit und Wohlbefin<strong>de</strong>n<br />
Atem<br />
Ruhe und Entspannung<br />
Hören und Sich Vorstellen<br />
Ein Beispieltext für Entspannungseinleitung:<br />
Setz o<strong>de</strong>r leg dich entspannt hin...<br />
Schließ <strong>de</strong>ine Augen...<br />
Mach es dir noch ein wenig bequemer...<br />
Dein Atem geht ruhig und gleichmäßig...<br />
Du spürst wie du sitzt o<strong>de</strong>r liegst...<br />
Und wie sich dabei die Entspannung allmählich ausbreitet...<br />
Im Gesicht..., in <strong>de</strong>n Schultern..., <strong>de</strong>n Armen und Hän<strong>de</strong>n ...<br />
Du wirst immer ruhiger...<br />
Die Spannung weicht aus <strong>de</strong>inem Bauch..., aus <strong>de</strong>inen Beinen..., aus <strong>de</strong>n Füßen...<br />
Du bist entspannt..., gelöst..., gelassen...<br />
2 Bleckwenn, H. / Loska, R.: "‘Phantasiereise‘ – Imaginative Verfahren im<br />
Deutschunterricht“. In: Pädagogik, Jg. 40 , Heft 12, 1988, S. 25.<br />
3 Vgl.: 26, S. 18 – 20.<br />
276
Durchführung (nach Bleckwenn / Loska: Die Imaginationsphase)<br />
Es folgt nun die eigentliche Phantasiereise, eine Vorstellungsübung, die durch<br />
Vorschläge und lenken<strong>de</strong> Fragen <strong>de</strong>s Lehrers stimuliert wird.<br />
In dieser Phase kann man auch mit zusätzlichen Sinnesreize (Klänge, Musik,<br />
Gerüche) arbeiten.<br />
Wichtig ist aber, daß die Intervalle zwischen <strong>de</strong>n Fragen groß genug sind, daß sich<br />
eine entsprechen<strong>de</strong> Vorstellung entwickeln kann.<br />
Auch die Wahl <strong>de</strong>r Imaginationssituationen ist sehr wichtig. Sie muß offen und<br />
anregend sein, <strong>de</strong>m Alter angepaßt, damit sich ganz unterschiedliche<br />
Vorstellungsmuster entwickeln können.<br />
Zurückholen (nach Bleckwenn / Loska: Rückkehrphase)<br />
Nach Durchführung <strong>de</strong>r Reise holen wir die Kin<strong>de</strong>r, die sich in <strong>de</strong>r Regel in einem<br />
leicht verän<strong>de</strong>rten Bewußtseinszustand befin<strong>de</strong>n, wie<strong>de</strong>r in die tagesbewußte<br />
Realität <strong>zur</strong>ück.<br />
Die Rückkehr in die Alltagsrealität muß mit entsprechen<strong>de</strong>n Körperempfindungen,<br />
Suggestionen (in umgekehrter Reihenfolge) und durch ein allmähliches<br />
Lautwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Stimme bewußt gemacht wer<strong>de</strong>n.<br />
Schließlich for<strong>de</strong>rn wir die Kin<strong>de</strong>r auf, tief zu atmen, sich zu recken und zu<br />
strecken und wie<strong>de</strong>r ganz da zu sein. Wenn ein Kind ganz weit weg ist, berühren<br />
wir es leicht, um es <strong>zur</strong>ückzuholen.<br />
Text <strong>zur</strong> Rückführung:<br />
Nun kommst du langsam..., in <strong>de</strong>inem Tempo... wie<strong>de</strong>r hierher <strong>zur</strong>ück... Du<br />
bewegst <strong>de</strong>ine Finger..., atmest etwas tief ein und aus... Du <strong>de</strong>hnst und räkelst<br />
dich... und öffnest <strong>de</strong>ine Augen... Du fühlst dich erfrischt und ausgeruht, als wärest<br />
du gera<strong>de</strong> aufgewacht...<br />
Auswertung (Nach Bleckwenn / Loska: Schreibphase o<strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift <strong>de</strong>r<br />
Imagination)<br />
Phantasien sind flüchtliche Träume und es geht nun darum, das Erlebte, Gehörte,<br />
Ausgedachte, Gefühlte o<strong>de</strong>r Vorgestellte zu konkretisieren. Nach Bleckwenn und<br />
Loska sollten jüngere Schüler auch zusätzlich malen dürfen.<br />
Beim Aufschreiben o<strong>de</strong>r Erzählen ist die Darstellung in "Ich-Form" und in <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart am geeignetesten.<br />
Bei <strong>de</strong>r Besprechung ist einfühlen<strong>de</strong>s, verstehen<strong>de</strong>s Zuhören wichtig. Es gibt hier<br />
kein "richtig" o<strong>de</strong>r "falsch"; je<strong>de</strong> Art von Druck o<strong>de</strong>r Erfolgszwang muß vermie<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Motive <strong>de</strong>r Phantasiereise<br />
Wenn man einmal erst mit Phantasieübungen beginnt, wer<strong>de</strong>n sich bestimmt mehr<br />
I<strong>de</strong>en als Gelegenheiten sie umzusetzen ergeben: aus <strong>de</strong>m Alltag, <strong>de</strong>n<br />
Jahresfesten, Ferienerlebnissen, <strong>de</strong>n Einfällen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, Lesetexten,<br />
Kin<strong>de</strong>rbüchern usw. Unzählige Anlässe erwachsen aus <strong>de</strong>m Pflanzen- und<br />
Tierreich und aus <strong>de</strong>r Vielfalt <strong>de</strong>r Naturerscheinungen.<br />
Hier ein paar Anregungen:<br />
277
� Naturerscheinungen<br />
Wind: im Wind stehen, <strong>de</strong>n Wind durch sich hindurch wehen lassen, <strong>de</strong>r Wind sein,<br />
usw.<br />
Wasser: als Regentropfen aus einer Wolke auf die Er<strong>de</strong> fallen, eindringen, als<br />
Quelle wie<strong>de</strong>r ans Tageslicht kommen, mit <strong>de</strong>m Bach in <strong>de</strong>n Fluß und ins Meer<br />
reisen, von <strong>de</strong>r Sonne wie<strong>de</strong>r aufgenommen wer<strong>de</strong>n und wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Wolke<br />
sein.<br />
Durch <strong>de</strong>n Regenbogen<br />
(Durchführung)<br />
Stell dir vor, du bist irgendwo im Freien<br />
Es hat aufgehört zu regnen<br />
Noch steht eine dicke, graue Wolkenwand am Himmel<br />
Doch hinter dir brechen die Strahlen <strong>de</strong>r Sonne hervor<br />
Du schaust hoch zum Himmel<br />
Und ent<strong>de</strong>ckst über dir einen wun<strong>de</strong>rbaren Regenbogen<br />
Fühl wie du dich plötzlich<br />
Von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> erhebst und nach oben schwebst<br />
Du steigst auf bis zum unteren Rand <strong>de</strong>s Regenbogens<br />
Jetzt ist er dicht über dir<br />
Und langsam, ganz langsam schwebst du durch alle seine Farben<br />
Violett, Blau, Grün, Gelb, Orange, Rot.<br />
Du steigst weiter über <strong>de</strong>n Regenbogen hinaus<br />
In ein helles, weißes Licht hinein<br />
Von oben schaust du herab<br />
Auf <strong>de</strong>n Regenbogen und seine Farben<br />
Langsam schwebst du wie<strong>de</strong>r nach unten<br />
Such dir nun die Farbe aus<br />
Die dir jetzt gera<strong>de</strong> am besten gefällt<br />
Und lass dich dort hinein sinken<br />
Verabschie<strong>de</strong> dich nun von <strong>de</strong>iner Lieblingsfarbe<br />
Und schweb <strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> Er<strong>de</strong><br />
Bist jetzt wie<strong>de</strong>r dort<br />
278
Wo <strong>de</strong>ine Reise begonnen hat<br />
� Märchenmotive<br />
Mit Zwergen in einen Berg einsteigen und nach Gold und E<strong>de</strong>lsteinen suchen<br />
Auf einem Schwan zum Zauberschloß auf <strong>de</strong>n Zauberberg fliegen<br />
Ein Stückchen von <strong>de</strong>r Weißen Schlange essen und hellhörig die Sprache <strong>de</strong>r<br />
Tiere verstehen<br />
Verwandlungsspiele mit <strong>de</strong>m Zauberstab "wenn ich dich mit <strong>de</strong>m Zauberstab<br />
berühre, verwan<strong>de</strong>lst du dich in..."<br />
Eine Tarnkappe tragen und unsichtbar sein<br />
Auf einem Fisch zum Haus <strong>de</strong>s Wassermanns schwimmen<br />
Mit Elfen auf <strong>de</strong>r Blumenwiese tanzen<br />
Mit <strong>de</strong>r Regenbogenkönigin auf <strong>de</strong>m Regenbogen Rutschbahn fahren<br />
Ballonreise<br />
(Durchführung)<br />
Du bist auf einer großen weiten Wiese<br />
Du läufst auf dieser Wiese mit bloßen Füßen<br />
Du spürst das Gras unter <strong>de</strong>inen Sohlen<br />
Du fühlst das Gras, die Er<strong>de</strong><br />
Von weitem siehst du einen großen Ballon auf <strong>de</strong>r Wiese ankern<br />
Du gehst ihm neugierig entgegen<br />
Jetzt hast du ihn erreicht<br />
Er schaukelt leicht im Wind an einem Seil<br />
Die Gon<strong>de</strong>l ist ein geflochtener Korb<br />
Du stehst dicht davor<br />
Nun steigst du ein<br />
Die Taue wer<strong>de</strong>n gelöst<br />
Langsam hebt er sich vom Bo<strong>de</strong>n ab<br />
Du schwebst ganz sacht nach oben<br />
Du spürst die Luft, die an dir vorüberrauscht<br />
Der Ballon steigt höher, immer höher<br />
Die Wiese unter dir wird ganz klein<br />
Die Menschen winken hinauf, sie sind wie Punkte<br />
Langsam schwebt <strong>de</strong>r Ballon weiter<br />
279
Weit vor dir erheben sich dicke, hohe Berge<br />
Du schwebst auf sie zu<br />
Ganz nahe kommst du ihnen<br />
Du schwebst in <strong>de</strong>inem Ballon an ihnen vorüber<br />
Es wird Abend, Dämmerung zieht herauf<br />
Es wird Zeit, wie<strong>de</strong>r auf die Er<strong>de</strong> zu kommen<br />
Du suchst dir einen Platz, auf <strong>de</strong>m du lan<strong>de</strong>n willst<br />
Dann schwebst du langsam, sacht nach unten<br />
Du bist wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />
Der gläserne Schmetterling<br />
(Durchführung)<br />
Nach einer langen Wan<strong>de</strong>rung durch <strong>de</strong>n Wald<br />
Durch Büsche, auf kleinsten Pfa<strong>de</strong>n<br />
Bist du <strong>zur</strong> Rast auf einer kleinen Lichtung<br />
Hohes Gras, blühen<strong>de</strong>r Holun<strong>de</strong>r duftend um dich herum<br />
Dein träger Blick trifft auf eine Raupe<br />
Die am Bo<strong>de</strong>n sich schlängelnd vorwärts bewegt<br />
Sie ist ganz pelzig, grau und nicht sehr schön<br />
Du schaust sie an<br />
Plötzlich gerät sie in Bewegung<br />
Etwas verän<strong>de</strong>rt sich<br />
Flügel wachsen ihr heraus<br />
Gläsern in zartem Bund<br />
Groß und schimmernd<br />
Die Raupe verwan<strong>de</strong>lt sich in einen Schmetterling aus Glas<br />
Ganz groß wird er<br />
Er ist so schön, so unbeschreiblich schön<br />
Zart bewegen sich die Flügel<br />
Ein leichtes Zittern geht durch <strong>de</strong>n schlanken Leib<br />
Er fliegt, zunächst noch zögernd<br />
280
Macht einen großen Bogen, zieht höher<br />
Langsam entschwebt er in das Blau <strong>de</strong>r Luft<br />
Welch ein Zauber<br />
Umgang mit Störungen<br />
Arbeitet man in <strong>de</strong>r Schule mit Phantasiereisen, so kommt es, wie bei je<strong>de</strong>m<br />
Unterricht, gelegentlich auch zu Störungen:<br />
� Phantasiereisen erfor<strong>de</strong>rn Ruhe<br />
Um Phantasiereisen erfolgreich zu führen, ist Ruhe erfor<strong>de</strong>rlich. Es ist bei<br />
kleineren Kin<strong>de</strong>rn beson<strong>de</strong>rs schwierig, bei <strong>de</strong>n ersten Kontakten mit dieser<br />
Metho<strong>de</strong> überhaupt Ruhe zu bewahren.<br />
Die persönliche Haltung <strong>de</strong>r Lehrperson, ihr Vertrauen in das Gelingen dieser Art<br />
von Verfahren, überträgt sich auf die Schüler und trägt dazu bei, daß eine positive<br />
Atmosphäre hervorgerufen wird, die <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn ermöglicht, sich entspannt auf<br />
neue Erfahrungen einzulassen und aufzubauen.<br />
Das Verhin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Eintretens an<strong>de</strong>rer Personen, die dadurch <strong>de</strong>n Ablauf <strong>de</strong>r<br />
Phantasiereisen stören, kann durch ein Schild an <strong>de</strong>r Klassenzimmertür: "Bitte<br />
nicht stören!" ermöglicht wer<strong>de</strong>n.<br />
Bei aufreten<strong>de</strong>r Unruhe sind positive Suggestionen nützlich, z.B.: "mach es dir<br />
bequemer, so daß du eine Weile ganz ruhig sitzen kannst", "wir sind jetzt ganz still,<br />
daß wir mit unseren inneren Ohren hören können" usw. 4<br />
Stört ein Kind während <strong>de</strong>r Reise ein an<strong>de</strong>res, so sollte man es leicht berühren und<br />
in eine an<strong>de</strong>re Lage bringen. Einem an<strong>de</strong>ren, das anfängt laut zu wer<strong>de</strong>n, kann<br />
man "pssssst" ins Ohr flüstern.<br />
Doris Müller schil<strong>de</strong>rt folgen<strong>de</strong> Situation:<br />
Andreas während einer Reise: „Ich sehe überhaupt nichts. Bei mir ist alles<br />
schwarz.“ Eine mögliche Reaktion, bei <strong>de</strong>r das Kind ernstgenommen wird: „So ist<br />
das jetzt gera<strong>de</strong> bei dir. Wahrscheinlich wird <strong>de</strong>in innerer Fernseher gleich farbig.<br />
Und wenn du heute wirklich nichts siehst, dann <strong>de</strong>nk dir doch einfach was aus! Du<br />
kannst doch gut <strong>de</strong>nken!“ 5<br />
� Freiwilligkeit <strong>de</strong>r Teilnahme<br />
Teml 6 u.a. betonen die absolute Freiwilligkeit <strong>de</strong>r Teilnahme von Schülern an<br />
Phantasiereisen.<br />
Schüler nehmen jedoch auch nicht freiwillig am Unterricht teil, kommen nicht<br />
einmal freiwillig <strong>zur</strong> Schule. Die Art und Weise, wie man Phantasiereisen einsetzt,<br />
läßt sie zu einem festen methodischen Bestandteil <strong>de</strong>s Unterrichts wer<strong>de</strong>n, also ist<br />
es selbstverständlich, daß die Schüler mitmachen, wie sie auch mitlesen, -singen<br />
und -rechnen. Es kommt schon einmal vor, daß ein Schüler nicht aufhören kann,<br />
laut aufzulachen, absichtlich mit <strong>de</strong>n Armen und Beinen auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n schlägt<br />
o<strong>de</strong>r laut re<strong>de</strong>t. In solchen Fällen sollte man die Verantwortung übergeben:<br />
4<br />
Vgl. Müller, D.: Phantasiereisen im Unterricht. Braunschweig: Westermann, 1994, S. 44<br />
5<br />
Ebd. S. 44.<br />
6<br />
Teml, H.: Entspannt lernen. Streß Abbau, Lernför<strong>de</strong>rung und ganzheitliche<br />
Erziehung. Linz: Veritas, 1991.<br />
281
"Überleg es dir, ob du mitmachen willst!".<br />
Es war jedoch sehr selten notwendig, <strong>de</strong>nn die Kin<strong>de</strong>r machen Phantasiereisen<br />
gerne und wollen dabei ungestört sein. Sie sehen ein, daß sie Ruhe brauchen und<br />
ermahnen einan<strong>de</strong>r sogar dazu.<br />
Zeigt o<strong>de</strong>r hat ein Kind einmal keine Lust zu einer Phantasiereise, so reagiere ich<br />
<strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>s Augenblicks entsprechend, wie ich sie wahrnehme: vielleicht<br />
habe ich <strong>de</strong>n Eindruck, das Kind spielt mit mir, o<strong>de</strong>r ich fühle, es hat wirklich keine<br />
Lust. Ein bißchen persönliche Zuwendung, freundlich, aufmunternd und manchmal<br />
auch humorvoll, kann die Lage rasch entspannen und verän<strong>de</strong>rn.<br />
Es ist beson<strong>de</strong>rs wichtig, mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Vereinbarungen zu treffen und mit ihnen<br />
die Bedingungen zu besprechen, unter welchen Phantasiereisen möglich sind.<br />
Als wesentliche Voraussetzungen ergaben sich für mich:<br />
die Schüler, die Vorliebe für diese Arbeitsweise und das begeisterte Interesse an<br />
ihren Bil<strong>de</strong>rn und Geschichten, spüren zu lassen<br />
eine erhöhte Selbstbeobachtung und Achtsamkeit zu entwickeln<br />
Sicherheit im Tun auszustrahlen<br />
und vor allem Ruhe in mir selbst zu schaffen<br />
Bewertung und Benotung<br />
Bevor wir uns mit <strong>de</strong>m so problematischen Bereich <strong>de</strong>s Bewertens<br />
auseinan<strong>de</strong>rsetzen, sollte man sich ins Bewußtsein rufen, daß dieses für uns so<br />
selbstverständliche Verfahren <strong>de</strong>rart selbstverständlich nicht sein sollte.<br />
Schon die Semantik <strong>de</strong>r für die Benotung üblichen Begriffe be<strong>de</strong>utet<br />
Unterschiedliches und weist auf unterschiedliche Prozesse hin.<br />
Fritzsche nimmt folgen<strong>de</strong> Differenzierungen: 7<br />
Bewerten wird als das Feststellen und Beurteilen von Kenntnissen und Fähigkeiten<br />
verstan<strong>de</strong>n;<br />
Beim Beurteilen wird das Festgestellte auf Normen bezogen;<br />
Unter Benotung ist das Zusammenfassen unter einer Ziffer gemeint;<br />
Mit Korrigieren wer<strong>de</strong>n das Verän<strong>de</strong>rn und Kommentieren benannt, daß zu<br />
Überarbeitung führen kann;<br />
Der Begriff Leistungsmessung ist nach Fritzsche problematisch, weil er die<br />
Tatsache suggiert, daß<br />
[…] im Deutschunterricht zu erwerben<strong>de</strong>n Kenntnisse und zu entwickeln<strong>de</strong>n<br />
Fähigkeiten […] exakt quantifiziert und wie im Sport mit Meßlatte und Stoppuhr<br />
bestimmt wer<strong>de</strong>n [könnten ].<br />
Grundvoraussetzung je<strong>de</strong>r Bewertung muß die Integrität und Unantastbarkeit <strong>de</strong>r<br />
Schülerpersönlichkeit sein. Der Deutschlehrer ist wahrscheinlich sehr häufig in<br />
Gefahr, diese Grundsätze zu verletzen, da <strong>de</strong>r Text natürlich auch immer ein Teil<br />
<strong>de</strong>r Person ist, selbst wenn es sich um eine sogenannte objektive Aufsatzform<br />
han<strong>de</strong>lt. Um wieviel problematischer ist dann <strong>de</strong>r Umgang mit <strong>de</strong>n personalkreativen<br />
Schreibformen, da diese in <strong>de</strong>r Regel sehr subjektiv orientiert sind.<br />
Die Beurteilung von personal-kreativen Schreibformen ist auf verschie<strong>de</strong>nen<br />
7 Frietzsche, J.: Zur Didaktik und Methodik <strong>de</strong>s Deutschunterrichts. Stuttgart: Klett,<br />
1994, S. 208<br />
282
Ebenen problematisch: 8<br />
Da die Schüler oft Persönliches einbeziehen, erscheint es fragwürdig, einen<br />
solchen Text zu benoten;<br />
Der Text soll möglichst originell sein – es wird häufig sehr divergent geschrieben,<br />
äußerlich sichtbar durch die unterschiedliche Länge <strong>de</strong>r Texte;<br />
Die Vergleichbarkeit <strong>de</strong>r Texte untereinan<strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>shalb nur sehr eingeschränkt<br />
möglich;<br />
Die Texte haben einen hohen Mitteilungscharakter, da sie in <strong>de</strong>r Klein- o<strong>de</strong>r<br />
Großgruppe vorgelesen wer<strong>de</strong>n.<br />
Es gibt Argumente, die für eine Benotung sprechen.<br />
So meint Fritzsche:<br />
Auf Dauer sollte <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>s kreativen Schreibens bei <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r<br />
Schülerleistungen nicht unberücksichtigt bleiben, <strong>de</strong>nn sonst besteht die Gefahr,<br />
daß das kreative Schreiben nicht ernst genommen und nur auf wenige Stun<strong>de</strong>n<br />
o<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>re Gelegenheiten beschränkt wird. Im Übrigen sollen die Schüler<br />
erkennen, daß auch Phantasie, ästhetische Gestaltung und spielerischer Umgang<br />
mit Sprache als Leistung anerkannt wer<strong>de</strong>n. 9<br />
Was könnte nun bewertet wer<strong>de</strong>n?<br />
Spinner stellt eine Kriterienliste auf: Einfallsreichtum, Anschaulichkeit, semantische<br />
Dichte, Kohärenz, stilistische Konsequenz und Variabilität <strong>de</strong>r Ausdrucksmittel.<br />
Weitere Kriterien wären: ungewöhnliche Metaphern, Symbolik, leitmotivische<br />
Gestaltung, inhaltliche Überraschungsmomente, Authentizität.<br />
Fritzsche weist darauf hin, daß es beson<strong>de</strong>rs heikel sei, "ob jemand etwas<br />
konventionell empfin<strong>de</strong>t", da dies von <strong>de</strong>r Konvention abhänge, die er kenne.<br />
Für <strong>de</strong>n Schüler eines bestimmten Alters ist manches neuartig und witzig, was<br />
später altbekannt und langweilig wird. Hier greifen die Maßstäbe <strong>de</strong>s Erwachsenen<br />
beson<strong>de</strong>rs schlecht. 10<br />
Bei <strong>de</strong>n Bewertungsprozessen sollte sich <strong>de</strong>r Lehrer ins Bewußtsein rufen, nicht<br />
sein Verständnis von Klischee und Konvention anzuwen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn er sollte<br />
vielmehr versuchen, die altersspezifische Denk- und Fühlweise <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu<br />
berücksichtigen.<br />
Merkelbach macht am Schluß seiner Abhandlung einen Vorschlag für eine<br />
Reformierte Aufsatzbewertung, die auch für die personal-kreativen Schreibformen<br />
angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n könnte. 11<br />
Phase 1.<br />
Schüler schreiben einen Klassenaufsatz, gleichgültig, ob einen eher<br />
pragmatischen o<strong>de</strong>r personorientierten Text, einen, <strong>de</strong>r sich auf <strong>de</strong>n<br />
voraufgehen<strong>de</strong>n Unterricht bezieht o<strong>de</strong>r relativ losgelöst davon ist. Sie erhalten<br />
8<br />
Vgl. Schuster, K.: Das personal – kreative Schreiben im Deutschunterricht.<br />
Hohengehren: Schnei<strong>de</strong>r, 1995, S. 203.<br />
9<br />
Ebd., S. 210.<br />
10<br />
Ebd., S. 211.<br />
11<br />
Merkelbach, V.: Korrektur und Benotung im Aufsatzunterricht. Frankfurt am Main:<br />
Diesterweg, 1986, S. 143.<br />
283
nach Alter und Aufgabe unterschiedlich viel Zeit, einen ersten Textentwurf zu<br />
erstellen und diesen Entwurf einer ersten Kontrolle von Kohärenz und<br />
Normenentsprechung zu unterziehen, wobei es aus Zeitgrün<strong>de</strong>n schon im<br />
Einzelfall genügen kann, daß sich ein Schüler mit <strong>de</strong>m Bleistift Stellen markiert, die<br />
er überarbeiten möchte...<br />
Phase 2.<br />
Die Schüler erhalten an einem <strong>de</strong>r nächsten Tage ihre Entwürfe wie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m<br />
Auftrag, sie in zeitlicher Distanz unter inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten<br />
noch einmal durchzugehen und, wo nötig, zu überarbeiten...<br />
Phase 3.<br />
Der Lehrer korrigiert die Texte, in<strong>de</strong>m er mit möglichst geringem Zeitaufwand alle<br />
formalen Normverstöße markiert, Verständnisschwierigkeiten bzw. Unklarheiten<br />
am Ran<strong>de</strong> kennzeichnet und auf ihm ungenau erscheinen<strong>de</strong> Ausdrücke hinweist...<br />
Unter die vom Schüler überarbeiteten und vom Lehrer korrigierten Texte schreibt<br />
<strong>de</strong>r Lehrer eine Note, die er kurz begrün<strong>de</strong>t und zwar vor allem dort, wo sie<br />
schlecht ausfällt...<br />
Phase 4.<br />
Die Schüler erhalten die vom Lehrer korrigierten und benoteten Texte <strong>zur</strong>ück mit<br />
<strong>de</strong>m Auftrag, im Unterricht (nicht zu Hause) eine auch ästhetisch ansprechen<strong>de</strong><br />
Reinschrift herzustellen, bei <strong>de</strong>r die Markierungen <strong>de</strong>s Lehrers berücksichtigt<br />
wer<strong>de</strong>n sollen...<br />
Phase 5.<br />
Der Lehrer liest die Reinschriften und schreibt unter die Note und <strong>de</strong>n Kommentar<br />
<strong>de</strong>s überarbeiteten Entwurfs eine zweite Note für die Reinschrift, die er kurz<br />
begrün<strong>de</strong>t, wenn sie schlecht ausfällt. Wie <strong>de</strong>r Lehrer diese Note für die Reinschrift<br />
gewichtet, ob als "mündliche" nur o<strong>de</strong>r als ein Teil (ein Drittel etwa) einer<br />
Gesamtnote, – in ihr je<strong>de</strong>nfalls fin<strong>de</strong>n neben <strong>de</strong>n inhaltlichen Korrekturen auch die<br />
formal-ästhetischen Textaspekte (Schriftbild, Orthographie) ihre Berücksichtigung.<br />
Schlußfolgerungen<br />
Bei <strong>de</strong>n Schreiben<strong>de</strong>n konnte ich immer wie<strong>de</strong>r etwa folgen<strong>de</strong> Bewertung dieses<br />
neuartigen Verfahrens beobachten.<br />
Sehr geschätzt wur<strong>de</strong>:<br />
die Freiheit zu schreiben, wie, wo und worüber man möchte<br />
daß man die persönliche Gestimmtheit und Motivation mit einbringen durfte<br />
daß es keinen Zwang gab, Aufsatzformen für das "Leben" lernen zu müssen,<br />
son<strong>de</strong>rn, daß mit Spaß und Freu<strong>de</strong> normverletzend geschrieben wer<strong>de</strong>n durfte<br />
personal-kreatives Schreiben eröffnet in <strong>de</strong>r Regel Möglichkeiten einer völlig<br />
verän<strong>de</strong>rten Schreibweise, die vor allem <strong>de</strong>nen zugutekommt, <strong>de</strong>nen die<br />
Gestaltung eines Textes durch stilistische Elemente bisher schwer gefallen ist.<br />
Dadurch erfährt <strong>de</strong>r Einzelne, daß er Phantasie besitzt und diese beim Schreiben<br />
einsetzen kann; sein Selbstbewußtsein steigt<br />
284
die einzelnen Verfahren wer<strong>de</strong>n schrittweise gelernt<br />
im Umgang mit diesen Schreibformen sind <strong>de</strong>n Teilnehmern häufig <strong>de</strong>ren<br />
immanente Zwänge und Probleme bewußtgewor<strong>de</strong>n<br />
die "Freiheit" ist relativ. Gera<strong>de</strong> das Schreiben innerhalb einer Gruppe von<br />
Menschen bedarf <strong>de</strong>r Organisation, <strong>de</strong>r sich die Einzelpersonen zu einem<br />
gewissen Maß unterordnen muß. Auch das eigene Gewissen schränkt die Freiheit<br />
ein: man kann sich nicht ständig weigern zu schreiben<br />
wichtig ist, daß die Freiheit nicht unbedingt in <strong>de</strong>r Abwesenheit formaler Kriterien<br />
liegt, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Freiwilligkeit ihres Befolgens<br />
auch wenn keine Benotung erfolgt, kann <strong>de</strong>nnoch durch positive verbale und nonverbale<br />
Signale von Seiten <strong>de</strong>s Lehrers ein Schreibtrend etabliert wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m<br />
sich <strong>de</strong>r Schüler nur sehr schwer entziehen kann<br />
von Be<strong>de</strong>utung ist auch <strong>de</strong>r Umgang mit <strong>de</strong>n eigenen Schreibprodukten.<br />
Übertragen auf die Schule be<strong>de</strong>utet dies, daß die Wertschätzung <strong>de</strong>s Schreibens<br />
und <strong>de</strong>r Schreibprodukte zunehmen sollte<br />
wichtig ist es festzuhalten, daß mit personal-kreativen Schreibformen häufig<br />
gera<strong>de</strong> schwache Schüler Erfolgerlebnisse haben<br />
Der Aufsatzunterricht hat sich lange genug gegen Neuerungen behauptet, so daß<br />
es an <strong>de</strong>r Zeit zu sein scheint, eine "kopernikanische Wen<strong>de</strong>" endgültig<br />
einzuläuten.<br />
Literatur<br />
Amabile, T.: Creativitatea ca mod <strong>de</strong> viaŃă. Bucureşti: Ed. Ştiinta <strong>şi</strong> Tehnică,<br />
1997.<br />
Baurmann, J.: Schreiben: „Aufsätze beurteilen“. In: PRAXIS DEUTSCH, Heft 84,<br />
Juli 1987, S. 18.<br />
Bobsin, J.: „Textlupe: neue Sicht aufs Schreiben“. In: PRAXIS DEUTSCH, Heft<br />
137, Mai 1996, S. 45.<br />
Goleman, D.: Emotionale Intelligenz. München: dtv Verlag, 1997.<br />
Haas, G. / Menzel, W. / Spinner, K.: „Handlungs- und produktionsorientierter<br />
Literaturunterricht“. In: PRAXIS DEUTSCH, Heft 123, Januar 1994, S. 17.<br />
Haas, G.: „Phantasie und Phantastik“. In: PRAXIS DEUTSCH, Heft 54, Juli 1982,<br />
S. 15.<br />
Jensen, U.: „Handlungsorientierung – eine Spiegelung <strong>de</strong>r Reformpädagogik“. In:<br />
Deutschunterricht, Berlin 50, 1997, S. 256.<br />
Lange, G. (Hrsg.): Grundfragen und Praxis <strong>de</strong>r Sprach- und Literaturdidaktik.<br />
Hohehngehren: Schnei<strong>de</strong>r Verlag, 1990.<br />
Merkelbach, V.: Studienbuch: Aufsatzunterricht. München / Pa<strong>de</strong>born / Wien /<br />
Zürich: Ferdinand Schöningh Verlag, 1982.<br />
Montessori, M.: Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Freiburg: Her<strong>de</strong>r Verlag, 1996.<br />
Müller, D.: Phantasiereisen im Unterricht. Braunschweig: Westermann Verlag,<br />
1994.<br />
Schuster, K.: Das personal-kreative Schreiben im Deutschunterricht.<br />
Hohengehren: Schnei<strong>de</strong>r Verlag, 1995.<br />
Teml, H.: Zielbewußt üben – erfolgreich lernen: Lerntechniken und<br />
285
Entspannungsübungen. Linz: Veritas Verlag, 1989.<br />
Zopfi, C. / Zopfi, E.: Wörter mit Flügeln. Kreatives Schreiben. Bern: Zytglogge,<br />
1995.<br />
286
MONICA WIKETE<br />
TEMESWAR<br />
Projektunterricht im DaF. Learning by doing<br />
Wenn bis 1989 in Rumänien <strong>de</strong>r Fremdsprachenunterricht eher stiefmütterlich<br />
behan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong> und man die Wertlosigkeit <strong>de</strong>s Faches auch noch durch<br />
Lehrwerke betonte, <strong>de</strong>ren geheimes Ziel es schien, die Sprache eher<br />
unpraktizierbar zu machen, so kann man nun von einem regelrechten Boom <strong>de</strong>r<br />
Fremdsprachen auf <strong>de</strong>m „Lehrmarkt“ sprechen. Eine Vielzahl <strong>de</strong>r Schulen haben<br />
außer <strong>de</strong>m normalen Fremdsprachenunterricht noch Klassen mit intensivem<br />
Unterricht. Wenn man dabei noch die privaten Fremdsprachenschulen hinzuzählt,<br />
die es in fast allen großen Städten gibt und die zahlreichen Angebote an <strong>de</strong>r Uni, ja<br />
noch mehr <strong>de</strong>r Aufstieg <strong>de</strong>s Faches: Fremdsprache zum Prüfungsfach innerhalb<br />
<strong>de</strong>r Lizenziatsprüfung bei <strong>de</strong>n Naturwissenschaftlern, so hat man ein Bild von <strong>de</strong>r<br />
vom Markt geregelten „Fremdsprachenpolitik“, die man hierzulan<strong>de</strong> treibt.<br />
In <strong>de</strong>n Äußerungen <strong>zur</strong> Weltliteratur vergleicht Goethe die Eigenheiten einer Nation<br />
mit ihren Sprachen und Münzsorten und nennt als verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Element die Rolle,<br />
welche die Kenntnis dieser drei Leben eines je<strong>de</strong>n von uns spielen: „Sie erleichtern<br />
<strong>de</strong>n Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich.“ 1 Der Euro enthebt uns<br />
zwar eines gewissen Trubels und <strong>de</strong>r Hektik, die vielleicht unerläßlich sind bei <strong>de</strong>r<br />
Begegnung mit <strong>de</strong>m Frem<strong>de</strong>n, doch schließlich und endlich kommt <strong>de</strong>r Sprache<br />
die Rolle zu, Klarheit und Gewißheit zu schaffen, Ängste und Mißverständnisse<br />
abzubauen. Es ist wohl kaum möglich, daß einem die Währung das Gefühl <strong>de</strong>r so<br />
erstrebten europäischen Gemeinschaft gibt. Das Beherrschen einer Fremdsprache<br />
aber, durch die man in Verbindung gesetzt wird mit an<strong>de</strong>ren Kulturen,<br />
Anschauungen, Verhältnissen, durch die man sich <strong>de</strong>m Unbekannten öffnet, macht<br />
dieses Ziel möglich.<br />
Wenn Sprache also etwas Brauchbares ist, womit man etwas tun kann 2 , so sollte<br />
sie auch als solches im Unterricht behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n.<br />
Die seit <strong>de</strong>n 70er Jahren in Umlauf gekommene kommunikative Metho<strong>de</strong> stellt<br />
eben diese Erfor<strong>de</strong>rnisse an die Lehrer und Lernen<strong>de</strong>n: Ich lehre bzw. lerne eine<br />
Sprache nicht, um konjugieren o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>klinieren zu können, son<strong>de</strong>rn um mit Hilfe<br />
<strong>de</strong>r Konjugation und <strong>de</strong>r Deklination mit an<strong>de</strong>ren zu kommunizieren, mit ihnen in<br />
einen geistigen Austausch zu treten.<br />
Der Projektunterricht hat sich als ein Unterrichtsverfahren innerhalb <strong>de</strong>r<br />
1<br />
Johann Wolfgang Goethe, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, 1988, Band 12,<br />
S.353.<br />
2<br />
Siehe hierzu Hans-Jürgen Krumm, „Unterrichtsprojekte – praktisches Lernen im<br />
Deutschunterricht“. In: Fremdsprache Deutsch, 4/1991, S.4.<br />
287
kommunikativen Metho<strong>de</strong> entwickelt und ist eine handlungsorientierte Lernform 3 ,<br />
durch die man die Überwindung <strong>de</strong>r Trennung „gelernte Sprache“ – „gesprochene<br />
Sprache“ , Schule – Leben anstrebt.<br />
Weil <strong>de</strong>r Projektunterricht von <strong>de</strong>n echten Bedürfnissen <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n ausgeht, so<br />
löst er eines <strong>de</strong>r größten Probleme, mit <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>r Lehrer immer wie<strong>de</strong>r<br />
konfrontiert: die Motivation. Der Lernen<strong>de</strong> wird in die Lage versetzt, sich mit<br />
lebenspraktischen Situationen auseinan<strong>de</strong>rzusetzen und das verlangt ein hohes<br />
Maß an Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Projektarbeit ist vorwiegend<br />
Gruppenarbeit, somit fin<strong>de</strong>t ein soziales Lernen statt, <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong> lernt dabei,<br />
was Teamarbeit be<strong>de</strong>utet, aber auch was es heißt, selbständig und verantwortlich<br />
zu han<strong>de</strong>ln. Die Lerneffektivität dieses Unterrichtsverfahrens wird eben dadurch<br />
erreicht, daß man Sprechen, Denken und sonstiges Han<strong>de</strong>ln miteinan<strong>de</strong>r<br />
verbin<strong>de</strong>t 4 , so daß sich <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong> von seiner Rolle <strong>de</strong>s nur nach Fehlern<br />
gejagten „Opfers“ befreit fühlt und das Lernen als Unterstützung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns<br />
stattfin<strong>de</strong>t.<br />
Die Vorzüge dieser Unterrichtsform gegenüber <strong>de</strong>m herkömmlichen Unterricht<br />
haben heute dazu geführt, daß projektorientierte Unterrichtsformen im Westen zum<br />
festen Bestandteil pädagogischer Praxis an Schulen gehören.<br />
Auch in Rumänien kann man – wenn auch kleinere – Schritte in diese Richtung<br />
verzeichnen.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich eine Projektarbeit als Unterstützung <strong>de</strong>r Vorzüge dieser<br />
Unterrichtsform präsentieren, Projektarbeit welche die Lehrkräfte <strong>de</strong>r<br />
Deutschabteilung <strong>de</strong>s International-House Temeswar unter <strong>de</strong>r Leitung von Frau<br />
Monica-Maria Al<strong>de</strong>a zusammen mit <strong>de</strong>n Kursanten (KT) geleistet haben. 5<br />
Der Titel <strong>de</strong>s Projekts war Friedrich Schiller und hat als Ziel gehabt die<br />
Vorbereitung <strong>de</strong>r KT auf <strong>de</strong>n bevohrstehen<strong>de</strong>n gemeinsamen Theaterbesuch <strong>de</strong>s<br />
Stückes Kabale und Liebe, das vom Deutschen Staatstheater Temeswar im<br />
Januar 1997 aufgeführt wur<strong>de</strong>.<br />
M. Krejci unterschei<strong>de</strong>t mehrere Formen <strong>de</strong>s Projektunterrichts, je nach <strong>de</strong>m<br />
Gesichtspunkt, <strong>de</strong>n man erstrebt 6 .<br />
Hat man das Kriterium <strong>de</strong>r Sprechhandlungssituation vor Augen, dann kann man<br />
unser Projekt als Orientierungs- und Forschungsprojekt bezeichnen, da <strong>de</strong>r Sinn<br />
<strong>de</strong>s Unterrichts darin bestan<strong>de</strong>n hat, die KT mit Strategien zu versehen, damit sie<br />
sich auf einem ihnen frem<strong>de</strong>s Feld selbständig orientieren, in unserem Fall sich<br />
Informationen zu einem bestimmten Thema heraussuchen.<br />
Vom Echtheitsgrad <strong>de</strong>r Situation war das ein Ernstfallprojekt, wo man von einem<br />
3 Siehe hierzu Ingrid Dietrich, Übungen und Arbeitsformen im Projektunterricht. In: Bausch,<br />
Christ, Krumm (Hrsg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht, Tübingen: Francke, 1995,<br />
S. 255.<br />
4 Vgl. Michael Krejci, Projektunterricht. In: K. Stocker (Hrsg.), Taschenlexikon <strong>de</strong>r<br />
Literatur- und Fremdsprachendidaktik, Frankfurt a. M.: Scriptor, 1987, S.330.<br />
5 Die Lehrkräfte, die außer Frau Monica-Maria Al<strong>de</strong>a noch am Friedrich-Schiller-Projekt<br />
mitgemacht haben, sind: Monika Gross, Deutschlehrerin im International-House Temeswar<br />
und Monica Wikete. Als Gast wur<strong>de</strong> Frau Rodica Zehan eingela<strong>de</strong>n, Dozentin für DaF an<br />
<strong>de</strong>r Universität für landwirtschaftliche Betriebswissenschaften und Veterinärmedizin<br />
Temeswar.<br />
6 Vgl. Michael Krejci, S.329.<br />
288
je<strong>de</strong>n Ernst, Ausdauer, Neugier<strong>de</strong> erwartet hat.<br />
Geht man vom Grad <strong>de</strong>r Komplexität <strong>de</strong>s Vorhabens und <strong>de</strong>r<br />
Kooperationsnotwendigkeit aus, so zeichnete sich das Projekt als<br />
lernübergreifen<strong>de</strong>s Projekt aus. Es ging nicht nur um Konfrontierung mit „didaktisch<br />
konstruierten Lehrwerk-Texten“, die sicher eine an<strong>de</strong>re Herangehensweise<br />
erfor<strong>de</strong>rn 7 , son<strong>de</strong>rn auch um Erwerb von Kenntnissen aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r<br />
Literaturgeschichte, Musik, Bildhauerkunst.<br />
Hat man als Einteilungskriterium die Lokalisation <strong>de</strong>s Vorhabens, kann man das<br />
Friedrich- Schiller-Projekt zu <strong>de</strong>n schulischen-außerschulischen Projekten zählen.<br />
Die effektive Arbeit fand in <strong>de</strong>r Schule statt, doch dies galt nur als Vorstufe für die<br />
Konfrontierung mit <strong>de</strong>r Außenwelt.<br />
Wie alle didaktischen Unternehmungen, hat auch <strong>de</strong>r Projektunterricht<br />
verschie<strong>de</strong>ne Phasen, nach <strong>de</strong>nen er verläuft. Bei <strong>de</strong>m Friedrich-Schiller-Projekt<br />
konnten folgen<strong>de</strong> Phasen unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n 8 :<br />
a. Die Phase <strong>de</strong>r Zielentscheidung<br />
Dahinter stecken die Überlegungen <strong>de</strong>r Lehrkräfte, die als Ziel etwas sehen, „was<br />
auch außerhalb <strong>de</strong>s Unterrichts brauchbar ist.“ 9<br />
Der Vorschlag, mit <strong>de</strong>n KT mal einen gemeinsamen Theaterbesuch zu planen,<br />
zumal es hier noch ein <strong>de</strong>utsches Theater gibt und ein gemeinsamer<br />
Deutschlandbesuch nur schwer realisierbar ist, kommt eben aus <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />
daß damit ein wichtiger Schritt <strong>zur</strong> Motivation <strong>de</strong>s Erlernens <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Sprache erreicht wird. Wer keine Auswan<strong>de</strong>rungswünsche hegt o<strong>de</strong>r wer nicht<br />
beruflich mit Deutschland in Verbindung ist, kann leicht von einem<br />
Nutzlosigkeitsgefühl <strong>de</strong>s Beherrschens <strong>de</strong>s Deutschen ergriffen wer<strong>de</strong>n. Dem<br />
Lehrer kommt dabei die Rolle zu, die Schritte seines Zöglings zu lenken und ihm<br />
Möglichkeiten zum Gebrauch <strong>de</strong>r Sprache außerhalb <strong>de</strong>r Schule zu schaffen, ihn<br />
somit mit einem bewußten Motivationsgefühl auszustatten. Der Theaterbesuch in<br />
<strong>de</strong>m hiesigen Lebensraum bietet eine solche Möglichkeit. Sicher ist das kein<br />
leichtes Vorhaben, vor allem wenn die KT noch nicht einmal das Zertifikat Deutsch<br />
als Fremdsprache besitzen, die Vorentlastung sich daher als beson<strong>de</strong>rs<br />
erfor<strong>de</strong>rlich erweisen.<br />
Wenn aber <strong>de</strong>r Schwierigkeitsgrad einer Übung nie von <strong>de</strong>r Übung als solche<br />
bestimmt wird son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r Aufgabenstellung, so kann man auch ein<br />
schwieriges Vorhaben erleichtern. Der Gedanke einer Projektarbeit, <strong>de</strong>r sich aus<br />
<strong>de</strong>m Wunsch eines Theaterbesuchs entwickelt hat, soll eben <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n mit<br />
bestimmten Strategien ausstatten, die ihm dann in <strong>de</strong>r konkreten Situation<br />
behilflich sein sollen.<br />
b. Die Phase <strong>de</strong>r Planung<br />
Diese Phase setzt beim Lehrer viel Arbeit voraus, weil man sich konkret mit <strong>de</strong>r<br />
Gestaltung <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> beschäftigen muß, <strong>de</strong>m KT das Material vorbereitet, damit<br />
dieser dann selbständig in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> arbeiten kann. Um Zeit zu sparen, damit die<br />
7 Siehe hierzu Ingrid Dietrich, S.256.<br />
8 Vgl. Michael Krejci, S.329.<br />
9 Hans-Jürgen Krumm, S.5.<br />
289
Recherche nicht zu lange dauert, haben die Lehrer die Vorarbeit geleistet. Wir<br />
haben ein Lektürepensum festgelegt, weil wir von <strong>de</strong>r Unfähigkeit <strong>de</strong>r KT, in einer<br />
Literaturgeschichte nachzuschlagen, ausgegangen sind. Sicher wur<strong>de</strong>n nicht die<br />
Stellen markiert, die ihm <strong>zur</strong> Beantwortung <strong>de</strong>r Fragen behilflich waren, aber es<br />
wur<strong>de</strong>n gezielt Seiten kopiert, welche die gesuchten Informationen enthalten<br />
haben.<br />
Für das Friedrich-Schiller-Projekt wur<strong>de</strong>n fünf Arbeitsvorlagen vorbereitet, die<br />
aufgrund <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n KT in <strong>de</strong>r Vorbereitungsphase festgelegten Fragen<br />
angefertigt wur<strong>de</strong>n. Hier ist die Tatsache zu erwähnen, daß auch für <strong>de</strong>n KT <strong>de</strong>r<br />
Projektunterricht nicht mit <strong>de</strong>r konkreten Durchführung beginnt, son<strong>de</strong>rn als<br />
Vorstufe gilt die gemeinsame Überlegung zu erwünschten Informationen. Die<br />
Beteiligung an <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>s Unterrichts, <strong>de</strong>r somit auf ihre Erfor<strong>de</strong>rnisse<br />
beruht, führt dann zu einer Steigerung <strong>de</strong>r Motivation und einer effektiven<br />
Implizierung in die Projektarbeit.<br />
Der Lehrer übernimmt nur die Fragen, die sich ergeben haben und baut dann<br />
Strategien auf, damit <strong>de</strong>r KT auf solche Fragen Antworten bekommt, Strategien,<br />
die ihn aber selbst <strong>zur</strong> Handlung auffor<strong>de</strong>rn und zu einem learning by doing führen.<br />
Die Arbeitsvorlage 1 stellt einen tabellarischen Lebenslauf von Schiller ohne<br />
Angaben dar, <strong>de</strong>r dann von <strong>de</strong>n KT ausgefüllt wer<strong>de</strong>n soll.<br />
Arbeitsvorlage 2 beinhaltet die Herstellung einer Karte für die optische<br />
Visualisierung <strong>de</strong>s Lebenslaufs.<br />
Die dichterische Tätigkeit ist das Thema <strong>de</strong>r Arbeitsvorlage 3, wobei die Lernen<strong>de</strong>n<br />
die an sie gestellten Fragen zu beantworten haben.<br />
Ein interdisziplinäres Vorhaben ist Ziel <strong>de</strong>r Arbeitsvorlage 4: Berühmte Freun<strong>de</strong><br />
und Komponisten, <strong>de</strong>ren Namen und Lebensdaten auf <strong>de</strong>m Arbeitsblatt gegeben<br />
wer<strong>de</strong>n. Die KT bekommen dabei noch das Gedicht An die Freu<strong>de</strong> in <strong>de</strong>utscher<br />
Fassung und anschließend die rumänische Übersetzung. Eine Kassette mit<br />
Beethovens Vertonung wird auch vorbereitet.<br />
Die letzte Vorlage trägt <strong>de</strong>n Titel: Kabale und Liebe und besteht aus einigen<br />
Fragen <strong>zur</strong> Entstehung <strong>de</strong>s Stückes. Kopiert wird dabei die Kammerdienerszene in<br />
<strong>de</strong>utscher Fassung mit <strong>de</strong>r rumänischen Übersetzung und die Zusammenfassung<br />
<strong>de</strong>r Oper in 3 Akten Luise Millerin von G. Verdi.<br />
Um auf die gestellten Aufgabestellungen antworten zu können, wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n KT<br />
bestimmte Auszüge aus Literaturgeschichten verabreicht, aus <strong>de</strong>nen sie dann die<br />
verlangten Informationen entnehmen konnten. Bil<strong>de</strong>r, Aufnahmen von Schiller und<br />
alles, was mit ihm in Zusammenhang ist, eine verkleinerte Deutschlandkarte<br />
wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n KT <strong>zur</strong> Verfügung gestellt, damit man sie je nach Wunsch verwerten<br />
kann. Kartons, Klebstoff, Schere, Markers, Farbstifte wer<strong>de</strong>n zum gleichen Zweck<br />
ausgehändigt.<br />
c. Die Phase <strong>de</strong>r Durchführung, also die konkrete Aufgabe, bei <strong>de</strong>r sich<br />
sprachliche Aktivitäten und praktisches Tun ergänzen. Nun heißt es, die<br />
Lernen<strong>de</strong>n arbeiten zu lassen, wobei sich die Rolle <strong>de</strong>s Lehrers nur noch auf<br />
bestimmte Hinweise beschränkt.<br />
Für diese Projektarbeit wur<strong>de</strong>n 4 Unterrichtseinheiten (1 UE = 1h) eingeräumt,<br />
wobei die Teilnehmer darauf vorbereitet waren. Vom Niveau ihrer<br />
Deutschkenntnisse her, hatte die eine Gruppe schon das Zertifikat Deutsch als<br />
290
Fremdsprache, während die an<strong>de</strong>re die Stufe 8 (von 12) bil<strong>de</strong>te.<br />
Absolute Anfänger wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Projektarbeit ausgeschlossen, damit die ganze<br />
Tätigkeit nicht auf sie <strong>de</strong>motivierend wirkt. Die Heterogenität einer so entstan<strong>de</strong>nen<br />
Arbeitsgruppe kann <strong>de</strong>m Lehrer die Möglichkeit geben, differenzierend vorzugehen<br />
und z.B. <strong>de</strong>r sprachlich wenig fortgeschrittenen Gruppe Aufträge zu erteilen, die<br />
nicht zu weite Sprachkenntnisse verlangen.<br />
Gemäß <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n KT gestellten Fragen und ihrer vom Lehrer nach Themen<br />
durchgenommenen Gruppierung wur<strong>de</strong>n die Teilnehmer in 5 Gruppen eingeteilt,<br />
die sich nun mit je einem Auftrag zu beschäftigen hatten.<br />
Die 1. Gruppe sollte <strong>de</strong>n tabellarischen Lebenslauf nach <strong>de</strong>n ihnen <strong>zur</strong> Verfügung<br />
gestellten Unterlagen aufstellen, die 2. Gruppe hatte auf <strong>de</strong>r Deutschlandkarte <strong>de</strong>n<br />
Lebensweg Schillers zu markieren, wobei es ihnen überlassen war, sich für eine<br />
Form zu entschei<strong>de</strong>n.<br />
Die Gruppe, die sich mit <strong>de</strong>r dichterischen Tätigkeit zu beschäftigen hatte, mußte<br />
mehr recherchieren, <strong>de</strong>r Lehrer mußte hier angesprochen wer<strong>de</strong>n, damit die KT<br />
noch zusätzliche Erklärungen und Informationen, z.B. über <strong>de</strong>n Sturm und Drang,<br />
erhalten.<br />
Weil bei <strong>de</strong>r 4. Gruppe das Hörverstehen eine große Rolle spielte, so mußten sie<br />
sich in einem an<strong>de</strong>ren Raum aufhalten. Ihre Aufgabe war, das Gedicht An die<br />
Freu<strong>de</strong> zu lesen (<strong>zur</strong> Kontrolle war in <strong>de</strong>r letzten Phase die rumänische Variante<br />
vorhan<strong>de</strong>n) und dann puzzleartig die Textfolge in <strong>de</strong>r Symphonie zu verfolgen und<br />
diese Strophenfolgen auf Papier festzuhalten.<br />
Die letzte Gruppe hat sich mehr mit <strong>de</strong>m Theaterstück beschäftigt, mit seiner<br />
Entstehungsgeschichte, und hat als Muster einen Auszug zu lesen bekommen.<br />
Von <strong>de</strong>n vier <strong>de</strong>n Teilnehmern <strong>zur</strong> Verfügung gestellten Unterrichtseinheiten sollte<br />
in <strong>de</strong>r ersten das Bearbeiten <strong>de</strong>s Materials stattfin<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r zweiten die<br />
Verfassung, dann sollte nach einer Pause in <strong>de</strong>r dritten Unterrichtseinheit eine je<strong>de</strong><br />
Gruppe sein Endprodukt im Plenum vorstellen. Die letzte Stun<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m<br />
bevorstehen<strong>de</strong>n Theaterbesuch gewidmet, in<strong>de</strong>m man die Kursteilnehmer mit <strong>de</strong>m<br />
Inhalt und <strong>de</strong>n Personen <strong>de</strong>s Stückes bekanntgemacht hat.<br />
Die Endprodukte aller Gruppen wur<strong>de</strong>n anschließend ausgehängt und von allen<br />
besichtigt, was als Folge das Wachsen <strong>de</strong>s Selbstbewußtseins <strong>de</strong>r Kursteilnehmer<br />
hatte, da ein je<strong>de</strong>r sehen und fassen konnte, wie das Frem<strong>de</strong> zum Eigenen wur<strong>de</strong>.<br />
d. Phase <strong>de</strong>r Reflexion<br />
Ziel dieser Phase ist für <strong>de</strong>n Lehrer und <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n Schlüsse zu ziehen über<br />
die gera<strong>de</strong> abgelaufene Unterrichtsform. Sie sollte gleich in Anschluß an die<br />
Stun<strong>de</strong> stattfin<strong>de</strong>n, wenn alles noch frisch ist. Sie soll <strong>zur</strong> Bewußtmachung dieser<br />
auf Handlung beruhen<strong>de</strong>n Lehrform führen.<br />
Die Deutschstun<strong>de</strong> nun mal an<strong>de</strong>rs zu erleben, hat sich als vorteilhaft erwiesen,<br />
überhaupt da die Möglichkeit bestand, sich vom Lehrbuch zu distanzieren und sich<br />
mit authentischen Texten und Original-Dokumenten in einer reellen Situation <strong>de</strong>s<br />
bevorstehen<strong>de</strong>n Theaterbesuchs zu konfrontieren.<br />
Beim Lernen durch Han<strong>de</strong>ln, wobei <strong>de</strong>r Lehrer in <strong>de</strong>n Hintergrund tritt, können<br />
auch negative Aspekte verzeichnet wer<strong>de</strong>n, die zu berücksichtigen sind: es kann<br />
leicht möglich sein, daß etwas bei <strong>de</strong>n KT nicht ankommt o<strong>de</strong>r daß sich diese<br />
langweilen, dann heißt es, die Tätigkeit zu unterbrechen und z.B zum Lehrbuch zu<br />
291
greifen.<br />
Die Fertigkeiten aber und das Selbstbewußtsein, welche die KT dabei erlangen,<br />
wiegen viel zu stark im Vergleich zu <strong>de</strong>n weniger geglückten Phasen. Die<br />
Erziehung <strong>zur</strong> Selbständigkeit und eigener Verantwortung, <strong>de</strong>r Gewinn konkreter,<br />
praktischer Erfahrung sind Ziele, die vielleicht nur durch diese projektorientierte<br />
Unterrichtsform so vollständig erreicht wer<strong>de</strong>n. Zwar heißt es bei J. Fischer: „Auch<br />
sollte man als Lehrer nicht allzu große Erwartungen haben, was die Ergebnisse<br />
betrifft“ 10 , aber m.E. können die Ergebnisse bei diesem Verfahren nicht quantifiziert<br />
wer<strong>de</strong>n, weil eben das Individuum als Ganzes angesprochen wird. Ich gehe mit<br />
<strong>de</strong>n KT nicht mehr wie mit einem kleinen Kind um, das jetzt zu sprechen lernt und<br />
sich nur in Alltagssituationen <strong>zur</strong>echtfin<strong>de</strong>n kann, son<strong>de</strong>rn ich stelle an sie hohe<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen, <strong>de</strong>nen sie als <strong>de</strong>nken<strong>de</strong> und nach<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Wesen<br />
nachzukommen versuchen und diese Vorgehensweise beim Lehrer auch zu<br />
schätzen wissen.<br />
Was J. Fischer noch als Problem empfin<strong>de</strong>t, für die er vorläufig keine Lösung<br />
gefun<strong>de</strong>n hat, ist die Tatsache, daß die KT untereinan<strong>de</strong>r rumänisch sprechen.<br />
M.E. sollte das nicht als Problem angesehen wer<strong>de</strong>n, da für mich als Lehrer das<br />
Endprodukt wichtig ist, das ja in <strong>de</strong>utscher Sprache verfaßt wird.<br />
Wür<strong>de</strong> ich mit <strong>de</strong>n Ansprüchen kommen, <strong>de</strong>n KT <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>r Muttersprache<br />
zu untersagen (in diesem Fall Rumänisch), wür<strong>de</strong>n die Ziele, die sich diese<br />
Unterrichtsform setzt, ganz bestimmt nicht in <strong>de</strong>m Maße erreicht, wie dann, wenn<br />
es mich nicht kümmert, welche Sprache die KT bei <strong>de</strong>r Arbeit gebrauchen. Ich<br />
weiche so <strong>de</strong>r Hemmung aus, die in <strong>de</strong>m genannten Fall beim KT eintreten wür<strong>de</strong><br />
und erreiche dadurch viel mehr, u.zw. daß sich <strong>de</strong>r Lerner in einer entspannten<br />
Atmosphäre mit seiner ganzen Persönlichkeit einsetzt, das erwünschte Produkt<br />
zustan<strong>de</strong>zubringen. Beim Verlassen <strong>de</strong>s Klassenzimmers hat <strong>de</strong>r Schüler in einer<br />
lockeren Atmosphäre etwas in <strong>de</strong>utscher Sprache, durch die <strong>de</strong>utsche Sprache<br />
und über diese hinaus erfahren 11 . Und dies ist ja das Ziel meines Unterrichts.<br />
10 Jürgen Fischer, Schülerorientierte Projektarbeit im Deutschunterricht <strong>de</strong>r Klassen 9 bis<br />
12. In: R.oxana Nubert (Hrsg.), Temeswarer Beiträge <strong>zur</strong> Germanistik, Bd. I, Temeswar:<br />
Mirton, 1997, S. 235.<br />
11 Monica-Maria Al<strong>de</strong>a, Lan<strong>de</strong>skundlicher Projektunterricht. In: Roxana Nubert (Hrsg.),<br />
Fortbildungsseminar „Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>“. 7.-9. 1995 Bukarest. Dokumentation <strong>de</strong>r<br />
Tagungs<strong>beiträge</strong>, Temeswar, 1995, S.151.<br />
292
International-House<br />
ARBEITSVORLAGE 1<br />
Lebenslauf<br />
Name:<br />
Vorname:<br />
Geburtsdatum:<br />
Geburtsort:<br />
Eltern Vater:<br />
Von Beruf:<br />
Mutter:<br />
Schulbesuch:<br />
erlernte Fremdsprachen:<br />
erlernter Beruf:<br />
Ehestand:<br />
Kin<strong>de</strong>r:<br />
ausgeübte(r) Beruf(e):<br />
wichtige Ereignisse in seinem Leben:<br />
gestorben am:<br />
in:<br />
an:<br />
begraben:<br />
literarisches Schaffen:<br />
293
International-House<br />
ARBEITSVORLAGE 3<br />
Dichterische Tätigkeit<br />
Was hat Friedrich Schiller geschrieben?<br />
Theaterstücke (geschrieben im Jahr, Erstaufführung, Erfolg/an<strong>de</strong>re<br />
Konsequenzen)<br />
Was ist Sturm und Drang?<br />
Hat Schiller an seiner dichterischen Tätigkeit gut verdient?<br />
Gibt es Schiller Denkmäler?<br />
294
International-House<br />
ARBEITSVORLAGE 4<br />
Berühmte Freun<strong>de</strong> und Komponisten<br />
Goethe, Johann Wolfgang von<br />
(1749, Frankfurt/Main – 1832, Weimar)<br />
Beethoven, Ludwig van<br />
(1770, Bonn – 1827, Wien)<br />
Erstaufführung <strong>de</strong>r IX. Symphonie: am 7. Mai 1824<br />
Brahms, Johannes<br />
(1833, Hamburg – 1897, Wien)<br />
Verdi, Giuseppe<br />
(1813, Roncole – 1901, Milano)<br />
Liszt, Franz<br />
(1811, Raiding – 1886, Bayreuth)<br />
295
International-House<br />
ARBEITSVORLAGE 5<br />
Titel (1. und 2. Fassung)<br />
Wer war Iffland?<br />
Wann und wo geschrieben?<br />
Historische Hintergrün<strong>de</strong><br />
Erstaufführung (Erfolg)?<br />
Interesse heute<br />
Kabale und Liebe<br />
296
ANDREA RITA SEVEREANU<br />
TEMESWAR<br />
Schwerpunkte im Unterricht von Fachsprachen:<br />
Wirtschafts<strong>de</strong>utsch und Fachsprache Jura – ein Vergleich<br />
Um einen kurzen Vergleich <strong>de</strong>r Fachsprache Wirtschaft und <strong>de</strong>r Fachsprache Jura<br />
im Deutsch als Fremdsprache Unterricht überhaupt vornehmen zu können, muß<br />
man von <strong>de</strong>n Definitionsversuchen <strong>de</strong>s Begriffes Fachsprache ausgehen und<br />
einige <strong>de</strong>r kennzeichnen<strong>de</strong>n Merkmale <strong>de</strong>r Fachsprachen hervorheben.<br />
Fachsprache ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich<br />
begrenzbaren Kommunikationsbereich verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Fachsprache wird von<br />
fachlich kompetenten Sprechern und Schreibern gebraucht, um sich mit an<strong>de</strong>ren<br />
(auch angehen<strong>de</strong>n) Fachleuten o<strong>de</strong>r mit Laien über bestimmte fachliche<br />
Sachverhalte zu verständigen. Sie umfaßt die Gesamtheit <strong>de</strong>r dabei verwen<strong>de</strong>ten<br />
Mittel und weist lexikalische, morphologische und syntaktische Charakteristika auf.<br />
Echte Fachsprachen sind immer an <strong>de</strong>n Fachmann und an das Fachgebiet<br />
gebun<strong>de</strong>n, weil sie Klarheit über Begriffe und Aussagen verlangen.<br />
Fachsprachen sind durch geglie<strong>de</strong>rte terminologische Systeme gekennzeichnet.<br />
Da wissenschaftliche Disziplinen durch eine mehr o<strong>de</strong>r weniger starke<br />
Interdisziplinarität gekennzeichnet sind, kommt es auch in <strong>de</strong>n Fachsprachen <strong>zur</strong><br />
Übernahme von Gedankengut, Forschungsmetho<strong>de</strong>n, Forschungsergebnissen und<br />
Denkstrukturen.<br />
Fachsprachen sind außer<strong>de</strong>m durch bestimmte Stilmerkmale: Präzision,<br />
Ein<strong>de</strong>utigkeit, Allgemeingültigkeit, Differenziertheit, Ökonomie, Dichte, expressive<br />
Neutralität gekennzeichnet.<br />
Um dies zu ver<strong>de</strong>utlichen, wer<strong>de</strong>n zwei Definitonen aus <strong>de</strong>m angelsächsischen<br />
Sprachgebiet angeführt:<br />
Being a scientist or a technologist entails learning a number of habits of thought.<br />
These habits of thought directly affect his use of language and the scientist can<br />
only function as a scientist if he learns how to use language appropriate to these<br />
habits of thoughts. (Stevens, 1973)<br />
[…] the scientific discourse is a universal mo<strong>de</strong> of communication, or universal<br />
rhetoric, which is realised by scientific text in different languages by the process of<br />
textualisation. The discourse conventions which are used to communicate with<br />
common culture are in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nt of the particular linguistic means which are used<br />
to realise them. (Widdowson, 1979)<br />
Wirtschaftssprache, Wirtschafts<strong>de</strong>utsch o<strong>de</strong>r Fachsprache Wirtschaft – das ist die<br />
Gesamtheit aller Fachsprachen, das heißt, aller sprachlichen Mittel, die in einem<br />
begrenzten Kommunikationsbereich, nämlich in <strong>de</strong>r Wirtschaft, verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n,<br />
um die Verständigung <strong>de</strong>r in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten.<br />
297
In Anlehnung an diese Definition kann man behaupten, daß Fachsprache Jura die<br />
Gesamtheit aller sprachlichen Mittel sei, die in <strong>de</strong>m Kommunikationsbereich<br />
Rechtswissenschaft verwen<strong>de</strong>t wird, um die Verständigung <strong>de</strong>r auf diesem Gebiet<br />
tätigen Menschen zu gewährleisten.<br />
Es gibt einen grundlegen<strong>de</strong>n Unterschied zwischen Wirtschafts<strong>de</strong>utsch und<br />
Fachsprache Jura, Unterschied, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r angeführten Definition hervorgeht. Es<br />
han<strong>de</strong>lt sich um <strong>de</strong>n Unterschied, <strong>de</strong>r sich auf die Zielgruppe bezieht.<br />
Fachsprache Wirtschaft interessiert Fachleute im Bereich Wirtschaft, Personen die<br />
unternehmerische Tätigkeiten ausüben, Studieren<strong>de</strong> an<br />
wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulen und Universitäten. Fachsprache Jura<br />
dagegen interessiert insbeson<strong>de</strong>re Juristen, Wissenschaftler und Praktiker <strong>de</strong>r<br />
Rechtswissenschaften, Jurastu<strong>de</strong>nten und Professoren.<br />
Eine beson<strong>de</strong>rs wichtige Rolle spielt im Unterricht von Fachsprachen die Auswahl<br />
<strong>de</strong>r Textsorten, die spezifisch für <strong>de</strong>n einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Bereich sind.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Wirtschaftssprache ist eine Textsortenvielfalt anzutreffen, zum<br />
Beispiel:<br />
Kommunikation von Betrieb zu Betrieb:<br />
Brief, Telex, Telefongespräch, Rechnungen, Lieferscheine, Formulare,<br />
Zolldokumente, Verhandlungen, Verkaufsgespräche, Werbetexte,<br />
Verträge<br />
Kommunikation im Betrieb:<br />
Bericht, Analyse, Statistik, Rundschreiben, Konferenzen, Sitzungen,<br />
Protokolle, Produktions- und Finanzierungspläne, Kostenrechnungen,<br />
Bilanzen, Jahresabschlüsse<br />
Spezifisch für die Fachsprache Jura sind folgen<strong>de</strong> Textsorten:<br />
Verkündungsblätter, Weisungsblätter, Vorschriftensammlungen,<br />
Kommentare, Entscheidungssammlungen, Repetitorien, Gesetzestexte.<br />
Nur die textsortenorientierte Arbeit macht <strong>de</strong>n Umgang mit juristischer Fachliteratur<br />
sinnvoll und möglich. Durch die Arbeit an juristisch relevanten Texten lernt <strong>de</strong>r<br />
Benutzer auch die fachspezifischen Beson<strong>de</strong>rheiten kennen und für das<br />
Verständnis weiterer Texte nutzen.<br />
Gemeinsame Textsorten sowohl für <strong>de</strong>n Unterricht von Wirtschaftssprache als<br />
auch für <strong>de</strong>n Unterricht von Fachsprache Jura sind:<br />
Fachzeitschriften, Fachwörterbücher, Lehr- und Fachbücher, Bibliographien.<br />
Es ist unmöglich, Fachsprachen in einer Fremdsprache zu unterrichten ohne auf<br />
interkulturelle und lan<strong>de</strong>skundliche Aspekte in <strong>de</strong>r Zielsprache einzugehen. Im<br />
Unterricht Wirtschafts<strong>de</strong>utsch ist es sehr wichtig Informationen über das <strong>de</strong>utsche<br />
Wirtschaftssystem zu vermitteln. Genau so wichtig ist es, im Unterricht <strong>de</strong>r<br />
Fachsprache Jura, das Rechtssystem und das politische System <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland zu präsentieren. Dabei kann und soll man immer von<br />
einem Vergleich <strong>de</strong>s Wirtschafts- bzw. Rechtssystems <strong>de</strong>r Heimat mit <strong>de</strong>m<br />
Wirtschafts- bzw. Rechtsystem <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland ausgehen.<br />
Unterschie<strong>de</strong> sind nicht nur im Bereich <strong>de</strong>r Zielgruppe und <strong>de</strong>r Textsorten<br />
anzutreffen son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Thematik <strong>de</strong>s Unterrichts <strong>de</strong>r jeweiligen<br />
Fachsprache. Während man im Unterricht Wirtschafts<strong>de</strong>utsch vor allem<br />
wirtschaftsorientierte Themen behan<strong>de</strong>lt wie z.B.: Werbung, Messen, Börse,<br />
Telekommunikation, Finanz- und Bankwesen, Marketing, Import-Export, Han<strong>de</strong>l,<br />
298
Datenverarbeitung, Transport und Verkehr, Tourismus, Landwirtschaft, Industrie<br />
usw., wer<strong>de</strong>n im Unterricht <strong>de</strong>r Fachsprache Jura insbeson<strong>de</strong>re juristisch relevante<br />
Themen angeschnitten z.B.: Grundrechte, Verfassungsgrundsätze, Staatsorgane,<br />
Gewaltenteilung, Gesetzgebung, Die Europäische Gemeinschaft und ihre Organe,<br />
Gerichte und Gerichtsverfahren, Strafrecht, Auslegung <strong>de</strong>s Gesetzes, das BGB –<br />
Zivilrecht, Verwaltungsaufbau usw.<br />
Eine Metho<strong>de</strong>, die man sowohl im Unterricht Wirtschafts<strong>de</strong>utsch als auch im<br />
Unterricht <strong>de</strong>r Fachsprache Jura anwen<strong>de</strong>n kann, sind Fallbeispiele. Allerdings<br />
sind diese inhaltlich verschie<strong>de</strong>n. So kann man im Unterricht Wirtschafts<strong>de</strong>utsch<br />
Unternehmenspräsentationen machen, Informationen <strong>zur</strong> Organisierung einer<br />
Messe zusammentragen o<strong>de</strong>r, wie es das Lehrbuch Marktchance von Jürgen<br />
Bolten vorschlägt, ein Planspiel durchführen.<br />
Im Unterricht <strong>de</strong>r Fachsprache Jura hingegen, kann man ganz konkret Fälle<br />
analysieren. Interessant wird es dann, wenn die Stu<strong>de</strong>nten das Fach bereits in <strong>de</strong>r<br />
Muttersprache studiert haben.<br />
Es wird ein Beispiel <strong>zur</strong> Materie <strong>de</strong>s Verfassungsrechtes angeführt. Die Aufgabe<br />
besteht darin, die Verfassungsmässigkeit eines Gesetzes zu prüfen. Die<br />
Zuständigkeit in einem solchen Fall hat das Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht. Die<br />
Stu<strong>de</strong>nten müssen sich also vorstellen als Richter am Bun<strong>de</strong>sverfassungsgericht<br />
tätig zu sein. Das macht die Aufgabe für angehen<strong>de</strong> Juristen um so spannen<strong>de</strong>r,<br />
um so interessanter.<br />
Das Gesetz, das analysiert wer<strong>de</strong>n soll, lautet: Der Bun<strong>de</strong>stag beschließt mit 57%<br />
<strong>de</strong>r Stimmmen <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>s Gesetz. Deutschland nimmt keine politisch<br />
Verfolgten auf. Dieses Gesetz tritt ab <strong>de</strong>m 01.01.2000 in Kraft.<br />
Das Prüfungsverfahren besteht aus 4 wichtigen Schritten o<strong>de</strong>r Etappen:<br />
Schritt 1. – Die Frage<br />
Man muß sich zuerst darüber im klaren sein, worum es eigentlich geht. In diesem<br />
Fall geht es um die Frage, ob dieses Gesetz mit <strong>de</strong>m Grundgesetz vereinbar ist<br />
o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Schritt 2.- Die Norm<br />
Das nächste Problem ist, die in diesem Fall anwendbare Norm zu fin<strong>de</strong>n. Wo wird<br />
gesucht? Geht es um eine formelle o<strong>de</strong>r eine materielle (inhaltliche) Rechtsfrage.<br />
Die Stu<strong>de</strong>nten müssen im Grundgesetz die anwendbare Norm fin<strong>de</strong>n, es han<strong>de</strong>lt<br />
sich dabei um eine formelle Rechtsfrage. Die anwendbare Norm ist Art.79<br />
Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Grundgesetzes.<br />
Schritt 3. – Die Prüfung<br />
Nun da die anwendbare Norm gefun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n ist, wird <strong>de</strong>r Artikel mit grosser<br />
Aufmerksamkeit gelesen. Nach <strong>de</strong>r gründlichen Lektüre und Auslegung <strong>de</strong>s in<br />
Frage kommen<strong>de</strong>n Artikels gelangt man <strong>zur</strong> Schlussfolgerung: um <strong>de</strong>n Wortlaut<br />
<strong>de</strong>s Grundgesetzes ausdrücklich zu än<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r zu ergänzen, benötigt man 2/3<br />
<strong>de</strong>r Stimmen <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>stages und 2/3 <strong>de</strong>r Stimmen <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r<br />
im Bun<strong>de</strong>srat. Der Bun<strong>de</strong>stag kann also ohne Zustimmung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>srates keine<br />
Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Grundgesetzes beschließen. Damit wäre <strong>de</strong>r Fall eigentlich gelöst,<br />
aber man kann auch weiter gehen. Der Bun<strong>de</strong>stag hat 669 Mitglie<strong>de</strong>r. Die 2/3<br />
Mehrheit davon wären 66,66% <strong>de</strong>r Stimmen und nicht einmal dies ist in <strong>de</strong>m Fall<br />
erfüllt.<br />
299
Schritt 4. – Das Ergebnis<br />
57% <strong>de</strong>r Stimmen im Bun<strong>de</strong>stag reichen nicht aus, außer<strong>de</strong>m fehlt die<br />
Zustimmung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>srates. Daraus folgt, daß die Bedingungen <strong>de</strong>s Art. 79 II<br />
Grundgesetz nicht erfüllt sind. Das Gesetz ist mit <strong>de</strong>m Grundgesetz nicht<br />
vereinbar.<br />
Eine an<strong>de</strong>re Metho<strong>de</strong>, im Fachsprachenunterricht gute Ergebnisse zu erzielen, ist,<br />
die Stu<strong>de</strong>nten zu Diskussionen an<strong>zur</strong>egen. Geeignete Fragen für Stu<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r<br />
Rechtswissenschaften sind:<br />
Womit beschäftigt sich ein Jurist?<br />
Warum haben Sie sich für das Studium <strong>de</strong>r Rechtswissenschaften entschie<strong>de</strong>n?<br />
Welche persönlichen Voraussetzungen sollte jemand mitbringen, um das<br />
Jurastudium erfolgreich absolvieren zu können?<br />
Welche Berufsfel<strong>de</strong>r für Juristen kennen Sie?<br />
Das Thema Berufsfel<strong>de</strong>r für Juristen kann man auch mit Stu<strong>de</strong>nten im ersten<br />
Semester gut behan<strong>de</strong>ln. Dabei sind keine juristischen Vorkenntnisse nötig. Die<br />
meisten haben schon eine Vorstellung darüber, als was ein Jurist arbeiten kann<br />
und welches seine Aufgaben sind. Das in <strong>de</strong>r Fremdsprache zu erarbeiten macht<br />
<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten sehr viel Spaß und es kann <strong>de</strong>r erste Kontakt sein mit <strong>de</strong>r doch<br />
schwierigen Materie <strong>de</strong>s "Juristen<strong>de</strong>utsch".<br />
Berufsfel<strong>de</strong>r für Juristen:<br />
Der Richter:<br />
er entschei<strong>de</strong>t, alleine o<strong>de</strong>r im Sprechkörper<br />
er ist kein Beamter<br />
er ist unabhängig<br />
er muß nach <strong>de</strong>m Studium, nach <strong>de</strong>m Staatsexamen,<br />
nach <strong>de</strong>m Vorbereitungs- und <strong>de</strong>m Referendardienst die<br />
Befähigung zum Richteramt erhalten<br />
Der Staatsanwalt:<br />
er ist Beamter seiner Behör<strong>de</strong><br />
er muß ermitteln<br />
er bestellt Zeugen<br />
er prüft, ob die Beweise für die Anklageerhebung ausreichen<br />
Der Rechtsanwalt:<br />
er ist freier Unternehmer<br />
er berät<br />
er vertritt seinen Mandanten<br />
Der Notar:<br />
er hat eine beglaubigen<strong>de</strong> Funktion<br />
er beglaubigt Urkun<strong>de</strong>n.<br />
Juristen können außer<strong>de</strong>m als Verwaltungsbeamten beim Bund, bei <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn,<br />
bei <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>n, in Ministerien und an<strong>de</strong>ren Behör<strong>de</strong>n arbeiten. Juristen<br />
arbeiten auch in <strong>de</strong>r freien Wirtschaft als Berater, Prüfer o<strong>de</strong>r als<br />
Wirtschaftsjuristen, als Diplomaten im Auswärtigen Amt, an Botschaften und<br />
Konsulaten, in <strong>de</strong>r Politik, als Hochschullehrer, als Bibliothekar und nach <strong>de</strong>m<br />
ersten juristischen Staatsexamen haben sie die Möglichkeit, auch als<br />
Sachbearbeiter o<strong>de</strong>r als Journalisten zu arbeiten.<br />
300
Literatur<br />
An<strong>de</strong>rsen/Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch <strong>de</strong>s politischen Systems <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschlnd, Bun<strong>de</strong>szentrale für politische Bildung, 2. Auflage,<br />
Bonn, 1995.<br />
Bürgerliches Gesetzbuch, 41. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997.<br />
Creifelds, Carl, Rechtswörterbuch, 14. Auflage, Verlag C.H. Beck, München,<br />
1997.<br />
Dreyer/Schmidt, Lehr- und Übungsbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Grammatik,<br />
Neubearbeitung, Verlag für Deutsch, 1. Auflage, Ismaning, 1996.<br />
Grundgesetz für die Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland, Textausgabe,<br />
Bun<strong>de</strong>szentrale für politische Bildung, Bonn, 1996.<br />
Hartley, Robins, Germana pentru oamenii <strong>de</strong> afaceri, Editura Teora, Bucuresti,<br />
1996.<br />
Hesselberger, Dieter, Das Grundgesetz, Kommentar für die politische Bildung,<br />
Bun<strong>de</strong>szentrale für politische Bildung, Bonn, 1996.<br />
Jung, Lothar, Fachsprache Deutsch – Rechtswissenschaft, Lese- und Arbeitsbuch,<br />
Max Huber Verlag, 1994.<br />
Kühn, Peter, Bausteine Fach<strong>de</strong>utsch für Wissenschaftler – Jura, Julius Groos<br />
Verlag, Hei<strong>de</strong>lberg, 1992.<br />
Mo<strong>de</strong>l, Creifelds, Lichtenberger, Zierl, Staatsbürger – Taschenbuch, 29. Auflage,<br />
Verlag C.H. Beck, München, 1997.<br />
Staatsrecht <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland, Hrsg. Bun<strong>de</strong>szentrale für<br />
politische Bildung, Bonn, 1997.<br />
301
302
EVA MARIANNE MARKI<br />
TEMESWAR<br />
Die Rolle <strong>de</strong>r Grammatik in einem schüler- und<br />
situationskontextbezogenen Unterricht<br />
Im Unterschied zu an<strong>de</strong>ren Bereichen <strong>de</strong>s Deutschunterrichts hat die<br />
sprachdidaktische Diskussion <strong>de</strong>r letzten Jahre <strong>de</strong>n Grammatikunterricht weniger<br />
verän<strong>de</strong>rn können. Sowohl die didaktische als auch die linguistische Forschung hat<br />
sich nicht hinreichend mit <strong>de</strong>r Frage auseinan<strong>de</strong>rgesetzt, welche grammatische<br />
Phänomene geeignet sein könnten <strong>de</strong>n Spracherwerb zu för<strong>de</strong>rn. Die Schule<br />
verharrt mit wenigen kleinen Verän<strong>de</strong>rungen bei hergebrachter Unterrichtspraxis.<br />
Entwe<strong>de</strong>r man unterrichtet nach alten Konzepten o<strong>de</strong>r aber man versucht die<br />
Grammatik möglichst weitgehend aus <strong>de</strong>m Unterrricht herauszuhalten. Es stellt<br />
sich die Frage, wie ein an<strong>de</strong>rer Grammatikunterricht aussehen kann, welches die<br />
Rolle <strong>de</strong>r Grammatik in einem schüler- und situationsbezogenen Unterricht ist.<br />
Je<strong>de</strong> Sprache braucht ihre Grammatik und sie ist ein Hilfsmittel <strong>zur</strong> besseren<br />
Beherrschung <strong>de</strong>r Sprache. Die Menschen re<strong>de</strong>n nicht, um einfach miteinan<strong>de</strong>r zu<br />
re<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sie haben sich etwas zu sagen, sie wollen etwas mitteilen o<strong>de</strong>r<br />
erfahren, etwas veranlassen o<strong>de</strong>r verhin<strong>de</strong>rn, etwas betonen o<strong>de</strong>r abschwächen.<br />
Man verständigt sich, weil man bestimmte Bedürfnisse hat und diese Bedürfnisse<br />
können letzten En<strong>de</strong>s mit sprachlichen Mitteln ausgedrückt und erfüllt wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Grammatik soll uns dabei helfen. Wir können uns in diesem Sinn <strong>de</strong>r Meinung von<br />
Peter Klotz anschließen, <strong>de</strong>r die Grammatik als Kompositionslehre <strong>de</strong>s Sprechens<br />
und <strong>de</strong>s Schreibens sieht:<br />
Und wer singt, <strong>de</strong>r musiziert: auf ähnliche Weise ‘textet’ <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r spricht – und<br />
irgendwann auch schreibt. Kein Mensch fin<strong>de</strong>t es wun<strong>de</strong>rlich, daß es neben <strong>de</strong>m<br />
natürlichen Singen und Musizieren Kompositionslehre für jene Musik gibt, die<br />
erweiterten Ansprüchen genügen will als einen einfachen Gedanken [...] Und doch<br />
bleibt die Frage, ob Grammatikkenntnisse nicht eigentlich dieselbe Aufgabe haben<br />
können wie die Kompositionslehre, eben damit Sprache zu mehr Ausdruck <strong>zur</strong><br />
Verfügung stehe, damit bewußt gestaltete Formen die Vielfalt <strong>de</strong>s Sprachlichen<br />
selbst wie<strong>de</strong>rspiegele und somit erfahrbar mache. Grammatikunterricht wird somit<br />
zum Medium und Mittel im Sinne von Werkzeug <strong>de</strong>s Textes – o<strong>de</strong>r sie könnte in<br />
klug angelegten Lernsituationen dazu wer<strong>de</strong>n. (Klotz, 1996: 4)<br />
Die Frage ist nur, welche grammatische Bereiche sich als för<strong>de</strong>rlich erweisen, um<br />
die vom Lehrer verfolgten Ziele zu erreichen. Die didaktische Umsetzung <strong>de</strong>r<br />
Ergebnisse und Verfahren <strong>de</strong>r Linguistik bil<strong>de</strong>t eines <strong>de</strong>r schwersten Probleme.<br />
Das Wissen über Sprache kann die Beherrschung <strong>de</strong>r Sprache entschei<strong>de</strong>nd<br />
verbessern. Gefor<strong>de</strong>rt wird ein Unterricht, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Erfahrungen <strong>de</strong>r Schüler im<br />
schulischen und außerschulischen Bereich anknüpft. Die behan<strong>de</strong>lten Phänomene<br />
müssen anschaulich sein und in einem Zusammenhang zum Erfahrungsbereich<br />
<strong>de</strong>r Schüler gebracht wer<strong>de</strong>n. Das darf aber nicht be<strong>de</strong>uten, daß Theorie dann<br />
303
überflüssig wird. Theoretische Arbeit im Unterricht läßt sich kaum vermei<strong>de</strong>n.<br />
Wesentlich ist die Verlagerung von Grammatikwissen auf Sprachwissen.<br />
Grammatik und Grammatikunterricht sind problematisch in <strong>de</strong>r Schule. Sie können<br />
<strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n Möglichkeiten <strong>de</strong>s Sprachsystems vorstellen und zum Gebrauch<br />
anbieten, sie können für die Textrezeption <strong>de</strong>n Blick auf das Beobachtbare lenken<br />
und sie können die Reflexion über die Sprache und <strong>de</strong>n Sprachgebrauch anregen.<br />
Das sind einige Aufgabenfel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Grammatikunterrichts. Eine unmittelbare<br />
Wirkung von Grammatikunterricht ist nicht leicht zu erkennen. Grammatikunterricht<br />
kann verschie<strong>de</strong>ne Funktionen im Rahmen <strong>de</strong>s Deutschunterrichts haben. Im<br />
Schulalltag wird er zumeist so realisiert, daß er unspezifisch <strong>de</strong>r Vermittlung<br />
sprachlichen Wissens und Bewußtseins dient. Deshalb ist dieser Unterricht auch<br />
so unbeliebt. Vereinzelt dient er als Instrument <strong>de</strong>r Textanalyse o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Rechtschreibung.<br />
Wir wollen im folgen<strong>de</strong>n nur seine Funktion beim Gestalten von Texten, das heißt<br />
das Verhältnis Aufsatzunterricht – Grammatikunterricht etwas näher betrachten. Es<br />
muß Grammatikbereiche geben, die die Schreibfähigkeit <strong>de</strong>r Schüler beeinflussen<br />
können. Gibt es wohl einen Grammatikunterricht speziell für die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
Schreibkompetenz? Um diese Frage zu beantworten, kann man einen Versuch<br />
machen, und zwar analysiert man Schüleraufsätze, die vor und nach einem<br />
spezifischen Grammatikunterricht geschrieben wur<strong>de</strong>n. Insbeson<strong>de</strong>re im<br />
schriftlichen Sprachgebrauch ermöglicht die grammatische Kontrolle von<br />
Äußerungen ein Maß an semantischer Präzision. Gute Texte entstehen dann,<br />
wenn eine soli<strong>de</strong> Sprachkompetenz vorhan<strong>de</strong>n ist, die mit einem soli<strong>de</strong>n<br />
sprachlichen Wissen gepaart ist. Das sprachliche Wissen integriert ein Wissen<br />
über sprachliche Phänomene und über Gebrauchsformen <strong>de</strong>r Sprache. Man sollte<br />
also über <strong>de</strong>n Grammatikunterricht und über seine Funktionalisierung nach<strong>de</strong>nken<br />
und nicht vergessen, daß <strong>de</strong>r Grammatikunterricht ein Instrument für bestimmte<br />
Bereiche sein kann.<br />
Das Problem ist, welche sprachlichen Merkmale eine Textsorte, eine Aufsatzart<br />
markieren und wie ihr Zusammenspiel im Text ist. Dies sei unter Sprachlichkeit<br />
eines Textes verstan<strong>de</strong>n. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwieweit diese<br />
Sprachlichkeit zum Gegenstand <strong>de</strong>s Aufsatzunterrichts gewor<strong>de</strong>n ist.<br />
Gleichermaßen ist dies die Frage nach <strong>de</strong>r Funktionalität von Grammatikunterricht.<br />
Umgekehrt schließt sich die Frage an, inwieweit Schreiben als Spracherfahrung<br />
zum Grammatikunterricht und <strong>zur</strong> Reflexion über Sprache beitragen kann. Ist es<br />
also möglich, Grammatikunterricht mit Aufsatzunterricht so zu verknüpfen, daß<br />
einerseits Grammatikwissen einen praktischen Aspekt enthält und an<strong>de</strong>rerseits im<br />
Aufsatzunterricht konkret sprachliche Schreibhilfen gegeben wer<strong>de</strong>n? Kann<br />
grammatisches Regelwissen überhaupt die Sprachverwendung positiv<br />
beeinflussen?<br />
Grammatik und Schreibdidaktik wur<strong>de</strong>n überwiegend getrennt diskutiert, obwohl<br />
schon immer wie<strong>de</strong>r eine Inter<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nz zwischen ihnen bestan<strong>de</strong>n hat. Bei<strong>de</strong><br />
Bereiche verknüpfen sich gleichzeitig mit <strong>de</strong>m Literaturunterricht. Diese<br />
Verknüpfung wirft spezifische Fragen auf, auf die wir hier nicht näher eingehen<br />
wollen.<br />
Das Schreiben setzt einen Grammatikunterricht voraus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n vorbereitet<br />
hat. Gemeinsamer Ausgangspunkt und Bezugspunkt kann <strong>de</strong>r Text sein, wobei<br />
304
„Text“ in doppelter Weise strukturiert erscheint: einmal linear und damit <strong>de</strong>utlich <strong>de</strong>r<br />
Syntax und Semantik zugeordnet, und dann hierarchisch also sachlichen und<br />
textorientierten Informationsstrukturen zugeordnet. Textgestaltung erweist sich als<br />
eine linear-grammatische und als eine hierarchisch-informative Aufgabe. Bei<strong>de</strong><br />
müssen bewältigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Es bleibt nach <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Grammatikunterrichts für die For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
Schreibkompetenz zu fragen. Alte Fragen kommen wie<strong>de</strong>r zum Vorschein: Wieviel<br />
Grammatik braucht <strong>de</strong>r Mensch? Braucht er sie für seine<br />
Schreibhandlungskompetenz o<strong>de</strong>r könnte sie sich störend auswirken? Welche<br />
Grammatik scheint geeignet? Welche Teile davon braucht er, bzw. welche sollen<br />
als schreibkompetenzför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> grammatische Schwerpunkte das Wissenskonzept<br />
für eine Schulgrammatik bestimmen? Was versteht man unter Grammatikwissen?<br />
Wieviel Morphologie ist notwendig? Sind Thema und Rhema, die Verwendung <strong>de</strong>s<br />
Konjunktiv sinnvoll lehrbar? Ähnliche Fragen können fortgesetzt wer<strong>de</strong>n und die<br />
Antworten darauf können Akzente setzen und zu weiteren Diskussionen anregen.<br />
Der Lehrer braucht also Informationen darüber, was Schüler in welcher<br />
Entwicklungsstufe durchschnittlich leisten, damit er Mängel und vor allem<br />
Leistungen seiner Schüler einschätzen kann.<br />
Es muß nach einem kontinuierlichen Grammatikunterricht gefragt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r je<br />
nach Sprachentwicklungsstand die Möglichkeiten sprachlichen Wissens ins<br />
Bewußtsein hebt und trainiert. Grammatikunterricht kann hierbei helfen.<br />
Die sprachlichen Merkmale haben eine gewisse Affinität zu Textsorten, in <strong>de</strong>nen<br />
sie vermehrt auftreten. Deshalb muß interessieren, wo sie und in welcher<br />
Verteilung sie im Text erscheinen und wirksam wer<strong>de</strong>n. Die Wirkung von<br />
spezifiziertem Grammatikunterricht auf Textgestaltung soll in Betracht gezogen<br />
wer<strong>de</strong>n. Der Lehrer sollte immer die Frage nach <strong>de</strong>n grammatischen<br />
Schwerpunkten bei <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Aufsatzarten stellen. Welche<br />
grammatischen Kenntnisse sind bei <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Aufsatzarten notwendig?<br />
Welche Anfor<strong>de</strong>rungen kann man an die Schüler stellen? Erst wenn man versucht<br />
auf diese und ähnliche Fragen zu antworten, kann man üben, man weiß, was alles<br />
geübt wer<strong>de</strong>n muß und so kann <strong>de</strong>m Schüler eine Hilfe gegeben wer<strong>de</strong>n.<br />
Der Aufsatzunterricht för<strong>de</strong>rt sprachliches Können. Fähigkeiten und Fertigkeiten im<br />
Aufsatzunterricht wer<strong>de</strong>n nur dort erreicht, wo <strong>de</strong>r Lehrer sich systematisch um die<br />
Schulung mündlicher und schriftlicher Ausdrucksfähigkeiten <strong>de</strong>r Schüler bemüht.<br />
Nur durch eine mühevolle Kleinarbeit können die Gestaltungskräfte <strong>de</strong>r Schüler<br />
geschult wer<strong>de</strong>n.<br />
Wir wollen im folgen<strong>de</strong>n nur auf ein Beispiel näher eingehen und zeigen, daß es<br />
möglich ist, Grammatikunterricht mit Aufsatzunterricht so zu verknüpfen, daß<br />
Grammatikwissen einen <strong>de</strong>utlich funktionalen und praktischen Aspekt erhält und zu<br />
einer Schreibhilfe für <strong>de</strong>n Aufsatzunterricht wird. Da zwischen Textsorten und<br />
sprachlichen Phänomenen Affinitäten bestehen, muß man wissen, welche<br />
grammatischen Schwerpunkte in einer bestimmten Aufsatzart vorkommen, damit<br />
so <strong>de</strong>r Grammatikunterricht planmäßig in die Vorbereitung <strong>de</strong>s Aufsatzunterrichts<br />
miteinbezogen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Für die Aufsatzart Erzählung / Erzählen können einige grammatische<br />
Schwerpunkte gesetzt wer<strong>de</strong>n:<br />
Verwendung <strong>de</strong>s treffen<strong>de</strong>n Ausdrucks<br />
305
Erzählflußsteuerung durch die Tempora<br />
Indikativ und Konjunktiv<br />
Aktiv und Passiv<br />
Verwendung von Adverbialen<br />
Ausnutzung <strong>de</strong>r Attribuierungsintensität<br />
Variabilität <strong>de</strong>r Satzarten: einfacher Satz, Parataxe, Hypotaxe u.a.<br />
Die Erzählung ist eine wichtige Form <strong>de</strong>r sprachlichen Verständigung. Die Schüler<br />
wer<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r aufgefor<strong>de</strong>rt zu erzählen. Um dieser Auffor<strong>de</strong>rung<br />
nachzukommen, müssen sie erzählen lernen und <strong>de</strong>shalb sollte das Erzählen auf<br />
verschie<strong>de</strong>nen Alters- und Klassenstufen geübt wer<strong>de</strong>n. Hauptaufgabe <strong>de</strong>s<br />
Lehrers ist es, die Mitteilungsbereitschaft und die Erzählfreudigkeit <strong>de</strong>s Schülers zu<br />
erhalten und darauf aufbauend, Fähigkeit und Fertigkeit im Erzählen weiter zu<br />
för<strong>de</strong>rn.<br />
Eine grundsätzliche Anfor<strong>de</strong>rung an gutes Erzählen ist das Kriterium <strong>de</strong>r<br />
Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit be<strong>de</strong>utet hier nicht nur eine <strong>de</strong>m Ereignis an Daten<br />
und Fakten entsprechen<strong>de</strong> Wie<strong>de</strong>rgabe, son<strong>de</strong>rn vielmehr jene sprachliche<br />
Ehrlichkeit, die in unseren Schulen leicht übergangen wird, da sich eine ganz<br />
bestimmte Aufsatzsprache in <strong>de</strong>r Schulpraxis ausgebil<strong>de</strong>t hat, und <strong>de</strong>r Schüler<br />
davon überzeugt ist, daß ein guter Aufsatz ganz an<strong>de</strong>re Anfor<strong>de</strong>rungen an seine<br />
sprachlichen Fähigkeiten stellt als die ungezwungene mündliche Mitteilung in je<strong>de</strong>r<br />
Form. Deshalb fin<strong>de</strong>t oft viel Unnatürliches, viel Gekünsteltes und Unwahres im<br />
schriftlichen Aufsatz seinen Nie<strong>de</strong>rschlag. (Götz, 1979:31)<br />
Bei <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Erzählung spielt <strong>de</strong>r Grammatikunterricht eine wesentliche<br />
Rolle. Zur Vorbereitung einer Erzählung kann man Wortschatzübungen machen,<br />
damit <strong>de</strong>r Schüler <strong>de</strong>n treffen<strong>de</strong>n Ausdruck wählt und gleichzeitig seinen<br />
Wortschatz bereichert. Dabei kann <strong>de</strong>r Lehrer z.B. das Übungsbuch von Franz<br />
Eppert Deutsche Wortschatzübungen verwen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aber selbst Übungen<br />
erstellen. Der Deutschlehrer sollte vor allem in kleineren Klassen zu je<strong>de</strong>m Aufsatz<br />
ein Minimum an Wortmaterial an die Tafel anschreiben, selbst auf die Gefahr hin,<br />
daß dann die Aufsätze keine originelle sprachliche Leistung darstellen. Dieses<br />
Wortmaterial kann durch Vorübung eingeführt und gefestigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Tempus, Modus und Genus verbi sind <strong>de</strong>utlich mit Textsorten korreliert. Die<br />
Schüler müssen dazu angeleitet wer<strong>de</strong>n, die richtigen Tempusformen zu<br />
verwen<strong>de</strong>n, bzw. von <strong>de</strong>r „erzählten“ o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r „besprochenen“ Welt aus <strong>de</strong>n<br />
Sachverhalt darzustellen. In <strong>de</strong>r Erzählung fungiert das Präteritum als<br />
Grundtempus. Das Präteritum ist das einzige Tempus <strong>de</strong>s Deutschen mit<br />
ein<strong>de</strong>utigem temporalen Wert und schränkt das Geschehen als ausdrücklich vor<br />
<strong>de</strong>m Re<strong>de</strong>moment verlaufend ein. Im Präteritum ist das Geschehen immer von <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart losgelöst, es vermittelt <strong>de</strong>n Eindruck zeitlicher Distanz und ermöglicht<br />
eine objektive Darstellung vergangener Geschehnisse als Rückschau, als<br />
Erinnerung. Aus diesem Grund sah man im Präteritum das klassische<br />
Erzähltempus. Mit <strong>de</strong>m Präteritum kooperiert das Plusquamperfekt. In größeren<br />
Klassen kann man darauf hinweisen, daß in manchen Situationen eine<br />
Übertragung vom Präteritum ins Präsens zu verzeichnen ist. Präsens wird<br />
beson<strong>de</strong>rs im Roman und in <strong>de</strong>r Erzählung <strong>de</strong>s 20. Jhs. verwen<strong>de</strong>t. Der Autor<br />
steht inmitten <strong>de</strong>r Erzählung als Beobachter und Beteiligter. Durch diese<br />
distanzlose Betrachtungsweise und subjektive Einstellung zum Geschehen wird<br />
ein hoher Grad an Lebendigkeit erzielt.<br />
306
Überwiegend wird im Indikativ erzählt. Aber die bewußte Kenntnis <strong>de</strong>s Konjunktivs<br />
II könnte Einschübe <strong>de</strong>s Stilmittels <strong>de</strong>r erlebten Re<strong>de</strong> ermöglichen, Hypothetisches<br />
und Optatives könnte in das Erzählte eingebracht wer<strong>de</strong>n. Die Möglichkeiten<br />
modaler Markierungen sollen <strong>de</strong>m Schüler vorgestellt wer<strong>de</strong>n, er soll das<br />
komplexe System <strong>de</strong>r Modalität kennenlernen. Dazu gehören: die Modi, die<br />
Modalwörter, die Modalverben, <strong>de</strong>r modale Infinitiv, das Futur. Durch Vorübungen<br />
könnte man <strong>de</strong>n Schüler darauf aufmerksam machen, daß ein Sprecher etwas<br />
uneingeschränkt sagen o<strong>de</strong>r behaupten kann durch einen Satz im Indikativ o<strong>de</strong>r<br />
Konjunktiv II ohne einschränken<strong>de</strong>s Modalwort. Als Sprecher kann er aber seine<br />
Aussage in ihrer Gültigkeit einschränken, in<strong>de</strong>m er einen Satz mit<br />
einschränken<strong>de</strong>m Modalwort verwen<strong>de</strong>t. Hilfreich sind auch die Übungen zu <strong>de</strong>n<br />
Modalverben, vor allem ihrer Verwendung im Konjunktiv Präteritum, wo die<br />
Modalverben folgen<strong>de</strong>s ausdrücken:<br />
- eine Vermutung o<strong>de</strong>r Möglichkeit (können, dürfen, müssen)<br />
- einen Wunsch (mögen)<br />
- einen Zweifel (sollen im Fragesatz).<br />
In höheren Klassen könnte die indirekte Re<strong>de</strong> beson<strong>de</strong>re Akzente erlauben. Schon<br />
<strong>de</strong>r Formenbestand <strong>de</strong>s Konjunktiv I wirft Probleme auf. Mit <strong>de</strong>n Schülern sollte<br />
das Regelsystem „indirekt Re<strong>de</strong>“ erarbeitet wer<strong>de</strong>n, nachher die Verwandlung <strong>de</strong>r<br />
direkten Re<strong>de</strong> eingeübt und auf eine sinnvolle Differenzierung <strong>de</strong>r verba dicendi<br />
hingewiesen wer<strong>de</strong>n.<br />
Auch die Kenntnis von Aktiv – Passiv kann für <strong>de</strong>n Schüler eine Schreibhlife sein.<br />
Da Aktiv – Passiv einen Perspektivenwechsel erlauben, müssen <strong>de</strong>n Schülern die<br />
kommunikativ-funktionalen Möglichkeiten <strong>de</strong>s Passivs bewußt gemacht wer<strong>de</strong>n. Im<br />
Aktiv ist eine Art Grundform zu sehen. Die Passivkonstruktion erschließt die<br />
Möglichkeit <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n nicht zu nennen und das kann bei manchen<br />
Aussagen von Vorteil sein.<br />
Be<strong>de</strong>utsam ist auch <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>r Adverbialien, <strong>de</strong>nn sie sind eine Information,<br />
die über das Wann, Wo, Wie, Warum, Wozu, Womit u.ä. Auskunft geben und so<br />
die Qualität <strong>de</strong>s Textes beeinflussen können. Die Adverbialien dürfen nicht einfach<br />
als eine einheitliche grammatische Kategorie gesehen wer<strong>de</strong>n. Die semantische<br />
Reichweite <strong>de</strong>r Adverbialien in bezug auf Sätze und Texte ist unterschiedlich. Zeit-<br />
und Ortsadverbialien haben eine größere Reichweite als Modal- und<br />
Kausaladverbialien. Lebendigkeit und Spannung kann durch Adverbialien<br />
verwirklicht wer<strong>de</strong>n. Deshalb sollte man systematisch mit Adverbialien<br />
experimentieren und schreibend spielen.<br />
Für die Vertextung spielen auch die kohäsiven Mittel eine große Rolle. Es ist<br />
darauf hinzuweisen, daß die verschie<strong>de</strong>nen Altersgruppen verschie<strong>de</strong>ne kohäsive<br />
Mittel bei ein und <strong>de</strong>rselben Textsorte einsetzen. Pronominale Rekurrenz,<br />
syntaktische Kohäsion, Konnektoren sind gut lehrbar. Pronominale Rekurrenz ist<br />
im schulischen Alltag immer präsent. Textkonnektoren geben oft schon wertvolle<br />
Hinweise auf das, was folgt. Sie kündigen z.B. an, daß im Folgesatz eine<br />
Einschränkung kommt (obwohl), ein Gegensatz (aber, trotz<strong>de</strong>m), eine Begründung<br />
(weil), eine Folge (so daß) usw.<br />
Die oben angeführten Beispiele sollen darauf hinweisen, daß <strong>de</strong>r<br />
Grammatikunterricht die Schreibkompetenz <strong>de</strong>r Schüler för<strong>de</strong>rn kann. Sprachliche<br />
Elemente und Strukturen kann <strong>de</strong>r Schüler aber erst als Gestaltungspotential<br />
307
erfahren, wenn sein Verhältnis <strong>zur</strong> Sprache durch grammatisches Wissen fundiert<br />
ist.<br />
Literatur<br />
Boettcher, Wolfgang: Der an<strong>de</strong>re Grammatikunterricht, München, Wien,<br />
Baltimore 1978.<br />
Engel, Ulrich / Tertel, Rozemaria K: Kommunikative Grammatik, Deutsch als<br />
Fremdsprache, München 1993.<br />
Eppert, Franz: Deutsche Wortschatzübungen, Dillingen 1976.<br />
Götz, Dorothea: Lehrerhandbuch für <strong>de</strong>n Aufsatzunterricht in <strong>de</strong>n Klassen V – VIII,<br />
Bucuresti 1979.<br />
Hartmann, Wilfried: Grammatik im Deutschunterricht, Pa<strong>de</strong>rborn 1975.<br />
Ingendahl, Werner: Aufsatzerziehung als Hilfe <strong>zur</strong> Emanzipation, Düsseldorf 1976.<br />
Klotz, Peter: Grammatische Bausteine zum Aufsatzunterricht, München 1979.<br />
Klotz, Peter: Grammatische Wege <strong>zur</strong> Textgestaltungskompetenz, Tübingen 1996.<br />
Wilkins, D.A.: Linguistik im Sprachunterricht, Hei<strong>de</strong>lberg 1976.<br />
308
MATHILDE HENNIG<br />
DAAD<br />
Grammatik <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache im Unterricht Deutsch<br />
als Fremdsprache<br />
Die Erforschung <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache – ein junger<br />
Wissenschaftszweig <strong>de</strong>r Sprachwissenschaft<br />
„Da zeigt <strong>de</strong>nn schon ein flüchtiger Blick, daß zwischen <strong>de</strong>n Voraussetzungen für<br />
das geschriebene Wort und <strong>de</strong>nen für das gesprochene Wort tiefgreifen<strong>de</strong><br />
Unterschie<strong>de</strong> bestehen. Das eine hat auf das Auge zu wirken, das an<strong>de</strong>re auf das<br />
Ohr; und so sind schon die Mittel an<strong>de</strong>re, über die bei<strong>de</strong> gebieten. Auf je<strong>de</strong>r von<br />
bei<strong>de</strong>n Seiten stehen Ausdrucksformen in bequemer Bereitschaft, die <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
ganz versagt o<strong>de</strong>r schwer zugänglich sind, wobei freilich die Rüstkammer <strong>de</strong>s<br />
gesprochenen Wortes weit reicher ausgestattet erscheint als die <strong>de</strong>s<br />
geschriebenen.<br />
[...] Alle diese Mittel <strong>de</strong>s gesprochenen Wortes haben <strong>de</strong>n unvergleichlichen<br />
Vorzug, daß ihre Wirkung ganz unmittelbar erprobt wer<strong>de</strong>n kann an <strong>de</strong>m Ausdruck,<br />
<strong>de</strong>n das Gesicht <strong>de</strong>s Hörers gewinnt, an seinen Gebahren, an seinen Ausrufen und<br />
Entgegnungen [...] Behaghel (1899/1927/1967: 13f.).<br />
Obwohl bereits Behaghel 1899 in so anschaulicher Weise auf die Unterschie<strong>de</strong><br />
zwischen geschriebener und gesprochener Sprache aufmerksam gemacht hat,<br />
gehört die Erforschung <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache zu <strong>de</strong>n jüngeren Disziplinen <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rnen Sprachwissenschaft. In Deutschland hat man erst in <strong>de</strong>n 60er Jahren<br />
damit begonnen, gesprochene Sprache aufzunehmen, zu transkribieren und zu<br />
analysieren. Folgen<strong>de</strong> Grün<strong>de</strong> lassen sich für diese späte Berücksichtigung<br />
gesprochener Sprache vermuten:<br />
1. Vor <strong>de</strong>m 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt gab es noch keine Möglichkeiten, gesprochene<br />
Sprache aufzuzeichnen. Deshalb konnte es nur An<strong>de</strong>utungen bezüglich <strong>de</strong>r<br />
Unterschie<strong>de</strong> zwischen gesprochenem und geschriebenem Deutsch geben (z.B.<br />
bei Behaghel 1899).<br />
2. Auch nach <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Tonban<strong>de</strong>s dauerte es noch einige Jahrzehnte,<br />
bis man sich <strong>de</strong>r Erfassung und Beschreibung gesprochener Sprache zuwandte.<br />
Ein Grund hierfür könnte in <strong>de</strong>r Dominanz <strong>de</strong>s Chomskyschen Strukturalismus in<br />
<strong>de</strong>r Linguistik liegen. Dessen Generieren von i<strong>de</strong>alen Sätzen schloss eine<br />
Beschreibung von Abweichungen auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r parole aus.<br />
3. Klein (1985: 14) sieht einen weiteren Grund darin, dass die geschriebene<br />
Sprache „die Sprache <strong>de</strong>r Gesetze, <strong>de</strong>r religiösen Zeremonien, <strong>de</strong>r kaiserlichen<br />
Botschaften“ ist, die gesprochene Sprache dagegen „die <strong>de</strong>r alltäglichen<br />
309
Verrichtungen; daher gilt erstere als edler und eher <strong>de</strong>r Beschäftigung für wert“.<br />
Daraus ergibt sich, dass ein stärkeres Bedürfnis besteht, „sich mit <strong>de</strong>r<br />
geschriebenen Sprache zu beschäftigen, insbeson<strong>de</strong>re sie zu normieren“.<br />
4. Vor allem aber ist das traditionelle Normverständnis als Grund zu nennen.<br />
Dieses sieht die geschriebene Sprache als anstrebenswert an und betrachtet<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Gesprochenen als Abweichungen von <strong>de</strong>r Norm, die folglich<br />
nicht beschreibenswert sind.<br />
5. Schlussendlich ist <strong>de</strong>r Bearbeitungsaufwand nicht zu unterschätzen. Im<br />
Vergleich zu <strong>de</strong>r Fülle an geschriebenen Texten ist die Anzahl <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen<br />
und <strong>de</strong>r Öffentlichkeit zugänglichen Korpora minimal. 1 Der Zeitaufwand für die<br />
Erstellung von Transkriptionen ist sehr hoch; 2 <strong>de</strong>mentsprechend muss die<br />
Begeisterung für <strong>de</strong>n Gegenstand sehr groß sein, wenn man diese Hür<strong>de</strong> auf sich<br />
nimmt.<br />
Aber auch seit <strong>de</strong>r Etablierung <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache als Forschungszweig<br />
<strong>de</strong>r germanistischen Sprachwissenschaft ist die Berücksichtigung bei<strong>de</strong>r Register<br />
keineswegs <strong>zur</strong> Selbstverständlichkeit gewor<strong>de</strong>n – noch immer wer<strong>de</strong>n in<br />
Darstellungen von linguistischen Phänomenen, die sich lediglich auf die<br />
geschriebene Sprache beziehen, Rückschlüsse auf das gesamte Sprachsystem<br />
gezogen, noch immer sind Grammatiken <strong>de</strong>s Deutschen in Wirklichkeit<br />
Grammatiken <strong>de</strong>s geschriebenen Deutsch.<br />
Betrachtet man diese Schwierigkeiten und die Vorurteile gegenüber „nicht<br />
richtigem“ gesprochenem Deutsch sowie die vergleichsweise junge<br />
Forschungsgeschichte, so verwun<strong>de</strong>rt es nicht, dass die gesprochene Sprache<br />
noch nicht ausreichend analysiert ist. 3 Das linguistische Interesse hat sich in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahrzehnten vor allem auf gesprächsanalytische bzw. soziolinguistische<br />
Beschreibungen einzelner Textsorten <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache konzentriert,<br />
sowie auf methodische Fragen <strong>de</strong>r Erforschung gesprochener Sprache. 4<br />
Außer<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong>n syntaktische Beson<strong>de</strong>rheiten in Einzeldarstellungen<br />
beschrieben; z.B. Satzkomplexität (Höhne-Leska 1975), Wortstellung (Engel 1974,<br />
Zahn 1991, Auer 1993, Wegener 1993), Ellipsen (Betten, 1985, Lindgren 1987),<br />
Konjunktiv und Re<strong>de</strong>wie<strong>de</strong>rgabe (Graf 1977, Günthner 1997) und Tempus (Brons-<br />
Albert 1982, Sieberg 1984). Dennoch besteht gera<strong>de</strong> in diesem Bereich noch<br />
Handlungsbedarf. So stellt Schwitalla (1997: 66) fest:<br />
Eine großangelegte empirische Analyse syntaktischer Kategorien, in <strong>de</strong>r mehrere<br />
vergleichbare Textsorten aus <strong>de</strong>m mündlichen und schriftlichen Bereich<br />
einbezogen wer<strong>de</strong>n, steht aber noch aus.<br />
1 Eine Liste von Korpora fin<strong>de</strong>t sich bei Schwitalla (1997: 199).<br />
2 Vgl. dazu Ehlich/Red<strong>de</strong>r (1994).<br />
3 Rath (1994: 390ff.) benennt Defizite vor allem im Bereich <strong>de</strong>r öffentlich zugänglichen<br />
Korpora und <strong>de</strong>r Umsetzung <strong>de</strong>r Forschungsergebnisse in <strong>de</strong>r Lehre; außer<strong>de</strong>m fehle ein<br />
großes Handbuch. Schwitalla (1997: 194f.) sieht Forschungs<strong>de</strong>si<strong>de</strong>rate in <strong>de</strong>n Bereichen<br />
<strong>de</strong>r Syntax, <strong>de</strong>r emotionalen Aspekte von prosodischen und stimmlichen Eigenschaften, in<br />
einer Theorie <strong>de</strong>s Sprechens und in einer Erforschung <strong>de</strong>s Zusammenwirkens von verbalen<br />
und nonverbalen Elementen <strong>de</strong>r Kommunikation.<br />
4 Rath (1989: 11ff.) spricht von vier Forschungsrichtungen: Grammatisch-syntaktische<br />
Analysen <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache, Charakteristika <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache,<br />
Gesprächs- und Konversationsanalyse sowie die Analyse diskursiver Einheiten.<br />
310
Zieht man außer<strong>de</strong>m die kürzlich erschienene Studienbibliographie <strong>zur</strong> Grammatik<br />
<strong>de</strong>r gesprochenen Sprache von Hoffmann (1998) zu Rate, so fällt auch hier auf,<br />
dass zwar bereits eine Fülle an Beiträgen und Monographien zu Einzelfragen<br />
vorliegen, es aber noch keine übergreifen<strong>de</strong> Gesamtdarstellung gibt, die die<br />
bisherigen Forschungsergebnisse zusammenfasst. 5 Außer<strong>de</strong>m erweckt ein<br />
Studium dieser Bibliographie sowie weiterer, am Institut für <strong>de</strong>utsche Sprache<br />
erstellter Literatursammlungen <strong>de</strong>n Eindruck, dass bisher bei <strong>de</strong>r Beschäftigung<br />
mit Themen aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r Grammatik im engeren sowie im weiteren Sinne<br />
vor allem solche Schwerpunkte ausgewählt wur<strong>de</strong>n, die Auffälligkeiten <strong>de</strong>s<br />
gesprochenen Deutsch gegenüber <strong>de</strong>m Geschriebenen betreffen. Das heißt, es<br />
gibt inzwischen eine Fülle an Literatur <strong>zur</strong> systematischen Erfassung und zu <strong>de</strong>n<br />
Leistungen <strong>de</strong>r Partikeln 6 o<strong>de</strong>r zu Erscheinungen, die sich kaum im Geschriebenen<br />
nachweisen lassen, wie z.B. die parataktischen weil-Sätze. Außer<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong>n<br />
Gegenstän<strong>de</strong> untersucht, die in <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache <strong>de</strong>utlich häufiger<br />
auftreten als im Geschriebenen, wie z.B. die Ellipsen o<strong>de</strong>r bestimmte<br />
Wortstellungsphänomene. Weitaus geringer dagegen ist die Anzahl an Beiträgen<br />
und Arbeiten zu <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n morphosyntaktischen Kategorien. So ist z.B.<br />
im Bereich <strong>de</strong>r Erforschung von Tempus und Temporalität angesichts <strong>de</strong>r kaum<br />
übersehbaren Fülle an Literatur die Zahl <strong>de</strong>r Arbeiten, die sich auf die gesprochene<br />
Sprache beziehen, minimal. 7 Selbst die Tempora Perfekt II und Plusquamperfekt II,<br />
die als typische Erscheinungen <strong>de</strong>s gesprochenen Deutsch gelten 8 , sind mangels<br />
Belegen bisher ausschließlich anhand von Beispielen aus <strong>de</strong>r geschriebenen<br />
Sprache untersucht wor<strong>de</strong>n. Auch im Bereich <strong>de</strong>s Konjunktivs hat es seit Bausch<br />
(1979) m.W. keine Studie gegeben, die sich auf die Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s<br />
Gebrauchs in <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache bezieht.<br />
Gesprochene Sprache in Grammatiken<br />
Diese Defizite in <strong>de</strong>r linguistischen Forschung mögen <strong>de</strong>r Grund dafür sein, dass<br />
die <strong>de</strong>nnoch erzielten Ergebnisse <strong>de</strong>r Gesprochenen-Sprache-Forschung bisher<br />
kaum Eingang in Grammatiken <strong>de</strong>s Deutschen gefun<strong>de</strong>n haben. Aus <strong>de</strong>r Sicht von<br />
Deutsch als Fremdsprache ist dies insofern bedauerlich, als Grammatiken eine<br />
Vermittlungsinstanz zwischen linguistischem Wissen einerseits und<br />
Lehrbuchautoren, Lehrern und Lernern an<strong>de</strong>rerseits darstellen und somit für <strong>de</strong>n<br />
Fremdsprachenunterricht eine sehr wichtige Rolle spielen – ihnen wird<br />
grammatisches Wissen entnommen, das an Lernen<strong>de</strong> weiter gegeben wird. Die<br />
Grammatiken, die in <strong>de</strong>n letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland erschienen sind,<br />
sind Grammatiken <strong>de</strong>s geschriebenen Deutsch. Auch Fiehler (1994: 179) kritisiert<br />
diese Situation:<br />
5<br />
Vgl. dazu auch Rath (1994), S. 385.<br />
6<br />
Zu <strong>de</strong>n Partikeln fin<strong>de</strong>n sich in Hoffmanns Studienbibliographie (1998) ein<strong>de</strong>utig die<br />
meisten (83) Einträge.<br />
7<br />
Zu nennen wären hier Brons-Albert (1982) und Sieberg (1984).<br />
8<br />
Vgl. dazu Schwitalla (1997: 19) – er sieht diese Formen sogar als Kategorien an, die<br />
ausschließlich konzeptionell mündlich sind.<br />
311
Gegenstand <strong>de</strong>r Grammatik sind sprachliche Regularitäten, beschrieben wird aber<br />
in Grammatiken [...] nur eine Teilmenge <strong>de</strong>r sprachlich-kommunikativen<br />
Regularitäten. Das Faktum, daß es nur eine Teilmenge ist, wird dabei nicht<br />
systematisch reflektiert und begrün<strong>de</strong>t.<br />
Die Konsequenz ist, dass es kaum Grammatiken gibt, die <strong>de</strong>r gesprochenen<br />
Sprache ein Teilkapitel widmen. Wenn sie dies tun, so beschäftigt sich dieses<br />
entwe<strong>de</strong>r hauptsächlich mit phonetischen Belangen bzw. <strong>de</strong>r Gesprächsanalyse<br />
(so die IDS-Grammatik 1997 und Weinrichs Textgrammatik 1993) o<strong>de</strong>r es ist sehr<br />
stichpunktartig (Häussermann/Kars 1988 bzw. Rug/Tomaszewski 1993), wobei bei<br />
letzteren bei<strong>de</strong>n auffällig ist, dass es gera<strong>de</strong> die Lernergrammatiken sind, die sich<br />
diesem Problem stellen. Weinrich (1997: 17) erhebt zwar in seiner Einleitung <strong>de</strong>n<br />
Anspruch, gesprochene und geschriebene Sprache gleichermaßen zu<br />
berücksichtigen, erreicht aber nur eine vermeintliche Gleichrangigkeit, da sich die<br />
Ausgewogenheit nur dadurch ergibt, dass sich ein ausführliches Kapitel <strong>de</strong>m<br />
Dialog widmet – in <strong>de</strong>n Kapiteln zu <strong>de</strong>n morphosyntaktischen Kategorien<br />
überwiegen die Beispieltexte aus <strong>de</strong>r geschriebenen Sprache. In linguistischen<br />
Grammatiken fin<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>n Einzelkapiteln <strong>zur</strong> Morphosyntax nur selten<br />
Verweise auf Beson<strong>de</strong>rheiten in <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache (so z.B. im Bereich<br />
<strong>de</strong>s Konjunktivs bei Helbig/Buscha 16 1994). Sprachliche Erscheinungen, die<br />
offenbar häufiger im Gesprochenen als im Geschriebenen vorkommen, wer<strong>de</strong>n in<br />
<strong>de</strong>r Regel nur in kurzen Anmerkungen o<strong>de</strong>r gar nicht erwähnt (z.B. das<br />
sogenannte Perfekt II – Die haben Autos aus <strong>de</strong>m Verkehr gezogen gehabt). 9 Die<br />
Ellipse, die für die gesprochene Sprache ein so wichtiges, sogar<br />
kohärenzstiften<strong>de</strong>s Mittel ist, fin<strong>de</strong>t erst in <strong>de</strong>r IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997)<br />
eine adäquate Beschreibung. In <strong>de</strong>r Du<strong>de</strong>n-Grammatik ( 4 1984) wer<strong>de</strong>n aus<br />
Korpora <strong>de</strong>r geschriebenen Sprache Schlussfolgerungen bezüglich <strong>de</strong>s<br />
Sprachsystems gezogen. 10<br />
Um dies zusammenzufassen: Die gesprochene Sprache spielt in heutigen<br />
Grammatiken nach wie vor kaum eine Rolle. Hier besteht, nicht zuletzt aus <strong>de</strong>r<br />
Perspektive <strong>de</strong>s Deutschen als Fremdsprache, Handlungsbedarf.<br />
Die Situation im Bereich Deutsch als Fremdsprache<br />
Betrachtet man diese Defizite im linguistischen Bereich, so verwun<strong>de</strong>rt es nicht,<br />
dass die linguistischen Forschungsergebnisse bisher kaum eine didaktische<br />
Aufarbeitung erfahren haben. Die Anzahl <strong>de</strong>r Beiträge zu Umsetzungsfragen ist<br />
äußerst gering. Die wenigen Autoren, die sich dazu geäußert haben, sind sich in<br />
ihrer Kritik an <strong>de</strong>r Situation einig: Lehrwerkanalysen haben ergeben, dass diese<br />
gesprochene und geschriebene Sprache nicht in gleichem Maße berücksichtigen.<br />
Obwohl als Folge <strong>de</strong>r „pragmatischen Wen<strong>de</strong>“ seit <strong>de</strong>n 70er Jahren in <strong>de</strong>n meisten<br />
Lehrbüchern eines <strong>de</strong>r Hauptziele ist, die Lernen<strong>de</strong>n mit kommunikativer<br />
Kompetenz auszustatten, wobei die mündliche Kommunikation eine große Rolle<br />
9 Zur Beschreibung dieser Formen vgl. Litvinov/Radčenko (1997); <strong>zur</strong> Analyse ihrer<br />
Leistungen in <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache siehe Hennig (2000b).<br />
10 Dies zeigt sich am Beispiel <strong>de</strong>r Tempora: Präsens und Präteritum wer<strong>de</strong>n „auf Grund <strong>de</strong>r<br />
Häufigkeit ihres Vorkommens“ als „Haupttempora“ klassifiziert (1984: 143).<br />
312
spielt, gibt es kaum Verweise auf Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache bzw.<br />
Unterschie<strong>de</strong> gegenüber <strong>de</strong>m Geschriebenen. Wenn <strong>de</strong>nnoch auf grammatische<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten dieses Mediums eingegangen wird, so hat man <strong>de</strong>n Eindruck,<br />
dass die Teilbereiche, zu <strong>de</strong>nen Erklärungen bzw. Übungen angeboten wer<strong>de</strong>n,<br />
sehr willkürlich ausgewählt sind. Am häufigsten fin<strong>de</strong>n sich Übungen zu <strong>de</strong>n<br />
Partikeln – dies ist auch <strong>de</strong>r Bereich, zu <strong>de</strong>m es die meiste Sekundärliteratur gibt –<br />
Partikel wer<strong>de</strong>n offenbar als Merkmal <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache schlechthin<br />
verstan<strong>de</strong>n.<br />
Die Unsicherheit bezüglich <strong>de</strong>r Auswahl zu beschreiben<strong>de</strong>r Beson<strong>de</strong>rheiten führt<br />
so weit, dass in Mittelstufe Deutsch (ein Lehrwerk, das sich durchaus um die<br />
Einbeziehung gesprochener Sprache bemüht) eine Übung zum<br />
umgangssprachlichen Gebrauch <strong>de</strong>s Dativs anstelle <strong>de</strong>s Genitivs <strong>zur</strong> Bezeichnung<br />
von Possessivität (im Sinne von Das ist <strong>de</strong>m Manfred sein Buch). Des Weiteren<br />
gibt es in Lehrbüchern <strong>de</strong>s Deutschen als Fremdsprache m.W. keine<br />
authentischen Beispieltexte aus veröffentlichten Korpora <strong>de</strong>r gesprochenen<br />
Sprache. Es wer<strong>de</strong>n vom Autor selbst konstruierte, sprachdidaktisch stilisierte<br />
Gesprächstexte verwen<strong>de</strong>t, die Schatte (1993: 136) folgen<strong>de</strong>rmaßen beschreibt:<br />
Diese sind einerseits <strong>de</strong>r grammatisch-strukturellen Progression untergeordnet,<br />
was sich u.a. darin äußert, daß sie prinzipiell voll ausformulierte Sätze enthalten<br />
und somit trotz <strong>de</strong>r äußeren Dialogform eher <strong>de</strong>r Schriftsprache entsprechen.<br />
An<strong>de</strong>rerseits zielen diese Dialoge viel mehr auf die Behandlung verschie<strong>de</strong>ner<br />
Konversationsthemen ab als auf das Präsentieren situationsgerechter<br />
Interaktionsmuster und auf die Befähigung zum erwartungsgemäßen Agieren.<br />
Schatte (ebd.) benennt außer<strong>de</strong>m die Folgen dieses Dilemmas: Lerner haben die<br />
Möglichkeit, Sprechfähigkeit zu erlangen, d.h. sie können in syntaktisch korrekten<br />
Sätzen über ein bestimmtes Thema durchaus längere Zeit referieren, ihnen fehlt<br />
aber die „Interaktionsfähigkeit“.<br />
Kaiser (1996) plädiert dafür, die Unterscheidung von Sprache <strong>de</strong>r Nähe und<br />
Sprache <strong>de</strong>r Distanz, die Koch/Österreicher 1985 vorgeschlagen haben, im<br />
Unterricht anzuwen<strong>de</strong>n. Diese Unterscheidung soll ein differenzierteres Bild bieten,<br />
da gesprochene Sprache ja auch typische Merkmale von Schriftlichkeit enthalten<br />
kann und umgekehrt. Kaiser beschreibt die Unterrichtssituation als<br />
Nähekommunikation und sieht das Problem darin, dass <strong>de</strong>nnoch die Sprache <strong>de</strong>r<br />
Distanz – geschriebene Sprache – in <strong>de</strong>r mündlichen Kommunikation verwen<strong>de</strong>t<br />
wird. Sie beschreibt die Schwierigkeiten aus dieser Mischung von Nähe und<br />
Distanz (1996: 8):<br />
Überspitzt gesagt, soll dieser [<strong>de</strong>r Lerner; Anm. d. Vf.] schriftsprachlich korrekte<br />
Äußerungen von sich geben, diese aber möglichst so natürlich, schnell und<br />
spontan wie in einem Alltagssgespräch. Das ist normalerweise eine Überfor<strong>de</strong>rung.<br />
Umsetzungsvorschläge<br />
Auch wenn noch kaum konkrete Vorstellungen darüber vorliegen, wie nun<br />
gesprochene Sprache in <strong>de</strong>n Fremdsprachenunterricht integriert wer<strong>de</strong>n könnte,<br />
heißt das nicht, dass diese Umsetzung nicht möglich wäre. Offenbar besteht eine<br />
gewisse Scheu gegenüber einem Gegenstand, <strong>de</strong>r bisher nicht Bestandteil <strong>de</strong>s<br />
313
Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts war, nicht zuletzt <strong>de</strong>shalb, weil die<br />
grammatischen Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache als Normverstoß<br />
betrachtet wur<strong>de</strong>n. Um diese Scheu zu überwin<strong>de</strong>n, bedarf es einer Mischung aus<br />
Begeisterung für die gesprochene Sprache und Unbefangenheit gegenüber<br />
Konventionen.<br />
Lei<strong>de</strong>r gibt es noch kein Übungsbuch <strong>zur</strong> gesprochenen Sprache. Man ist <strong>de</strong>shalb<br />
gezwungen, sich die wenigen Anregungen herauszusuchen und eigene Kreativität<br />
zu entfalten. Einige Übungen fin<strong>de</strong>n sich in Rug/Tomaszewski (1993: 306-308); sie<br />
beziehen sich u.a. auf die weil-Sätze, Frontierung und Ellipsen. Außer<strong>de</strong>m hat<br />
Reershemius (1998) ein Unterrichtsbeispiel vorgestellt, wobei sie vorschlägt,<br />
anhand eines Transkriptionsbeispiels <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache für die<br />
Unterschie<strong>de</strong> zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu sensibilisieren. Die<br />
Lerner bekommen ein Beispiel vorgelegt. Zunächst wird <strong>de</strong>r Text laut gelesen, da<br />
es durch die Transkriptionskonventionen bedingte Verstehensprobleme geben<br />
könnte. Dann wer<strong>de</strong>n die Lerner aufgefor<strong>de</strong>rt, eine Liste mit Merkmalen zu<br />
erstellen, die sie ungewöhnlich fin<strong>de</strong>n. Anschließend erfolgt eine Auswertung,<br />
wobei beson<strong>de</strong>rs wichtig ist, dass die Lerner darauf aufmerksam gemacht wer<strong>de</strong>n,<br />
dass die Auswahl sprachlicher Mittel im jeweiligen Register durch bestimmte<br />
Kriterien <strong>de</strong>r Kommunikationssituation bestimmt wird. Das be<strong>de</strong>utet in an<strong>de</strong>ren<br />
Worten: Ziel einer solchen Unterrichtseinheit ist die grundsätzliche Sensibilisierung<br />
für Unterschie<strong>de</strong> zwischen bei<strong>de</strong>n Registern bzw. Nähe- und<br />
Distanzkommunikation. Eine <strong>de</strong>taillierte Information über alle sprachlichen<br />
Unterschie<strong>de</strong> kann nicht angestrebt wer<strong>de</strong>n, da es zum einen <strong>de</strong>n Lerner<br />
überfor<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong> und da zum an<strong>de</strong>ren, wie bereits dargelegt wur<strong>de</strong>, die<br />
linguistische Grundlagenforschung noch kein Material für eine grammatische<br />
Gesamtdarstellung <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache bietet.<br />
Ein Beispiel für <strong>de</strong>n Umgang mit gesprochenen Texten im Unterricht<br />
Ich möchte dies nun anhand eines Beispiels aus einer Talkshow (1996)<br />
<strong>de</strong>monstrieren. 11<br />
ILONA CHRISTEN: Der verlorene Kampf um’s Kind<br />
1 Ch: Ihnen herzlich willkommen im Studio, Ihnen einen schönen<br />
Nachmittag zu Hause. Ehescheidung und dann nach <strong>de</strong>r Trennung<br />
geht <strong>de</strong>r Kampf weiter, <strong>de</strong>r Kampf um die Kin<strong>de</strong>r. Wer bekommt sie,<br />
kann jemand diesen Kampf überhaupt als Gewinner verlassen. Es<br />
sind in Deutschland jährlich über 240000 Kin<strong>de</strong>r, die unter <strong>de</strong>r<br />
zerstörten Partnerschaft lei<strong>de</strong>n – <strong>de</strong>r verlorne Kampf ums Kind ist<br />
heute<br />
5 mein Thema. Mein erster Gast in <strong>de</strong>r Run<strong>de</strong> ist Sylvia, Sylvia ist die<br />
11 Es han<strong>de</strong>lt sich dabei um eine Talkshow, die in <strong>de</strong>r journalistischen Fachliteratur „Trivial-<br />
Talk“ genannt wird (vgl. dazu Fley 1997). Diese Talkshowform hat in <strong>de</strong>n letzten Jahren in<br />
Deutschland einen Boom erlebt – von 10 bis 17 Uhr kann <strong>de</strong>rzeit je<strong>de</strong>r über alles re<strong>de</strong>n. Das<br />
Ergebnis ist eine Textsorte, in <strong>de</strong>r die Sprecher aus verschie<strong>de</strong>nen sozialen Schichten auf<br />
Grund ihrer emotionalen Beteiligung Umgangssprache sprechen.<br />
314
Mutter von Marylin, die Tochter ist bei Pflegeeltern, warum?<br />
S: Nach meinem Autounfall 1987 hat mein Mann bzw. 1990 meine<br />
Tochter einfach ohne meine Einwilligung <strong>de</strong>n Pateneltern gegeben<br />
und aus meiner Wohnung raus entführt.<br />
Ch: Wie steht <strong>de</strong>nn das Jugendamt dazu, was sagen die?<br />
10 S: Das, als ich das erste Mal da war, haben sie zu mir gesagt, Sie<br />
sind doch gelähmt, was wollen Sie mit <strong>de</strong>m Kind, ich sollte nicht<br />
so einen großen Aufstand machen, das Kind wäre da doch<br />
bestimmt besser dort aufgehoben als bei mir, <strong>de</strong>nn das Kind<br />
wür<strong>de</strong> doch bestimmt darunter lei<strong>de</strong>n, daß ich im Rollstuhl sitze.<br />
Ch: Sie wollen weiter kämpfen und die Tochter wie<strong>de</strong>r haben?<br />
15 S: Ja, weil ich liebe meine Tochter und ich <strong>de</strong>nke mir, meine Tochter<br />
gehört zu uns in meine Familie und ich hab sie nicht freiwillig diesen<br />
Leuten gegeben, Ich hab sie geboren, und ich hab sie unterm<br />
Herzen getragen und ich hab die Schmerzen gehabt, und ich hab's<br />
gesehen, wie sie aufgewachsen ist, und ich möchte das auch<br />
weiterhin gerne sehen.<br />
Ch: Der verlorene Kampf ums Kind, mein Thema heute, wir sehen<br />
uns, bis gleich. Der verlorene<br />
20 Kampf ums Kind.<br />
Sieht aus wie eine kleine Spielhandlung, ist aber keine, gehört zu<br />
<strong>de</strong>n Fällen, über die wir heute sprechen wollen. Sylvia, Sie waren<br />
einundzwanzig, als Sie geheiratet haben, waren damals schwanger,<br />
aber nicht von ihrem Mann. Der wußte das?<br />
S: Ja, mein Mann kam aus Ungarn, und ich hab ihn, also ich hab ihn<br />
seit <strong>de</strong>m 10. Lebensjahr<br />
kennengelernt durch meinen verstorbenen Bru<strong>de</strong>r, weil auch meine<br />
Verwandten in Ungarn wohnten und wir je<strong>de</strong>s Jahr darüber fuhren,<br />
als mein Vater gestorben ist. Ich sagte ihm, daß ich von jemand<br />
an<strong>de</strong>rs schwanger war, aber ihm war es egal, er wollte unbedingt<br />
nach Deutschland, und war damit einverstan<strong>de</strong>n.<br />
Ch: Als das Kind dann geboren war – Euer Verhältnis?<br />
30 S: War, also bis zu <strong>de</strong>m Zeitpunkt, sagen wir mal ganz gut in<br />
Anführungsstrichen, ich hab gedacht gehabt, das wär wirklich die<br />
wahre Liebe, aber dann mittlerweile hat es ist dann rausgekommen,<br />
daß es 'ne Urlaubsliebe war und daß es doch nicht so war.<br />
Ch: Wie kam es <strong>zur</strong> Trennung, erst mal die erste, ihr habt ja mal so<br />
einen Probeversuch gemacht erst mal, um mal zu gucken<br />
35 S: Ja wir waren zweieinhalb Jahre waren wir zusammen dann<br />
gewesen. Ich hab dann also gemerkt, daß war nicht, er hat nicht er<br />
hat sich dann auch ganz an<strong>de</strong>rs verhalten wie es normalerweise wie<br />
es die große Liebe ist und irgendwo klingt es dann ab, und dann hab<br />
ich zu ihm gesagt gehabt, das ist besser, wenn wir uns trennen. Und<br />
dann haben wir uns <strong>de</strong>nn auch getrennt. Ich hab mir 'ne eigne<br />
Wohnu genommen mit meiner Tochter mit Marylin zusammen und<br />
da haben aber schon die Pateneltern Frau<br />
40 Oberfeld und mein Exehemann da waren die schon zum Jugendamt<br />
315
gegangen und haben dann beim Jugendamt gesagt, ich wür<strong>de</strong> das<br />
Kind vernachlässigen, ich wür<strong>de</strong> das Kind bei Türken abgeben, ich<br />
wür<strong>de</strong> das Kind mißhan<strong>de</strong>ln und schlecht behan<strong>de</strong>ln und ich wür<strong>de</strong><br />
immer rausgehen und für das Kind nicht sorgen.<br />
Dieser Text ist leicht zu lesen, da hier nur <strong>de</strong>r Wortlaut notiert wur<strong>de</strong> und keine<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r mündlichen Kommunikation. 12 Eine solche „literarische<br />
Transkription“ 13 eignet sich für eine erste Annäherung an grammatische<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache, weil die vielen<br />
zusätzlichen Informationen in einem z.B. nach HIAT 14 transkribierten Text nur<br />
ablenken und verwirren wür<strong>de</strong>n. Nach einem ersten gemeinsamen Lesen müsste<br />
man nun <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n etwas Zeit geben, um das herauszusuchen, was ihnen im<br />
Bereich <strong>de</strong>r Grammatik auffällig erscheint. Das könnten in diesem Text<br />
wahrscheinlich folgen<strong>de</strong> Erscheinungen sein:<br />
<strong>de</strong>r häufige Ellipsengebrauch – z.B. in <strong>de</strong>n Zeilen 1-2, 19-20. 29-30<br />
Einschübe, wie in Zeile 7<br />
Satzabbrüche bzw. Korrekturen wie in Zeile 10 o<strong>de</strong>r 36<br />
parataktische weil-Sätze wie in Zeile 15<br />
Tempusgebrauch im gesamten Text: Präteritum in <strong>de</strong>r Regel nur bei <strong>de</strong>n<br />
Modalverben und haben und sein; ansonsten hauptsächlich Perfekt bzw. Perfekt II<br />
(Zeile 37).<br />
Hier muss damit gerechnet wer<strong>de</strong>n, dass die an diese Art von Texten nicht<br />
gewöhnten Lerner nun protestieren und dies als schlechtes Deutsch bezeichnen<br />
wür<strong>de</strong>n. Dem ist mit Hoffmann (1998: 3) entgegenzuhalten:<br />
Doch auch das scheinbare Chaos folgt beschreibbaren Regularitäten, wenn man<br />
Zwecke, Wissen, Planungsprozesse und Notwendigkeiten eines durch Flüchtigkeit<br />
<strong>de</strong>s Gesagten bestimmten Diskurses systematisch einbezieht.<br />
Das be<strong>de</strong>utet angewen<strong>de</strong>t auf unseren Beispieltext:<br />
1. Ellipsen wer<strong>de</strong>n in solchen Kontexten verwen<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>nen ein „vollständiger<br />
Satz“ nicht notwendig wäre, da die Kommunikationssituation die notwendigen<br />
Voraussetzungen für das Verständnis schafft. So <strong>de</strong>finiert Hoffmann in <strong>de</strong>r IDS-<br />
Grammatik (1997: 413):<br />
Die elliptische Prozedur ist ein Verbalisierungsverfahren für kommunikative<br />
Minimaleinheiten, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Sprecher systematisch nicht versprachlicht, was<br />
aufgrund gemeinsamer Orientierung in <strong>de</strong>r Sprechsituation, im aktuellen<br />
Handlungszusammenhang o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Basis sprachlichen Wissens in <strong>de</strong>n<br />
Hintergrund eingehen und mitverstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann.<br />
In <strong>de</strong>r ersten Passage <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>ratorin gibt <strong>de</strong>r Kontext die notwendigen<br />
12 Die meisten Korpussammlungen sind so transkribiert, dass das Ergebnis nicht nur <strong>de</strong>n<br />
Wortlaut, son<strong>de</strong>rn auch Beson<strong>de</strong>rheiten mündlicher Kommunikation (wie z.B. simultanes<br />
Sprechen) erfasst. Die Art und Weise einer Transkription hängt vom<br />
Untersuchungsgegenstand ab – das vorliegen<strong>de</strong> Beispiel wur<strong>de</strong> für eine Untersuchung von<br />
Tempus erstellt – dafür war es nicht nötig, Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r mündlichen Kommunikation<br />
zu erfassen.<br />
13 Vgl. Schlobinski (1996: 69f.).<br />
14 = Halbinterpretative Arbeitstranskription, vgl. Schlobinski (1996: 66ff.).<br />
316
Informationen; bei <strong>de</strong>r Beantwortung <strong>de</strong>r vorletzten Frage knüpft <strong>de</strong>r Gast in Form<br />
einer Adjazenzellipse an die Frage an – eine neue Versprachlichung von „unser<br />
Verhältnis war“ ist kommunikativ nicht notwendig.<br />
2./3. Einschübe, Reparaturen und Abbrüche lassen sich dadurch erklären, dass<br />
man beim Sprechen ja simultan <strong>de</strong>nkt und versprachlicht – <strong>de</strong>mentsprechend wird<br />
etwas nachträglich eingefügt, was vorher vergessen wur<strong>de</strong>; angefangene Sätze<br />
wer<strong>de</strong>n abgebrochen, weil <strong>de</strong>m Sprecher in <strong>de</strong>m Moment einfällt, dass er<br />
eigentlich etwas An<strong>de</strong>res sagen wollte bzw. wie das zu Sagen<strong>de</strong> besser zu<br />
formulieren wäre – es wer<strong>de</strong>n neue Konstruktionen gebil<strong>de</strong>t und die vorher<br />
begonnenen bleiben unvollen<strong>de</strong>t. Man muss dabei be<strong>de</strong>nken, dass <strong>de</strong>m<br />
Sprechen<strong>de</strong>n sehr wenig Zeit <strong>zur</strong> Verfügung steht, da eine Fortführung seines<br />
Re<strong>de</strong>beitrages vom Zuhörer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zuhörern erwartet wird. Beim Schreiben<br />
dagegen können wir die Korrekturen unbemerkt vom Leser in <strong>de</strong>n Text einarbeiten,<br />
da hier Produktion und Rezeption nicht synchron verlaufen. 15<br />
4. Die Regelmäßigkeit von parataktischen weil-Sätzen ist in <strong>de</strong>r<br />
Forschungsliteratur mehrfach herausgearbeitet wor<strong>de</strong>n; plausibel scheint mir vor<br />
allem die Erklärung, dass die Konjunktion weil hier das schriftsprachliche <strong>de</strong>nn<br />
ersetzt, 16 d.h. es erfolgt keine Sub-, son<strong>de</strong>rn eine Koordination – weil-Sätze mit<br />
Verbzweitstellung verhalten sich wie Hauptsätze.<br />
5. Zum Tempusgebrauch in <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache sei hier nur soviel gesagt,<br />
dass dieser einerseits sprecherabhängig ist, an<strong>de</strong>rerseits aber auch bedingt ist<br />
durch die Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache <strong>zur</strong> Klammer, wie sie Weinrich in seiner<br />
Textgrammatik beschrieben hat (1993: 23). 17 Durch die stärkere<br />
Situationsbezogenheit gesprochener Sprache müssen die Tempora <strong>de</strong>n<br />
Sachverhalt nicht in <strong>de</strong>m Maße exakt zeitlich einordnen wie in <strong>de</strong>r geschriebenen<br />
Sprache – die Konsequenz ist, dass <strong>de</strong>r Sprecher vor allem im Bereich <strong>de</strong>r<br />
Vergangenheitstempora relativ frei zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Tempora wählen<br />
kann. 18<br />
Diese stichpunktartigen Erklärungen sollten zeigen: Was in <strong>de</strong>r gesprochenen<br />
Sprache an<strong>de</strong>rs ist als in <strong>de</strong>r geschriebenen, ist nicht grundsätzlich falsch, son<strong>de</strong>rn<br />
folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten – man darf die gesprochene Sprache nicht durch<br />
die Normbrille <strong>de</strong>s Geschriebenen betrachten:<br />
Die Brille <strong>de</strong>r GSCHS, die wir ständig auf <strong>de</strong>r Nase haben, wird nur selten bewußt<br />
und nähme man sie ab – gesetzt man könnte es so ohne weiteres -, wür<strong>de</strong>n die<br />
Konturen nur noch mehr verschwimmen. Die richtige Brille für die GSPS gibt es<br />
noch nicht. (Fiehler 1994: 176) 19<br />
15<br />
Vgl. dazu Klein (1985: 22ff.)<br />
16<br />
Vgl. dazu Wegener (1993, 299). Zu weiteren Beiträgen zu diesem Thema siehe<br />
Hoffmann (1998: 37ff.).<br />
17<br />
Vgl. dazu Sieberg (1984: 253ff.).<br />
18<br />
Zur genaueren Beschreibung dieses Phänomens sowie zu Faktoren, die die prinzipielle<br />
Austauschbarkeit einschränken, vgl. Hennig (1998/2000b).<br />
19<br />
GSCHS = geschriebene Sprache; GSPS = gesprochene Sprache<br />
317
Weitere Vorschläge<br />
Während das in 4.1 vorgestellte Textbeispiel nur <strong>de</strong>n Wortlaut <strong>de</strong>r gesprochenen<br />
Sprache erfasste und somit hauptsächlich für syntaktische Analysen geeignet ist,<br />
ist auch <strong>de</strong>r Einsatz von nach HIAT transkribierten Texten im Unterricht <strong>de</strong>nkbar –<br />
diese zu verwen<strong>de</strong>n ist beson<strong>de</strong>rs dann sinnvoll, wenn <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n nicht nur<br />
Unterschie<strong>de</strong> im Bereich <strong>de</strong>r Grammatik im engeren Sinne bewusst gemacht<br />
wer<strong>de</strong>n sollen, son<strong>de</strong>rn allgemeine Unterschie<strong>de</strong> zwischen mündlicher und<br />
schriftlicher Kommunikation. 20 Wichtig ist bei <strong>de</strong>m Einsatz eines solchen Textes,<br />
dass er zunächst laut gelesen wird, da die Transkriptionskonventionen<br />
Verstehensprobleme mit sich bringen können. Anschließend kann man anhand<br />
eines solchen Beispiels <strong>de</strong>m Lerner bewusst machen, in welcher Hinsicht sich die<br />
Kommunikationssituation von schriftlicher Kommunikation unterschei<strong>de</strong>t. An erster<br />
Stelle wird hier auffallen, dass teilweise simultan gesprochen wird – um das<br />
festzuhalten, verwen<strong>de</strong>t man in <strong>de</strong>r Transkription die sogenannte<br />
Partiturschreibweise. Außer<strong>de</strong>m könnte man das Augenmerk darauf lenken, wie<br />
die Dialogizität, die in <strong>de</strong>r gesprochenen Sprache ja <strong>de</strong>r Normalfall ist, die<br />
Organisation <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> bestimmt – wie z.B. Zwischenrufe, Bestätigungen durch<br />
„mhm“ o<strong>de</strong>r Kopfnicken bzw. ablehnen<strong>de</strong> Gesten und Äußerungen <strong>de</strong>n Ablauf <strong>de</strong>r<br />
Re<strong>de</strong> beeinflussen.<br />
Möglich wäre noch Vieles mehr: So wäre es z.B. sinnvoll, zunächst mit einem<br />
Transkriptionsbeispiel aus <strong>de</strong>r Muttersprache <strong>de</strong>r Lerner anzufangen (wenn die<br />
Lernergruppe homogen ist und solches Material <strong>zur</strong> Verfügung steht), um sie<br />
anhand <strong>de</strong>r ihr vertrauten Sprache für die prinzipiellen Unterschie<strong>de</strong> zwischen<br />
mündlicher und schriftlicher Kommunikation zu sensibilisieren. Günstig wäre auch,<br />
bei <strong>de</strong>r vertiefen<strong>de</strong>n Behandlung von grammatischen Schwerpunkten in <strong>de</strong>r<br />
Mittelstufe gesprochene Texte einzubeziehen – man könnte z.B. <strong>de</strong>n Tempus-<br />
o<strong>de</strong>r Konjunktivgebrauch in Texten <strong>de</strong>r geschriebenen und gesprochenen Sprache<br />
vergleichen. Wünschenswert wäre auch ein Vergleich verschie<strong>de</strong>ner Textsorten<br />
sowohl <strong>de</strong>r gesprochenen als auch <strong>de</strong>r geschriebenen Sprache. Im universitären<br />
Deutschunterricht könnte man die Stu<strong>de</strong>nten dazu anregen, selbst eine<br />
Transkription anzufertigen.<br />
Auch wenn es wenig Material <strong>zur</strong> Behandlung von Beson<strong>de</strong>rheiten gesprochener<br />
Sprache gibt, sollte man <strong>de</strong>shalb nicht davor <strong>zur</strong>ückschrecken, diese in <strong>de</strong>n<br />
Unterricht einzubeziehen. Im Gegenteil: Diese Defizite sollten uns ein Ansporn<br />
dafür sein, eigene Ansätze für <strong>de</strong>n Umgang mit gesprochener Sprache zu<br />
entwickeln.<br />
Literatur<br />
Auer, Peter (1997): Formen und Funktionen <strong>de</strong>r Vor-Vorfeldbesetzung im<br />
gesprochenen Deutsch. In: Schlobinski (Hrsg.), 55-91.<br />
Bausch, Karl-Heinz (1979): Modalität und Konjunktivgebrauch in <strong>de</strong>r gesprochenen<br />
<strong>de</strong>utschen Standardsprache. Sprachsystem, Sprachvaraiation und Sprachwan<strong>de</strong>l<br />
20 Zu verfügbaren Korpora vgl. Schwitalla (1997: 199) sowie Hoffmann (1998: 19f.).<br />
318
im heutigen Deutsch. Teil I Forschungslage, theoretische Grundlagen,<br />
morphologische Analyse. – München: Hueber (=HeutigesDeutsch 1; 9.1).<br />
Behaghel, Otto (1899/1927/1967): Von <strong>de</strong>utscher Sprache. Aufsätze, Vorträge<br />
und Plau<strong>de</strong>reien, Lahr/Wiesba<strong>de</strong>n: Schauenburg.<br />
Behr, Irmtraud/Quintin, Hervé (1996): Verblose Sätze im Deutschen. Tübingen:<br />
Stauffenburg (=Euro<strong>germanistik</strong> 4).<br />
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321
322
ASTRID MEYER-SCHUBERT<br />
WIEN<br />
Rhetorik in ihrer weiblichen Geschlechtsspezifik. Die<br />
feministische Linguistik<br />
In <strong>de</strong>r bisherigen feministischen Literatur ging und geht es in Bezug auf männliche<br />
o<strong>de</strong>r weibliche Re<strong>de</strong> immer um Begrifflichkeiten wie „weibliches Sprechen“ o<strong>de</strong>r<br />
„Männer- bzw. Frauensprache“. Die einen (Postl) meinen, daß nicht von<br />
geschlechtsspezifischen Unterschie<strong>de</strong>n hinsichtlich <strong>de</strong>r Sprache, son<strong>de</strong>rn nur in<br />
Bezug auf das Sprechen die Re<strong>de</strong> sein kann, da mit „Sprache“ das<br />
grammatikalische System, mit „Sprechen“ hingegen <strong>de</strong>r Gebrauch von Sprache<br />
gemeint ist. Die an<strong>de</strong>ren (Trömel-Plötz, Pusch) benutzen die Worte<br />
„Frauensprache, Männersprache“ und zielen damit auf verschie<strong>de</strong>ne "Kulturen"<br />
zwischen Männern und Frauen, die sich nicht nur im Verhalten (Sprechen)<br />
nie<strong>de</strong>rschlagen, son<strong>de</strong>rn ebenso im System von Wörtern, Wortgruppen o<strong>de</strong>r auch<br />
Satzbildungen. Unter Frauen- und Männersprache wäre somit sowohl die<br />
Verschie<strong>de</strong>nartigkeit <strong>de</strong>s Systems als auch <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nartige mentale<br />
Ausdruck von zwei Geschlechtern zu verstehen, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r feministischen Literatur<br />
wissenschaftlichen Analysen unterworfen wird. Trömel-Plötz sagt dazu:<br />
Unter <strong>de</strong>m Gebiet Frauensprache verstehe ich: die wissenschaftliche Analyse <strong>de</strong>r<br />
Situation <strong>de</strong>r Frau, wie sie sich in <strong>de</strong>r Sprache nie<strong>de</strong>rschlägt. Die zu bearbeiten<strong>de</strong>n<br />
linguistischen Fragen sind, ob und wie Frauen und Männer unterschiedlich<br />
sprechen und wie sie in <strong>de</strong>r Sprache unterschiedlich behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. (Trömel-<br />
Plötz, Frauensprache 1996, 66)<br />
Aber es sei noch ein weiterer Begriff hinzugefügt, nämlich <strong>de</strong>rjenige <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>kunst<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Rhetorik, weil er noch mehr als die Worte „Sprache“ o<strong>de</strong>r „Sprechen“ die<br />
Absicht und die Zielgerichtetheit <strong>de</strong>s Sprechen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Sprechen<strong>de</strong>n betont.<br />
Da <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Rhetorik <strong>de</strong>n Machtimpetus <strong>de</strong>r Sprache in sich trägt, muß<br />
ersterer gleichzeitig auf eine Ohnmacht hinweisen, die ihren Ausdruck im<br />
Schweigen fin<strong>de</strong>t.<br />
Unter Rhetorik wird seit <strong>de</strong>n Griechen eine bewußt eingeübte, ja als Kunstdisziplin<br />
angesehene Re<strong>de</strong> verstan<strong>de</strong>n, welche als Technik <strong>de</strong>n klassischen Ort <strong>de</strong>r<br />
Verbindung von System und Ausführung darstellt. Die grundsätzliche Be<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>r Rhetorik o<strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>kunst sieht das Historische Wörterbuch <strong>de</strong>r Philosophie<br />
u.a. in folgen<strong>de</strong>m:<br />
Durch die Re<strong>de</strong> will <strong>de</strong>r Sprecher bei <strong>de</strong>n Hörern ein bestimmtes Ziel erreichen;<br />
dies gelingt mit manchen Formen <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> besser als mit an<strong>de</strong>ren; Beobachtung<br />
und Erfahrung führen <strong>zur</strong> Bevorzugung <strong>de</strong>r wirkungsvolleren<br />
Ausdrucksmöglichkeiten, also <strong>zur</strong> Re<strong>de</strong>kunst. (Ritter 1992)<br />
Was hier sofort ins Auge sticht, ist, daß es unter <strong>de</strong>n Sprechern und Hörern<br />
scheinbar nur Männer gibt: "DER SPRECHER UND DER HÖRER"; daß die Re<strong>de</strong><br />
323
männlich besetzt ist, und damit suggeriert wird, daß das an<strong>de</strong>re Geschlecht, das<br />
weibliche, welches die Hälfte <strong>de</strong>r gesamten Menschheit ausmacht, <strong>de</strong>r<br />
Re<strong>de</strong>>kunst< von vornherein beraubt wird. Da die Re<strong>de</strong> jedoch eine Form <strong>de</strong>s<br />
verbalen o<strong>de</strong>r mentalen Sprachvermögens <strong>de</strong>s Menschen ist, die Sprache <strong>de</strong>m<br />
Menschen bzw. <strong>de</strong>r „Menschin“ erst Wür<strong>de</strong> verleiht und nach Aristoteles das<br />
Sprachvermögen <strong>de</strong>n Menschen sogar erst ausmacht, stellt sich die dringen<strong>de</strong><br />
Frage, warum dann hinsichtlich <strong>de</strong>r Definition <strong>de</strong>s Rhetorikbegriffs nur männliche<br />
Suffixe gebraucht wer<strong>de</strong>n. Die rein männlich <strong>de</strong>finierte Rhetorik nimmt <strong>de</strong>r Frau<br />
nicht nur das Recht, mit Bewußtsein und Wille sprechend ein Ziel zu erreichen,<br />
son<strong>de</strong>rn blen<strong>de</strong>t die Frau in ihrem Menschsein damit vollkommen aus.<br />
Das männliche Denken und damit die männliche Sprache verschleiert – bleiben wir<br />
bei unserem oben zitierten Beispiel – mit <strong>de</strong>n Worten „Sprecher“ und „Hörer“, daß<br />
die menschliche Gattung zweierlei Geschlechts ist. Sie wird nur von einem<br />
Geschlecht sprachlich vertreten und damit wer<strong>de</strong>n die Bewußtheit, <strong>de</strong>r Wille und<br />
die Zielgerichtetheit weiblichen Han<strong>de</strong>lns unterminiert. Die Dominanz <strong>de</strong>s<br />
männlichen Geschlechts hinsichtlich <strong>de</strong>r Definition <strong>de</strong>r menschlichen Gattung<br />
vereinnahmt damit die tatsächliche Aktivität <strong>de</strong>r Frau in ihrem Menschsein, das<br />
sich, wie oben schon erwähnt, durch das Sprachvermögen <strong>de</strong>finiert. Die reine<br />
Gebärtätigkeit, die <strong>de</strong>r Mann <strong>de</strong>m Menschsein <strong>de</strong>r Frau läßt, weil sie dadurch auch<br />
seinesgleichen zum Leben verhilft und so die gesamte Gattung physisch<br />
reproduziert, kann je<strong>de</strong>rzeit, ebenso wie die Zeugungsfähigkeit <strong>de</strong>s Mannes, auch<br />
auf die Stufe <strong>de</strong>s Tieres gestellt wer<strong>de</strong>n. Wenn aber einem Teil <strong>de</strong>r Menschheit die<br />
Sprache vorenthalten wird und er somit zum Schweigen verurteilt ist, beschnei<strong>de</strong>t<br />
man ihn in seiner freien menschlichen Entfaltung und in <strong>de</strong>r Konstituierung seiner<br />
Wirklichkeit. Wo aber bleibt <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Teil <strong>de</strong>r Menschheit? Muß er sich vom<br />
„Sprecher“ seine Sicht <strong>de</strong>r Welt vorschreiben lassen, muß er mitmachen als<br />
„Hörer“ und somit <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s Sprechens kritiklos übernehmen? Muß er<br />
vielleicht sogar sein Geschlecht verleugnen, sich als Mann verklei<strong>de</strong>n, um<br />
sprechen zu können? O<strong>de</strong>r kann er auf sein sprachliches Grundsatzrecht pochen,<br />
das durch die Grammatik <strong>de</strong>m weiblichen Geschlecht notgedrungen Raum gibt,<br />
entsprechend <strong>de</strong>r Tatsache, daß <strong>de</strong>r Mensch männlich und weiblich ist? Vielleicht<br />
zeichnet sich doch die Hoffnung ab, daß sich die Frau auch die Möglichkeit <strong>de</strong>s<br />
Menschseins erkämpfen kann, daß es neben <strong>de</strong>m Menschen als Mann auch einen<br />
Menschen als Frau gibt, die genau dieselben Menschenrechte auf<br />
Selbstbestimmung und Wür<strong>de</strong> hat wie ihr männlicher Part. Existiert vielleicht doch<br />
eine Ausdrucksweise <strong>de</strong>r Frau jenseits <strong>de</strong>s männlichen Blickes und seiner<br />
Definitionsmacht?<br />
Die folgen<strong>de</strong>n Gesprächsanalysen beziehen sich in <strong>de</strong>r Hauptsache auf die<br />
Arbeiten von Senta Trömel-Plötz, <strong>de</strong>r Begrün<strong>de</strong>rin einer feministischen Linguistik in<br />
Deutschland, und auf die von ihr herausgegebenen Arbeiten ihrer zumeist<br />
amerikanischen Kolleginnen.<br />
In ihrem Buch Frauensprache: Sprache <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung, das in seiner ersten<br />
Auflage 1983 erschien, schil<strong>de</strong>rt sie, wie notwendig eine Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Sprache<br />
gera<strong>de</strong> für Frauen ist, weil <strong>de</strong>r größte Teil <strong>de</strong>s menschlichen<br />
Bewußtwerdungsprozesses über Sprache läuft. So müßte sich ein neues<br />
geschlechtliches Bewußtsein durch eine neue Sprache ausdrücken. Von ihrem<br />
feministischen Hintergrund her sagt Trömel-Plötz:<br />
324
Frauensprache heißt, Frauen re<strong>de</strong>n mit Autorität, Energie und Stärke, Frauen<br />
re<strong>de</strong>n miteinan<strong>de</strong>r in Zuwendung, Zuneigung und Offenheit, Frauen erheben die<br />
Stimme, Frauen unterstützen Frauenstimmen, Frauen hören Frauen, Frauen<br />
wer<strong>de</strong>n gehört, Frauensprache heißt Verän<strong>de</strong>rung. (1996,34)<br />
Die im Jahre 1970 entstan<strong>de</strong>ne „Neue Frauenbewegung“ in Deutschland wehrte<br />
sich gegen die Unterdrückung und Bevormundung vonseiten <strong>de</strong>s männlichen<br />
Geschlechts, in <strong>de</strong>ren Verlauf unzählige Arten von Literatur entstan<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen<br />
es zentral um die Auf<strong>de</strong>ckung patriarchaler Strukturen ging, die Frauen ihren<br />
Bewegungsraum nehmen, sie vereinnahmen und zum Schweigen bringen. Die<br />
Frau sollte als Individuum gelten, was <strong>de</strong>r zentrale Aufbruchsgedanke, sich nicht<br />
mehr über Mann und Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finieren zu wollen, aussagte. Das weibliche<br />
Geschlecht in seiner Geschlechtsautonomie wollte endlich einmal selbst als<br />
Person auftreten können, sich durch eigene objektiv sichtbare Leistungen<br />
<strong>de</strong>finieren, und sich als ganzer Mensch beweisen. Frauen drangen im Verlauf <strong>de</strong>r<br />
Bewegung in männlich dominierte Lebensbereiche ein, wie in diesem Fall <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaft o<strong>de</strong>r grün<strong>de</strong>ten eine Subkultur. In diesem Sinne <strong>de</strong>r<br />
Bewußtwerdung, daß die Frauen genauso ein Recht haben, Wirklichkeit zu<br />
<strong>de</strong>finieren und <strong>de</strong>r Welt eine Ordnung zu geben, wie es die Männer seit jeher<br />
taten, spricht sich Senta Trömel-Plötz für eine „Frauensprache“ aus.<br />
Geschlechtsspezifische linguistische Fragen entstan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Erfahrung <strong>de</strong>r<br />
Ungleichheit. Die Frau wird schlechter behan<strong>de</strong>lt als <strong>de</strong>r Mann, sie hat weniger<br />
Recht, sie ist von geringerem menschlichen Wert:<br />
Linguistische Fragen, die heute gestellt wer<strong>de</strong>n, lauten daher: Wie wer<strong>de</strong>n Frauen<br />
von <strong>de</strong>r Sprache behan<strong>de</strong>lt, z.B. welche Möglichkeiten, zu sprechen und dabei<br />
Frauen ein- o<strong>de</strong>r auszuschließen, sind im sprachlichen System vorgegeben, wie<br />
wer<strong>de</strong>n Frauen von <strong>de</strong>n Sprechern behan<strong>de</strong>lt, d.h., wie lassen sie mit sich und über<br />
sich re<strong>de</strong>n; wie dürfen und können sich Frauen artikulieren, d.h., wie folgen sie <strong>de</strong>n<br />
sprachlichen und kommunikativen Erwartungen, die man an sie stellt, und wie<br />
können sie sich dagegen wehren? (1996,37)<br />
Bei vielen sprachlichen Nomina, Personalpronomina o<strong>de</strong>r Possessivpronomina<br />
sagt man, sie seien geschlechtsin<strong>de</strong>finit gebraucht, wie z.B. bei „<strong>de</strong>r Zuhörer, <strong>de</strong>r<br />
Mensch, <strong>de</strong>r Arzt“, o<strong>de</strong>r bei Personalpronomina „je<strong>de</strong>r, jemand, man, wer“. Um die<br />
Behauptung zu wi<strong>de</strong>rlegen, es han<strong>de</strong>le sich bei gewissen sprachlichen<br />
Konstruktionen um einen geschlechtsin<strong>de</strong>finiten Gebrauch, auch wenn eine<br />
Satzkonstruktion in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s Maskulinums gehan<strong>de</strong>lt wird, benutzt Trömel-<br />
Plötz zum Beleg <strong>de</strong>r Unrichtigkeit dieser Aussage folgen<strong>de</strong> Beispiele:<br />
1. Je<strong>de</strong>r Passagier möge ihren Platz i<strong>de</strong>ntifizieren.<br />
2. Wir brauchen jeman<strong>de</strong>n,die ihren Mann steht.<br />
3. Man erlebt ihre Schwangerschaft und Geburt je<strong>de</strong>s Mal an<strong>de</strong>rs.<br />
4. Wer hat ihren Lippenstift im Bad gelassen?<br />
5. Je<strong>de</strong>r kann ihren Beitrag für das ganze Seminar vervielfältigen.<br />
Bei diesen Beispielen fällt auf, daß <strong>de</strong>r sogenannte geschlechtsin<strong>de</strong>finite Gebrauch<br />
mit <strong>de</strong>m Maskulinum i<strong>de</strong>ntisch ist. Denn es ist grammatikalisch richtig zu sagen:<br />
1. Je<strong>de</strong>r Passagier möge seinen Platz i<strong>de</strong>ntifizieren.<br />
2. Wir brauchen jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r seinen Mann steht.<br />
3. Sie erlebt ihre Schwangerschaft und Geburt je<strong>de</strong>s Mal an<strong>de</strong>rs.<br />
4. Wer hat seinen Lippenstift im Bad gelassen?<br />
325
5. Je<strong>de</strong>r kann seinen Beitrag für das ganze Seminar vervielfältigen.<br />
Damit kann sehr genau die Vereinnahmung <strong>de</strong>r Frauen durch das männliche<br />
Geschlecht in <strong>de</strong>r Sprache beobachtet wer<strong>de</strong>n, wobei es am <strong>de</strong>utlichsten beim<br />
Begriff <strong>de</strong>s Menschen ist, als seien alle Menschen Männer (<strong>de</strong>r Mensch = <strong>de</strong>r<br />
Mann o<strong>de</strong>r auch z.B. in <strong>de</strong>r englischen Sprache, wo >man< Mensch und Mann<br />
be<strong>de</strong>utet). Auch an<strong>de</strong>re weibliche Formen wer<strong>de</strong>n durch Suffixe von <strong>de</strong>n<br />
männlichen Formen gebil<strong>de</strong>t: Gott – Göttin, Stadtrat – Stadträtin, männliche<br />
Formen hingegen fehlen zu <strong>de</strong>n weiblichen Berufen wie Hebamme, Bardame etc.<br />
Statt Krankenbru<strong>de</strong>r im Gegensatz zu Krankenschwester wird Krankenpfleger<br />
gesagt.<br />
Die min<strong>de</strong>re Bewertung und die Machtlosigkeit ihres Geschlechts erkennt man<br />
auch an <strong>de</strong>n sprachlichen Verhaltensweisen <strong>de</strong>r Frauen. Ihre häufigere Benutzung<br />
von Euphemismen o<strong>de</strong>r Diminutiva, <strong>de</strong>r Hang <strong>zur</strong> gefälligen Sprechweise, die<br />
Verhin<strong>de</strong>rung von Grobschlächtigkeiten – es fluchen nicht Frauen, son<strong>de</strong>rn<br />
primitive Weiber, die keine Erziehung genossen haben – weisen auf eine<br />
kontrollierte Sprechweise und eine starke Gefühlskontrolle hin. Die gefällige und<br />
verschönern<strong>de</strong> Re<strong>de</strong>, die Abschwächung und Verharmlosung <strong>de</strong>r Aussagen und<br />
<strong>de</strong>r liebenswürdige und scheinbar emotionale, zumin<strong>de</strong>st im positiven Sinn<br />
gefühlsträchtige Ausdruck stellen eine individuelle Zurücknahme in <strong>de</strong>r<br />
Kommunikation und – mit Senta Trömel-Plötz gesagt – ein <strong>de</strong>m kommunizieren<strong>de</strong>n<br />
Gegenüber raumgeben<strong>de</strong>s Verhalten dar:<br />
1. Abschwächung <strong>de</strong>r Aussage durch Einschränkung ihrer Gültigkeit:<br />
Es scheint, daß S.<br />
Scheinbar S.<br />
Vielleicht S.<br />
Ich wür<strong>de</strong> sagen S.<br />
S, glaube ich.<br />
Meiner Meinung nach S.<br />
etc.<br />
2. Abschwächung <strong>de</strong>r Aussage durch Infragestellung und Zustimmungsheischen:<br />
Ist es nicht so, daß S?<br />
S o<strong>de</strong>r nicht ?<br />
S, nicht wahr ?<br />
S, gell?<br />
Meinst du nicht auch, daß S ?<br />
etc.<br />
Durch die Mechanismen von 1. und 2. entsteht <strong>de</strong>r Eindruck von Unsicherheit <strong>de</strong>r<br />
Sprecherin o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Sprechers und von Unbestimmtheit und Tentativität <strong>de</strong>s<br />
Gesagten.<br />
3. Abschwächung <strong>de</strong>r Aussage durch Selbstabwertung, Entschuldigung, Einladung<br />
von Kritik etc.:<br />
Ich bin eben nur Hausfrau.<br />
Das ist nur so eine I<strong>de</strong>e von mir.<br />
Ich weiß nicht, ob Sie damit etwas anfangen können..<br />
Es fiel mir nur eben so ein.<br />
etc.<br />
Auch hier entsteht <strong>de</strong>r Eindruck von Unsicherheit und Wertlosigkeit <strong>de</strong>r Sprecherin<br />
326
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Sprechers, von unernsten I<strong>de</strong>en und Trivialität <strong>de</strong>s Gesagten. Key (1975)<br />
unterschei<strong>de</strong>t die language of explanations, die Männer Frauen gegenüber<br />
anwen<strong>de</strong>n, und die language of apology, die hauptsächlich von Frauen<br />
gesprochen wird.<br />
4. Abschwächung <strong>de</strong>r Aussage durch Indirektheit und Mittelbarkeit, z.B.<br />
4.1. Indirekte Auffor<strong>de</strong>rungen:<br />
Willst du nicht hierbleiben?<br />
Ich wür<strong>de</strong> mich freuen, wenn du das erledigen könntest.<br />
Es wäre schön, wenn ihr kommen könntet.<br />
Solltest du das nicht vielleicht än<strong>de</strong>rn?<br />
4.2. Indirekte Behauptungen:<br />
Ist das nicht eine Unverschämtheit?<br />
Ist er nicht ein Idiot?<br />
Re<strong>de</strong>t er nicht einen Haufen Unsinn?<br />
4.3. Vermeidung von ich:<br />
Man könnte sagen, daß S.<br />
Man verhält sich dann eben <strong>zur</strong>ückhaltend.<br />
Wenn du dir das recht überlegst...<br />
Sowohl durch Indirektheit wie Mittelbarkeit schafft sich die Sprecherin<br />
Rückzugsmöglichkeiten: Sie überläßt die Entscheidung <strong>de</strong>m Gesprächspartner<br />
bzw., wenn sie unbestimmt und generell re<strong>de</strong>t anstatt unmittelbar und persönlich,<br />
macht sie sich unangreifbar und ist nicht in <strong>de</strong>r gleichen Weise verantwortlich für<br />
ihre Äußerungen; sie sind unverfänglicher und unverbindlicher. (1996, 49)<br />
Was Senta Trömel-Plötz hier in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>r amerikanischen<br />
Forscherin Robin Lakoff auch als „Unsicherheit“ <strong>de</strong>r Sprecherin in <strong>de</strong>r Interaktion<br />
und mangeln<strong>de</strong>r „Selbstsicherheit“ im Sprechverhalten von Frauen interpretiert,<br />
wird in ihren späteren Forschungen als Raumgebung und Machtteilung in <strong>de</strong>r<br />
Kommunikation erklärt. Es ist noch hinzuzufügen, daß diese Art <strong>de</strong>r indirekten<br />
Einleitung von Sätzen und <strong>de</strong>s Versteckens <strong>de</strong>r individuellen Äußerungen hinter<br />
allgemeinen Formulierungen etwas mit Mutlosigkeit und <strong>de</strong>r Angst, dingfest<br />
gemacht zu wer<strong>de</strong>n, zusammenhängt. Das Verstecken <strong>de</strong>s Ich, die Verhin<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r direkten Aussagen vermei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n frontalen Kampf, <strong>de</strong>n Frauen sehr wohl in<br />
<strong>de</strong>r Mutterrolle, z.B. in <strong>de</strong>r Verteidigung ihres Kin<strong>de</strong>s, auf sich nehmen. Das<br />
Sich<strong>zur</strong>ücknehmen im Namen eines an<strong>de</strong>ren ist die typisch sozialisierte<br />
Frauenrolle, in welcher <strong>de</strong>r Frau als Frau, als Einzelperson die Wür<strong>de</strong> und Kraft<br />
<strong>de</strong>s Individuums abgesprochen wird. In <strong>de</strong>r Leugnung, Subjekt und Ich zu sein,<br />
wird letzteres damit in Mann und/o<strong>de</strong>r Kind verlängert o<strong>de</strong>r maskiert geäußert.<br />
Einer Frau, die in je<strong>de</strong>m zweiten Satz „ich“ sagt, wird das Frausein verweigert. Sie<br />
ist höchstens eine egozentrische o<strong>de</strong>r überspannte Hysterikerin, welche die<br />
Rollenverteilung nicht begriffen hat.<br />
Die Vorliebe für Übertreibungen und Wie<strong>de</strong>rholungen, für Emphase und<br />
Superlative, die Frauen nachgesagt wird und die auch auf Stärke und Autorität<br />
hinweisen könnte, steht dazu (<strong>zur</strong> Abschwächung, M.-S.) nicht im Wi<strong>de</strong>rspruch. Sie<br />
sind einfach an<strong>de</strong>re Mittel, um gehört zu wer<strong>de</strong>n, die für <strong>de</strong>n Mächtigen gar nicht<br />
nötig sind und die wahrscheinlich sowieso auf bestimmte emotionale Inhalte<br />
beschränkt sind, wo Frauen expressiv sein dürfen. So dürfen Frauen ihre positive<br />
gefühlsmäßige Anteilnahme zeigen, während sie ihre negativen, aggressiven<br />
Gefühle wie Ärger nicht stark ausdrücken dürfen [...] Um ernst genommen und<br />
327
gehört zu wer<strong>de</strong>n, muß die Frau so re<strong>de</strong>n wie <strong>de</strong>r Mann. Re<strong>de</strong>t sie aber so wie ein<br />
Mann, dann ist sie männlich und wird als Frau entwertet. Eine gescheite Frau ist<br />
schnell ein Blaustrumpf, eine Intellektuelle, eben nicht feminin. Sie wird <strong>de</strong>shalb als<br />
Frau abgetan: We<strong>de</strong>r wird sie vom Mann akzeptiert, noch wollen sich Frauen mit ihr<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren. Re<strong>de</strong>t sie aber wie eine Frau, d.h.liefert höfliche, schwache,<br />
unsubstantielle Beiträge zum Gespräch, ist feminin, d.h. liebenswürdig, schwach,<br />
hilflos, dann wird sie nicht ernst genommen und braucht nicht gehört zu wer<strong>de</strong>n.<br />
(1996,52)<br />
Aus diesem Teufelskreis herauszukommen, darin besteht das Problem <strong>de</strong>s<br />
feministischen Kampfes. Die Frage, wie Frauen einan<strong>de</strong>r dazu bringen können,<br />
zeitweilig auf ihre sozialisierte, von <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Erwartungen abhängige<br />
Geschlechtsi<strong>de</strong>ntität zu verzichten, sich die Angst vor <strong>de</strong>m sozialen Abseits zu<br />
nehmen, ist kaum beantwortbar. Die Bevorzugung eines weibchenhaften<br />
Verhaltens, die Reaktivierung <strong>de</strong>r Mutterrolle und <strong>de</strong>r Ehrgeiz, auf <strong>de</strong>m erotischen<br />
Weg an Männer zu gelangen, die sie in <strong>de</strong>r sozialen Stufenleiter nach oben ziehen<br />
könnten, anstatt sich selbst aus eigener Frauenkraft heraus Geltung zu<br />
verschaffen sowie die mangeln<strong>de</strong> Solidarität unter Frauen, sind erschreckend. Die<br />
Frage <strong>de</strong>s Engagements für die Frauenproblematik kommt hier auf. Doch läßt sich<br />
die allgemeine Ebene von <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren trennen, was soviel heißt wie, die<br />
individuelle Frau in ihrem individuellen Han<strong>de</strong>ln von <strong>de</strong>r Frauenfrage als<br />
Gattungsfrage zu separieren. Es ist Tatsache, daß Frauen als Menschen von <strong>de</strong>m<br />
männlichen Teil <strong>de</strong>r Menschheit unterdrückt und benachteiligt wer<strong>de</strong>n, daß sie in<br />
ihrem Menschsein mit all seinen Werten, Ansprüchen und Realitäten behin<strong>de</strong>rt<br />
wer<strong>de</strong>n. Es geht darum, in allen Lebensbereichen um eine Steigerung <strong>de</strong>s<br />
weiblichen Selbstwerts zu kämpfen, weil damit gleichzeitig eine Erweiterung <strong>de</strong>r<br />
Potenz <strong>de</strong>r Menschheit entsteht. Die einzelne Frau aber muß selber wissen, was<br />
sie macht, hat auch im Weibchenverhalten Verantwortung zu übernehmen und<br />
ebenso in ihrer unreflektierten Mutterrolle Rechenschaft abzulegen. Denn die<br />
gesellschaftlich bestimmte Frauenrolle basiert auf Maskierung <strong>de</strong>s menschlichen<br />
Antlitzes.<br />
Der Machtkampf zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern aber, <strong>de</strong>r diese Verstellung von<br />
Frauen verlangt und sie durch männliche „Gewalt durch Sprache“ zum Schweigen<br />
bringen will, soll jetzt, nach <strong>de</strong>m kurzen Exkurs, durch diesbezügliche Analysen<br />
weiter aufge<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Anre<strong>de</strong>n von Frauen in Form von Mädchen, Fräulein o<strong>de</strong>r Dame, versuchen<br />
die Kraft <strong>de</strong>r Persönlichkeit <strong>de</strong>r Frau zu beschnei<strong>de</strong>n. Vor gar nicht so langer Zeit<br />
war die unverheiratete Frau ein „altes Mädchen“ o<strong>de</strong>r eine „Jungfrau“. Noch<br />
heutigentags ist die ledige Frau ein „Fräulein“, die ihre Infantilität, gekennzeichnet<br />
durch ein Verniedlichungssuffix, erst durch eine gesetzlich gefestigte Bindung mit<br />
einem Mann aufgeben darf und <strong>de</strong>ren Verkleinerung erst durch Aufgabe ihres<br />
eigenen Namens, <strong>de</strong>r ja immerhin ein Ausdruck ihrer I<strong>de</strong>ntität war, behoben wird.<br />
Auch mit <strong>de</strong>r „Scheinhuldigung <strong>de</strong>r Frau als Dame“ wird <strong>de</strong>r Frau Ernsthaftigkeit<br />
und Be<strong>de</strong>utung verweigert, ihr als Luxusgeschöpf die Kraft genommen, ihr Leben<br />
aktiv und selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Die Angst vor <strong>de</strong>m starken, ihre<br />
Energie nach außen richten<strong>de</strong>n, erwachsenen, selbstverantwortlichen weiblichen<br />
Geschlecht scheint grenzenlos zu sein. Schon in <strong>de</strong>r Bibel stand, daß das Weib<br />
schweigen solle in <strong>de</strong>r Kirche. In wissenschaftlichen Analysen wird gezeigt, daß<br />
Männer mehr re<strong>de</strong>n als Frauen, obgleich es paradoxerweise in<br />
328
Klischeevorstellungen die Frau ist, die viel re<strong>de</strong>t.<br />
In Untersuchungen von Alexandra Dundas Todd über die Interaktion zwischen<br />
Gynäkologen und Patientinnen, stellen sich ähnliche Asymmetrien heraus. Hier ist<br />
es <strong>de</strong>r Arzt, <strong>de</strong>r die Situation dominiert.<br />
Frauenarzt: Wo ist das Tuch (das Tuch, das benützt wird, um Patientinnen während<br />
einer gynäkologischen Untersuchung abzu<strong>de</strong>cken)?<br />
Krankenschwester: Sie wollte keins.<br />
Patientin: Ich mag es nicht.<br />
Arzt: (zu <strong>de</strong>r Krankenschwester) Die Patientin hat nichts darüber zu sagen. Sie wird<br />
– sie wird eines benützen. Sie könnte bluten, und könnte alles an – ah – an ihre<br />
Klei<strong>de</strong>r kriegen, dann wird sie ein Geschrei machen.<br />
Krankenschwester: Okay.<br />
Arzt: (<strong>zur</strong> Patientin) In dieser Praxis benützen wir immer ein Tuch. Schätzchen, es<br />
könnte sein, daß Sie zu bluten anfangen. Dann verschmutzen Sie Ihre Klei<strong>de</strong>r und<br />
alles an<strong>de</strong>re. (Trömel-Plötz 1997,163)<br />
An diesem Beispiel können wir gut die Machtstruktur zwischen Arzt und Patientin<br />
ablesen, in welcher <strong>de</strong>r Patientin die völlige Ohnmacht bleibt. Der allein<br />
Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>r Arzt, sonst niemand, wobei er seine Frauenverachtung<br />
zusätzlich mit <strong>de</strong>m Wort „Schätzchen“ zum Ausdruck bringt, das einerseits eine<br />
Verniedlichung anzeigt, welche die Frau auf die Stufe eines Püppchens stellt,<br />
an<strong>de</strong>rerseits eine unzulässige, in ihrer Unverschämtheit nicht zu überbieten<strong>de</strong><br />
Annäherung darstellt, welche die respektvolle Distanz in einem normalen<br />
Arzt/PatientInnenverhältnis unterschreitet.<br />
Ein weiteres Beispiel für die Infantilisierung einer Patientin ist dasjenige von Frau<br />
C, die nach einer Abtreibung <strong>zur</strong> Nachuntersuchung kommt. Beim voherigen<br />
Besuch war ihr die Anweisung gegeben wor<strong>de</strong>n, keinen Geschlechtsverkehr zu<br />
haben. Bei <strong>de</strong>m nun folgen<strong>de</strong>n Untersuchungsgespräch hatte sie zu Beginn<br />
mitgeteilt, daß sie die Pille seit <strong>de</strong>r Abtreibung genommen und je<strong>de</strong>n<br />
Geschlechtsverkehr unterlassen habe. Übrig bleibt, so die Autorin, die Skepsis <strong>de</strong>s<br />
Arztes.<br />
Arzt: Jetzt passen Sie aber besser auf! Wenn Sie – sind Sie ein braves Mädchen<br />
gewesen?<br />
Patientin: Oh, ja.<br />
Arzt: Keinen sexuellen Kontakt? Jetzt müssen Sie aber ehrlich mit mir sein.<br />
Patientin: Ja. (D.h. sie ist ehrlich zu ihm, und sie hatte keinen sexuellen Kontakt).<br />
(1997,171)<br />
Was aber ebenso an diesem Beispiel interessiert, ist, daß es zeigt, wie sehr <strong>de</strong>r<br />
Arzt darauf bedacht ist, <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s Gespräches selber zu bestimmen. Nicht die<br />
Skepsis <strong>de</strong>s Arztes ist ausschlaggebend für seine wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>s<br />
schon mitgeteilten Sachverhaltes, son<strong>de</strong>rn die Ignoranz gegenüber <strong>de</strong>r schon<br />
erfolgten Mitteilung, <strong>de</strong>ren Augenblick die Frau von sich aus bestimmt hatte. Durch<br />
seine Frage zeigt er seiner Patientin, wer hier das Gepräch eröffnet und<br />
gleichzeitig einer Kontrolle unterwirft, nämlich <strong>de</strong>r Arzt, und macht daher ihre<br />
Primäraussage ungültig.<br />
329
Auch bezüglich <strong>de</strong>r Hysterektomie, <strong>de</strong>r Gebärmutterentfernung, gibt es eine<br />
wichtige Asymmetrie zwischen Arzt und Patientin. Es ist die Angst <strong>de</strong>r Patientin<br />
und ihre Uninformiertheit über an<strong>de</strong>re effektive Behandlungsmetho<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r<br />
Arzt für seine Zwecke schamlos auszunutzen versteht. Therapieentscheidungen<br />
sind interaktionelle Leistungen, wobei nicht allein <strong>de</strong>r gesellschaftliche Status <strong>de</strong>r<br />
Frau ausschlaggebend ist, son<strong>de</strong>rn auch ihre kommunikative Eigenleistung. Die<br />
Frage, warum in erster Linie <strong>zur</strong> Hysterektomie geraten wird, kann damit<br />
beantwortet wer<strong>de</strong>n, daß Ärzte die Gebärmutter als nutzloses Organ interpretieren,<br />
wenn die Frau keine Kin<strong>de</strong>r mehr haben will. Somit wird je<strong>de</strong>s Organ allein in<br />
seiner Funktionsweise betrachtet, wie es heute in <strong>de</strong>r Medizin üblich ist und nicht<br />
als notwendiger Teil <strong>de</strong>s gesamten Organismus. Das Gefühl <strong>de</strong>r Frauen wird als<br />
überflüssig erachtet. Außer<strong>de</strong>m kommt bei <strong>de</strong>r vorschnellen Empfehlung einer<br />
Hysterektomie <strong>de</strong>r Verdacht auf, als könnte es sich bei <strong>de</strong>n Ärzten um eine Art<br />
Gebärneid han<strong>de</strong>ln, ein Neid <strong>de</strong>s Mannes auf die Gebärmutter <strong>de</strong>r Frau, die er ihr<br />
nun auf legale Weise rauben kann.<br />
Pamela M. Fishman stellt in ihrer Schrift Macht und Ohnmacht in<br />
Paargesprächen die These auf, daß je<strong>de</strong>s Gespräch eine Arbeitsleistung ist und<br />
auf Arbeitsteilung beruht. Sie untersucht Alltagsgespräche zwischen Männern und<br />
Frauen und erkennt, daß in Gesprächen Realität <strong>de</strong>finiert, Wirklichkeit erarbeitet<br />
wird.<br />
Da die Bemerkungen von Männern sich öfter zu einem Gespräch entwickeln als<br />
diejenigen <strong>de</strong>r Frauen, können Männer <strong>de</strong>finieren, was besprochen wird und<br />
welche Aspekte <strong>de</strong>r Wirklichkeit am wichtigsten sind. Frauen müssen ganz<br />
bestimmte Arten von interaktioneller Arbeit in Gesprächen mit Männern leisten.<br />
Darüber hinaus wird von uns im allgemeinen gefor<strong>de</strong>rt, verfügbar zu sein. Die<br />
konversationelle Arbeit, die von Frauen erwartet wird, unterschei<strong>de</strong>t sich je nach<br />
Situation; manchmal müssen wir Publikum sein, ‚gute Zuhörerinnen‘, weil man uns<br />
gera<strong>de</strong> nicht an<strong>de</strong>rs benötigt. Wir müssen Pausen füllen und dafür sorgen, daß die<br />
Gespräche in Gang bleiben. Manchmal müssen wir die Themen an<strong>de</strong>rer Leute<br />
entwickeln und manchmal unsere eigenen Themen präsentieren und entwickeln.<br />
Die For<strong>de</strong>rungen, daß Frauen für Interaktionen verfügbar sind, sind subtil. Wenn<br />
wir Frauen diese For<strong>de</strong>rungen nicht erfüllen [...] haben wir Pobleme. Frauen, die<br />
ruhig dabeisitzen, während ein Gespräch in Gefahr ist zu mißglücken, wer<strong>de</strong>n für<br />
feindselig und unfähig gehalten. Frauen, die darauf bestehen, Interaktionen zu<br />
kontrollieren, und die dabei erfolgreich sind, wer<strong>de</strong>n kritisiert vor allem von<br />
Männern, die <strong>de</strong>n Status <strong>de</strong>r Frauen als Frauen angreifen. Sie wer<strong>de</strong>n schnell<br />
dominant, aggressiv, übergewichtig genannt. Wenn Frauen auch nur für kurze Zeit<br />
versuchen, das Gespräch mit Männern zu kontrollieren, fängt oft ein Streit an.<br />
(1997,128)<br />
Weiterhin schreibt Fishman, daß die sexuelle I<strong>de</strong>ntität von großer Wichtigkeit sei.<br />
Frauen müssen immer wie<strong>de</strong>r ihr Geschlecht beweisen. Soll das weibliche<br />
Geschlecht in <strong>de</strong>n Interaktionen anerkannt wer<strong>de</strong>n, steht die Frau unter ständigem<br />
Rechtfertigungszwang ihres Verhaltens. Hier liegt <strong>de</strong>r Punkt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ausbruch aus<br />
<strong>de</strong>m bisherigen Rollenverhalten so schwer macht.<br />
Fishmans Interesse ist es, die Arbeit zu analysieren, die Männer und Frauen<br />
leisten, wenn sie Gespräche beginnen, aufrechterhalten und been<strong>de</strong>n. Welche<br />
Strategien, fragt sie sich, führen Frauen zum Erfolg, wenn sie herausarbeitet, daß<br />
bei <strong>de</strong>r Einführung von Gesprächsthemen sich durchweg die Männer behaupten?<br />
Von 47 von Frauen eröffneten Themen waren 27 erfolgreich, von <strong>de</strong>n 29 von<br />
330
Männern eingeführten Themen wur<strong>de</strong>n 28 durchgesetzt. Es ging um alltägliche<br />
Fragen von Tagesereignissen, Zeitungsartikel, die Arbeit sowie Freun<strong>de</strong> und<br />
Freundinnen.<br />
Fishman arbeitet wie vorher heraus, daß Frauen erfolgreicher sind in<br />
Satzeinleitungen durch Fragen. Die Einführung einer Thematik durch Fragen<br />
zeigte eine höhere Erfolgsquote bei <strong>de</strong>n Frauen im Fall von Themeneinleitungen.<br />
So wer<strong>de</strong>n Fragen als rhetorische Mittel benutzt, um die Interessen vonseiten <strong>de</strong>r<br />
Frauen im Gespräch durchzusetzen. Da alleinstehen<strong>de</strong> Behauptungen ignoriert<br />
wer<strong>de</strong>n, wenn sie vom weiblichen Geschlecht geäußert wer<strong>de</strong>n, müssen Fragen<br />
als Verstärkung herhalten, damit die Sprecherin überhaupt Aufmerksamkeit<br />
bekommt. Hören wir uns wie<strong>de</strong>r Fishman dazu an:<br />
In meiner Transkription stellten die Frauen zweieinhalbmal so viele Fragen wie<br />
Männer: 263 vs.107. Davon waren 152 Bitten um Information o<strong>de</strong>r Klarifikation:<br />
Männer stellten nur 74 solcher Bitten, d.h., daß Frauen zweimal so viele Fragen<br />
diesen Typs als Männer stellten. Ungefähr ein Drittel <strong>de</strong>r 263 Fragen waren >tag<br />
questions< (Isn't it?, Shouldn't we? Couldn't we?) o<strong>de</strong>r Fragen, die die Funktion von<br />
Behauptungen hatten (Should we do our grocery shopping?, Isn't it a nice day?).<br />
Die Frauen stellten dreimal so viele dieser Fragen als die Männer. Ein großer Teil<br />
dieser Fragen hätte nicht als Frage formuliert wer<strong>de</strong>n müssen. (1997,133)<br />
Ein zusätzliches rhetorisches Mittel um Aufmerksamkeit zu bekommen, sind<br />
Eingangsbemerkungen wie „Das ist aber wirklich interessant“. Ein weiterer<br />
Mechanismus, <strong>de</strong>n vor allem Frauen in <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> gebrauchen ist „Weißt du?“. In<br />
Fishmans Untersuchungen benutzten diese Frage die Frauen fünfmal sooft wie<br />
Männer (87:17). Im Gegensatz zu Robin Lakoff, die zehn Jahre zuvor in ihren<br />
Untersuchungen die eingebauten Frageformen in Aussagesätzen als Unsicherheit<br />
von Frauen verstand, interpretiert Fishman <strong>de</strong>n Einsatz dieser Frage als<br />
aufmerksamkeitserheischen<strong>de</strong>s Mittel, das zum großen Teil eingesetzt wur<strong>de</strong>,<br />
wenn Frauen erfolglos versuchten, ein Thema zu entwickeln. Die Frauen sind<br />
entwe<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Antwort, die sie im Gespräch bekommen haben, unzufrie<strong>de</strong>n<br />
o<strong>de</strong>r versuchen gar, eine zu bekommen. Fishman hält diesen Mechanismus für<br />
einen „Beweis für die Arbeit, die sie leisten, wenn sie versuchen, unsichere<br />
Unterhaltungen in erfolgreiche umzuwan<strong>de</strong>ln“.<br />
Helga Kotthoff bemerkt in ihrem Aufsatz Gewinnen o<strong>de</strong>r verlieren?<br />
Beobachtungen zum Sprachverhalten von Frauen und Männern in<br />
argumentativen Dialogen an <strong>de</strong>r Universität daß, wie es sich auch anhand von<br />
Forschungsergebnissen aus <strong>de</strong>r Psychologie belegen lasse, Frauen im Gegensatz<br />
zu Männern in Leistungssituationen Angst vor <strong>de</strong>m Erfolg zeigen, da letzterer für<br />
Frauen eher sozial negative Folgen nach sich zieht. Männliche Versuchspersonen<br />
zeigten in psychologischen Experimenten Angst vor Mißerfolgen, bei <strong>de</strong>n<br />
weiblichen mußte die Angst jedoch an<strong>de</strong>rs interpretiert wer<strong>de</strong>n. Kotthoff beruft sich<br />
auf Maccoby, die sagt:<br />
Ein Mädchen, das die Eigenschaften <strong>de</strong>r Unabhängigkeit und <strong>de</strong>s aktiven Strebens<br />
(<strong>de</strong>r Leistungsorientierung) beibehält, wie sie für intellektuelle Leistung unerläßlich<br />
sind, lehnt sich gegen die Konventionen geschlechtsangemessenen Verhaltens auf<br />
und muß einen Preis zahlen, einen Preis, <strong>de</strong>r in Angst besteht. (1997, 94)<br />
Eigenschaften wie Aktivität, Wettbewerbsorientiertheit, Ehrgeiz,<br />
Entscheidungsfähigkeit, Selbstbewußtsein und Unabhängigkeit, so Kotthoff, seien<br />
331
zentrale Momente <strong>de</strong>s positiv bewerteten männlichen Verhaltens. Nur für <strong>de</strong>n<br />
Mann ist solch ein Verhalten wünschenswert, nicht aber für die Frau. Frauen, die<br />
solche Merkmale aufweisen, wer<strong>de</strong>n in ihrer Weiblichkeit nicht akzeptiert:<br />
Sowohl Frauen als auch Männer zeigten in Versuchen eine negative Bewertung<br />
kompetenter Frauen. Sie wer<strong>de</strong>n, im Gegensatz zu Männern, mit Liebesentzug<br />
bestraft. Man erkennt ihnen zwar Führungspositionen zu, aber man mag sie<br />
weniger (Hagen/Kahn 1975). Vor allem männliches Selbstbewußtsein zeigt sich<br />
empfindlich berührt, wenn eine Frau im Wettkampf <strong>de</strong>n Sieg davonträgt. [...]<br />
Wenn es so ist, daß Erfolg mit <strong>de</strong>m herrschen<strong>de</strong>n kulturellen Konzept von<br />
Weiblichkeit weniger kompatibel ist, wird dies auch in subtile Bereiche <strong>de</strong>r<br />
Kommunikation hineinspielen. Frauen nehmen sich möglicherweise mehr <strong>zur</strong>ück<br />
und setzen sich weniger durch, weil sie <strong>de</strong>n emotionalen Konflikt, in <strong>de</strong>n sie durch<br />
ein an<strong>de</strong>res Verhalten hineingeraten, schlecht aushalten. (1997, 94-95)<br />
Kotthoff analysiert nun zwei unabhängig voneinan<strong>de</strong>r verlaufen<strong>de</strong> Gespräche,<br />
wobei eines zwischen einem Dozenten und einer Stu<strong>de</strong>ntin, ein weiteres zwischen<br />
<strong>de</strong>mselben Dozenten und einem Stu<strong>de</strong>nten verläuft. Der (simulierte) Inhalt <strong>de</strong>r<br />
Gespräche ist die Frage, ob in <strong>de</strong>r Universitätsbibliothek, aufgrund <strong>de</strong>r Tatsache,<br />
daß Bücher entwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, Überwachungskameras installiert wer<strong>de</strong>n sollten.<br />
Die Stu<strong>de</strong>ntenschaft spricht sich dagegen aus und sammelt nun Unterschriften. Es<br />
stellt sich am En<strong>de</strong> heraus, daß <strong>de</strong>r Dozent eher <strong>de</strong>m Stu<strong>de</strong>nten die Unterschrift<br />
gegeben hätte, weil ihm die Stu<strong>de</strong>ntin in ihrer Argumentation zu schwankend<br />
gewesen sei.Ihre <strong>zur</strong>ücknehmen<strong>de</strong> Verhaltensweise, ihr Signalisieren <strong>de</strong>s<br />
Verständnisses für die Argumentation <strong>de</strong>s Dozenten bewirkten auch keinesfalls,<br />
daß er sie sympathischer fand. Tatsächlich gab er bei<strong>de</strong>n keine Unterschrift.<br />
Während <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nt dabei verärgert <strong>de</strong>n Raum verläßt, entschuldigt die Stu<strong>de</strong>ntin<br />
sich noch für die Störung.<br />
Es erweist sich, daß die Beharrlichkeit <strong>de</strong>s Stu<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Dozenten zwingt,<br />
immer wie<strong>de</strong>r auf seine Perspektiven zu rekurrieren, erfolgreicher ist als die<br />
Höflichkeit und Zurückhaltung <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntin, die sich viel zu lange mit <strong>de</strong>n<br />
Äußerungen <strong>de</strong>s Dozenten beschäftigt, ohne das Gespräch auf ihre Kernposition<br />
<strong>zur</strong>ückzuführen:<br />
Der Stu<strong>de</strong>nt verhält sich gleichberechtigt, und <strong>de</strong>r Dozent, <strong>de</strong>r ihn nie <strong>zur</strong>echtweist<br />
o<strong>de</strong>r sein Verhalten mißbilligt, ratifiziert dies. Für die Stu<strong>de</strong>ntin konstituiert sich im<br />
Laufe <strong>de</strong>s Gesprächs eine ungünstigere Situation, in <strong>de</strong>r sie zunehmend stärker<br />
unterliegt. Dies hängt am Aufeinan<strong>de</strong>rtreffen verschie<strong>de</strong>ner Gesprächsstile und<br />
Erwartungen, nicht an direkten Unterdrückungsversuchen <strong>de</strong>s Dozenten gegenüber<br />
<strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntin. Die unterschiedlichen Stile <strong>de</strong>s Stu<strong>de</strong>nten und <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntin wer<strong>de</strong>n<br />
auch in <strong>de</strong>r Art ihrer Reaktion auf Gegenargumente <strong>de</strong>s Dozenten <strong>de</strong>utlich. (1997,<br />
107)<br />
Das Gespräch zwischen Stu<strong>de</strong>nt und Dozent en<strong>de</strong>t im Konflikt, bei<strong>de</strong> Positionen<br />
sind unverän<strong>de</strong>rt geblieben, während im gemischtgeschlechtlichen Gespräch<br />
vonseiten <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntin Toleranz geübt wird. Seine Position blieb unverän<strong>de</strong>rt, ihre<br />
nicht. Für die Stu<strong>de</strong>ntin schien die zwischenmenschliche Dimension wichtiger zu<br />
sein. Offensive Argumentation wür<strong>de</strong> auch im Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Erwartung weiblichen Verhaltens stehen. Das von Frauen<br />
verlangte <strong>zur</strong>ücknehmen<strong>de</strong>, verständniszeigen<strong>de</strong>, einfühlen<strong>de</strong> Verhalten wur<strong>de</strong><br />
von <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntin offensichtlich reproduziert. Sie machte sich durch Schwächung<br />
ihrer intellektuellen Kraft stark für eine friedliche, eher harmonische Atmosphäre,<br />
332
vermied damit eine kommunikative Kampfsituation und brachte sich selbst und ihr<br />
Ziel zum Opfer.<br />
So stellt Kotthoff am En<strong>de</strong> ihres Artikels die Frage, wie Frauen diesen Teufelskreis<br />
durchbrechen könnten. Wie können sie sich in <strong>de</strong>r Männerwelt durchsetzen, ohne<br />
sich <strong>de</strong>n Männern anzugleichen. Kotthoff sagt:<br />
Ich <strong>de</strong>nke, es ist wenig sinnvoll, etwa zu lernen, wie wir an<strong>de</strong>re unterbrechen o<strong>de</strong>r<br />
totre<strong>de</strong>n können. Sinnvoll kann es aber sein, Positionen weniger eingeschränkt zu<br />
vertreten, länger zu sprechen und vor allem lauter und auch mal auf ein Lächeln zu<br />
verzichten, wenn das Gegenüber uns nicht wohlgesonnen ist. (1997, 112)<br />
In Umkehrung eines Adornozitates sagt sie:<br />
Die nur lieben dich, bei <strong>de</strong>nen du stark dich zeigen darfst, ohne Schwäche zu<br />
provozieren. (1997, 112)<br />
Es ist, wie aus all diesen Untersuchungen immer wie<strong>de</strong>r hervorgeht, die weibliche<br />
Rolle selbst, die <strong>de</strong>n Frauen Kraft nimmt und ihren Intellekt beschränkt. Die verbale<br />
Kommunikation spiegelt und festigt dieses Rollenverhalten, <strong>de</strong>r Machtkampf <strong>de</strong>r<br />
Geschlechter zeigt sich in seiner verbalen Gewalttätigkeit, mit <strong>de</strong>r das männliche<br />
Geschlecht vorprescht und <strong>de</strong>m weiblichen Geschlecht das Re<strong>de</strong>recht<br />
beschnei<strong>de</strong>t. Das <strong>de</strong>n Männern raumgeben<strong>de</strong> Verhalten <strong>de</strong>r Frauen, das sich hier<br />
in <strong>de</strong>r Sprache zeigt, ist zwar humaner, verzichtet jedoch durch sein ständiges<br />
Sich<strong>zur</strong>ücknehmen auf die Erarbeitung weltlicher Realität. Durch die Rücknahme<br />
<strong>de</strong>r Kraft und anhand <strong>de</strong>r Beschneidung <strong>de</strong>s eigenen Intellekts vonseiten <strong>de</strong>r<br />
Frauen wird das männliche Geschlecht mit einer rhetorischen Autorität<br />
ausgestattet, welche die verbale Kommunikation beherrscht, kontrolliert und<br />
bestimmt. Anhand dieser durch Sozialisation erzwungenen, individuell aber auch<br />
freiwilligen Machtvergabe machen sich Frauen allerdings auch mitschuldig am<br />
<strong>de</strong>struktiven Verlauf <strong>de</strong>r Weltpolitik. Mithilfe <strong>de</strong>r ständigen Selbstschwächung<br />
wer<strong>de</strong>n sie anlehnungsbedürftig und zum bloßen Anhängsel, während sie<br />
versuchen, ihr Machtbedürfnis in nonverbalen Bereichen zu befriedigen.<br />
Allerdings haben Frauen mit diesem Verhalten auch Stärken entwickelt, die Senta<br />
Trömmel-Plötz mit ihrem Buch Frauengespräche – Sprache <strong>de</strong>r Verständigung<br />
offensichtlich wer<strong>de</strong>n läßt. Hier läßt sie Frauengespräche als „I<strong>de</strong>algespräche“<br />
erscheinen, in<strong>de</strong>m sie Gespräche unter Frauen <strong>zur</strong> Analyse auswählt, in <strong>de</strong>nen<br />
„Nähe, Großzügigkeit, Fairneß und Solidarität“ hergestellt wer<strong>de</strong>n. Es han<strong>de</strong>lt sich<br />
um Frauen, <strong>de</strong>ren Wille für eine gute Verständigung untereinan<strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>n ist.<br />
Die hervorstechen<strong>de</strong>n Eigenschaften für diese Frauengespräche sind:<br />
1) <strong>de</strong>r Wille zum Teamwork, anstatt Autorität einzusetzen.<br />
2) <strong>de</strong>r Wille <strong>zur</strong> Machtteilung, anstatt auf Macht zu bestehen.<br />
3) <strong>de</strong>r Wille <strong>zur</strong> Verständigung.<br />
Die konversationelle Großzügigkeit, die sich aus diesen Eigenschaften ergibt,<br />
bedingt >a) <strong>de</strong>n Abbau von Bedrohung, b) ein Reduzieren von Wi<strong>de</strong>rstand und c)<br />
ein Herstellen von Gleichheit. Diese Gesprächsführungscharakteristika zeigen<br />
nach Trömel-Plötz Ähnlichkeiten mit therapeutischen Gesprächen, die <strong>de</strong>m<br />
an<strong>de</strong>ren gegenüber eine große Souveränität voraussetzen. Das Signalisieren, <strong>de</strong>m<br />
Gegenüber einen breiten Horizont <strong>de</strong>s Verständnisses zu bieten, setzt natürlich<br />
eine interaktive Reife, einen starke Sensibilität im Gespräch als soziolinguistische<br />
Kompetenz voraus, d.h. die Bedürfnisse und Gefühle an<strong>de</strong>rer wahrzunehmen.<br />
333
Die männliche Dominanz in öffentlichen und formellen Kontexten ist nicht nur<br />
durch machtbewußte Rücksichtslosigkeit zu interpretieren, son<strong>de</strong>rn verkörpert<br />
auch interaktive Unzulänglichkeit. Die Sucht nach Selbstdarstellung und <strong>de</strong>r<br />
unbedingte Wille, zu bestimmen und zu kontrollieren, drängen <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, in<br />
diesem Fall die an<strong>de</strong>ren, die Frauen, beiseite, ohne sich zu fragen, ob sie mit <strong>de</strong>m<br />
Verhalten verletzen, ob sie im Recht sind o<strong>de</strong>r im Unrecht. Dieses nicht<br />
einfühlsame Verhalten ist unsozial und bedarf sozialen Nachhilfeunterrichts.<br />
Holmes meint dazu:<br />
Die soziolinguistische Sensibilität von Frauen zeigt sich also auf mannigfache Art<br />
und Weise. Dieser Artikel hat nur einen kleinen Teil davon besprochen. Frauen<br />
schöpfen aus einer sehr großen Bandbreite sprachlicher Mittel, sowohl um subtile<br />
Be<strong>de</strong>utungen auszudrücken, als auch um Interaktion zu för<strong>de</strong>rn und unproduktive<br />
Konfrontationen zu vermei<strong>de</strong>n. All dies ist ein Beweis für Sprecher, die reif genug<br />
dazu sind, die Bedürfnisse an<strong>de</strong>rer Menschen in Betracht zu ziehen, die sich so<br />
sicher fühlen, daß sie nicht je<strong>de</strong> öffentliche Interaktion dominieren müssen, und die<br />
differenziert genug sind, um Situationen mit soziolinguistischem Geschick zu<br />
bewältigen, so daß interaktive Ziele auf eine Art und Weise erreicht wer<strong>de</strong>n, die<br />
<strong>de</strong>n Beteiligten Freu<strong>de</strong> und Lust bereitet. (Trömel-Plötz, 1996, 81-82)<br />
Inwiefern sich noch die männliche und weibliche Gesprächskultur voneinan<strong>de</strong>r<br />
unterschei<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>monstriert Trömel-Plötz an folgen<strong>de</strong>m Beispiel: In einer<br />
amerikanischen Talkshow geht es um das Thema Scheidung. Aus <strong>de</strong>m Publikum<br />
mel<strong>de</strong>ten sich ein Mann und eine Frau mit zwei ähnlichen Fragen zu Wort:<br />
F: Wo ich lebe, gibt es eine Gruppe Frauen und Recht. Ich habe viel Hilfe von ihr<br />
bekommen. Hat jemand von Ihnen sich Hilfe von so einer Gruppe geholt?<br />
Anschließend fragt <strong>de</strong>r Mann:<br />
M: Was ich wissen möchte, ist, hat jemand von Ihnen eine polizeiliche Schutzzone<br />
beantragt? (1996, 367)<br />
Die Analyse <strong>de</strong>r Autorin lautet folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />
Die bei<strong>de</strong>n Fragen sind parallel in ihrer Struktur und Funktion. Obwohl Frau und<br />
Mann hier ‘das gleiche’ tun, nämlich eine Frage stellen, tun sie es ganz an<strong>de</strong>rs und<br />
mit entspechend unterschiedlichen Resultaten. Der Mann ist direktiv- dominant und<br />
stellt Distanz und Überlegenheit her. Seiner Frage geht eine For<strong>de</strong>rung nach<br />
Information voraus; die Frage selbst, mit entsprechen<strong>de</strong>r Lautstärke vorgebracht,<br />
klingt wie eine Auffor<strong>de</strong>rung, eine Schuld in einem Verhör zuzugeben:<br />
Haben Sie eine polizeiliche Schutzzone beantragt o<strong>de</strong>r nicht?<br />
Ein indirekter Vorwurf:<br />
Wenn Sie keine polizeiliche Schutzzone beantragten, sind Sie selbst an Ihrer Lage<br />
schuld.<br />
wird <strong>zur</strong> präferierten Lesart. Durch diese dominanten Sprechhandlungen<br />
(For<strong>de</strong>rung, Auffor<strong>de</strong>rung, Vorwurf) dominiert er die Frauen auf <strong>de</strong>m Podium.<br />
Ganz an<strong>de</strong>rs geht die Frau mit ihrer Frage um: Sie bettet sie in eine Vorgabe<br />
persönlicher Erfahrung ein; damit wird <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rungscharakter <strong>de</strong>r Frage<br />
heruntergespielt, und dominante Lesarten wie Vorwurf und Ta<strong>de</strong>l wer<strong>de</strong>n<br />
ausgeschlossen. Ein indirekter Vorschlag:<br />
Sie sollten sich Hilfe holen.<br />
wird <strong>zur</strong> bevorzugten Lesart. Interessant ist,daß die Frau erstens persönlich re<strong>de</strong>t<br />
334
und zweitens damit auch einen impliziten Anschluß an die gela<strong>de</strong>nen Frauen<br />
herstellt. Sie sagt implizit: Ich war in <strong>de</strong>r gleichen Situation wie ihr, und stellt so<br />
größere Nähe und Gleichheit zu <strong>de</strong>n Angesprochenen her und damit Solidarität.<br />
Durch diese bei<strong>de</strong>n Mechanismen gelingt es ihr, eine potentiell<br />
gesichtsbedrohen<strong>de</strong> Äußerung zu disambiguieren.<br />
Solche und wahrscheinlich noch viel kompliziertere Mechanismen tragen dazu bei,<br />
daß Frauen nicht so direktiv sprechen wie Männer. Was direktiven Stil im einzelnen<br />
ausmacht, ist linguistisch noch wenig erforscht. Je<strong>de</strong>nfalls greifen nicht nur<br />
Direktiva, son<strong>de</strong>rn auch an<strong>de</strong>re gesichtsbedrohen<strong>de</strong>, dominante<br />
Sprechhandlungen wie Ratschläge, Belehrungen, For<strong>de</strong>rungen, Vorwürfe,<br />
Drohungen etc. in <strong>de</strong>n Autonomiebereich <strong>de</strong>s Angesprochenen ein und können als<br />
charakteristisch für direktiven Stil angesehen wer<strong>de</strong>n. (1996, 367-368)<br />
Frauen verpacken dominante Sprechhandlungen besser, sind indirekter und<br />
dadurch gesichtswahren<strong>de</strong>r, was Trömel-Plötz an therapeutische<br />
Verhaltensweisen erinnert. Daß diese Art von Sprechhandlungen öfter bei Frauen<br />
als bei Männern vorkommt (obgleich sie betont, daß Männer ebensolche<br />
Fähigkeiten entwe<strong>de</strong>r haben o<strong>de</strong>r, wenn sie es nur wollen, sich aneignen können),<br />
begrün<strong>de</strong>t Trömel-Plötz mit <strong>de</strong>m Selbstgefühl von Frauen, das auf <strong>de</strong>r Fähigkeit<br />
beruht, Beziehungen mit an<strong>de</strong>ren einzugehen und aufzubauen, also im interaktiven<br />
Bereich Erfolg zu haben.<br />
Nach diesem gezeigten Beispiel, das bei Senta Trömel-Plötz unter <strong>de</strong>m Titel<br />
Frauengespräche aufscheint und ihrer Meinung nach von weiblichem Stil zeugt,<br />
<strong>de</strong>r mit einem therapeutischen Stil verglichen wer<strong>de</strong>n kann, müssen wir hier<br />
allerdings die kritische Frage stellen, ob <strong>de</strong>r Vergleich gerechtfertigt ist. Gibt sie<br />
hier nicht doch wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m herrschen<strong>de</strong>n Klischee nach, daß es die Frauen sind,<br />
die sich im Grun<strong>de</strong> einfühlsamer als die Männer zeigen, die die<br />
Gesprächsatmosphäre angenehmer gestalten können, weil sie eben traditionell die<br />
Hausmütterchen sind, die sich für das Wohl von Leib und Seele verantwortlich<br />
zeichnen? Wird hier nicht doch wie<strong>de</strong>r das patriarchale Bild <strong>de</strong>r aggressionslosen,<br />
engelgleichen Frau bestätigt, in <strong>de</strong>ren Schoß <strong>de</strong>r Mann sich beruhigt fallen lassen<br />
kann, mit <strong>de</strong>r Überzeugung <strong>de</strong>s Aufgefangenwer<strong>de</strong>ns im Hinterkopf?<br />
Der Vergleich <strong>de</strong>s weiblichen Stils mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s therapeutischen bereitet<br />
zwiespältige Gefühle. Einerseits gesteht dieser Vergleich <strong>de</strong>m weiblichen Stil eine<br />
Souveränität gegenüber <strong>de</strong>m Gesprächspartner zu. Diejenige, die diesen Stil<br />
pflegt, müßte ihr Gegenüber als unterlegen einstufen, als krank, ja sogar als in<br />
seiner Krankheit gefährlich. Da ein Therapeut seine Patienten halten will, muß er<br />
sehr bedachtsam und einfühlsam vorgehen. Was allerdings in unserer<br />
therapiesüchtigen Gesellschaft unerkannt bleibt, ist die Gefahr, die in einem<br />
Therapeut/Patienten- Verhältnis latent vorhan<strong>de</strong>n ist. Der Therapeutenstatus<br />
<strong>de</strong>finiert sich über die „Krankheit“ <strong>de</strong>s Patienten, was soviel be<strong>de</strong>utet, als daß <strong>de</strong>r<br />
Patient nicht als sozial gleichwertiges Gegenüber wahrgenommen wird. Der<br />
heilen<strong>de</strong> Anspruch <strong>de</strong>s Therapeuten setzt voraus, daß <strong>de</strong>r Patient einer<br />
psychischen Krankheit erlegen ist. Der Therapeut versucht, seinem Weltbild<br />
entsprechend, <strong>de</strong>n Patienten einem Gesundungsprozeß zu unterziehen. Die<br />
Großzügigkeit <strong>de</strong>s Therapeuten und das Sich<strong>zur</strong>ücknehmen basieren aber auf <strong>de</strong>r<br />
Grun<strong>de</strong>instellung, daß das Gegenüber zwar in seiner Krankheit ernstzunehmen,<br />
nicht aber in seinem sozialen Rang <strong>de</strong>m gesun<strong>de</strong>n restlos gleichzusetzen ist.<br />
335
Damit wird auch die therapeutische Bereitschaft <strong>zur</strong> Machtteilung verlogen, da <strong>de</strong>r<br />
Therapeut ja von vornherein seine Grundprinzipien, die <strong>zur</strong> Heilung führen sollen,<br />
strikt einhalten muß. Und wäre es so wünschenswert, einem Gesprächsstil zu<br />
frönen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren seine Ernsthaftigkeit untergräbt?<br />
Den therapeutischen Stil mit <strong>de</strong>m weiblichen und diesen wie<strong>de</strong>rum mit einem<br />
i<strong>de</strong>alen gleichzusetzen ist <strong>de</strong>shalb fragwürdig, weil sich hinterrücks wie<strong>de</strong>r<br />
Machtverhältnisse einschleichen, die doch eigentlich bekämpft wer<strong>de</strong>n sollten. Da<br />
Senta Trömel-Plötz selber schreibt, daß die gegebenen Beispiele nicht<br />
repräsentativ für Frauengespräche sind, ihre Auswahl insofern selektiv<br />
vorgenommen wur<strong>de</strong>, also gera<strong>de</strong> die „untersuchten Frauen das I<strong>de</strong>almo<strong>de</strong>ll<br />
weiblichen Sprechens beson<strong>de</strong>rs kompetent realisieren“ und sie einräumt, daß<br />
auch Männer diesem Stil mächtig sein können, sei hinzugefügt, daß es auf die<br />
Erarbeitung einer Rhetorik ankommt, in <strong>de</strong>r die Geschlechtlichkeit aufgehoben<br />
wer<strong>de</strong>n kann und in <strong>de</strong>m es vorwiegend um die Anerkennung <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren geht,<br />
statt um seine Demütigung. Daß die hier beleuchteten Eigenschaften und<br />
Fähigkeiten wie „Aufteilung <strong>de</strong>r Macht in Gesprächen, kommunikative<br />
Unterstützungsarbeit leisten, einen Verständigungswillen zeigen, Neigung zum<br />
Teamwork statt Autorität herausstellen“, sowie Nähe, Großzügigkeit, Fairneß und<br />
Solidarität, etc. in <strong>de</strong>r Konstituierung einer kommunikativen I<strong>de</strong>alität als weiblich<br />
bezeichnet wer<strong>de</strong>n, ist unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>r Geschlechtlichkeit verständlich. Aber<br />
es sind in einem weiteren Schritt die allgemeinen Eigenschaften <strong>de</strong>r überhaupt<br />
Ohnmächtigen hervorzuheben, die Eigenschaften <strong>de</strong>rer, ob Männer, Frauen o<strong>de</strong>r<br />
Kin<strong>de</strong>r, die tagtäglich mit <strong>de</strong>r Macht umzugehen haben und die damit auch die<br />
Frage nach einer geschlechtsindifferenten Freiwerdung <strong>de</strong>s Menschen aufwerfen.<br />
Im Kampf um eine höhere humane Entwicklungsstufe müssen die<br />
geschlechterstereotypen Einbindungen nivelliert wer<strong>de</strong>n, um die menschlichen<br />
Eigenschaften <strong>de</strong>r Passivität und Aktivität, <strong>de</strong>s Guten und Bösen jenseits <strong>de</strong>r<br />
Geschlechtlichkeit sichtbar wer<strong>de</strong>n zu lassen. Der Mensch in seiner Konstruktivität<br />
und Destruktivität ist im Sinne <strong>de</strong>r Gattung jenseits seines Frau- und Mannseins zu<br />
be<strong>de</strong>nken. Seine freie Entfaltung darf durch die Grenzsetzung <strong>de</strong>r<br />
Geschlechtlichkeit nicht behin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Zum Schluß sollen noch einige Betrachtungen über das Verhältnis zwischen<br />
Humor und Macht bei Frauen und Männern folgen. Schon Freud hatte sich<br />
Gedanken zum Phänomen <strong>de</strong>s Witzes gemacht und herausgearbeitet, daß dieser<br />
nicht nur spannungslösen<strong>de</strong> Momente, wie Aggressionsabbau und Freisetzung<br />
von Feindseligkeit aufweist, son<strong>de</strong>rn auch <strong>zur</strong> Selbstverherrlichung beiträgt. Aber<br />
das ist, wie es sich in diesem Abschnitt herausstellen wird, eher die Funktion <strong>de</strong>r<br />
männlichen Art <strong>de</strong>s Humors, die weibliche Seite ist an<strong>de</strong>rs gelagert. Was Männer<br />
auf Kosten ihrer Mitmenschen tun, wen<strong>de</strong>n Frauen gegen sich selbst. Letztere<br />
neigen eher dazu, sich selbst zum Objekt <strong>de</strong>s Witzes zu machen, ein Phänomen,<br />
das in seiner Art auch an Untergebenen in <strong>de</strong>r sozialen Hierarchie zu beobachten<br />
ist. "Aber Humor ist auch," so schreibt Rose Laub Coser in ihrem Aufsatz Lachen<br />
in <strong>de</strong>r Fakultät,<br />
ein Erziehungsmittel – ein Mittel <strong>de</strong>r Versöhnung, <strong>de</strong>r Bestätigung gemeinsamer<br />
Werte, <strong>de</strong>s Lehrens und Lernens, <strong>de</strong>s Bittens um und <strong>de</strong>s Gewährens von<br />
Unterstützung, <strong>de</strong>s Überbrückens von Differenzen. Vielleicht kann man die<br />
wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Funktionen von Humor am besten in zwei Zitaten<br />
336
zusammenfassen:<br />
Das höchste Wesen, das sein Ebenbild vervielfachen wollte, hat <strong>de</strong>m Mund <strong>de</strong>s<br />
Menschen keine Löwenzähne eingepflanzt, doch beißt er mit <strong>de</strong>m Lachen [...]<br />
(Bau<strong>de</strong>laire 1857, dt.1960: 9)<br />
In diesem beson<strong>de</strong>ren Sinne kann man jetzt sagen, daß das Lachen die Sitten<br />
geißelt. Es bewirkt, daß wir sofort suchen zu scheinen, was wir sein sollen und was<br />
wir ohne Zweifel eines Tages wirklich sein wer<strong>de</strong>n. (Bergson 1921:15) (Kotthoff<br />
1996, 99-100)<br />
Coser fin<strong>de</strong>t bei ihrer Untersuchung heraus, daß die statusniedrigen KollegInnen<br />
weit weniger Witze machen als ihre Vorgesetzten. Von 90 Witzen <strong>de</strong>r<br />
Fakultätsmitglie<strong>de</strong>r einer psychiatrischen Klinik, in <strong>de</strong>r Coser ihre Analysen betrieb,<br />
konnten 53 <strong>de</strong>n statushohen Psychiatern, 33 <strong>de</strong>n Assistenten und vier <strong>de</strong>n<br />
nichtmedizinischen Mitarbeiterinnen zugeordnet wer<strong>de</strong>n. Coser geht es darum,<br />
herauszufin<strong>de</strong>n, wie <strong>de</strong>r Status das „ Verhalten seiner Träger“ bestimmt.<br />
Grotjahn zitierend, schreibt Coser, daß Frauen genausoviel natürliche Intelligenz,<br />
Aggression und Lust hätten, wie die Männer, nur zeigten sie es nicht. So ist es<br />
auch bei <strong>de</strong>n von Coser beobachteten Fakultätssitzungen. Von <strong>de</strong>n<br />
Mitarbeiterinnen hätten einige sehr wohl einen „exzellenten Sinn für Humor“<br />
gehabt, schreibt sie, und sie wären in <strong>de</strong>r Lage gewesen, in <strong>de</strong>n Sitzungen Witze<br />
zu erzählen.<br />
Die Tatsache, daß sie ihren Witz und ihren Sinn für Humor während <strong>de</strong>r formellen<br />
Sitzungen nahezu gar nicht zeigten, hat nichts mit ihren Fähigkeiten o<strong>de</strong>r ihrem<br />
Charakter zu tun, son<strong>de</strong>rn damit, daß sie sich <strong>de</strong>n Erfor<strong>de</strong>rnissen <strong>de</strong>r sozialen<br />
Situation anpaßten.<br />
In unserer Kultur wird von Frauen erwartet, daß sie eher passiv und rezeptiv sind<br />
als aktiv und initiativ. Eine Frau mit Sinn für Humor lacht (aber nicht zu laut), wenn<br />
ein Mann scherzt o<strong>de</strong>r einen Witz erzählt. Ein Mann mit Sinn für Humor ist witzig in<br />
seinen Bemerkungen und erzählt gute Witze. Der Mann gibt, die Frau erhält.<br />
Diesem Muster entsprechend machten die Männer während <strong>de</strong>r Sitzungen<br />
wesentlich mehr Witze als die Frauen – nämlich 99 von insgesamt 103 -, aber die<br />
Frauen lachten oft lauter. (1996, 102)<br />
Die im Humor freigesetzten Aggressionen wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Statushöheren<br />
kontrolliert. Sie haben mehr „Recht auf die Rolle <strong>de</strong>s Aggressors als die unter<br />
ihnen Stehen<strong>de</strong>n“.<br />
Die Psychiater nahmen am häufigsten die Assistenten aufs Korn und diese die<br />
PatientInnen und <strong>de</strong>ren Angehörige o<strong>de</strong>r sich selbst. Es sieht <strong>de</strong>mnach so aus, daß<br />
nicht nur die Witzhäufigkeit, son<strong>de</strong>rn auch die Richtung <strong>de</strong>r Witze <strong>de</strong>m<br />
Autoritätsgefälle entspricht. Gewitzelt wird auf Kosten <strong>de</strong>r Machtlosen. In <strong>de</strong>n<br />
bei<strong>de</strong>n Fällen, wo einfache Mediziner über Psychiater scherzten, waren diese bei<br />
<strong>de</strong>r Sitzung nicht anwesend. Nicht ein einziges Mal wur<strong>de</strong> einer <strong>de</strong>r statushohen<br />
Psychiater von einem Assistenten <strong>zur</strong> Zielscheibe eines Witzes gemacht. (1996,<br />
103-104)<br />
Die sozialen Spannungen wer<strong>de</strong>n in einer hierarchischen Struktur im Witz nach<br />
unten hin abgebaut. Da in ihm immer Aggressionen transportiert wer<strong>de</strong>n, können<br />
Witze natürlich auch zu einer Bedrohung für die Versammlung wer<strong>de</strong>n, wenn es<br />
keine Kontrollmechanismen gibt. Diese zeigen sich in <strong>de</strong>n 1) spontan<br />
entstehen<strong>de</strong>n Verteilungsmustern und 2) in <strong>de</strong>n stillschweigend akzeptierten<br />
Zielscheiben <strong>de</strong>r Witze, die dadurch Gruppenkonsens bil<strong>de</strong>n und verstärken. Das<br />
337
heißt, die Gruppe braucht ihren Sün<strong>de</strong>nbock, über <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Konsens im Witz<br />
hergestellt wird. Einer muß geopfert wer<strong>de</strong>n, damit in <strong>de</strong>r Gruppe eine<br />
Entspannung eintreten kann, was gleichzeitig die Gruppe stärkt. Die Opferung<br />
vollzieht sich über <strong>de</strong>n Witz und das Lachen. Wür<strong>de</strong> ein Scherz von einem<br />
Untergebenen gemacht, könnte sich <strong>de</strong>r Mächtige in seiner Position bedroht<br />
fühlen, weil ihm die Situationskontrolle aus <strong>de</strong>r Hand genommen wird. Hier ein<br />
Beispiel:<br />
Ein Assistent berichtet über einen Patienten, <strong>de</strong>r sich für Geschichte interessierte<br />
und sich jetzt beson<strong>de</strong>rs mit <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Kriegsgefangenen in <strong>de</strong>r<br />
amerikanischen Revolution beschäftigte. Plötzlich fragte <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong>: ‘Wie war<br />
<strong>de</strong>nn das mit <strong>de</strong>n Kriegsgefangenen?’, und alles lachte.<br />
Die Frage zog sofort die Aufmerksamkeit vom Fall <strong>de</strong>s Patienten ab auf ein Thema,<br />
das mit <strong>de</strong>r Sitzung eigentlich nichts zu tun hatte. Der zweckorientierte Diskurs<br />
wur<strong>de</strong> in einen affektiv-vergnüglichen umfunktioniert.<br />
Humor dieser Art kann <strong>de</strong>m glatten Funktionieren <strong>de</strong>s Ablaufs gefährlich wer<strong>de</strong>n,<br />
weil es das Geschäftliche angreift. Nur einer kann diese Technik problemlos<br />
anwen<strong>de</strong>n: <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong>. Er erlaubt für einen Moment <strong>de</strong>n Abzug von<br />
Aufmerksamkeit von ‘seiner Sitzung‘. Die Sitzungen wur<strong>de</strong>n also nicht nur durch<br />
die Witzverteilungsmuster ‚geschützt‘, son<strong>de</strong>rn auch durch die Zielscheiben <strong>de</strong>r<br />
Witze. Entsprechen<strong>de</strong> Zielscheiben festigen die Gruppenstruktur. Humor von<br />
Statusniedrigen wird eher akzeptiert, wenn er sich gegen legitime Ziele richtet, z.B.<br />
gegen PatientInnen o<strong>de</strong>r gegen sich selbst. (1996, 105)<br />
Auch wenn Therapeuten ihre Unzulänglichkeiten eingestehen müssen und dies<br />
auch noch <strong>de</strong>n KollegInnen gegenüber, tun sie es auf Kosten ihrer PatientInnen<br />
und <strong>de</strong>ren Familien:<br />
Wenn ein ‚Junger‘ [junger Arzt, A.M-S] über die Mutter einer Patientin sagt: ‚Und<br />
dann fing sie noch nachträglich an, ihre mütterlichen Funktionen wahrzunehmen‘,<br />
dann versucht er damit zu sagen, daß nicht er für <strong>de</strong>n traurigen Zustand <strong>de</strong>r<br />
Patientin verantwortlich ist, son<strong>de</strong>rn die Mutter, die sich erst gar nicht kümmert und<br />
dann im übertriebenen Maße. In <strong>de</strong>rselben Weise sagte ein externer Psychiater,<br />
auf <strong>de</strong>n schwierigen Fall von Freud hinweisend, über seinen Patienten: ‚Der war<br />
fast so gut wie Schreber‘. Damit meinte er, daß seine Therapie versagen mußte.<br />
Das Publikum drückt durch sein Lachen Verzeihung aus. (1996, 115)<br />
Coser zieht daraus <strong>de</strong>n Schluß (und auch aus an<strong>de</strong>ren hier nicht angegebenen<br />
Beispielen), daß im durch <strong>de</strong>n eigenen Witz verursachten Lachen <strong>de</strong>r Konsensus<br />
mit <strong>de</strong>njenigen angepeilt wird, <strong>de</strong>ren Kritik man befürchtet. So bringt Humor Nähe,<br />
vermin<strong>de</strong>rt die soziale Distanz und baut soziale Spannungen ab. Derjenige, <strong>de</strong>r<br />
über sich selbst Witze reißt, schafft gleichzeitig Distanz zu sich selbst, mit <strong>de</strong>r<br />
Gefahr jedoch, sich selbst <strong>de</strong>n Wölfen <strong>de</strong>r witzeln<strong>de</strong>n Run<strong>de</strong> zum Fraß anzubieten.<br />
Aus diesem Grund halten sich Frauen <strong>zur</strong>ück. Wie es Kotthoff an folgen<strong>de</strong>m<br />
Beispiel <strong>de</strong>utlich macht: Sie erzählt über eine eigene Erfahrung, die sie als<br />
Stu<strong>de</strong>ntin mit einer Professorin machte. Mit dieser saß sie in einem Ausschuß, in<br />
<strong>de</strong>m sonst nur Männer saßen. Die Professorin, so sagt sie, hätte ihr mit ihrer<br />
Ernsthaftigkeit und Distanziertheit so einen achtungsgebieten<strong>de</strong>n Respekt<br />
eingeflößt, wie keiner <strong>de</strong>r übrigen Kollegen. Einige Jahre später habe sie sie auf<br />
einem Frauenfest neu kennengelernt, <strong>de</strong>nn sie hatte das Gefühl, einer ganz<br />
an<strong>de</strong>ren Frau gegenüber zu stehen. Sie >sprühte vor Heiterkeit< und war<br />
außeror<strong>de</strong>ntlich witzig. Hätte sie sich so an <strong>de</strong>r Universität gezeigt, wäre ihr Image<br />
338
edroht gewesen, wie Kotthoff erklärt. >Ein Zuviel an Informalität im Verhalten<br />
könnte die berechtigte Angst auslösen, respektlos behan<strong>de</strong>lt zu wer<strong>de</strong>nAbwehr von Imagebedrohungen
die in männlicher Gesellschaft still und beschei<strong>de</strong>n im Hintergrund säßen, ein ganz<br />
an<strong>de</strong>res Bild bekäme, wenn man sie unter ihresgleichen erlebe. Da wür<strong>de</strong>n sie<br />
sich als scharfe Beobachterinnen entlarven, die ihre Anekdoten spöttisch <strong>de</strong>m<br />
gemeinsamen Gelächter <strong>de</strong>r weiblichen Dorfhälfte preisgeben. Der verbale Humor<br />
<strong>de</strong>r Frauen ist in diesen traditionellen Gesellschaften auf <strong>de</strong>n Privatbereich<br />
beschränkt und fin<strong>de</strong>t hauptsächlich ausschließlich unter Frauen statt.<br />
In manchen Gesellschaften, z.B. koreanischen, balinesichen und chinesischen,<br />
lockern sich die strikten Verhaltensschranken <strong>de</strong>r Frauen in höherem Alter. Nach<br />
<strong>de</strong>r Menopause wer<strong>de</strong>n sie nicht mehr als sexuelle Wesen gesehen und dürfen<br />
dann in allen Spielarten <strong>de</strong>s Humors, auch <strong>de</strong>n obszönen, mit Männern<br />
konkurrieren. [...] Wenn das sexuelle Interesse an <strong>de</strong>n Frauen nachläßt, hält man<br />
sie auch nicht länger mit <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s passiven Weibchens unter Kontrolle. Ihr<br />
gesamter Verhaltensspielraum wächst. (1996, 155)<br />
Während Männer sich mit sexuellen Witzen auch vor Frauen profilieren können,<br />
sind Frauen diese in Gesellschaft von Männern verboten, da sie ja auf Kosten von<br />
letzteren ablaufen wür<strong>de</strong>n. Eine Frau, die in Gesellschaft von Männern einen Mann<br />
zum Opfer <strong>de</strong>s Witzes auserwählt, wäre keine gesellschaftlich akzeptierte Frau<br />
mehr. Auf <strong>de</strong>m Wege <strong>de</strong>s Witzes kann sie ihre Ängste vor <strong>de</strong>r männlichen<br />
Sexualität nicht abbauen. Denn so wie Witze Aggressionsmin<strong>de</strong>rung be<strong>de</strong>uten,<br />
dienen sie auch <strong>de</strong>r Reduktion von Angst.<br />
Nur die Macht, mit <strong>de</strong>r Angst in die Offensive zu gehen, haben sie nicht. Sie<br />
können ihre Ängste nicht in Aggressionen ummünzen, weil es dafür keinen<br />
kulturellen Nährbo<strong>de</strong>n gibt. (1996, 159)<br />
Die sich eher in Zurückhaltung üben<strong>de</strong> Technik <strong>de</strong>s weiblichen Sprachhabitus, wie<br />
sie in diesem Artikel dargestellt wur<strong>de</strong>, setzt eine wache, sich in Vorsicht üben<strong>de</strong><br />
Bewußtheit voraus. Rhetorik erweist sich in ihrer weiblichen Anwendung als<br />
positioniert im Spannungsfeld von ohnmächtigem Schweigen und verbalem<br />
Überlebenskampf <strong>de</strong>s weiblichen Geschlechts im permanenten<br />
Umgrenzungsanspruch <strong>de</strong>s männlichen Blicks.<br />
Literatur<br />
Kotthof, Helga (Hrsg.): Das Gelächter <strong>de</strong>r Geschlechter. Humor und Macht in<br />
Gesprächen von Frauen und Männern. Konstanz 1996.<br />
Postl, Gertru<strong>de</strong>: Weibliches Sprechen. Feministische Entwürfe zu Sprache und<br />
Geschlecht. Wien 1991.<br />
Ritter, J./Grün<strong>de</strong>r K. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch <strong>de</strong>r Philosophie, Basel<br />
1992.<br />
Trömel-Plötz, Senta: Frauensprache: Sprache <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung. Frankfurt a.M.<br />
1996<br />
Trömel-Plötz, Senta (Hrsg.): Frauengespräche: Sprache <strong>de</strong>r Verständigung.<br />
Frankfurt a.M.1996.<br />
Trömel-Plötz, Senta (Hrsg.): Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von<br />
Frauen in Gesprächen. Frankfurt a.M. 1997.<br />
340
CORNELIA CUJBĂ<br />
JASSY<br />
Zur Stellung <strong>de</strong>r Wortbildung in <strong>de</strong>r Grammatik<br />
Die <strong>de</strong>utsche Wortbildung ist ein "springlebendiges Bildungsmittel" (Bühler 1 1934:<br />
327), das<br />
vorhan<strong>de</strong>ne Morpheme nach bestimmten Mustern zu neuen Lexemen<br />
(lexikalischen Syntagmen) kombiniert, <strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung bei Kenntnis <strong>de</strong>r<br />
Bestandteile und <strong>de</strong>r Kombinationsregeln aus <strong>de</strong>r morphologischen Form abgeleitet<br />
wer<strong>de</strong>n können. Kastowsky 2 (1982: 151).<br />
Die kommunikativen Bedürfnisse einer Sprachgemeinschaft sind die Folge<br />
bestehen<strong>de</strong>r Ursachen in <strong>de</strong>r außersprachlichen Wirklichkeit mit Nie<strong>de</strong>rschlag in<br />
<strong>de</strong>r sprachlichen Kreativität <strong>de</strong>r Wortbildung. Die Möglichkeiten <strong>de</strong>s<br />
Wortschatzaufbaus bestehen in Bezeichnungserweiterung (curent 'Strömung' ><br />
'elektrischer Strom'), Entlehnungen aus an<strong>de</strong>ren Sprachen (genie, computer) o<strong>de</strong>r<br />
künstliche Wortschöpfungen (motel, azubi). Die meisten lexikalischen Bildungen<br />
wer<strong>de</strong>n aber aus vorhan<strong>de</strong>nen Morphemen nach bestimmten Mustern kombiniert –<br />
das ist die weitaus durchsichtigere Metho<strong>de</strong>, die ein optimales Verständnis<br />
gewährt, d.h. man kann durch Zusammensetzung o<strong>de</strong>r Ableitung aus lexikalischen<br />
und morphematischen Einheiten einer Sprache neue komplexe Sinneinheiten<br />
bil<strong>de</strong>n. Dabei stützt sich <strong>de</strong>r Sprecher im kumulativen Aufbau <strong>de</strong>s Wortschatzes<br />
auf "historisch gewachsene Wortbildungs-Muster" (Wills 3 1986: 2). Die Wortbildung<br />
muß sowohl die Bildung neuer Wörter als auch die strukturelle Analyse usueller<br />
Wörter erfassen (Fleischer 4 1982: 19):<br />
Die Wortbildungslehre untersucht einmal die bei <strong>de</strong>r Bildung eines Wortes<br />
wirken<strong>de</strong>n Gesetzmäßigkeiten, die entsprechen<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>lle, und sie beschäftigt<br />
sich auch mit <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Struktur eines 'fertigen' Wortes.<br />
Eine 1822 poetisch elaborierte Aussage Schmitthenners<br />
Die leben<strong>de</strong> Sprache ist <strong>de</strong>r Baume im Blüthenzustand vergleichbar; wie die<br />
Blüthen <strong>de</strong>s letztern theils verwelkt, theils noch erschlossen, theils blos im Keime<br />
vorgebil<strong>de</strong>t sind, also sind die Wörter <strong>de</strong>r ersteren; und wie die unerschlossenen<br />
Blüthen <strong>de</strong>s Baumes sich vor <strong>de</strong>r Sonne entfalten, also die möglich vorhan<strong>de</strong>nen<br />
nur noch nicht gebrauchten Wörter <strong>de</strong>r Sprache vor <strong>de</strong>m Geiste, <strong>de</strong>r mit Freiheit<br />
1 K. Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion <strong>de</strong>r Sprache. Stuttgart 1934, 2 1965.<br />
2 D. Kastovsky: Wortbildung und Semantik. Düsseldorf, Bern, München 1982.<br />
3 W. Wilss: Wortbildungsten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache. Tübingen 1986.<br />
4 W. Fleischer: Wortbildung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache. Leipzig 1969, 1975, 5.<br />
Aufl. Tübingen 1982.<br />
341
über ihr waltet. 5<br />
<strong>de</strong>utet in anmutiger Weise auf das hin, was man in <strong>de</strong>r unverblümten Sprache <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaft als Wortbildung bezeichnet. Schon im Auftakt zu seinem 1896<br />
verfaßten Aufsatz Ueber die Aufgaben <strong>de</strong>r Wortbildung vermerkt Hermann Paul 6<br />
(1981: 17):<br />
Die wissenschaftliche Wortbildungslehre ist wie die Lautlehre eine Schöpfung J.<br />
Grimms. Er hat in seiner Deutschen Grammatik die Stellung zwischen<br />
Flexionslehre und Syntax angewiesen. Darin ist man ihm meistens gefolgt, so z. B.<br />
Diez in seiner Grammatik <strong>de</strong>r romanischen Sprachen. Auch Bopp läßt in <strong>de</strong>r<br />
vergleichen<strong>de</strong>n Grammatik die Wortbildungslehre auf die Flexionslehre folgen.<br />
Dagegen haben an<strong>de</strong>re, wie z.B. Schleicher in seinem Kompendium <strong>de</strong>r<br />
vergleichen<strong>de</strong>n Grammatik [...], die Wortbildungslehre vor <strong>de</strong>r Flexionslehre<br />
behan<strong>de</strong>lt [...]. Bei<strong>de</strong>n Anordnungsweisen liegt die Vorstellung zu Grun<strong>de</strong>, daß die<br />
Wortbildungslehre zu <strong>de</strong>r Flexionslehre in einem Parallelismus steht.<br />
In<strong>de</strong>m Paul betont, daß die Be<strong>de</strong>utung in <strong>de</strong>r Wortbildungslehre vernachläßigt<br />
wur<strong>de</strong>, und daß formale wie auch inhaltliche Gesichtspunkte berücksichtigt wer<strong>de</strong>n<br />
müssten, wen<strong>de</strong>t er sich gegen die Gleichstellung von Wortbildungs- und<br />
Flexionslehre. Zu<strong>de</strong>m spricht er in diesem Kontext auch <strong>de</strong>n syntaktischen<br />
Verhältnissen zunehmen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung zu. Brugmann 7 (1889: 3) warnt jedoch vor<br />
<strong>de</strong>r Annahme, daß je<strong>de</strong> Wortbildungskonstruktion auf nachweisbare, historisch<br />
vorherliegen<strong>de</strong> syntaktische Konstruktion <strong>zur</strong>ückginge:<br />
Man hüte sich vor <strong>de</strong>r Vorstellung, als habe je<strong>de</strong>s mutatum, das wir in <strong>de</strong>n idg.<br />
Sprachen antreffen, jene Be<strong>de</strong>utungsentwicklung für sich durchgemacht. Weitaus<br />
die meisten traten sofort mit <strong>de</strong>m mutierten Sinne als Nachbildungen nach <strong>de</strong>n<br />
älteren fertigen Musterformen.<br />
Solche Anschauungen, wie auch Wilmanns 8 (1886: 9) Unterschiedfestlegung<br />
zwischen Wortbildung und Flexion ("Die ableiten<strong>de</strong>n Suffixe bil<strong>de</strong>n Wörter, die<br />
Flexion Wortformen") haben später – im Rahmen <strong>de</strong>rselben Reihe diachronischer<br />
Analysen – Henzen 9 (1965: 2) zu folgen<strong>de</strong>r Erwägung geführt:<br />
Nimmt man das, was unsere ersten Grammatiker mit <strong>de</strong>m anschaulichen [...]<br />
Ausdruck "Wurzeln" bezeichnet haben, als die nicht weiter zerlegbaren, einer<br />
Wortfamilie gemeinsamen Be<strong>de</strong>utungselemente, als gegebene Keimpunkte (Kluge)<br />
<strong>de</strong>s Wortes voraus, so ist eigentlich a l l e s w e i t e r e an ihm Wortbildung,<br />
ursprünglich selbst die Flexion [...]<br />
In <strong>de</strong>n wichtigsten bis zu ihm konzipierten Grammatiken stellt <strong>de</strong>rselbe Autor<br />
folgen<strong>de</strong>s fest:<br />
Die Reihenfolge <strong>de</strong>r grammatischen Hauptteile ist in <strong>de</strong>n drei grundlegen<strong>de</strong>n<br />
5<br />
F. Schmitthenner: Teutsche Sprachlehre für Gelehrtenschulen, nach <strong>de</strong>n Ergebnissen<br />
<strong>de</strong>r neuesten Forschungen bearbeitet. Herborn 1822. Ap. H. Brekle: Die Stellung <strong>de</strong>r<br />
Wortbildung in F. Schmitthenners (1796-1850) Grammatiksystem. In: H. Brekle/D.<br />
Kastovsky (Hrsg.): Perspektiven <strong>de</strong>r Wortbildungsforschung. Bonn 1977: 32-38.<br />
6<br />
H. Paul: Ueber die Aufgaben <strong>de</strong>r Wortbildungslehre. In: L. Lipka ./ H. Günther:<br />
Wortbildung. Darmstadt , 1981: 17-35.<br />
7<br />
K. Brugmann: Grundriss <strong>de</strong>r vergleichen<strong>de</strong>n Grammatik <strong>de</strong>r indogermanischen<br />
Sprachen. Strassburg 1889.<br />
8<br />
W. Wilmanns: Deutsche Grammatik, Abt. II: Wortbildung. Strassburg 1896.<br />
9 3<br />
W. Henzen: Deutsche Wortbildung. Tübingen 1947, 1965.<br />
342
<strong>de</strong>utschen Grammatiken die folgen<strong>de</strong>:<br />
Grimm: Lautlehre – Flexion – W o r t b i l d u n g s l e h r e – Syntax,<br />
Wilmanns: Lautlehre – W o r t b i l d u n g s l e h r e – Flexion,<br />
Paul: Lautlehre – Flexion – Syntax – W o r t b i l d u n g s l e h r e. (Henzen<br />
1965: 3)<br />
Im h i s t o r i s c h e n A n s a t z wur<strong>de</strong> also die Wortbildung als selbständiges<br />
Kapitel innerhalb <strong>de</strong>r Grammatik behan<strong>de</strong>lt. Auch neuere Grammatikdarstellungen<br />
– wie die von Jung 10 , Brinkmann (1971) 11 , Erben 12 (1972) o<strong>de</strong>r Grebe (1973) 13 –<br />
enthalten Kapitel über die Wortbildung; <strong>de</strong>m gegenüber befassen sich die<br />
Darstellungen von Admoni (1972) 14 , Glinz (1968) 15 o<strong>de</strong>r Schmidt (1967) 16 mit <strong>de</strong>r<br />
Wortbildung überhaupt nicht.<br />
Die i n h a l t s b e z o g e n e R i c h t u n g (hier stehen sprachliche Elemente,<br />
die als ausdruckseitige Einheiten konstatiert wur<strong>de</strong>n, zueinan<strong>de</strong>r in inhaltlichen<br />
Beziehungen) repräsentiert von Weisgerber 17 (1963), Brinkmann (1964), Glinz 18<br />
(1969), stellt in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>n inhaltlichen Aspekt, d.h. daß die "sprachliche<br />
Leistung von <strong>de</strong>r Wortbildung her" nicht einseitig "in <strong>de</strong>m Wortbildungsmittel selbst"<br />
liegt, "son<strong>de</strong>rn in einer semantischen Einheit, die diese Mittel zusammenhält" 19 .<br />
Darauf bezieht sich später Coseriu 20 (1977: 52), wenn er behauptet:<br />
Völlig kohärent und ihrem Gegenstand genau entsprechend kann hingegen eine<br />
inhaltliche, b e d e u t u n g s b e z o g e n e Wortbildungslehre sein. In<br />
inhaltlicher, be<strong>de</strong>utungsbezogener Hinsicht entspricht die Wortbildung einer<br />
G r a m m a t i k a l i s i e r u n g <strong>de</strong>s "primären" – d.h. <strong>de</strong>n<br />
Wortbildungsverfahren jeweils zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n – Wortschatzes; [...] und die<br />
Typen <strong>de</strong>r Wortbildungsverfahren entsprechen <strong>de</strong>n Arten und Bedingungen dieser<br />
Grammatikalisierung.<br />
Im Strom <strong>de</strong>r g e n e r a t i v e n R i c h t u n g wird <strong>de</strong>r syntagmatische<br />
Charakter <strong>de</strong>r Wortbildung – in Anlehnung an die amerikanischen Deskriptivisten 21<br />
10 W. Jung: Grammatik <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache. Leipzig, 1966, 3 1968.<br />
11 H. Brinkmann: Die <strong>de</strong>utsche Sprache. Gestalt und Leistung. Düsseldorf 1962, 2 1971.<br />
12 J. Erben: Einführung in die <strong>de</strong>utsche Wortbildungslehre. Berlin, 1972, 3 1993.<br />
13 P. Grebe: Du<strong>de</strong>n. Bd. 4. Grammatik <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache. Mannheim,<br />
1959, 3 1973.<br />
14 V. G. Admoni: Der <strong>de</strong>utsche Sprachbau. Leningrad 1972.<br />
15 H. Glinz: Die innere Form <strong>de</strong>s Deutschen. Eine neue <strong>de</strong>utsche Grammatik. Bern-<br />
München 5 1968.<br />
16 W. Schmidt: Grundfragen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Grammatik. Berlin 3 1967.<br />
17 L. Weisgerber: Die vier Stufen <strong>de</strong>r Erforschung <strong>de</strong>r Sprache. Düsseldorf 1963.<br />
18 H. Glinz: Synchronie – Diachronie – Sprachgeschichte. In: Sprache – Gegenwart und<br />
Geschichte: Probleme <strong>de</strong>r Synchronie und Diachronie. Düsseldorf 1969: 78-91.<br />
19 W. Henzen: Inhaltsbezogene Wortbildung. In: L. Lipka,./ H. Günther (1981: 55-81).<br />
20 E. Coseriu: Inhaltliche Wortbildungslehre (am Beispiel <strong>de</strong>s Typ "coupe-papier"). In: H.<br />
Brekle/D. Kastovsky (Hrsg.), Perspektiven <strong>de</strong>r Wortbildungsforschung. Bonn 1977: 48-<br />
61.<br />
21 Im klassischen amerikanischen Strukturalismus, <strong>de</strong>r das Morphem als kleinstes<br />
sprachliches Zeichen betrachtet, wird die Morphologie als Oberbegriff in Flexion und<br />
Wortbildung unterteilt. Die letztere spaltet sich dann wie<strong>de</strong>r in Ableitung und Komposition<br />
auf. Grammatische o<strong>de</strong>r Flexionsmorpheme wer<strong>de</strong>n an lexikalische Morpheme o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren<br />
343
– von Marchand 22 (1960, 1969) genutzt, d.h. dass er die ersten Schritte<br />
unternimmt zu einer integrativen Behandlung <strong>de</strong>r Wortbildung und <strong>de</strong>r Syntax. Er<br />
strebt auf struktureller Grundlage eine Verbindung von synchroner und diachroner<br />
Metho<strong>de</strong> an 23 und sieht die Aufgabe <strong>de</strong>r Wortbildungslehre darin, die Muster zu<br />
untersuchen, nach <strong>de</strong>nen in einer Sprache neue lexikalische Einheiten gebil<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n. Diese bil<strong>de</strong>n Syntagmen, die aus einem Determinans und einem<br />
Determinaten bestehen.<br />
This book will <strong>de</strong>al with two major groups: 1) words formed as grammatical<br />
syntagmas, i.e. combinations of full linguistic sings, and 2) words which are not<br />
grammatical syntagmas, i.e. which are composites not ma<strong>de</strong> up of full linguistic<br />
signs. To the first goup belong Compounding, Prefixation, Derivation by a Zero<br />
Morpheme, and Back<strong>de</strong>rivation, to the second Expressive Symbolism, Blending,<br />
Clipping, Rime and Ablaut Gemination, Word-Manufacturing.<br />
und müssen sowohl semantisch als auch syntaktisch analysierbar sein (Marchand<br />
1969: 2f). In <strong>de</strong>r generativen Transformationsgrammatik soll also die Beziehung<br />
zwischen Wortbildung und Syntax die Grundlage für eine systematische,<br />
formalisierte Beschreibung bil<strong>de</strong>n.<br />
Syntax und Wortbildung sind gleichermaßen kreativ, <strong>de</strong>r Unterschied besteht<br />
hauptsächlich im transitorischen Charakter <strong>de</strong>r Sätze. Im Sprechakt wird je<strong>de</strong>r Satz<br />
– gemäß <strong>de</strong>r jeweiligen konkreten Situation – neu gebil<strong>de</strong>t (abgesehen von Zitaten,<br />
Sprichwörtern etc.), während Wortbildungen eine situationsunabhängige<br />
Klassifizierungsfunktion haben. Der Wortbildung kommt an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r Syntax<br />
sowohl ein Prozeß- als auch ein Inventarcharakter zu. Dokulil 24 (1968: 205f) und<br />
Kastovsky (1982: 151-153) unterschei<strong>de</strong>n daher zwischen "Wortbildung" und<br />
"Wortgebil<strong>de</strong>theit", Hansen 25 (1977: 37-39) <strong>de</strong>limitiert "Wortbildung" von<br />
"Wortbildungsanalyse" und Fill 26 (1980) unterschei<strong>de</strong>t zwischen<br />
"Wortbildungslehre" und "Wortdurchsichtigkeit". Was für die Syntax unbestritten ist<br />
und als Grundlage <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r generativen Grammatik steht, und zwar,<br />
daß sie <strong>de</strong>m Sprecher erlauben mit endlichen Mitteln – einem begrenzten Inventar<br />
von Elementen und Regeln – eine unbegrenzte Menge von Kombinationen zu<br />
erzeugen, gilt auch für die Wortbildung, da sie es ermöglicht, aus vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Kombinationen (Wortbildungen) angefügt und bil<strong>de</strong>n so neue Wortformen, nicht neue Wörter<br />
o<strong>de</strong>r Lexeme. Ap. L. Lipka: Wortbildung, Metapher und Metonymie – Prozesse, Resultate<br />
und ihre Beschreibung. In: Steib, B. (Hrsg.), Wortbildungslehre. Münster, Hamburg 1994:<br />
1-15.<br />
22 H. Marchand: The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. A<br />
Synchronic-Diachronic Approach. München 1969.<br />
23 Siehe: W. Kürschner: Generative Transformationsgrammatik und die Wortbildungstheorie<br />
von Hans Marchand. In: H. Brekle/D. Kastovsky (1977: 119-129). Siehe auch Lipka (1994:<br />
2-4); Wilss (1986: 25-27).<br />
24 M. Dokulil: “Zur Theorie <strong>de</strong>r Wortbildung”. In: Wissenschaftliche Zeitschrift <strong>de</strong>r Karl-<br />
Marx-Universität Leipzig: Gesellschafts- und Sprachwissenschaft. Reihe 17. Leipzig<br />
1968: 203-211.<br />
25 K. Hansen: Gegenstand und Beschreibung <strong>de</strong>r Wortbildungslehre. In: A. Neubert,<br />
Beiträge <strong>zur</strong> englischen Lexikologie. Berlin 1977: 37-68.<br />
26 A. Fill: Wortdurchsichtigkeit im Englischen. Eine nicht-generative Studie<br />
morphosemantischer Strukturen. Mit einer kontrastiven Untersuchung <strong>de</strong>r Rolle<br />
durchsichtiger Wörter im Englischen und Deutschen <strong>de</strong>r Gegenwart. Innsbruck 1980.<br />
344
Bausteinen immer neue lexikalische Bezeichnungen für neue Situationen zu<br />
schaffen. Coseriu (1977: 56) formuliert dazu folgen<strong>de</strong>n Gedankengang:<br />
Die Alternative ‘Wortbildung in <strong>de</strong>r Syntax o<strong>de</strong>r im Lexikon’, die die Vertreter eines<br />
bekannten Irrweges <strong>de</strong>r Sprachwissenschaft heutzutage beschäftigt, ist daher als<br />
Alternative falsch, <strong>de</strong>nn die Wortbildung kann nicht ‘e n t w e d e r <strong>zur</strong> Syntax<br />
o d e r zum Lexikon’ gehören. Die Wortbildung ist ein autonomes Gebiet <strong>de</strong>r<br />
Sprache, das ‘Grammatikähnliches’ und rein Lexikalisches einschließt, ein<br />
hierarchisch geordnetes Kontinuum von <strong>de</strong>n Haupttypen <strong>de</strong>r wortbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Verfahren bis zu <strong>de</strong>n vereinzelten Fixierungen; und die Wortbildung ist ein<br />
autonomer Zweig <strong>de</strong>r funktionellen Semantik, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n ‘grammatikähnlichen’<br />
Funktionen <strong>de</strong>r Wortbildungsverfahren beginnen und bis zu <strong>de</strong>n Fixierungen in <strong>de</strong>r<br />
Bezeichnung gelangen muß. Abgesehen davon, daß die grammatischen<br />
Funktionen in <strong>de</strong>r Wortbildung nicht die gleichen wie in <strong>de</strong>r Morphosyntax sind, und<br />
davon, daß eine streng durchgeführte Syntax, die sich als Erzeugung von Sätzen<br />
und Feststellungen <strong>de</strong>r dafür gelten<strong>de</strong>n, schon gegebenen Regeln versteht, über<br />
das Schaffen von neuen Be<strong>de</strong>utungen, das ja in <strong>de</strong>r Wortbildung stattfin<strong>de</strong>t, absolut<br />
nichts sagen kann, kann man in <strong>de</strong>r sog. ‘Syntax’ z. B. die Bezeichnungsbereiche<br />
nicht feststellen und rechtfertigen, und im sog. ‘Lexikon’, wo man zwar<br />
Bezeichnungsbereiche und Fixierungen feststellen kann, kaum die Einheit <strong>de</strong>r<br />
‘grammatikähnlichen’ Funktionen <strong>de</strong>r Wortbildungstypen nicht feststellen, so daß<br />
die funktionelle Einheit eines je<strong>de</strong>n von diesen Typen in eine heterogene Kasuistik<br />
aufgelöst wird.<br />
Hansen/Hartmann 27 (1991: 8) sehen das Verhältnis von Syntax und Wortbildung<br />
zunächst darin, daß sowohl Simplizia, als auch komplexe Wörter in Sätzen<br />
Verwendung fin<strong>de</strong>n. So sind folgen<strong>de</strong> Beispiele grammatische Sätze <strong>de</strong>s<br />
Deutschen:<br />
Paul sitzt auf einem Stuhl aus Holz.<br />
Paul sitzt auf einem Holzstuhl.<br />
Der syntagmatische Charakter von Holzstuhl ist zum einen dadurch zu erklären,<br />
daß Wörter in Bezug auf die Syntax untrennbare lexikalische Einheiten sind. So<br />
sind folgen<strong>de</strong> syntaktische Umwandlungen ungrammatisch:<br />
Topikalisierungen: 7000 Menschen sahen das Weltmeisterschaftsspiel.<br />
*Weltmeisterschaft(s) sahen 70000 Menschen.<br />
Einschub von Appositionen: Der Räuber, <strong>de</strong>r üblen Gesellen, Ban<strong>de</strong> überfiel Hans.<br />
*Die Räuber-, <strong>de</strong>r üblen Gesellen, -ban<strong>de</strong> überfiel Hans.<br />
Relativsätze zu einem Wortbestand: Viele Menschen sind vom Tennis begeistert,<br />
das auf <strong>de</strong>m Wege zum Volkssport ist. *Immer mehr Menschen sind Tennis<br />
begeistert, das auf <strong>de</strong>m Wege zum Volkssport ist.<br />
Adjektivattribute zum Wortbestand: Ein Sammler alter Möbel. Ein alter<br />
Möbelsammler. Ein Alte-Möbel-Sammler.<br />
Diesen und an<strong>de</strong>ren Unstimmigkeiten von Wortbildung und Syntax steht<br />
min<strong>de</strong>stens eine Übereinstimmung gegenüber: So wie sich die Syntax auf die<br />
Menge aller 'möglichen' Sätze bezieht, so <strong>de</strong>finiert die Wortbildung die Menge aller<br />
'möglichen' Wörter einer Sprache (Hansen/Hartmann 1991: 11). An<strong>de</strong>rs als bei<br />
Wörtern kann bei Sätzen nicht von potentiellen, usuellen und okkasionellen 28<br />
27 S. Hansen/P. Hartmann: Zur Abgrenzung von Komposition und Derivation. Trier 1991.<br />
28 Zu <strong>de</strong>n potentiellen, usuellen und okkasionellen Wörtern, siehe S. Ohlsen: Wortbildung<br />
im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie <strong>de</strong>r Wortstruktur. Stuttgart 1986: 49-52<br />
345
Einheiten (in diesem Falle Sätzen) gesprochen wer<strong>de</strong>n – d.h. "es gibt keine korrekt<br />
gebil<strong>de</strong>ten Sätze, die es nicht gibt." 29 So kommt es, daß nur bei “neuen” Wörtern<br />
ein Neuempfin<strong>de</strong>n auftreten kann und nicht bei “neuen” Sätzen.<br />
Die Zugehörigkeit <strong>de</strong>r Syntax und <strong>de</strong>r Morphologie <strong>zur</strong> Grammatik steht generell<br />
nicht <strong>zur</strong> Debatte, während die Auffassungen bezüglich <strong>de</strong>r Wortbildungslehre, wie<br />
schon ange<strong>de</strong>utet, weit auseinan<strong>de</strong>rgehen. Geht man von <strong>de</strong>r Prämisse aus, daß<br />
<strong>de</strong>r Satz im Re<strong>de</strong>akt neu gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n muß, während Wörter <strong>de</strong>m Lexikon als<br />
"Fertigprodukte" entnommen und reproduziert wer<strong>de</strong>n, dann ist die o.g. Einstellung<br />
gewissermaßen gerechtfertigt 30 . Trotz<strong>de</strong>m kann man die Wortbildung nicht<br />
gänzlich <strong>de</strong>r Lexikologie zuschreiben, weil bekanntlicherweise Beziehungen<br />
sowohl <strong>zur</strong> Syntax als auch <strong>zur</strong> Morphologie bestehen 31 . Das hat Ullmann 32 (1967:<br />
7) bewogen, die Wortableitung mit <strong>de</strong>r "lexikalischen Morphologie" zu i<strong>de</strong>ntifizieren,<br />
da eine morphologische Struktur, die einer Klasse von Bildungen zu Grun<strong>de</strong> liegt,<br />
ein Wortbildungsmo<strong>de</strong>ll repräsentiert. Fleischer (1975: 27) nennt seinerseits die<br />
Begriffsbildung als das am naheliegensten Gebiet <strong>zur</strong> Wortbildung. Er sieht diese<br />
Verbindung<br />
in <strong>de</strong>r Univerbierung (senkrecht starten<strong>de</strong>s Kampfflugzeug – Senkrechtstarter) von<br />
Begriffen und <strong>de</strong>m Erlöschen <strong>de</strong>r Flexion innerhalb von Zusammensetzungen (die<br />
großen Städte – die Großstädte);<br />
in <strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nz <strong>zur</strong> Idiomatisierung motivierter Konstruktionen (hoher Ofen –<br />
Hochofen, Heuwagen – Wagen mit Heu);<br />
in <strong>de</strong>r Tatsache, daß das System <strong>de</strong>r Wortbildung offen und ausbaufähig ist und<br />
dadurch Diskrepanzen zwischen System und Norm bestehen: Neben Lesung und<br />
lesen gibt es nicht *Fahrung zu fahren (obwohl das eine durchaus systemgerechte<br />
Bildung wäre).<br />
Um das Problem <strong>de</strong>r Zugehörigkeit gewissermaßen zu lösen, hat man schließlich<br />
die Wortbildung als eigenständige Disziplin zwischen Lexikologie und Grammatik<br />
ausgeglie<strong>de</strong>rt. Dieser durchaus pragmatische Standpunkt berücksichtigt <strong>de</strong>n<br />
Doppelcharakter <strong>de</strong>r Wortbildung, als Prozeß und Inventar. Das rückt sie sowohl in<br />
die Nähe <strong>de</strong>r Syntax (durch die Fähigkeit zu neuen Bildungen 33 ) als auch in die<br />
<strong>de</strong>s Lexikons (durch <strong>de</strong>n Resultatcharakter in Verbindung mit <strong>de</strong>m Phänomen <strong>de</strong>r<br />
Lexikalisierung).<br />
29<br />
H. Günther: Das System <strong>de</strong>r Verben mit be- in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache <strong>de</strong>r Gegenwart: Ein<br />
Beitrag <strong>zur</strong> Struktur <strong>de</strong>s Lexikons <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Grammatik. In: Linguistische Arbeiten<br />
23. Tübingen 1974. Ap. S. Hansen/P. Hartmann (1991: 11).<br />
30<br />
C. Cujbă: Grundbegriffe <strong>de</strong>r Lexikologie. Ia<strong>şi</strong> 1998.<br />
31<br />
C. Cujbă: Deutsche Morphemik. Ia<strong>şi</strong> 1999.<br />
32<br />
St. Ullmann: Grundzüge <strong>de</strong>r Semantik. Die Be<strong>de</strong>utung in sprachwissenschaftlicher<br />
Sicht. Berlin 1967.<br />
33<br />
Das veranlaßte Motsch zu formulieren, Wortbildung dürfe "mit <strong>de</strong>m gleichen Recht <strong>zur</strong><br />
Syntax einer Sprache gerechnet wer<strong>de</strong>n wie etwa die Ebene <strong>de</strong>r Satzglie<strong>de</strong>r"(W. Motsch:<br />
Zur Stellung <strong>de</strong>r 'Wortbildung' in einem formalen Sprachmo<strong>de</strong>ll. In: Studia Grammatica 1.<br />
Berlin 1966: 31-50). 1977 hat er aber diese Einstellung <strong>de</strong>r "syntaktischen Verabsolutierung<br />
<strong>de</strong>r Wortbildung" schon überwun<strong>de</strong>n. Ap. W. Fleischer: Kommunikativ-pragmatische<br />
Aspekte <strong>de</strong>r Wortbildung (S. 177). In: I. Rosengren (Hrsg.), Sprache und Pragmatik. Lund,<br />
1979: 317-329.<br />
346
Wir sprechen mit Dokulil 34 (1968:14), wenn wir schlußfolgernd zusammenfassen,<br />
daß<br />
eine <strong>de</strong>rartige Einglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Wortbildungslehre im Rahmen <strong>de</strong>s gesamten<br />
Lehrgebäu<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Sprache die Tatsache wi<strong>de</strong>rspiegelt, daß die Wortbildung eine<br />
selbständige, relativ autonome Sprachebene bil<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>ren bilaterale Einheiten<br />
durch Wortstrukturbe<strong>de</strong>utungen und entsprechen<strong>de</strong> Ausdrucksmittel gegeben sind.<br />
34 M. Dokulil: “Zur Frage <strong>de</strong>r Wortbildung im Sprachsystem”. In: Slovo a Slovesnost<br />
29.1968. Ap. Fleischer (1975: 28).<br />
347
348
EMILIA MUNCACIU – CODARCEA<br />
KLAUSENBURG<br />
Zum Gebrauch von Mo<strong>de</strong>wörtern im heutigen Deutsch –<br />
amerikanismen und anglizismen als Mo<strong>de</strong>wörter<br />
Einleiten<strong>de</strong> Bemerkungen<br />
Die <strong>de</strong>utsche Gegenwartssprache ist gekennzeichnet durch die Vielfalt ihrer<br />
Existenzformen, Varietäten genannt, wie auch durch die Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen,<br />
zu <strong>de</strong>nen auch Mo<strong>de</strong>wörter, Internationalismen, Amerikanismen und Anglizismen<br />
gehören.<br />
Da die Sprache in Bewegung ist und sich evolutiv entwickelt, ist es verständlich,<br />
warum Begriffe wie Verän<strong>de</strong>rungen, Entwicklung und Ten<strong>de</strong>nzen immer öfter in<br />
<strong>de</strong>r sprachwissenschaftlichen Literatur vorkommen. Die Entwicklung kann natürlich<br />
in zwei Richtungen verlaufen: vom Besseren zum Schlechteren (Deka<strong>de</strong>nztheorie)<br />
o<strong>de</strong>r vom Schlechteren zum Besseren (Progreßtheorie).<br />
D. E. Zimmer meint, daß ein Wort nicht erst dann verstan<strong>de</strong>n wird, wenn man<br />
seine Etymologie versteht:<br />
Die Be<strong>de</strong>utung eines Wortes lernt man einzig und allein, wenn man lernt, wofür es<br />
in <strong>de</strong>r Gegenwart verwen<strong>de</strong>t wird, welchen Begriff, welche Sinnstelle es ab<strong>de</strong>ckt.<br />
Seine Herkunft spielt dabei keine Rolle [….] Wörter kommen über die<br />
Sprachgrenzen, verän<strong>de</strong>rn beim Gebrauch ihre Gestalt und ihre Be<strong>de</strong>utung,<br />
wer<strong>de</strong>n zu konventionellen Symbolen für die Begriffe, mit <strong>de</strong>nen die Sprecher zu<br />
hantieren belieben [….] 1<br />
Daraus kann geschlossen wer<strong>de</strong>n, daß Ten<strong>de</strong>nzen oft nur <strong>de</strong>n Beginn und<br />
Fortgang eines Prozesses aufweisen, ohne daß die Entwicklung schon<br />
abgeschlossen ist. Zu je<strong>de</strong>r Zeit existieren sowohl verän<strong>de</strong>rliche als auch<br />
konstante Bestandteile, <strong>de</strong>nn Verän<strong>de</strong>rung und Stabilität sind gleichermaßen<br />
normale Stadien <strong>de</strong>r Sprachgeschichte, die man somit in ihrer Koexistenz als<br />
Merkmale <strong>de</strong>r Sprachevolution betrachten soll.<br />
Daher betrachte ich dieses Thema als sehr aktuell und beson<strong>de</strong>rs wichtig für die<br />
Sprachpflege und <strong>de</strong>n DaF- Unterricht. Lei<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> in Rumänien nur sehr wenig<br />
darüber geschrieben und <strong>de</strong>shalb ist dieses Thema nur wenig bekannt. Das hat<br />
mich dazu gebracht, mich für die Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Gegenwartssprache zu entschei<strong>de</strong>n.<br />
Ziel dieser Arbeit ist die Darstellung <strong>de</strong>r Amerikanismen und Anglizismen als<br />
Mo<strong>de</strong>wörter, wie auch eine Differenzierung Mo<strong>de</strong>wort- Schlagwort.<br />
Anglizismen und Amerikanismen als Mo<strong>de</strong>wörter wer<strong>de</strong>n nicht nur in <strong>de</strong>r<br />
1 Zimmer, Dieter E.: Deutsch und an<strong>de</strong>rs. Die Sprache im Mo<strong>de</strong>rnisierungsfieber, 1997,<br />
Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, S. 16.<br />
349
Umgangssprache o<strong>de</strong>r Werbung verwen<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r Zeitungssprache,<br />
bzw. im politischen Kontext. Diesbezüglich habe ich als Korpus innerhalb <strong>de</strong>s<br />
dritten Teils meiner Arbeit Amerikanismen und Anglizismen in politischen Artikeln<br />
über <strong>de</strong>n Kosovo-Krieg aus <strong>de</strong>r Zeit (April, Mai) ausgewählt.<br />
Schlagwort- Mo<strong>de</strong>wort. Definition. Unterschie<strong>de</strong><br />
Schlagwörter und Mo<strong>de</strong>wörter, meint P. Braun, sind:<br />
Sprachmittel, mit <strong>de</strong>nen sich die Sprachwissenschaft durchweg zu wenig und die<br />
Sprachkritik sich gelegentlich zu viel beschäftigt hat. 2<br />
Schlagwörter sind Sprachmittel mit starker inhaltlicher Ausrichtung, die oft an<br />
Prozessen <strong>de</strong>r politischen Meinungsbildung beteiligt sind. Sie wer<strong>de</strong>n heute in<br />
Problemzusammenhängen wie Sprache / Öffentlichkeit und Sprache / Politik<br />
behan<strong>de</strong>lt.<br />
Fleischer <strong>de</strong>finiert Schlagwörter als “eine Benennung (in Wort- o<strong>de</strong>r<br />
Wortgruppenstruktur) mit hoher Textfrequenz in <strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung aktuelle,<br />
gesellschaftlich beson<strong>de</strong>rs be<strong>de</strong>utsame Sachverhalte begrifflich konzentriert gefaßt<br />
wer<strong>de</strong>n… Sie erfüllen legitime kommunikative Bedürfnisse.” 3<br />
P. Braun <strong>de</strong>finiert Schlagwörter als “eine Erscheinung <strong>de</strong>r parole, nicht <strong>de</strong>r langue.<br />
Ein Wort ist nicht Schlagwort, son<strong>de</strong>rn wird als Schlagwort gebraucht.” 4<br />
Eine beson<strong>de</strong>re Rolle spielen politische Schlagwörter und die üblichsten davon<br />
beziehen sich auf Freiheit, Fortschritt, Frie<strong>de</strong>n, Demokratie. Die Entwicklung in<br />
Kunst, Wissenschaft und Technik hat ebenfalls charakteristische und wirkungsvolle<br />
Schlagwörter hervorgebracht (z.B. Umwelt mit zahlreichen Weiterbildungen;<br />
schreiben<strong>de</strong>r Arbeiter, Bitterfel<strong>de</strong>r Weg; in <strong>de</strong>r Vergangenheit vgl. die blaue Blume<br />
<strong>de</strong>r Romantik, die schöne Seele <strong>de</strong>r Klassik).<br />
Schlagwörter funktionieren beson<strong>de</strong>rs im Zeitalter <strong>de</strong>r öffentlichen Medien und<br />
müssen daher allgemein und viel<strong>de</strong>utig sein. Somit können sie gleichzeitig<br />
mehrere Gruppenmeinungen ab<strong>de</strong>cken, während viele sich mit <strong>de</strong>m Gesagten<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren können. Schlagwörter kommen in Situationen vor, sind aber nicht<br />
ausschließlich an sie gebun<strong>de</strong>n. Beschreibungsmerkmale für das Einzelwort sind:<br />
Unbestimmtheit, Verallgemeinerung, scheinbare Klarheit, Gefühlsbelastung,<br />
Typisierung und Programmkon<strong>de</strong>nsierung. Neben diesen allgemeinen<br />
Schlagwörtern waren in West/Ost-Deutschland: Selbstverwaltung, Mitbestimmung,<br />
Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Planungssoll, Klassenkampf, Ausbeutung,<br />
volkseigen, friedliche Koexistenz, kalter Krieg.<br />
In <strong>de</strong>r DDR übliche Schlagwörter waren: (nuklearer) Teststopp, Einfrieren <strong>de</strong>r<br />
Kernwaffen, Verbot von Weltraumwaffen, und anstelle <strong>de</strong>r nuklearen<br />
2<br />
Braun, Peter: Ten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache, 1993, 3. Erweiterte<br />
Auflage, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 207.<br />
3<br />
Fleischer, Wolfgang: Phraseologie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache, 1982, Leipzig,<br />
S. 63 ff.<br />
4<br />
Braun, Peter: Ten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache, 1993, 3. erw. Auflage,<br />
Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 102.<br />
350
Abschreckungsstrategie, das Wort Überlebenspartnerschaft. Ein neueres<br />
Schlagwort ist Sozialabbau.<br />
Schlagwörter, die zu abgrenzbaren Gruppen und Sozialbereichen gehören,<br />
beziehen sich auf Freiheiten und Rechte: Studienfreiheit, Lehrfreiheit, Freiheit von<br />
Studium und Lehre, Freiheit <strong>de</strong>r Kunst, <strong>de</strong>s Wortes., <strong>de</strong>r Meinung; Recht auf<br />
Freiheit, Recht auf Arbeit u.a. Sie wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Soziologie auch als Leerformeln<br />
bezeichnet.<br />
W. Schmidt (1972, S.87 f.) versteht Schlagwörter als Bekenntniswörter für<br />
politische, wirtschaftliche und künstlerische Programme und nennt ein paar<br />
Beispiele aus <strong>de</strong>m 18. und 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt (z.B. Aufklärung, Gedankenfreiheit,<br />
Toleranz, Humanität, Menschenrechte, Weltbürgertum, Kulturkampf, Agrarier,<br />
Zivilisation, Frauenemanzipation u.a.).<br />
Im Zeitalter <strong>de</strong>r Massenpresse fin<strong>de</strong>t das Schlagwort seinen Platz in <strong>de</strong>r<br />
Schlagzeile. Dieckmann meint, daß <strong>de</strong>r Gebrauch von Schlagwörtern mit <strong>de</strong>r<br />
Demokratisierung <strong>de</strong>r Politik zunimmt und die Existenz einer öffentlichen<br />
politischen Re<strong>de</strong> voraussetzt.<br />
Schlagwörter waren <strong>de</strong>shalb lebendig im griechischen Stadtstaat, auf <strong>de</strong>m<br />
römischen Forum und seit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18. Jhs. in Europa und Amerika, bis sie<br />
im 20. Jh. weltweite Funktionen bekommen haben. 5<br />
Im Gegensatz zu Schlagwörtern sind Mo<strong>de</strong>wörter sprachformale<br />
Ausschmückungen, die allenfalls das Sprachempfin<strong>de</strong>n verletzen.<br />
In <strong>de</strong>r Du<strong>de</strong>n-Definition (Sinn und sachverwandte Wörter, Bd. 8) sind<br />
Mo<strong>de</strong>wörter:<br />
o<strong>de</strong>r:<br />
Wörter, die immer vorkommen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr aktuell sind<br />
und gewissen wirtschaftlichen, sozialen, politischen, gesellschaftlichen<br />
Bedürfnissen entsprechen;<br />
Wort, das für eine gewisse Zeit sehr im Schwange ist. 6<br />
Das dtv- Lexikon, Bd. 12 gibt folgen<strong>de</strong> Definition:<br />
Mo<strong>de</strong>wort: Wort o<strong>de</strong>r Wendung, das sich nach vorübergehen<strong>de</strong>r Aktualität bald<br />
abnutzt (z.B. ‘genau’ als Ausdruck bestätigen<strong>de</strong>r Zustimmung statt ‘ja’). 7<br />
Die Gemeinsamkeit zwischen Mo<strong>de</strong>wörtern und Schlagwörtern ist“ ihr beson<strong>de</strong>res<br />
Verhalten im Kommunikationsprozeß” 8 , obwohl das Mo<strong>de</strong>wort nicht die begriffliche<br />
Konzentration <strong>de</strong>s Schlagwortes zum Ausdruck be<strong>de</strong>utungsvoller Erscheinungen<br />
5<br />
Dieckmann, W.: Deutsche Sprachkun<strong>de</strong>, 1972, Berlin,S. 87-89 .<br />
6<br />
Du<strong>de</strong>n, Bd. 8, Sinn- und sachverwandte Wörter, 1986, 2. Neu bearbeitete, erweiterte<br />
und aktualisierte Auflage, Du<strong>de</strong>nverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, S. 774.<br />
7<br />
Dtv-Lexikon, Bd. 12, 1992, F.A.Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH &<br />
Co. KG., München, S. 155.<br />
8<br />
Freitag, R.: Zum Wesen <strong>de</strong>s Schlagwortes und verwandter, sprachlicher<br />
Erscheinungen, 1974, S. 129-130.<br />
8<br />
Vgl. Heinemann, M.: „Wie mo<strong>de</strong>rn sind Mo<strong>de</strong>wörter?“ In: Sprachpflege, 1984; 33, S. 157-<br />
159.<br />
351
kennt und daher (von vornherein) “eine größere Anwendungsbreite” 9 hat.<br />
Morphologisch gesehen, tritt das Schlagwort fast ausschließlich als Substantiv<br />
(o<strong>de</strong>r substantivische Wortgruppe) auf, während Mo<strong>de</strong>wörter alle Hauptwortarten<br />
sein können: Substantive, Verben, Adjektive, Adverbien und auch Partikeln <strong>de</strong>r<br />
verschie<strong>de</strong>nsten Art.<br />
K. E. Sommerfeld ist <strong>de</strong>r Meinung, daß “Mo<strong>de</strong>wörter weit öfter […] in <strong>de</strong>r<br />
interpersonalen Kommunikation vorkommen und […] für eine rationelle<br />
Verständigung in <strong>de</strong>r Alltagskommunikation vielfach gut geeignet sind.” 10 Nach K.<br />
E. Sommerfeld wäre es unnötig, in je<strong>de</strong>m Falle anspruchsloser<br />
Alltagskommunikation für Substantive wie Aspekt, Adjektive wie nett, interessant<br />
u.a. nach variablen Benennungen zu suchen.<br />
Natürlich wird ein entwickeltes Sprachbewußtsein nach <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />
Kommunikationssituationen differenzieren und eine wirkungsvolle Kommunikation<br />
wird auch mit einem Umfang variabler Benennungen operieren können.<br />
So z.B. kennen Adjektive, leichter als Substantive, eine breitere “Ausweitung” <strong>de</strong>r<br />
Distribution und damit Be<strong>de</strong>utungserweiterungen. Man hat bemerkt, daß das<br />
Adjektiv “hoch” viel häufiger verwen<strong>de</strong>t wird in Verbindung mit Substantiven, bei<br />
<strong>de</strong>nen vorher eher Adjektive wie „stark“, „groß“, „schnell“, „gut“ üblich waren: hohes<br />
Interesse, hoher Kun<strong>de</strong>ndienst, hohe Materialökonomie. 11<br />
Im Hinblick auf <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>wortes gibt es relativ große<br />
Übereinstimmungen: Es kann hinreichend durch die Sprachpsychologie und die<br />
Sprachsoziologie erklärt wer<strong>de</strong>n.<br />
H. G. Adler macht einen Vergleich von Mo<strong>de</strong> und Mo<strong>de</strong>verhalten:<br />
Man spricht vom Diktat <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> und bezeichnet damit eine Macht, <strong>de</strong>r sich nicht<br />
zu fügen schwierig und oft peinlich ist. Dieses Diktat können wir gut am Mo<strong>de</strong>wort<br />
erkennen. Nicht oft wissen wir, wo es herstammt, mit einem Male scheint es da zu<br />
sein, es läuft um, ist allgemein im Gebrauch, sei es als einzelnes Wort o<strong>de</strong>r als<br />
Re<strong>de</strong>wendung, sei es mehr in gesprochener Re<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Schriftsprache. 12<br />
Mo<strong>de</strong>wörter verdanken eine vorübergehen<strong>de</strong>, aber sehr heftige Beliebtheit <strong>de</strong>m<br />
Umstand, daß sie im einzelnen vielleicht ganz zufällig, in tonangeben<strong>de</strong>n Kreisen<br />
in Umlauf gekommen sind.<br />
J. Stave nennt sie Status-Symbole, da “je<strong>de</strong> Gesellschaft einen bestimmten Status<br />
hat, <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r nacheifert, <strong>de</strong>r ihr angehören möchte und <strong>de</strong>r in vielen einzelnen<br />
Symbolen nie<strong>de</strong>rschlägt.” 13<br />
So gelten z.B. für Jugendliche an<strong>de</strong>re Mo<strong>de</strong>wörter (dufte, astrein, sagenhaft) als<br />
für Gruppen von Erwachsenen.<br />
Es sind Menschen, die die Mo<strong>de</strong>wörter verwen<strong>de</strong>n und genießen, und solche die<br />
10 Sommerfeld, K. E. (Hg.): Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Gegenwartssprache, 1988, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, S. 123.<br />
11 Vgl. auch Rössler, R.: „‚Mit hohem Schrittmaß weiter auf gutem Kurs‘. Zum Gebrauch von<br />
“hoch” in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache <strong>de</strong>r DDR“. In: Sprachpflege , 1979, 28, S. 12-14 .<br />
12 Adler, H. G.: „Mo<strong>de</strong>wörter“ . In: Muttersprache, 1959, S. 169.<br />
13 Stave, J.: „Mo<strong>de</strong>wörter- Lieblinge o<strong>de</strong>r Stiefkin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sprache?“ In:: Muttersprache,<br />
1962, S. 83.<br />
352
sie kritisieren, weil sie ihr Sprachempfin<strong>de</strong>n verletzen.<br />
Mo<strong>de</strong>wörter stehen in Zusammenhang mit <strong>de</strong>n Wörtern <strong>de</strong>s Jahres, da sie die<br />
Vorliebe und Anzahl ihrer Verwendung wi<strong>de</strong>rspiegeln. Die Gesellschaft für<br />
<strong>de</strong>utsche Sprache (GfdS) hat sich mit diesem Phänomen beschäftigt und hat in <strong>de</strong>r<br />
Zeitschrift Fachdienst Germanistik in <strong>de</strong>r Rubrik „Sprachkun<strong>de</strong>ndienst“ eine<br />
Wortliste herausgegeben mit <strong>de</strong>n Wörtern <strong>de</strong>s Jahres, mit <strong>de</strong>nen H. D. Schlosser<br />
die Wörter bezeichnet, die „<strong>de</strong>m gesellschaftlichen, politischen o<strong>de</strong>r<br />
wirtschaftlichen Leben <strong>de</strong>s vergangenen Jahres ihren Stempel aufgedrückt haben“<br />
und mit <strong>de</strong>n Unwörtern <strong>de</strong>s Jahres, wodurch er auf <strong>de</strong>n „gedankenlosen, oft<br />
inhumanen und zynischen Sprachgebrauch“ 14 aufmerksam machen will.<br />
Nicht uninteressant dürften in diesem Zusammenhang die Wortlisten sein, mit<br />
<strong>de</strong>nen B. Carstensen die “Wörter <strong>de</strong>s Jahres” festhalten möchte: 15<br />
z.B. 1977 – Szene in Zusammenhang mit Sympathisantenszene, Terror-, Literatur-<br />
, Opern-, Chanson-, Uniszene; 1978 – Störfall, Rooming-in, Disco, die Schlümpfe;<br />
1979 – Holocaust, alternativ, Jogging; 1980 – Rasterfahndung, Olympiaboykott,<br />
zum Anfassen; 1981 – Nullösung, Doppelbeschluß, Nachrüstung, 1982 – Wen<strong>de</strong>,<br />
Ellbogengesellschaft, Entrüstet euch!; 1983 – heißer Herbst, Volksaushorchung,<br />
Zündi; 1984 – Umweltauto, Formal<strong>de</strong>hyd, Neidsteuer; 1985 – Glykol,<br />
Menschenrechte; 1986 – Ausstieg, Black-out, Tschernobyl.<br />
Amerikanismen und Anglizismen als Mo<strong>de</strong>wörter<br />
Als ich im Sommer 1997 mit einem Hochschulsommerkursstipendium nach<br />
Erlangen fuhr, konnte ich an <strong>de</strong>r Alltagssprache <strong>de</strong>r Deutschen, wie auch an <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Lehrer an <strong>de</strong>r Universität merken, wie sehr Amerikanismen und Anglizismen in<br />
die <strong>de</strong>utsche Gegenwartssprache eingedrungen sind. Mit ihrem Gebrauch in <strong>de</strong>r<br />
Schriftsprache war ich schon vertraut.<br />
Der Terminus Amerikanismus bezieht sich auf die genetische Herkunft eines<br />
Wortes und nicht auf die, von <strong>de</strong>nen man annimmt, sie seien aus <strong>de</strong>n Vereinigten<br />
Staaten im <strong>de</strong>utschen Lehnwortschatz eingedrungen.<br />
Im Du<strong>de</strong>n wird folgen<strong>de</strong> Definition <strong>de</strong>s Terminus Amerikanismus gegeben:<br />
Sprachliche Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s amerikanischen Englisch; Entlehnung aus <strong>de</strong>m<br />
Amerikanischen ins Deutsche. 16<br />
Zum Terminus Anglizismus steht:<br />
Übertragung einer für das britische Englisch charakteristischen sprachlichen<br />
Erscheinung auf eine nichtenglische Sprache. 17<br />
14<br />
Fachdienst Germanistik, Rubrik “Der Sprachkun<strong>de</strong>ndienst”, 2/1991, S.4 und 11/1991,<br />
S.8.<br />
15<br />
Carstensen, B.: „Wörter <strong>de</strong>s Jahres“. In: Sprache und Literatur, 1986; 58/1986, S.104<br />
ff.<br />
16<br />
Du<strong>de</strong>n. Deutsches Universalwörterbuch A- Z; 1989, 2. Völlig neu bearbeitete und<br />
stark erweiterte Auflage, Du<strong>de</strong>nverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, S. 99.<br />
17<br />
Ebd., S.111.<br />
353
Das dtv-Lexikon Bd. 1 <strong>de</strong>finiert Amerikanismen und Anglizismen folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />
Amerikanismus:<br />
Anglizismus:<br />
Wörter, Wendungen o<strong>de</strong>r Schreibungen, die <strong>de</strong>m amerikanischen Englisch eigen<br />
sind o<strong>de</strong>r die aus diesem in frem<strong>de</strong> Sprachen übernommen wur<strong>de</strong>n. 18 ;<br />
In eine an<strong>de</strong>re Sprache übertragene englische Spracheigentümlichkeit 19 .<br />
Wahrig-Deutsches Wörterbuch <strong>de</strong>finiert Amerikanismen und Anglizismen wie<br />
folgt:<br />
In eine an<strong>de</strong>re Sprache übernommene amerikanische/englische<br />
Spracheigentümlichkeit 20 .<br />
Viele Sprachwissenschaftler nehmen an, daß die beson<strong>de</strong>re Beziehung zwischen<br />
<strong>de</strong>n Vereinigten Staaten und <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland <strong>de</strong>n Sprachkontakt<br />
und die Interferenz för<strong>de</strong>rt.<br />
Bro<strong>de</strong>r Carstensen bezeichnet als Amerikanismen die englischen Wörter, die nach<br />
1945 aus <strong>de</strong>n unterschiedlichsten Bereichen <strong>de</strong>r USA nach Deutschland<br />
gekommen sind.<br />
Eine große Zahl von Amerikanismen hat selbst in das Britische Englisch Eingang<br />
gefun<strong>de</strong>n.<br />
Amerikanismen können als Teil <strong>de</strong>r Jugendsprache bezeichnet wer<strong>de</strong>n, weil sie oft<br />
farbige, drastische Jargonwörter sind.<br />
Sie stellen eine wesentliche Entwicklungsten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Sprache dar und bil<strong>de</strong>n das<br />
Thema heftiger sprachwissenschaftlicher Diskussionen und Untersuchungen.<br />
Deshalb habe ich als Hauptquellen <strong>de</strong>r Behandlung dieses Themas die<br />
Zeitschriften Deutsch als Muttersprache und Der Sprachdienst verwen<strong>de</strong>t, da<br />
sie <strong>de</strong>r Rolle von Amerikanismen und Anglizismen beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit<br />
beimessen.<br />
Amerikanismen und Anglizismen sind Teil <strong>de</strong>r Entlehnungsprozesse, die schon<br />
100 Jahre vor <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg mit <strong>de</strong>m Übergang zum Imperialismus<br />
(strike- <strong>de</strong>r Streik) begonnen haben und dann erneut in <strong>de</strong>n 20er Jahren <strong>de</strong>s 20.<br />
Jhs. stark zugenommen haben (vor allem in Sport, Mo<strong>de</strong>, Musik,<br />
Gaststättenwesen, technischen Erzeugnissen usw.). z.B. Bowl, Fashion,<br />
Roastbeef, Toast, Trainer, Tip, Derby, Laser, Business, Rock, Jeans u.a.<br />
Nach 1945 setzt <strong>de</strong>r Entlehnungsprozeß verstärkt zunächst in <strong>de</strong>n westlichen<br />
Besatzungszonen, dann in <strong>de</strong>r 1949 gegrün<strong>de</strong>ten BRD ein. Die DDR und die BRD<br />
wur<strong>de</strong>n erst in <strong>de</strong>n Kommunikationsbereichen Tanzmusik, Mo<strong>de</strong>, später Werbung<br />
erfaßt und dazu kamen noch die Benennungen für industrielle Erzeugnisse, ein<br />
Prozeß <strong>de</strong>r sich auch heute noch fortsetzt.<br />
So zum Beispiel war Rock vor 20 bis 30 Jahren bereits eine mo<strong>de</strong>rne Tanzsportart,<br />
18<br />
DTV- Lexikon, Bd 1, 1992, F.A. Brockhaus GmbH, Mannheim und DTV Verlag GmbH &<br />
Co. KG, München, S.162<br />
19<br />
Ebd., S. 193<br />
20<br />
Wahrig, G.: Deutsches Wörterbuch, 1986, Völlig überarbeitete Neuausgabe,<br />
Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/ München, S.157 und 165.<br />
354
die aus <strong>de</strong>n USA stammte. Den Tanz nannte man Rock and Roll bzw. Rock'n'Roll.<br />
Mitte <strong>de</strong>r 60er Jahre hat sich die Hardrock Variante stark durchgesetzt, die später<br />
Heavy Metal Rock wur<strong>de</strong>. Ein an<strong>de</strong>res Beispiel ist Beat (im Jazz erzeugtes<br />
rhythmisch-metrisches Fundament <strong>de</strong>r Musik). Die Gruppen haben Lea<strong>de</strong>r,<br />
Bandlea<strong>de</strong>r, Backgroundvocals, Synthesizer, Keyboards. Ein Sporttanz ist<br />
Breakdance, die Ausüben<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n Breakdancer genannt. Auch Disko, Jeans,<br />
Aerobic, Popgymnastik gehören dazu.<br />
Die Amerikanismen gelten als Fremdwörter <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache und<br />
G.H.Gärtner unterschei<strong>de</strong>t vier Grün<strong>de</strong> für <strong>de</strong>ren Übernahme in <strong>de</strong>r Sprache:<br />
a) Sie können in <strong>de</strong>r Sprache als Konsequenz einer militärischen Besetzung<br />
dieses Lan<strong>de</strong>s auftauchen;<br />
b) Die wirtschaftliche Stärke kann auch eine sprachliche Wirkung eines Lan<strong>de</strong>s auf<br />
an<strong>de</strong>re Län<strong>de</strong>r ausüben;<br />
c) Fremdwörter können aus kulturellen Grün<strong>de</strong>n aus einer Sprache übernommen<br />
wer<strong>de</strong>n (zum Beispiel englische Punks, Rocker);<br />
d) Ein Land wird Vorbild für an<strong>de</strong>re Län<strong>de</strong>r durch seine gesamte Lebensgestaltung<br />
und exportiert einen Teil seines Wortschatzes, wenn es technisch-zivilisatorisch<br />
<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren überlegen ist.<br />
Amerikanismen und Anglizismen gelten als Fremdwörter <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache<br />
und haben somit ihre Form behalten, aber manche von ihnen haben <strong>de</strong>n Charakter<br />
<strong>de</strong>s Lehnworts angenommen (z.B. ausflippen, austricksen, recyceln, canceln), sei<br />
es durch Lehnschöpfungen, d.h. Ver<strong>de</strong>utschung frem<strong>de</strong>r Begriffe (z.B.<br />
Öffentlichkeitsarbeit für public relations, Autokino für Drive-in u.a.),<br />
Lehnübertragungen, d.h. Zusammensetzungen aus einem <strong>de</strong>utschen und einem<br />
englischen Teil (z.B. Nonstop Flug, Fernsehspot, Bahncard) o<strong>de</strong>r<br />
Scheinentlehnungen, d.h. Wörter, die aus englischem Wortmaterial entstan<strong>de</strong>n<br />
sind, <strong>de</strong>ren Form es aber we<strong>de</strong>r im amerikanischen Englisch, noch im britischen<br />
Englisch gibt, z.B. Showmaster, Splitting, Handy.<br />
Die Gesamtzahl <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>utscher Sprache existieren<strong>de</strong>n Amerikanismen nähert<br />
sich <strong>de</strong>r 6.000, von <strong>de</strong>nen einige willkürlich herausgegriffen sind: Bluejeans,<br />
Pokerface, Brainstorming, Gangway, Image, Recycling, Trial-and-error-Metho<strong>de</strong><br />
und an<strong>de</strong>re.<br />
Das mo<strong>de</strong>rne Englisch übt eine große Anziehungskraft durch seine große<br />
Flexibilität und Dynamik aus. So können Verben zu Substantiven mutieren, zum<br />
Beispiel the flirt – to flirt, the vacation – to vacation.<br />
Substantive sind kurz, einsilbig und prägnant, zum Beispiel Job, Fan, Test, Pop,<br />
Chip, Hit, Gang, Jet. Wörter können ohne Formverän<strong>de</strong>rung zu Substantiven o<strong>de</strong>r<br />
Verben verwan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, zum Beispiel down, to down, the ups and downs.<br />
Amerikanismen und Anglizismen als Fremdwörter (in<br />
unverän<strong>de</strong>rter Form)<br />
Die heutige Anglisierung scheint auf <strong>de</strong>n ersten Blick auf einzelne sachliche o<strong>de</strong>r<br />
soziale Bezirke beschränkt. Beim zweiten Blick aber sieht man, daß sie sich auf<br />
mehrere Lebensbereiche beziehen. Davon einige zu nennen sind:<br />
- Amerikanismen im Sprachbereich <strong>de</strong>r Werbung, die sich von <strong>de</strong>r<br />
355
Standardsprache abgrenzen, weil sie keine Rücksicht mehr auf Verständlichkeit<br />
nehmen, z.B. in <strong>de</strong>r Kosmetik: Intense-self-tanning-milk (Selbstbräunungscreme),<br />
Age-Defying-Fluid for Delicate Skin (Hautcreme <strong>de</strong>r Firma Pond’s), moisturizer<br />
(Feuchtigkeitscreme), to replenish (ergänzen), Apricot Oil Body Moisturizer<br />
Replenishing (Duschgel), beauty (Schönheit), Appeal (Reiz), Smoothing After<br />
Shave Balm (Rasierwasser) u.a.<br />
- Amerikanismen im Bereich Reise/ Verkehr/ Tourismus z.B. Inter City Express,<br />
Airport, Quick-check-in-Service, Ski-Kids-Corner, Master Card, Skisafaris,<br />
Winterfreaks, Snowboards, Skateboards, Skigui<strong>de</strong>-Tours, Image, Highlight, Fast<br />
Food (Schnellessen), Funny Land, Big Apple (New-York) u.a.<br />
Neue Produkte und Mo<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n USA wie Aerobic, Walkman, Snowboard<br />
behalten ihre Bezeichnung aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r besseren Vermarktung, <strong>de</strong>r bewußten<br />
Steuerung und somit sind sie in die <strong>de</strong>utsche Sprache und in das <strong>de</strong>utsche<br />
Denken eingedrungen. Dasselbe geschieht mit <strong>de</strong>m Fachvokabular im Sport<br />
(Basketball, Baseball, American Football, Cheerlea<strong>de</strong>r, Caps, Sport).<br />
Auch das <strong>de</strong>utsche Wort Spaß wird immer mehr vom Englischen fun ersetzt. Der<br />
Spiegel (19.2.96) stellte fest:<br />
Das reimte sich auf sun (Sonne), roch nach Joop!, versprach Tempo und Girlies<br />
und, großer Vorteil, ließ sich kaufen; Spaß muß man machen, fun kann man haben,<br />
in je<strong>de</strong>m La<strong>de</strong>n. 21<br />
Eine Ten<strong>de</strong>nz in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache, die als Mo<strong>de</strong>erscheinung gilt,<br />
ist die Übernahme <strong>de</strong>s englischen Genitiv ’s. z.B. Gaby’s La<strong>de</strong>n, Else’s Kneipe<br />
o<strong>de</strong>r Treffpunkt <strong>de</strong>s guten Geschmack’s, wie eine Mannheimer Metzgerei heißt.<br />
- Amerikanismen aus <strong>de</strong>n Bereichen <strong>de</strong>r Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und<br />
Politik: z.B appeasement – ein politisch-historischer Fachausdruck, <strong>de</strong>r die Politik<br />
<strong>de</strong>s ständigen Nachgebens gegenüber totalitären Staaten o<strong>de</strong>r aggressiver<br />
politischen Gruppen beschreibt. Er geht auf das Münchener Abkommen von 1938<br />
<strong>zur</strong>ück.<br />
Chip – ursprünglich nur für eine Spielmarke in einem Spielkasino gebraucht.<br />
Später wur<strong>de</strong> es in die Computersprache übernommen und bezeichnet ein kleines,<br />
meist aus Silicium bestehen<strong>de</strong>s Teilchen, auf <strong>de</strong>m Informationen gespeichert sind;<br />
Lean production ist eine neuere Bezeichnung für eine wirtschaftlich günstigere<br />
Produktion bei geringeren Kosten und geringerem Arbeitsaufwand;<br />
Outsourcing ist ein betriebswirtschaftlicher Fachausdruck, <strong>de</strong>r das Abschaffen bzw.<br />
Verlagern eigener spezieller Fertigungsabteilungen zugunsten einer Vergabe<br />
solcher Arbeiten an flexible Leiharbeits- o<strong>de</strong>r Zeitarbeitsfirmen be<strong>de</strong>utet; es wur<strong>de</strong><br />
als Unwort <strong>de</strong>s Jahres 1996 bezeichnet.<br />
Overkill (fähigkeit) ist ein politisch-militärischer Fachbegriff, welcher be<strong>de</strong>utet, daß<br />
ein Land mehr militärische Mittel zum Erreichen seiner Ziele einsetzt, als es<br />
notwendig ist;<br />
Mobbing ist ein Fachausdruck aus <strong>de</strong>r amerikanischen Sozialpsychologie, <strong>de</strong>r das<br />
sich ausbreiten<strong>de</strong> Phänomen <strong>de</strong>s Drangsalierens am Arbeitsplatz benennt.<br />
An<strong>de</strong>re Amerikanismen sind Appointment (Verabredung), Bypass, Broker<br />
(Händler), Corporate I<strong>de</strong>ntitiy, Computerboom, Car Hi-Fi, CD-Rom Fan, Cash<br />
21 Der Spiegel, 12.04.96; zit. nach Fachdienst Germanistik, 4/96, S. 4.<br />
356
(Kleingeld), Copy-Collage, Copyshop, Deal (Han<strong>de</strong>l), E-mail, Euro Tec-Park,<br />
Handy (als Bezeichnung für Mobiltelefone), Headline (Schlagzeile), High-Tech-<br />
Profi, Jackpot (Hauptgewinn), Kilo-Pack, Laser, Leasing, Megastore, Media Box,<br />
Meeting, Multimedia (Wort <strong>de</strong>s Jahres 1995), Partner, Product Placement, Sale<br />
(Schlußverkauf), Sleep-Kick-Taste, Technic Center (Zentrum), Vi<strong>de</strong>o-Chip,<br />
Workshop, Vit-Cash, Update u.a.<br />
Im politischen Kontext war das „Unwort <strong>de</strong>s Jahres 1994“ peanuts. Es bezieht sich<br />
auf "die abschätzige Bewertung von Geldsummen, in Finanzkreisen, von <strong>de</strong>nen<br />
<strong>de</strong>r Durchschnittsbürger nur träumen könne" 22 . Hilmar Kopper, <strong>de</strong>r<br />
Vorstandsvorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bank, verwen<strong>de</strong>te es im Sinne: "Verlust <strong>de</strong>r<br />
Bank in Höhe von rund 50 Millionen Mark".<br />
- Das Computer- und Internet- Englisch folge ganz eigenen Gesetzen, verän<strong>de</strong>re<br />
das Alltags-Englische und übe größten Einfluß auf das Alltags-Deutsch aus,<br />
schreibt Josef Oehrlein in seinem Artikel “Schöne Grüße vom Webmaster und<br />
Sysop. Booten, scannen und chatten: Computer, Internet und die <strong>de</strong>utsche<br />
Sprache”:<br />
Mit <strong>de</strong>m Browser bin ich <strong>zur</strong> coolen Homepage eines provi<strong>de</strong>rs gesurft, habe dann<br />
von meinem ftp-Server ein bißchen Shareware gesaugt und mich über ein paar<br />
Links <strong>zur</strong> Site eines Mo<strong>de</strong>mherstellers weitergehangelt, mir dort noch ein paar<br />
aktuelle Treiber heruntergela<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Web-Master eine E-mail geschickt. 23<br />
An<strong>de</strong>re solche Mo<strong>de</strong>wörter sind: Hotline, Server, Icon, User, Update, Mouse, Mini-<br />
Abo Service, Online-Chats, Laptop, Power Control, PC-User, Short Message<br />
Service, Voice Mail Service via Telefon, Sub-Note-Book, Cyber-Space, Homepage.<br />
Diese Überflutung <strong>de</strong>r Sprache von Amerikanismen wird auch in Frankfurter<br />
Rundschau/Die Presse, 17.7.1993 kritisiert:<br />
Wer beim Lunch einem Headhunter lauscht, <strong>de</strong>r über sein Business spricht, bei<br />
<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>r Manpower nachjagt, um das Human Capital einer Firma auf<br />
Vor<strong>de</strong>rmann zu bringen, <strong>de</strong>m wird klar: das Managerlatein kommt aus <strong>de</strong>m<br />
angloamerikanischen Raum 24 .<br />
- Amerikanismen, die <strong>de</strong>m Sprachgefühl eines je<strong>de</strong>n einzelnen unterliegen und<br />
zugleich an <strong>de</strong>r Schwelle zum Eintritt in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Standardwortschatz stehen<br />
können:<br />
z.B. Big Business, Boom, Crew, Hearing, Trendsetter, Overdressed, Grapefruit,<br />
Standby, Second Hand, Walkman, Fit, Talk Show, Cornflakes, Broker, Countdown,<br />
Designer, Cartoon, Political Correctness, Hot-Dog, Shop u.a.<br />
- Amerikanismen, die die <strong>de</strong>utschen Lebensgewohnheiten allgemein betreffen und<br />
die <strong>de</strong>utsche Sprache beherrschen: z.B. Folklore, Job(killer), Joker, Poker,<br />
Bodyguard, Gangway, Striptease, Sex-Appeal, Musical, Playboy, Outfit, Trend,<br />
Midlife-Crisis, Blackout (Aussetzen, Ausfall), Bodystockings, Lifestyle, Joggen,<br />
Fairness, Weekend, Message.<br />
Hierher gehören auch manche jugendsprachliche Ausdrücke : z.B. Typ, Brainie<br />
22 Fachdienst Germanistik, 3/95, S.6.<br />
23 Frankfurter Allgemeine, 5.12.1998, zit. nach Fachdienst Germanistik, 1/99, S.4<br />
24 Frankfurter Rundschau/Die Presse, 17.7.1993. Zit. nach: Fachdienst Germanistik,<br />
9/93, S.6.<br />
357
(kluger Mensch), Freaks, Kids, Super, Groove (etwas Tolles, Fetziges),Tattoo,<br />
Techno, All-Over (ganzflächlich, z.B. all-over tights), Charts (Hitpara<strong>de</strong>),Open Air<br />
(im Freien), Total, Xmas, Cool u.a.<br />
- Amerikanismen in <strong>de</strong>n öffentlichen Medien: z.B. Anti-Aging-Wirkstoff,<br />
(vollorganischer Wirkstoff) wur<strong>de</strong> von Jean Pütz erfun<strong>de</strong>n und in seiner Fernseh-<br />
Hobbythek verkün<strong>de</strong>t; ein taffer Manager – modisches Outfit. Der Spiegel schreibt<br />
in einer Besprechung <strong>de</strong>s ZDF-Vierteilers “Das Sahara-Projekt”:<br />
[...] ein Held zwischen Pflicht und Verantwortung. Dazu taffe Manager im<br />
modischen Outfit 25 .<br />
Zu bemerken ist die neue Orthographie auf Lautschriftbasis bei <strong>de</strong>m Wort tafftough.<br />
Brain-drain (das Auswan<strong>de</strong>rn von Fachleuten, aus finanziellen Grün<strong>de</strong>n), zum<br />
Beispiel "Wir müssen <strong>de</strong>n Brain-drain ins Ausland bekämpfen [...]"<br />
Key-points. In einer Tennisübertragung <strong>de</strong>r Australian Open am 25.01.1996 sagte<br />
<strong>de</strong>r Sportreporter <strong>de</strong>s DSF H.Gogel während <strong>de</strong>s Spieles Agassi gegen Courier:<br />
"Dieser Punkt könnte, wie man auf Neu<strong>de</strong>utsch sagt, einer <strong>de</strong>r Key-points für<br />
Agassi gewesen sein".<br />
Open-end-shuttle-Tour / Pen<strong>de</strong>ldiplomatie: "Minister Christoph ist auf einer Openend-shuttle-Tour"<br />
(Bericht über die 17. Nahostreise, 1996, <strong>de</strong>s amerikanischen<br />
Außenministers Cristoph), o<strong>de</strong>r "Minister Christoph und seine Pen<strong>de</strong>ldiplomatie".<br />
An<strong>de</strong>re Amerikanismen, die in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen öffentlichen Medien erschienen sind,<br />
sind: Cool-relaxed. News. Night Session: "Der Deutsche blieb cool und relaxed.<br />
Und jetzt die letzten News. Anschließend spielt Bernd Karbacher in einer Night<br />
Session gegen Alberto Costa". (Euronews); Pricing -Costing (Der Spiegel,<br />
11.09.1995); Endutainment (statt Entertainment), Funster (Analogiebildung zu<br />
Speedster, schnelles Auto); Smalltalk(fähigkeit), Hip-Hop, Vi<strong>de</strong>oclip u.a.<br />
Auch das Fernsehen wird amerikanisiert von Folk-, Game-, Late Night Shows,<br />
News, Reality-TV. Fernsehzeitschriften heißen heute: TV today, TV movie, TV<br />
pur, das neue Nachrichtenmagazin heißt Focus, und im Laufe <strong>de</strong>s Jahres 1994<br />
wur<strong>de</strong> Spiegel spezial zu Spiegel special umgewan<strong>de</strong>lt.<br />
Die Beispiele dieser Kategorie haben nur wenig mit Wirtschaftsinteressen zu tun<br />
und sind nur mit <strong>de</strong>m alltäglichen Medienbereich verbun<strong>de</strong>n. Die überwältigen<strong>de</strong><br />
Mehrheit <strong>de</strong>r Popmusik, die aus Funk und Fernsehen tönt, kommt aus <strong>de</strong>n USA<br />
und beeinflußt weiterhin die Sprache. Computer-, Freizeit- o<strong>de</strong>r Fitneßmarkt, <strong>de</strong>ren<br />
Terminologie hauptsächlich englisch ist, sind schon fast in je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen<br />
Haushalt vorgedrungen.<br />
Die ungehemmte Benutzung von Amerikanismen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache stößt<br />
auf <strong>de</strong>n Protest <strong>de</strong>r sprachpflegerisch interessierten Menschen, die mehr die<br />
Benutzung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache for<strong>de</strong>rn. B. Carstensen sagt diesbezüglich:<br />
"Bescheuert ist das, was die Werbung mit <strong>de</strong>r Sprache treibt".<br />
Der Durchschnittsbürger kann einen solchen Wust aus Technik-, Lifestyle- und<br />
Englischhuberei nicht mehr verstehen und will es auch nicht.<br />
Eike Schönfeld, in ihrem Lexikon <strong>de</strong>s Neu<strong>de</strong>utschen, versteht unter<br />
25 Zit. nach: Gärtner, G.-H.: „No future für Deutsch ? Amerikanismen in unserer<br />
Standardsprache“. In: Der Sprachdienst (4-5/1997), GfdS Verlag, Wiesba<strong>de</strong>n, S.141.<br />
358
Amerikanischem als dominieren<strong>de</strong> Weltkultur: Fitneß, Kleidung, Hamburger,<br />
Comics, Fernsehen, Literatur, Football, Datenautobahn, Political Correctness,<br />
das ist Coca-Cola, Intel, Hip-Hop, Marlboro, das ist das romantische und<br />
aufregen<strong>de</strong> Bild, das zunächst Hollywood und später auch die Werbung von <strong>de</strong>n<br />
USA weltweit entworfen haben, das ist die Projektion von Freiheit und Abenteuer,<br />
von Optimismus und märchenhaftem Aufstieg- man muß nur zugreifen 26 .<br />
Diese oft fehlerhafte Mixtur von Englisch und Deutsch wird von manchen<br />
Sprachpflegern kritisiert, von manchen aber als Kennzeichen <strong>de</strong>r großen<br />
Assimilationskraft <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache betrachtet. Auf je<strong>de</strong>n Fall, das Ergebnis<br />
könnte so lauten:<br />
Wenn <strong>de</strong>r Körper <strong>de</strong>r body ist, das Gefühl das feeling und das Wohlbefin<strong>de</strong>n die<br />
wellness; wenn es easy ist mit power zu fighten und wenn man ein meeting hat, wo<br />
man sich nur trifft, dann sei ein Lamento durchaus angebracht 27 .<br />
Amerikanismen und Anglizismen als Lehnwörter<br />
Einen großen Teil <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>wörter bil<strong>de</strong>n die Amerikanismen und Anglizismen, die<br />
sich <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Flexionssystem angepaßt haben. So sind z.B. folgen<strong>de</strong><br />
Verben die in <strong>de</strong>n letzten 10-20 Jahren ins Deutsche importiert wur<strong>de</strong>n: testen,<br />
outen, stoppen, han<strong>de</strong>ln (to handle), recyclen, canceln, browsen, klicken, boomen,<br />
surfen, fixen, faxen, joggen, <strong>de</strong>alen, strippen, scannen, clonen, (e)mailen,<br />
backupen, booten, ausflippen, austricksen, <strong>de</strong>battieren, diskuttieren, fokussieren,<br />
lokalisieren, realisieren, adressieren, funktionieren, konfrontieren u.a.<br />
Gebrieft (jeman<strong>de</strong>n eingehend über etwas Bevorstehen<strong>de</strong>s informieren), zum<br />
Beispiel "Alles wur<strong>de</strong> vorher ausführlich gebrieft" (Fallschirmspringer im Aktuellen<br />
Sportstudio <strong>de</strong>s ZDF)<br />
Feeling-abspacen (sich durch das Raumfliegen eine private Unabhängigkeit<br />
schaffen):<br />
Der Prospekt <strong>de</strong>s Anbieters [...] beschreibt dies als Feeling echt zum Abspacen.<br />
(Der Spiegel, Nr.29, 18.7.1994, über Canyoning)<br />
Getra<strong>de</strong>d (mit einer Sache han<strong>de</strong>ln): "Sie wur<strong>de</strong>n doch mehrfach getra<strong>de</strong>d ?"<br />
(Sportmo<strong>de</strong>rator im Aktuellen Sportstudio <strong>de</strong>s ZDF am 12.11.1994 über<br />
Transfersystem für Spieler).<br />
Auch Substantive wur<strong>de</strong>n ver<strong>de</strong>utscht: z.B. – ion: Administration (Verwaltung),<br />
Destination (Endzweck), Evaluation, Option (Wahlrecht), Motivation; – enz:<br />
Referenz (Verweis), Evi<strong>de</strong>nz; – ät: Integrität, Aktivität, Realität, Kompatibilität;-<br />
er/or: Bunker, Reporter, Bulldozer, Mo<strong>de</strong>rator, Trainer u.a. wie: Projekt, Klub, Büro,<br />
Schock, Flexibilisierung, Globalisierung usw.<br />
Lea<strong>de</strong>rin. In einem Sportbericht, 1994 fragte <strong>de</strong>r Sportreporter Axel Müller: "Ist die<br />
russiche Läuferin Pymptschenko Lea<strong>de</strong>rin ?" Hier wur<strong>de</strong> eine <strong>de</strong>utsche weibliche<br />
Endung an das englische Wort gehängt.<br />
26 Schönfeld, E: Alles easy. Ein Wörterbuch <strong>de</strong>s Neu<strong>de</strong>utschen, 1995, C.H.Beck Verlag,<br />
München, S.9.<br />
27 Fachdienst Germanistik, 3/97, S.6.<br />
359
Versingelung. Im Spiegel vom 13.6.1994 heißt es in einem Artikel über<br />
Altenwohngemeinschaften: "Mobilität, Versingelung und Zerfall <strong>de</strong>r Familie führen<br />
dazu, daß sich die Alten selbst helfen müssen". Das Wort wur<strong>de</strong> durch Wortbildung<br />
einge<strong>de</strong>utscht: versingeln+ung.<br />
Handling: Im Presseclub <strong>de</strong>r ARD vom 10.12.1995 sagte <strong>de</strong>r luxemburgische<br />
Journalist M.Lin<strong>de</strong>n: "Ich wür<strong>de</strong> unterschei<strong>de</strong>n zwischen Grundsätzlichem und <strong>de</strong>m<br />
Handling, um ein neu<strong>de</strong>utsches Wort zu gebrauchen".<br />
- Adjektive und Adverbien gehören auch dazu: z.B. ultimativ, aktiv, kreativ,<br />
konstruktiv, cool, positiv.<br />
Einen Schritt weiter stellen die Zusammensetzungen dar: z.B. Rockband,<br />
Rockgruppe, Rocksängerin; Beatgruppe, Beatband, Beatformation; Tele-<br />
/Lottobrücke, Tele-/Lottospiele; Computersprache, -spiele, -zeitalter; PC-Sprache,<br />
PC-Neu<strong>de</strong>utsch, PC-Sprachregelung; Cocktailkleid, Cocktailmantel, Cocktailparty,<br />
Cocktailschurze; Interkulturell, Interdisziplinarität, interaktiv, Interzonenautobahn,<br />
Intertankstellen, Interdrink u.a.<br />
Der Einfluß <strong>de</strong>s Amerikanischen wird nicht nur auf <strong>de</strong>r semantischen Ebene<br />
sichtbar, son<strong>de</strong>rn auch auf <strong>de</strong>r syntaktischen, zum Beispiel die im Englischen<br />
beliebten Kettenwörter sind neuerdings auch im Deutschen anzutreffen,<br />
beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r Werbung: Geld-<strong>zur</strong>ück-Garantie – engl. money-back-guarantee,<br />
Freizeit Socken, Trial-and-error-Metho<strong>de</strong>, Nonstop Flug, Bahncard, Fernsehspots,<br />
Mentaler Turn- around, Flughafen Zubringer Service, InHausPost, Antiklau-Ko<strong>de</strong>,<br />
Topfrisch Discount, Body-Bewußtsein, Schüler Ferien Ticket, One-way-Preise usw.<br />
Die englische Sprache hat die Fähigkeit zu knappen, griffigen, oftmals witzig<br />
klingen<strong>de</strong>n Wörtern und <strong>de</strong>shalb hat die Werbung in <strong>de</strong>n letzten Jahren einen<br />
Kultstatus erhalten. Aber auch die <strong>de</strong>utsche Sprache kann knackig und witzig sein.<br />
In <strong>de</strong>r Jugendsprache erscheint immer wie<strong>de</strong>r das Wort super als Ausdruck <strong>de</strong>s<br />
Extremen.<br />
Da sich die Welt immer schneller verän<strong>de</strong>rt, wer<strong>de</strong>n Lust und Last <strong>de</strong>s Lebens<br />
zunehmend <strong>de</strong>r individuellen Verantwortung anheimgegeben.<br />
Everyone is an Original sagt eine Zigarettenwerbung. Übersetzt heißt das: Je<strong>de</strong>r<br />
ist ein Einzelkämpfer. Deshalb klammert sich <strong>de</strong>r Einzelne an Jargon, weil er dann<br />
all seine Glücksverheißungen übermittelt.<br />
Nicht uninteressant ist auch die Wortwitzmo<strong>de</strong>, z.B. Bezeichnungen für<br />
Fernsehsendungen wie: Wa/h/re Liebe, Showkola<strong>de</strong>, Musikuß; Werbetexte: High<br />
Laitz im Büro; Reisebüros: Suntastic, NaTours; Fahrradlä<strong>de</strong>n: Quoradis; Wolla<strong>de</strong>n:<br />
Wollust o<strong>de</strong>r Friseursalons: Hin&Hair, Haarlekin und an<strong>de</strong>re 28 .<br />
Wie Sie schon bemerkt haben, ist die <strong>de</strong>utsche Sprache reich an Mo<strong>de</strong>wörtern,<br />
größtenteils Amerikanismen und Anglizismen, die entwe<strong>de</strong>r ihre Form behalten<br />
haben, o<strong>de</strong>r sich wegen <strong>de</strong>r Anwendungshäufigkeit und Beliebtheit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen<br />
Sprachsystem angepaßt haben, sei es als Lehnschöpfungen, -übertragungen o<strong>de</strong>r<br />
Scheinentlehnungen. Viele Menschen glauben dadurch Prestige zu gewinnen. Das<br />
28 Fachdienst Germanistik, 6/96, S.4.<br />
360
leibt je<strong>de</strong>nfalls ein heikles Debatte-Thema.<br />
Zwar haben Amerikanismen und Anglizismen die <strong>de</strong>utsche Sprache überflutet, weil<br />
sie klarer und wissenschaftlicher wirken und oft auch kürzer sind, jedoch gelangen<br />
viele Sprachwissenschaftler wie D.E. Zimmer, P. Braun o<strong>de</strong>r E. Schönfeld <strong>zur</strong><br />
Schlußfolgerung, daß im Sinne <strong>de</strong>r Sprachpflege die Deutschen die <strong>de</strong>utsche<br />
Sprache in ihrer Vielfalt benutzen und darauf stolz sein sollen, trotz aller liberalen<br />
Weltoffenheit und Toleranz.<br />
Anglizismen /Amerikanismen in <strong>de</strong>r Zeit (April- Mai 1999)<br />
Mo<strong>de</strong>wörter haben eine große Verwendung, nicht nur in <strong>de</strong>r Alltagssprache, sie<br />
greifen auch in die Zeitungssprache ein, um beson<strong>de</strong>re Ereignisse <strong>de</strong>r Aktualität zu<br />
markieren. Viele von ihnen beziehen sich auf die Politik und wer<strong>de</strong>n von Politikern<br />
verwen<strong>de</strong>t, um ein bestimmtes politisches Geschehen originell zu beschreiben.<br />
In diesem Sinne haben auch die Journalisten an Mo<strong>de</strong>wörter appelliert, um das<br />
heikle und umstrittene Kosovo-Problem in ihren Artikeln über <strong>de</strong>n Kosovo-Krieg<br />
beson<strong>de</strong>rs aktuell zu beschreiben.<br />
Ich habe meine Beispiele aus <strong>de</strong>r Zeit entnommen, Nummern April-Mai, aus <strong>de</strong>n<br />
Artikeln über <strong>de</strong>n Kosovo-Krieg.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich mich nur auf die Anglizismen und Amerikanismen<br />
beziehen, die in diesen Zeitungsartikeln die Form <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>wortes angenommen<br />
haben und als solche verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n.<br />
1. In <strong>de</strong>r April-Ausgabe<br />
Substantive:<br />
Verben:<br />
Militärisch machbar ist vieles […] aber dann bitte ehrlich und richtig: mit<br />
überlegener Stärke, realistischen Zielen und einer klaren exit strategy (8.4.99, S.2)<br />
High-Tech-Waffen (8.4.99, S.6)<br />
Chirac hat mit seinem Einsatz <strong>de</strong>r rapid reaction force in Bosnien einen<br />
Kontrapunkt zu seinem Vorgänger Mitterand gesetzt (15.4.99, S.3)<br />
Das westliche Europa ist für die Luftangriffe auf <strong>de</strong>n europäischen Nachbarstaat<br />
Jugoslawien auf amerikanisches lea<strong>de</strong>rship angewiesen. (15.4.99, S.3)<br />
appeasement, <strong>de</strong>r transatlantische partnership-in-lea<strong>de</strong>rship (15.4.99, S.7)<br />
<strong>de</strong>r Nordatlantikpakt steckt in seiner Midlife-crisis (22.4.99, S.2)<br />
High-Tech-Krieger; Cruise-Missile (22.4.99, S.27)<br />
<strong>de</strong>r legal pacifism <strong>de</strong>r rot-grünen Regierung (29.4.99, S.1)<br />
In <strong>de</strong>n Verlautbarungen unserer Regierung ist ein gewisser schriller Ton, ein<br />
Overkill an geschichtlichen Parallelen […] (29.4.99, S.6)<br />
Deshalb kommandiert er die common-sense-Puppen mit <strong>de</strong>n Mausklickaugen an<br />
die archaische Quelle <strong>de</strong>r Zivilisation. (29.4.99, S.13);<br />
Es wird zu einem Rambouillet light kommen. (22.4.99, S.2).<br />
outen: Aus lauter politischer Korrektheit muß ich mich schon noch outen: Mir ist<br />
jetzt ziemlich wurscht, meint M. Scharang, (15.4.99, S. 49); <strong>de</strong>n mör<strong>de</strong>rischen<br />
361
Ethnonationalismus stoppen (29.4.99, S.1); die Gewalt stoppen (22.4.1999, S.4).<br />
2. In <strong>de</strong>r Mai-Ausgabe<br />
Substantive:<br />
Verben:<br />
High-Tech-Behandlungen: Vertriebene, die eine High-Tech-Behandlung brauchen,<br />
etwa für eine Dialyse o<strong>de</strong>r für Krebs im Endstadium, können in einem<br />
Flüchtlingslager nicht mehr behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n (6.5.99, S. 6).<br />
Gemessen an <strong>de</strong>m kritischen Gemurmel von spin-doctors <strong>de</strong>r Nato über<br />
Österreichs offenbar unerwartete Verfassungstreue (“Unflexibilität”) ist das eine<br />
etwas blauäugige Annahme (6.5.99, S. 8).<br />
Collateral damage:<br />
Menschenopfer, die dieses Ordnungsschaffen als collateral damage schafft<br />
(Nebenfolge) (6.5.99, S. 8).<br />
Erst dann könnte die Nato endgültig ihre Activation force für die Truppen in Kraft<br />
setzen (6.5.99, S.20); peacemaker; peace keeping; peace making; peace<br />
enforcement; robust peace enforcement (12.5.99, S.53);<br />
Der Crashkurs in Realpolitik hat sie wahrscheinlich vor <strong>de</strong>m Zerreißer bewahrt<br />
(6.5.99, S.17)<br />
Paris und London wollen die partners in lea<strong>de</strong>rship sein; Den Europäern sei dabei<br />
die Rolle von Hilfssheriffs für das globale amerikanische Vorherrschaftsstreben<br />
zugedacht (20.5.99, S.4)<br />
Plan für Reconstruction; Openess; Development and Integration (20.5.99, S.8)<br />
Sie sollte vermei<strong>de</strong>n, daß Gemeinschaftsprojekte wie <strong>de</strong>r Kampfjet Eurofighter<br />
unerschwinglich wer<strong>de</strong>n (27.5.99, S.6).<br />
stoppen: Das Ziel <strong>de</strong>r Nato: an <strong>de</strong>r Schwelle zum 21. Jh. Mord und Vertreibung im<br />
Herzen Europas zu stoppen (6.5.1999, S.9);<br />
drillen: Eine reguläre Partisanenarmee ist ohnehin auf <strong>de</strong>zentrale Opposition<br />
gedrillt (20.5.99, S. 52).<br />
Diese sind nur ein paar Beispiele von Amerikanismen und Anglizismen als<br />
Mo<strong>de</strong>wörter, die in <strong>de</strong>r Zeitungssprache vorkommen, um das politische Geschehen<br />
darzustellen, sei es kritisch o<strong>de</strong>r nicht. Sie gelten meistens als Bezeichnungen <strong>de</strong>r<br />
Kriegs- und Waffentechnologie, z.B. High-Tech-Profi, High-Tech-Waffen u.a.<br />
Der Kosovo-Krieg war Gegenstand zahlreicher Debatten und die Mo<strong>de</strong>wörter, die<br />
in <strong>de</strong>r Zeit (April-Mai) verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, wie<strong>de</strong>rspiegeln die Haltung <strong>de</strong>r Politiker<br />
und <strong>de</strong>r Gesellschaft gegenüber diesem Krieg. Sie dienen als Kennzeichen <strong>de</strong>s<br />
Krieges und zeigen, welche die Reaktion <strong>de</strong>r Gesellschaft dazu ist: Der Krieg habe<br />
die Menschenwür<strong>de</strong> zerstört und sei eine humanitäre Katastrophe gewesen.<br />
Schlußfolgerungen<br />
Im Prozeß <strong>de</strong>r sprachlichen Verän<strong>de</strong>rungen dient die Sprache als Mittel <strong>de</strong>r<br />
Kommunikation und als Medium <strong>de</strong>s Denkens.<br />
Die Verän<strong>de</strong>rungen im Denken, beson<strong>de</strong>rs im Zeitalter <strong>de</strong>s High-Tech,<br />
Computertechnik und Fast Food bewirken auch sprachliche Verän<strong>de</strong>rungen, die<br />
362
als Entwicklungsten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Sprache empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, wie auch die<br />
Mo<strong>de</strong>ausdrücke o<strong>de</strong>r die Amerikanismen.<br />
Daß die <strong>de</strong>utsche Sprache eine "offene Sprache" ist, beweist die große<br />
Aufnahmefähigkeit (o<strong>de</strong>r Entlehnungen) für Anglizismen und Amerikanismen.<br />
Diese haben sich in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache eingebürgert und sie<br />
überflutet. Die <strong>de</strong>utsche Sprache war abwechselnd frem<strong>de</strong>nfeindlich und<br />
frem<strong>de</strong>nfreundlich und manchmal bei<strong>de</strong>s zugleich. Die innersprachliche Ursache<br />
für <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Englischen auf das Deutsche sind die weitgehen<strong>de</strong><br />
Übereinstimmung <strong>de</strong>s Aufbaus <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Sprachsysteme und gemeinsame<br />
Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen. An<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> dafür waren: Verständlichkeit,<br />
Notwendigkeit, beson<strong>de</strong>rs im Bereich <strong>de</strong>r Technik, da wir im Computer-Zeitalter<br />
leben, wo die neuen Sachen ihren Namen mitbrachten und die Tatsache, daß seit<br />
<strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s II. Weltkrieges Amerika die Leitkultur ist und daher dynamisch, flott,<br />
jung, vital und sexy wirkt.<br />
Englisch gilt als einfache Sprache, daher die zahlreichen Amerikanismen als<br />
Mo<strong>de</strong>wörter, aber sie wer<strong>de</strong>n häufig falsch verwen<strong>de</strong>t und bei <strong>de</strong>r Hybridisierung<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Sprachen verlieren viele Wörter ihre einzelnen Be<strong>de</strong>utungen. Die<br />
Gefahr liegt also in <strong>de</strong>r von ihnen bewirkten Aufweichung <strong>de</strong>s Regelsystems, <strong>de</strong>r<br />
sprachlichen Richtigkeit. Deshalb wird Englisch manchmal übersetzt, manchmal<br />
Englisch belassen.<br />
Diese Mo<strong>de</strong>wörter, als Kennzeichen <strong>de</strong>r Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Gegenwartssprache wur<strong>de</strong>n anhand von Beispielen und Zeitungsartikeln in <strong>de</strong>r<br />
Zeitschrift Fachdienst Germanistik, Rubrik “Sprachkun<strong>de</strong>ndienst” (1990-1999)<br />
analysiert und statistisch ausgewertet. Nebenbei habe ich auch <strong>de</strong>n Sprachdienst,<br />
Deutsch als Muttersprache und Die Zeit als Quellen meiner Arbeit verwen<strong>de</strong>t.<br />
Das Amerikanische und Englische haben nicht nur die <strong>de</strong>utsche Sprache<br />
beeinflußt, son<strong>de</strong>rn auch an<strong>de</strong>re Sprachen <strong>de</strong>r Welt, wie ich zum Beispiel neulich<br />
im Rumänischen bemerkt habe.<br />
Quellen<br />
Fachdienst Germanistik. Sprache und Literatur in <strong>de</strong>r Kritik<br />
<strong>de</strong>utschsprachiger Zeitungen; daraus: „Der Sprachkun<strong>de</strong>ndienst“, die Jahrgänge<br />
1990-1999, hg. von Iudicium Verlag, München.<br />
Hoberg, Rudolf: „Fremdwörter. Wie soll sich die Gesellschaft für <strong>de</strong>utsche Sprache<br />
dazu verhalten?“ In: Der Sprachdienst; 5/1996, GfdS Verlag, Wiesba<strong>de</strong>n.<br />
Oeldorf, Heike: „Von ‚Aids‘ bis ‚Juppifikation‘. Englische Lehnwörter in <strong>de</strong>r<br />
Wochenzeitung Die Zeit". In: Deutsch als Muttersprache. Zeitschrift <strong>zur</strong> Pflege<br />
und Erforschung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, 1990, GfdS Verlag, Wiesba<strong>de</strong>n.<br />
Der Sprachdienst: 1/94, 2/94, 3-4/94 2/95, 3-4/95, 2/96, 3-4/96, 6/98; GfdS<br />
Verlag, Wiesba<strong>de</strong>n.<br />
Die Zeit. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Wissen und Kultur, Jg. 54:<br />
8.4.99, 15.4.99, 22.4.99, 29.4.99, 6.5.99, 12.5.99, 20.5.99, 27.5.99.<br />
363
364
EVELINE HÂNCU<br />
TEMESWAR<br />
Einige wortgeographische Untersuchungen in <strong>de</strong>r Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Sprachinsel<br />
Das 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt ist die Zeit <strong>de</strong>s Entstehens <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprachinsel im<br />
Banat. Es ist eine verhältnismäßig junge Sprachinsel und darum sind<br />
Veröffentlichungen über unsere Mundarten erst später erschienen als<br />
beispielsweise in Siebenbürgen. Im vergangenen Jahrhun<strong>de</strong>rt gab es noch keine<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Bedingungen <strong>zur</strong> Erforschung <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten.<br />
In Deutschland setzte eine wissenschaftliche Beschäftigung mit <strong>de</strong>n Mundarten<br />
erst im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt ein, nach<strong>de</strong>m man die geschichtlichen Wurzeln <strong>de</strong>r<br />
Dialekte erkannt hatte. Man verachtete die Mundarten nicht mehr, sie galten nicht<br />
mehr als "Pöbelsprache" und wur<strong>de</strong>n nicht mehr als eine herabgekommene<br />
Schriftsprache bezeichnet. Vielmehr galt nun die Hochsprache als eine vere<strong>de</strong>lte<br />
Mundart, da aus <strong>de</strong>r Kenntnis <strong>de</strong>r Mundart ein tieferes Verständnis <strong>de</strong>r<br />
Hochsprache erwächst.<br />
Ein großes Verdienst in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mundartforschung kommt Georg Wenker<br />
zu. Er hat sich mit <strong>de</strong>m Problem einer vollständigen geographischen Beschreibung<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mundarten beschäftigt. Wenker setzte sich die räumliche Erfassung<br />
wesentlicher Merkmale <strong>de</strong>s Laut- und Formenbestan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Mundart einer<br />
Landschaft mit Hilfe <strong>de</strong>r Sprachkarte zum Ziel. Die Sprachwissenschaft<br />
beschäftigte sich jedoch mehr mit <strong>de</strong>r Lautgeographie und vernachlässigte die<br />
Wortgeographie.<br />
Unter Sprachgeographie versteht man die Wissenschaft von <strong>de</strong>r räumlichen<br />
Verbreitung sprachlicher Erscheinungen, sei es von lautlichen o<strong>de</strong>r flexivischen<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten, von Eigenheiten <strong>de</strong>s Wortschatzes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Syntax, o<strong>de</strong>r von<br />
Akzentunterschie<strong>de</strong>n. (Kleine Enzyklopädie,1969:349)<br />
Die Wortgeographie beschäftigt sich damit, die mundartliche Verbreitung von<br />
Wortsynonymen festzustellen. In <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Sprachinsel wird nicht<br />
überall mit <strong>de</strong>mselben Wort dieselbe Sache bezeichnet. Das kann dadurch erklärt<br />
wer<strong>de</strong>n, daß die eingewan<strong>de</strong>rten Kolonisten aus verschie<strong>de</strong>nen Teilen <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utschen Sprachraums kamen und daß <strong>de</strong>r Wortbestand, <strong>de</strong>n sie mitbrachten,<br />
Unterschie<strong>de</strong> aufwies. Außer<strong>de</strong>m hat auch im Banat eine Mischung von<br />
Sprachformen stattgefun<strong>de</strong>n. Man hat bemerkt, daß es in <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen<br />
Sprachinsel gleichzeitig zu einer Differenzierung, zu einer Auseinan<strong>de</strong>rentwicklung<br />
kam. In je<strong>de</strong>m Ort entstand eine mehr o<strong>de</strong>r weniger einheitliche Mundart. Die<br />
Sprecher bewahrten oft Beson<strong>de</strong>rheiten, dadurch hob sich ihre Mundart von<br />
an<strong>de</strong>ren ab.<br />
In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit zeige ich anhand von Beispielen, daß es in <strong>de</strong>r Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Sprachinsel mehrere Bezeichnungen für eine Sache geben kann.<br />
365
Dabei wer<strong>de</strong>n nicht die lautlichen Varianten, son<strong>de</strong>rn die Wortvarianten<br />
berücksichtigt.<br />
Eine große Anzahl von Varianten kennt das Wort Beule. Während man in Nadrag<br />
und in Hatzfeld die Form Beil zu hören bekommt, ist in an<strong>de</strong>ren Ortschaften Tipl<br />
üblich. Mit Tipl ist jedoch nicht in allen <strong>de</strong>utschen Mundarten <strong>de</strong>s Banats eine<br />
Beule gemeint, da z.B. in Bogarosch Tipl eine Tasse ist. In Liebling steht für das<br />
Wort Beule die Bezeichnung Knippl, in Bogarosch ist <strong>de</strong>r Knippl jedoch ein dicker<br />
Stock. Dieses Beispiel beweist <strong>de</strong>utlich, daß in <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten<br />
dasselbe Wort unterschiedliche Dinge bezeichnet. Dies kann auch zu<br />
Mißverständnissen führen. In einer Gruppe von Ortschaften, die sich südlich <strong>de</strong>r<br />
Temesch befin<strong>de</strong>n, gibt es für Beule keine beson<strong>de</strong>re Bezeichnung, es wird nur die<br />
Umschreibung blaue Flecken angegeben.<br />
Interessant ist es, daß man in Blumental, Guttenbrunn, Königshof und Liebling das<br />
Wort Fle<strong>de</strong>rmaus verwen<strong>de</strong>t, wenn man eigentlich vom Schmetterling spricht.<br />
Wenn man nun <strong>de</strong>n Schmetterling Fle<strong>de</strong>rmaus nennt, dann stellt sich die Frage,<br />
wie man in <strong>de</strong>n oben genannten Ortschaften die Fle<strong>de</strong>rmaus bezeichnet. Die<br />
eigentliche Fle<strong>de</strong>rmaus heißt dann Speckmaus. Für <strong>de</strong>n Schmetterling gibt es im<br />
Banat viele Bezeichnungen:<br />
Blin<strong>de</strong>rmaische (in Andrees und Großjetscha)<br />
Blin<strong>de</strong>rmaisje (in Bruckenau und Warjasch)<br />
Blin<strong>de</strong>rmaisel (in Bakowa)<br />
Blinnemaisl (in Lowrin)<br />
Blin<strong>de</strong>rmaus (in Großsanktnikolaus)<br />
Prinsmaisl (in Darowa)<br />
Fläckermaische (in Lenauheim)<br />
Fle<strong>de</strong>rmaus (in Blumental, Guttenbrunn, Liebling)<br />
Helepompeler (in Sackelhausen)<br />
Babrjon (in Triebswetter)<br />
Miller (in Bogarosch und Gottlob)<br />
Miloner (in Deutschsanktpeter)<br />
Päipl (in Tschanad)<br />
Pumpeller (in Gertjanosch )<br />
Pupeller (in Neubeschenowa)<br />
Popiller (in Nitzkidorf)<br />
Buchepenner (in Kleinbetschkerek)<br />
Ruupevegili (in Sa<strong>de</strong>rlach)<br />
Schmetterling (in Marienfeld und Alexan<strong>de</strong>rhausen ).<br />
Beispielsätze :<br />
Kinner fange gere Blin<strong>de</strong>rmaißche. (Perjamosch)<br />
Der Babrjon flieht. (Triebswetter)<br />
Die Millre hocke sich gern uf die Blume. (Grabatz)<br />
Es Blinnermaisl gsieht mer uf die Blume. (Bakowa)<br />
Die Pupellre fliehe. (Moritzfeld)<br />
Ich han a Fläckermaißche gfang. (Lenauheim)<br />
366
Auch für Heuschrecke fin<strong>de</strong>t man in <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Sprachinsel<br />
verschie<strong>de</strong>ne Bezeichnungen. In Wofsberg, wo man eine nordbairische Mundart<br />
spricht, nennt man dieses Tier Hairoß, in Bokschan jedoch spricht man von Grillen,<br />
in Bogarosch von Hämmermaische und in Sa<strong>de</strong>rlach von Schnitter. Die Variante<br />
Schnitter ist auch in <strong>de</strong>r Mundart von Bogarosch anzutreffen, das Wort bezeichnet<br />
jedoch kein Insekt, son<strong>de</strong>rn einen Mann <strong>de</strong>r mäht. Es muß berücksichtigt wer<strong>de</strong>n,<br />
daß in Bogarosch südrheinfränkisch und in Sa<strong>de</strong>rlach hochalemannisch<br />
gesprochen wird. Die Form Grashüpfer wur<strong>de</strong> in Steierdorf und Orawitz<br />
verzeichnet. Folgen<strong>de</strong> Formen gibt es auch im <strong>de</strong>utschen Sprachraum:<br />
Heuschrecke im Ober<strong>de</strong>utschen<br />
Grashüpfer im Westmittel<strong>de</strong>utschen<br />
Heuhüpper bzw. Heuspringer im Ost- und Westnie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen<br />
Heuroß im Bairisch-Österreichischen.<br />
Da in Wolfsberg, wie schon erwähnt wur<strong>de</strong>, eine bairische Mundart gesprochen<br />
wird, ist die Form Heuroß für diese Ortschaft zu erwarten.<br />
Für Hügel sind in <strong>de</strong>n Banater Ortschaften mehrere Formen gebräuchlich. Die<br />
meist verbreitete Form ist Hiwl, sie ist in 54 Ortschaften (in <strong>de</strong>nen rheinfränkische<br />
Mundarten gesprochen wer<strong>de</strong>n) anzutreffen. Eine an<strong>de</strong>re Form ist Berg bzw.<br />
Berch, in Jahrmarkt und Guttenbrunn wird <strong>de</strong>r Hügel Buckl genannt. Buckl<br />
be<strong>de</strong>utet in <strong>de</strong>r Mundart von Bogarosch "Rücken", für Hügel verwen<strong>de</strong>t man die<br />
Form Hiwl. Allerdings wird in <strong>de</strong>r südrheinfränkischen Mundart von Bogarosch das<br />
Wort Buckl auch in Verbindung mit <strong>de</strong>r Oberflächengestalt gebraucht und zwar im<br />
Ausdruck die bucklich Welt. Damit ist eigentlich eine hügelige Gegend gemeint.<br />
Die Tatsache, daß in Guttenbrunn die Form Buckl verwen<strong>de</strong>t wird, ist nicht<br />
überraschend, da die Guttenbrunner o<strong>de</strong>nwäldische Mundart sich durch einen<br />
beachtlichen Eigenwortschatz auszeichnet und sich dadurch von <strong>de</strong>n meisten<br />
an<strong>de</strong>ren Ortsmundarten abhebt.<br />
Beispielsätze:<br />
De Berich is hoch. (Morawitz)<br />
Dort owe ufm Hiwl steht a kleenes Haus. (Kleinjetscha)<br />
Im <strong>de</strong>utschen Sprachraum konnten auch viele Formen gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n (DWA,<br />
Bd.IV, K.10):<br />
Buckel bzw. Puckel im Schwäbischen und Mittelbairischen;<br />
Hüwel, Hiwel im Rhein – und Moselfränkischen, in Westfalen und im<br />
Nie<strong>de</strong>rrheinischen<br />
Ruckn im Bairisch -Österreichischen.<br />
Auch das Wort Hummel kennt im Banat eine Vielfalt von Formen. In 10 Ortschaften<br />
wird dieses Insekt Brummer genannt, in Königshof und Blumental ist es als<br />
Horneisl bekannt, während man es in Hatzfeld Holzbien nennt. Auch folgen<strong>de</strong><br />
Formen sind in <strong>de</strong>r Banater Sprachinsel gebräuchlich:<br />
367
Pherdsbien (in Gertjanosch)<br />
die dick Mick (in Kleinsie<strong>de</strong>l, Bogarosch )<br />
die wildi Bien (Orawitz).<br />
Wenn man in Bogarosch von <strong>de</strong>r wil<strong>de</strong>n Biene spricht, so <strong>de</strong>nkt man nicht an die<br />
Hummel son<strong>de</strong>rn an die Wespe. Es han<strong>de</strong>lt sich um zwei verschie<strong>de</strong>ne Arten von<br />
Insekten: die Hummel ist eine behaarte Bienenart, die Wespen sind Hautflügler die<br />
nicht zu <strong>de</strong>n Ameisen o<strong>de</strong>r Bienen gehören. Daß die Bezeichnung wildi Bien für<br />
zwei verschie<strong>de</strong>ne Tiere verwen<strong>de</strong>t wird, kann erklärt wer<strong>de</strong>n: die Ortschaften, in<br />
<strong>de</strong>nen dasselbe Wort mit unterschiedlicher Be<strong>de</strong>utung verwen<strong>de</strong>t wird,<br />
gebrauchen nicht <strong>de</strong>nselben Mundarttypus (in Orawitz spricht man bairisch –<br />
österreichisch).<br />
Beispielsätze:<br />
Des is a dicki Humml. (Bakowa)<br />
Die Roßbien macht Lecher ins Holz un is blooschwarz.(Grabatz)<br />
Im <strong>de</strong>utschen Sprachraum kommen folgen<strong>de</strong> Formen vor (DWA , V , K. 5):<br />
Brummer im Ostfälischen<br />
Wildbiene im Mittelbairischen<br />
Wespe vereinzelt im Bairischen.<br />
Eine große Anzahl <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen Einwohner <strong>de</strong>s Banats verwen<strong>de</strong>n für<br />
Lappen die Bezeichnung Fetze, in Liebling ist auch die Form Lumpe gebräuchlich.<br />
In Bogarosch versteht man unter Lumpen die Win<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Kleinkin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r auch<br />
zerrissene Kleidung, auf keinen Fall ist damit ein Lappen gemeint. Diesem Wort ist<br />
im Deutschen Sprachatlas von Walter Mitzka und Ludwig Erich Schmitt keine Karte<br />
gewidmet, so daß wir die Heteronyme im <strong>de</strong>utschen Sprachraum nicht ermitteln<br />
konnten.<br />
Der Engerling wird in <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Sprachinsel mit verschie<strong>de</strong>nen<br />
Wörtern bezeichnet. Der Engerling ist die Larve <strong>de</strong>r Blatthornkäfer, wird aber in<br />
<strong>de</strong>n Banater Mundarten auch Raupe (Neuarad, Lowrin, Wiesenhaid), Maikäfer<br />
(Baumgarten, Topletz), Krumbierworm (Pesak) o<strong>de</strong>r Miller (Altbeba) genannt. In<br />
Bogarosch und Gottlob gebraucht man die Bezeichnung Miller für <strong>de</strong>n<br />
Schmetterling. Der Schmetterling wird wahrscheinlich Miller genannt, weil die<br />
weißen Flügelschuppen am Insekt haften wie das Mehl am Müller. Dieses Beispiel<br />
ist auch ein Beweis dafür, daß es Differenzierungen zwischen <strong>de</strong>n Mundarten gibt.<br />
Im <strong>de</strong>utschen Sprachraum kommen auch sehr viele Formen vor:<br />
Pupp(e) im Bairisch-Österreichischen, im Alemannischen, im<br />
Westmittel<strong>de</strong>utschen<br />
Maikäfer im Bairisch-Österreichischen, im Mittelfränkischen, Ostmittel<strong>de</strong>utschen<br />
Grundberwurm im Pfälzischen<br />
Raupe vereinzelt im Bairisch-Österreichischen und im Westmittel<strong>de</strong>utschen.<br />
Der Mistkäfer ist ein in Mist und Pilzen leben<strong>de</strong>r, schwarz bis glänzend blau<br />
gefärbter Blatthornkäfer mit plumpem Körper und Grabbeinen. Im Banat wird er<br />
368
Bobe, Stinkbobe o<strong>de</strong>r Mischtworm, Mischtkäfer genannt. In Ferdinandsberg ist die<br />
Form Leichtkäfer für <strong>de</strong>n Mistkäfer gebräuchlich. In 29 Ortschaften wird jedoch <strong>de</strong>r<br />
Leuchtkäfer Glühwürmchen genannt. Die Einwohner <strong>de</strong>s Banats verwen<strong>de</strong>n also<br />
dasselbe Wort um zwei verschie<strong>de</strong>ne Insekten zu bezeichnen. Der Mistkäfer ist ein<br />
Blatthornkäfer, das Glühwürmchen ist ein Leuchtkäfer. Es wird nicht nur<br />
Leichtkäfer son<strong>de</strong>rn auch Leuchtwurm, Blitzkäfer, Gansvogel genannt. Für<br />
Mistkäfer kommen im <strong>de</strong>utschen Sprachraum folgen<strong>de</strong> Formen vor (DWA ,Bd. V,<br />
K. 9):<br />
Bobe, Mischtbobe im Rheinfränkischen<br />
Kuhkäfer im Ostnie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen<br />
Mist- bzw. Mischtkäfer im Bairisch-Österreichischen, Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen,<br />
Rheinfränkischen<br />
Nestwurm im Moselfränkischen und Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen.<br />
Wenn die <strong>de</strong>utschsprachigen Bauern <strong>de</strong>s Banats von <strong>de</strong>r Bearbeitung <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns<br />
– vom Pflügen – sprechen, dann machen sie von folgen<strong>de</strong>n Bezeichnungen<br />
Gebrauch: ackre (in 77 Ortschaften, darunter Lowrin, Lenauheim,<br />
Großsanktnikolaus) pluche (in 11 Ortschaften wie z.B. Billed, Sackelhausen) und<br />
umgraben (Anina). In Bogarosch spricht man von pluche nur wenn man sich auf<br />
das Pflügen zwischen <strong>de</strong>n Maisreihen bezieht.<br />
Die meist verbreitete Form für schelten ist schenne, sie wird in 73 Ortschaften<br />
gebraucht. Auch schimpfen wird oft verwen<strong>de</strong>t, meist in <strong>de</strong>n Ortschaften mit<br />
bairischer Mundart, aber auch in Ortschaften mit westmittel<strong>de</strong>utsch-ober<strong>de</strong>utscher<br />
Mischmundart. In Grăniceri (Kreis Arad) trifft man eine an<strong>de</strong>re Variante an : strei<strong>de</strong>.<br />
Strei<strong>de</strong> be<strong>de</strong>utet in <strong>de</strong>r Mundart von Bogarosch nicht „schelten“, son<strong>de</strong>rn „streiten“,<br />
„zanken“. Die Variante fluchn ist für Neukaransebesch kennzeichnend. Im<br />
<strong>de</strong>utschen Sprachraum kommen folgen<strong>de</strong> dieser Formen vor (DWA, Bd. II):<br />
schel<strong>de</strong> (im Rheinfränkischen)<br />
schennen (im Rheinfränkischen, Moselfränkischen und Westfälischen)<br />
schimpfen (im Bairischen, Schwäbischen, Ostmittel<strong>de</strong>utschen,<br />
Ostnie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen)<br />
fluche(n) (im Südbairischen).<br />
Die besprochenen Beispiele zeigen wie in <strong>de</strong>n Banater Mundarten die Synonyme<br />
geographisch verbreitet sind. Daß dieselbe Sache mit zwei o<strong>de</strong>r mehreren<br />
verschie<strong>de</strong>nen Wörtern bezeichnet wird, ergibt sich aus <strong>de</strong>m Umstand, daß wir es<br />
mit Mischmundarten zu tun haben.<br />
Schlußfolgernd kann gesagt wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Wortbestand <strong>de</strong>r Mundarten genau<br />
so viel Aufschluß über die Eigentümlichkeiten <strong>de</strong>r Dialekte gibt wie <strong>de</strong>r<br />
Lautbestand. Die Mundart unterschei<strong>de</strong>t sich nicht nur durch lautliche<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten von <strong>de</strong>r Gemeinsprache, son<strong>de</strong>rn auch durch lexikalische Gebil<strong>de</strong>.<br />
Die Untersuchung <strong>de</strong>r einzelnen Wörter ist von Be<strong>de</strong>utung, <strong>de</strong>nn diese enthalten<br />
Informationen über das Denken und Fühlen <strong>de</strong>r Menschen, die eine Mundart<br />
sprechen.<br />
369
Literatur<br />
Engels, Carolina-Renate (1984): Kartographische Darstellung <strong>de</strong>s Wortschatzes<br />
<strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten aufgrund <strong>de</strong>s Fragebogens <strong>de</strong>s "Deutschen<br />
Wortatlasses" (unveröffentlichte Diplomarbeit, West-Universität Temeswar ).<br />
Dippert, Ecaterina (1979): Lexikalische Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Banater<br />
Mundarten dargestellt auf Grund <strong>de</strong>s Fragebogens <strong>de</strong>s "Deutschen Wortatlasses"<br />
(unveröffentlichte Diplomarbeit West-Universität Temeswar ).<br />
Die <strong>de</strong>utsche Sprache, Kleine Enzyklopädie in zwei Bän<strong>de</strong>n, Bd. 1, 1969 Leipzig:<br />
VEB Bibliographisches Institut.<br />
Kottler, Peter (1984): Sprachliche Kennzeichnung <strong>de</strong>r Banater Deutschen. In:<br />
Gehl, Hans (Hrsg.): Schwäbisches Volksgut, Temeswar: Facla , 226 – 250.<br />
Mittler, Sophia (1982): Probleme <strong>de</strong>r Wortgeographie in <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen<br />
Mundarten (unveröffentlichte Diplomarbeit West-Universität Temeswar).<br />
Wolf, Johann (1987): Banater Deutsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Bukarest: Kriterion.<br />
370
MIHAELA ŞANDOR<br />
TEMESWAR<br />
Onomasiologische und semasiologische Betrachtungen <strong>zur</strong><br />
Banater <strong>de</strong>utschen Mundartlexik<br />
Wie schon allgemein bekannt, gibt es zwischen <strong>de</strong>m Wortschatz <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Standardsprache und <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mundarten gewisse Unterschie<strong>de</strong>. Auch<br />
die Banater <strong>de</strong>utsche Mundartlexik weist solche Differenzen gegenüber <strong>de</strong>r<br />
Hochsprache auf. Um diese zu erfassen, kann man in verschie<strong>de</strong>ner Weise<br />
vorgehen. Wichtige Verfahren sind bei <strong>de</strong>r Erfassung <strong>de</strong>r Mundartlexik und ihrer<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten gegenüber <strong>de</strong>r Standardsprache die semasiologische und die<br />
onomasiologische Vorgehensweise.<br />
Die Opposition Semasiologie und Onomasiologie beruht auf Ferdinand <strong>de</strong><br />
Saussures Differenzierung zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Komponenten <strong>de</strong>s Wortes:<br />
signifiant und signifié, d.h. Form und Inhalt. In <strong>de</strong>r Onomasiologie versucht man die<br />
äußere Form, <strong>de</strong>n Lautkörper o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Namen eines Begriffes zu erfassen, in<strong>de</strong>m<br />
man von <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes ausgeht. (z.B.: Wie heißt in <strong>de</strong>r Mundart die<br />
Tätigkeit, bei <strong>de</strong>r die reifen Feld- und Gartenfrüchte eingesammelt und eingebracht<br />
wer<strong>de</strong>n? – ma. Fechsung, hsprl. Ernte) 1 . In <strong>de</strong>r Semasiologie steht die Be<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>r Wörter im Mittelpunkt und um diese zu ermitteln, geht man vom Lautkörper <strong>de</strong>r<br />
Wörter aus (z.B.: Was be<strong>de</strong>utet ‘Fechsung’? – Einbringen <strong>de</strong>r reifen Feld- und<br />
Gartenfrüchte).<br />
Wie schon erwähnt, kann es vorkommen, daß die mundartlichen Begriffe entwe<strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>re Namen als in <strong>de</strong>r Standardsprache haben (Ernte, Fechsung) o<strong>de</strong>r<br />
verschie<strong>de</strong>ne Be<strong>de</strong>utungen in Folge <strong>de</strong>s Be<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>ls:<br />
Gerechtigkeit – hsprl. ‘gerechtes Verhalten; Gerechtsein’<br />
ma. dieselbe Be<strong>de</strong>utung, aber auch ‘Eigentum: Haus, Hof, Garten;<br />
Besitztum’ 2<br />
Beispielsatz: Des es mei Grechtichkeit, dou hascht du niks zu suche. (Billed)<br />
Um diese Unterschie<strong>de</strong> zu erfassen, muß man sowohl semasiologisch als auch<br />
onomasiologisch vorgehen. Wenn man nur von <strong>de</strong>r Hochsprache ausgehend<br />
fragen wür<strong>de</strong>: Wie nennt man ein gerechtes Verhalten?, so wäre die Antwort:<br />
Gerechtigkeit. Die an<strong>de</strong>re typisch mundartliche Be<strong>de</strong>utung dieses Wortes wür<strong>de</strong><br />
verloren gehen. Das semasiologische Verfahren wür<strong>de</strong> in diesem Falle das<br />
1 Wahrig, Gerhard, Hrsg. (1997): Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, München: DTV.<br />
2 Michels, Katharina (1974): Der Be<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>l in <strong>de</strong>r Mundart von Sackelhausen<br />
(Diplomarbeit), Temeswar, S. 28.<br />
371
onomasiologische ergänzen: Was be<strong>de</strong>utet ‘Gerechtigkeit’?<br />
Um <strong>de</strong>n Wortschatz <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten in seiner Gesamtheit zu<br />
erfassen, ist es notwendig bei<strong>de</strong> Verfahren zu kombinieren, damit ein möglichst<br />
komplettes Bild erzielt wird.<br />
Für das hoch<strong>de</strong>utsche Wort prügeln / schlagen gibt es in <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen<br />
Mundarten verschie<strong>de</strong>ne Entsprechungen. 3 Einige von ihnen wer<strong>de</strong>n teilweise<br />
euphemistisch auch in <strong>de</strong>r Umgangssprache gebraucht:<br />
versohlen (das hsprl. ‘besohlen’ be<strong>de</strong>utet)<br />
gerben ( hsprl. ‘zu Le<strong>de</strong>r verarbeiten’)<br />
dreschen (hsprl. ‘die Körner <strong>de</strong>s Getrei<strong>de</strong>s durch Schlagen aus <strong>de</strong>n Ähren<br />
lösen’)<br />
wichsen (hsprl. ‘glänzend machen’).<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich dabei meist um übertragene Be<strong>de</strong>utungen. An<strong>de</strong>re Ausdrücke sind<br />
nur in <strong>de</strong>r Mundart anzutreffen. Folgen<strong>de</strong> Belege stammen aus Sackelhausen:<br />
aanleichte ( = anleuchten, hsprl. ‘beleuchten’)<br />
ausfasse ( = ausfassen, hsprl. ‘ergreifen, etwas planen’)<br />
abwackle ( = abwackeln, hsprl. ‘abschütteln’)<br />
Beispielsatz: Schau nor, daß ich <strong>de</strong>r net zwoo abwackl.<br />
dorichlosse ( = durchlassen, hsprl. ‘durchgehen, vorbeigehenlassen’<br />
Beispielsatz: Er hat ne tichtich dorchgeloss.<br />
pracke ( österr. ‘Teppich klopfen’)<br />
Beispielsatz: Glei prack ich dich, daschd Sterne gsiehscht.<br />
krache ( = krachen, hsprl. ‘einen lauten Knall von sich geben’)<br />
Beispielsatz: Geff Owacht, glei krachts.<br />
rapple ( = rappeln, hsprl. ‘klappern, klingen’)<br />
dunnre ( = donnern, hsprl. ‘Donnergeräusch machen’)<br />
Beispielsatz: Glei dunnerts.<br />
verkloppe ( = verklopfen, hsprl. ‘zerkleinern’)<br />
Beispielsatz: Sie hat die Klääne gut verkloppt.<br />
pletsche ( = verpletschen, hsprl. ‘breitschlagen’)<br />
Beispielsatz: Bischt brååv, o<strong>de</strong>r die Oma pletscht dich.<br />
watsche ( = watschen, hsprl.’eine Ohrfeige geben’)<br />
flechte ( = flechten, hsprl. ‘win<strong>de</strong>n, ineinan<strong>de</strong>rschlingen’)<br />
Beispielsatz: Au wåårt, glei flecht ich dich.<br />
Das Wort flechten hat aber in <strong>de</strong>r Mundart einiger Banater Dörfer (Bakowa,<br />
Sackelhausen) auch noch die Be<strong>de</strong>utung ‘sich betrinken’: Er hat sich heit ääne<br />
gflecht ghat. 4<br />
Außer diesen Wörtern kennt man auch noch an<strong>de</strong>re, wie: vermegaje, knuppe,<br />
3 Zwick, Hertha (1979): Semantische Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>r Mundart von Bakowa<br />
und <strong>de</strong>r Hochsprache (Diplomarbeit), Temeswar, S. 43.<br />
4 Michels, Katharina (1974): S. 40.<br />
372
verpuntsche (Bakowa) 5 , die auch Ausdrücke für prügeln sind.<br />
Im Falle von prügeln und seinen mundartlichen Entsprechungen han<strong>de</strong>lt es sich<br />
um Heteronyme, d.h. um Wörter mit <strong>de</strong>rselben Be<strong>de</strong>utung, aber unterschiedlicher<br />
Form (ähnlich <strong>de</strong>n Synonymen, aber nicht mit ihnen zu verwechseln),<br />
geographisch getrennt und oft mit leichten Be<strong>de</strong>utungsdifferenzierungen. Im Falle<br />
<strong>de</strong>s bereits angeführten flechten kann man von Homonymie sprechen, d.h. die<br />
Wörter haben dieselbe Form aber verschie<strong>de</strong>ne Be<strong>de</strong>utungen.<br />
Für prügeln gibt es in <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten noch an<strong>de</strong>re Ausdrücke,<br />
die auch in <strong>de</strong>r Umgangssprache anzutreffen sind, wie z. B. die, die Johann Wolf<br />
anführt 6 :<br />
die Hosse aanmesse ( ugsprl. ‘die Hose anmessen’)<br />
eeni auswische ( ugsprl. ‘eine auswischen’)<br />
schmiire ( ugsprl. ‘schmieren’)<br />
soole ( ugsprl. ‘versohlen’)<br />
leddre ( ugsprl. ‘le<strong>de</strong>rn’)<br />
wäsche ( ugsprl. ‘waschen’)<br />
dorchprigle ( ugsprl. ‘durchprügeln’)<br />
ausstaawe ( ugsprl. ‘ausstauben’)<br />
dorchwackle ( ugsprl. ‘durchwackeln’)<br />
haue ( ugsprl. ‘hauen’)<br />
schlaan ( ugsprl. ‘schlagen’)<br />
die Hosse stramm ziehe ( ugsprl. ‘die Hosen stramm ziehen’)<br />
was uf <strong>de</strong> Jangl gen ( ugsprl. ‘etwas auf die Jacke geben’)<br />
Hiwax gen ( ugsprl. ‘Hiebe geben’)<br />
eens ufs Dach gen ( ugsprl. ‘eins aufs Dach geben’)<br />
Keiles gen ( ugsprl. ‘Keile geben’)<br />
pritschle ( ugsprl. ‘zu Brei schlagen’)<br />
strigle ( ugsprl. ‘striegeln’)<br />
verdachtle ( ugsprl. ‘verdachteln’)<br />
verkeile ( ugsprl. ‘verkeilen’)<br />
salze ( ugsprl. ‘salzen’)<br />
verzwiwle ( ugsprl. ‘verzwiebeln’).<br />
An<strong>de</strong>re Ausdrücke haben in <strong>de</strong>r Umgangssprache keine Entsprechungen, wie z.B.<br />
vertuwake, hinne We<strong>de</strong>r krien o<strong>de</strong>r Jaska krien ( Jaska könnte eine Entlehnung<br />
aus <strong>de</strong>m Rumänischen sein: rum. iasca mit <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ’Zun<strong>de</strong>r- o<strong>de</strong>r<br />
Feuerschwamm; a se face iască ‘bis auf die Knochen abmagern’). 7<br />
Auch um das Mutterschwein zu benennen verwen<strong>de</strong>n die Banater <strong>de</strong>utschen<br />
Mundarten eine Reihe verschie<strong>de</strong>ner Bezeichnungen. Es heißt:<br />
5 Zwick, Herta (1979): S. 56.<br />
6 Wolf, Johann (1987): Banater <strong>de</strong>utsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Bukarest: Kriterion, 2.<br />
Ausgabe, S. 250-252.<br />
7 Michels, Katharina (1974): S. 79.<br />
373
Sau in Billed Hatzfeld und Tschanad<br />
Muck in Warjasch, Deutschsanktpeter, Neupetsch<br />
Mouk in Guttenbrunn<br />
Mook in Neudorf<br />
Moor in Sa<strong>de</strong>rlach<br />
Maar in Blumental<br />
Loos in Glogowatz, Sanktanna, Schiria und Pankota<br />
Zichtin in Lippa<br />
Tausch in Sanktmartin.<br />
Die Marmela<strong>de</strong> heißt in diesen Mundarten nicht einfach Marmela<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch<br />
dafür gibt es an<strong>de</strong>re Namen, wie:<br />
Leckwar in Darowa, Temeswar und in vielen an<strong>de</strong>ren Ortschaften<br />
Latwerch in Liebling und Ebendorf<br />
Latwerje in Semlak<br />
Leckmerich in Triebswetter<br />
Attich in Perjamosch und Warjasch<br />
Schmier in Alexan<strong>de</strong>rhausen und Tschanad<br />
Schmeer in Sanktandres und Neubeschenowa<br />
Schlecks in Sackelhausen<br />
Schleckl in Wiseschdia<br />
Leckes und Siißes in Bentschek.<br />
Quetsche in Bakowa (das süddt. Zwetschge mit <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ‘Pflaume’ wur<strong>de</strong><br />
verallgemeinert und auf das Produkt, das man aus <strong>de</strong>n Zwetschgen und an<strong>de</strong>rem<br />
Obst herstellt, übertragen):<br />
Mus in Glogowatz<br />
Brei in Schimand<br />
Sulz in Wolfsberg<br />
Sulzen in Reschitza und Tirol<br />
Sülzen in Freidorf.<br />
Auch für an<strong>de</strong>re Begriffe gibt es in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Banater <strong>de</strong>utschen<br />
Ortsmundarten unterschiedliche Bezeichnungen. Der Sarg heißt im Banat:<br />
To<strong>de</strong>lad (Warjasch, Kleinbetschkerek, Großsanktnikolaus und Semlak)<br />
Todlad (Liebling und Triebswetter)<br />
To<strong>de</strong>baum (Sa<strong>de</strong>rlach)<br />
To<strong>de</strong>trugl (Sanktanna und Wetschehausen)<br />
Trugl (Dolatz)<br />
Lod (Neubeschenowa)<br />
Bohr (Semlak).<br />
In manchen Ortschaften verwen<strong>de</strong>t man zwei verschie<strong>de</strong>ne Bezeichnungen<br />
nebeneinan<strong>de</strong>r, wie es in Semlak <strong>de</strong>r Fall ist: To<strong>de</strong>lad und Bohr (hsprl. ‘Bahre’).<br />
374
Die Libelle bezeichnet man mit folgen<strong>de</strong>n Namen:<br />
Schnei<strong>de</strong>r in Sanktandres, Orzidorf, Perjamosch und Tschene<br />
Glaaser in Bentschek<br />
Graashopser in Großsanktnikolaus<br />
Glasschnei<strong>de</strong>r in Sanktanna<br />
Libelul in Bakowa<br />
Schäär in Grabatz.<br />
Auch das Gänseblümchen kennt verschie<strong>de</strong>ne Benennungen, wie z.B.<br />
Ganslblume (Neukaransebesch)<br />
Gänsegraas (Nitzkidorf)<br />
Hehneaugelblum (Senlan)<br />
Krotteblum (Neupetsch)<br />
Rungal (Orawitza)<br />
Hingelsdärm (Orawitza)<br />
Hundszieble (Sa<strong>de</strong>rlach)<br />
Weiße Rockel (Franzdorf)<br />
Schweinsedle (Wei<strong>de</strong>ntal).<br />
Laut <strong>de</strong>m 6. Wenkersatz ( Das Feuer war zu stark, die Kuchen sind ja unten ganz<br />
schwarz gebrannt.) sind im Banat folgen<strong>de</strong> Bezeichnungen für Kuchen geläufig,<br />
von <strong>de</strong>nen die Form Kuche die verbreiteteste ist:<br />
Kolatschn in Schimand, Bokschan (diese Form ist auch in Österreich<br />
üblich und ist aus <strong>de</strong>m Tschechischen übernommen)<br />
Kulatsche in Pankota und Sanktanna<br />
Gebockeni in Matscha und Sanktmartin (dieser Form entspricht in <strong>de</strong>r<br />
Hochsprache das Gebackene)<br />
Siißli in Arad und Sanktmartin<br />
Kaichl (= ein Diminutiv; es han<strong>de</strong>lt sich um eine nordbairische Form mit<br />
gestürztem Diphthong) in Altsadowa<br />
Kiechle (= alemannisches Diminutiv) in Sa<strong>de</strong>rlach<br />
Owekneedl in Altsadowa<br />
Mehlspeis in Reschitza (< österr. Mehlspeise)<br />
Re<strong>de</strong>sch in Tschanad (in diesem Falle müßte man noch die Etymologie <strong>de</strong>s<br />
Wortes klären. Es gibt auch an<strong>de</strong>re Etymologien, die noch nicht geklärt sind, doch<br />
habe ich mich fürs erste auf die Auflistung <strong>de</strong>r Unterschie<strong>de</strong> beschränkt.)<br />
Es gibt in <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten nicht nur onomasiologische<br />
Unterschie<strong>de</strong> gegenüber <strong>de</strong>r Hochsprache, son<strong>de</strong>rn auch semasologische. So ist<br />
die Blesse z.B. nicht nur ein ‘weißer Stirnfleck bei Tieren’, son<strong>de</strong>rn auch ganz<br />
allgemein ein ‘Mal’, eine ‘Verwundung’. Daher ist auch jemand, <strong>de</strong>r eine Wun<strong>de</strong><br />
hat, blessiert (< fr. blesser):<br />
Er is gischter gfall, jetzt hat er e Bless of <strong>de</strong>r Stiir. (Sackelhausen)<br />
375
Im Falle <strong>de</strong>r Substantive kann es oft vorkommen, daß die Homonyme durch das<br />
Genus differenziert wer<strong>de</strong>n. So hat das mundartliche Wort, außer einer an<strong>de</strong>ren<br />
Be<strong>de</strong>utung, auch ein an<strong>de</strong>res Genus als in <strong>de</strong>r Hochsprache. So z.B.:<br />
hsprl. <strong>de</strong>r Halt ist 1.‘ein seelischer Zustand’; 2. ‘ein Ort, wo halt gemacht wird’;<br />
3.‘ein Stützpunkt’.<br />
ma. die Halt kennt dieselben Be<strong>de</strong>utungen wie in <strong>de</strong>r Hochsprache, doch kommt<br />
auch noch die typisch mundartliche Be<strong>de</strong>utung ‘Schar, Haufen, Her<strong>de</strong>’<br />
hinzu.<br />
Beispielsatz: Dort khummt e ganzi Halt Leit. Die Kuh is net vun <strong>de</strong>r Halt khumm.<br />
(Sackelhausen)<br />
hsprl. <strong>de</strong>r Mensch – ‘menschliches Wesen’<br />
ma. <strong>de</strong>r Mensch – hat dieselbe Be<strong>de</strong>utung<br />
ma. das Mensch – 1.‘Mädchen’; 2. ‘Geliebte’; 3. ‘Kin<strong>de</strong>rmädchen’<br />
Beispielsatz: zu 1: Das Mensch macht mer noch grooe Hoor. (Sackelhausen)<br />
zu 2: Unser Buu hat aa schun e Mensch. (Sackelhausen)<br />
zu 3: Sie han sich e Kinnermensch ghol. (Sackelhausen)<br />
hsprl. <strong>de</strong>r Mai – ‘<strong>de</strong>r fünfte Monat’<br />
ma. <strong>de</strong>r Mai – hat dieselbe Be<strong>de</strong>utung<br />
ma. die Mai – ‘Besuch’<br />
Beispielsatz: Mer waare gischter Owed uf Mai. (Sackelhausen)<br />
hsprl. die Scherbe -- ‘Stück eines zerbrochenen Gegenstan<strong>de</strong>s’<br />
ma. das Scherbel -- 1. ‘Blumentopf’; 2. ‘Kopf’<br />
Beispielsatz: zu 1: Die Oma hat drei Scherwle khaaft for ihre Blume.<br />
(Sackelhausen)<br />
zu 2: Tu hascht awer e dickes Scherwl. (Sackelhausen)<br />
Nicht nur im Falle <strong>de</strong>r Substantive gibt es Be<strong>de</strong>utungsunterschie<strong>de</strong> zwischen<br />
Mundart und Hochsprache, son<strong>de</strong>rn auch im Falle an<strong>de</strong>rer Wortarten. Das Adjektiv<br />
hart, das hsprl. ‘eine feste Beschaffenheit habend’ be<strong>de</strong>utet, hat mundartlich die<br />
Be<strong>de</strong>utung ‘laut’:<br />
Beispielsatz: Er red immer so hart. (Sackelhausen)<br />
Das Adjektiv echt kennt in <strong>de</strong>r Hochsprache die Be<strong>de</strong>utung ‘authentisch’, während<br />
es in <strong>de</strong>r Mundart die Be<strong>de</strong>utungen: 1. ‘sehr’, 2. ‘schön’ und 3. ‘normal’ hat.<br />
Beispielsatz: 1. Das is echt scheen. 2. Das is e echtes Klääd. 3. Der is jo net echt<br />
im Scherwl. (Billed)<br />
Abholen be<strong>de</strong>utet hsprl. ‘etwas herbringen’ und ‘jeman<strong>de</strong>n begleiten’, während es<br />
376
in Sackelhausen ‘fotografieren’ be<strong>de</strong>utet 8 :<br />
Beispielsatz: Mer han uns gischter abhole geloss.<br />
In Bakowa verwen<strong>de</strong>t man ein an<strong>de</strong>res Verb mit <strong>de</strong>rselben Be<strong>de</strong>utung<br />
(‘fotografieren’ 9 ), und zwar abnehmen, das hochsprachlich die Be<strong>de</strong>utung<br />
‘abmagern’ hat.<br />
Der Kutscher ist in <strong>de</strong>r Hochsprache ein ‘Mann, <strong>de</strong>r die Kutsche lenkt o<strong>de</strong>r fährt’; in<br />
<strong>de</strong>r Mundart von Sackelhausen nennt man Kutscher einen ‘kleinen Jungen o<strong>de</strong>r<br />
Liebling’:<br />
Beispielsatz: Gelt, du bischt <strong>de</strong>r Oma ihr Kutscher?<br />
Rostig ist etwas, das 'mit Rost überzogen’ ist. Im Banat ist rostig jemand, <strong>de</strong>r noch<br />
zu ‘klein und unreif’ ist 10 :<br />
Beispielsatz: Du bischt noch viel zu roschtig for das mache. (Bakowa)<br />
In Guttenbrunn ist ein ‘kleines, unreifes’ Kind krottig 11 :<br />
Beispielsatz: Du bischt noch zu krottig, du packscht <strong>de</strong> volle Äämer net.<br />
Es gibt eine ganze Reihe an<strong>de</strong>rer Wörter, die semantische Ungereimtheiten<br />
zwischen Hoschsprache und Mundart <strong>de</strong>utlich machen. Die meisten folgen<strong>de</strong>n<br />
Beispiele kommen aus Sackelhausen, Bakowa und Billed:<br />
biegen – hsprl. ‘krümmen’, ma. ‘zähmen’<br />
Beispielsatz: Er loßt sich net bieje. (Bakowa)<br />
schaffen – hsprl. ‘arbeiten’, ma. ‘befehlen’ (wie in Österreich)<br />
Beispielsatz: Was hascht du mir zu schaffe? (Billed)<br />
studieren – hsprl. ‘eine Hochschule besuchen’, ‘sich durch geistige Arbeit<br />
Kenntnisse aneignen’, ma. ‘nach<strong>de</strong>nken’<br />
Beispielsatz: Iwer was studierscht schun die ganz Zeit? (Billed)<br />
traktieren – hsprl. ‘quälen, plagen, mißhan<strong>de</strong>ln’, veralt. ‘behan<strong>de</strong>ln,<br />
bewirten’, ma. ‘mit Leckerbissen bewirten’<br />
Beispielsatz: Sie hat uns gut trakteert. (Sackelhausen)<br />
wüst – hsprl. ‘ö<strong>de</strong>, leer’, ma. 1.‘garstig’, 2.‘häßlich’<br />
Beispielsatz: 1. Das waar wischt vun dir, dascht uns gischter waarte geloss<br />
hascht. 2. Sie han e wischtes Kind. (Billed)<br />
gebieten - hsprl. ‘befehlen’, ma. ‘grüßen’, in <strong>de</strong>r Wendung die Zeit<br />
8<br />
Michels, Katharina (1974): S. 36.<br />
9<br />
Zwick, Hertha (1979): S. 51.<br />
10<br />
Michels, Katharina (1974): S. 35.<br />
11<br />
Schmidt, Ilse (1978): Der Eigenwortschatz <strong>de</strong>r Mundart von Guttenbrunn<br />
(Diplomarbeit) Temeswar, S. 88.<br />
377
gebieten 12<br />
Beispielsatz: Sie hat mer gar net die Zeit gebot. (Sackelhausen)<br />
plün<strong>de</strong>rn – hsprl. ‘ausrauben’, ma. ‘umziehen’<br />
Beispielsatz: Sie sin letscht Johr in die Stadt geplinnert. (Billed)<br />
blö<strong>de</strong> – hsprl. ‘schwachsinnig’, ma. ‘abgenutzt’, ‘dünn’, ‘zart’ ( dieses Wort<br />
hat die ältere Be<strong>de</strong>utung bewahrt, die es im Mittelhoch<strong>de</strong>utschen hatte, die<br />
aber in <strong>de</strong>r Hochsprache verloren ging)<br />
Beispielsatz: Dei Haut uf <strong>de</strong>r Hand is jo ganz bleed. (Bakowa)<br />
fechten – hsprl. ‘mit einer Hieb- o<strong>de</strong>r Stoßwaffe kämpfen’, ma. ‘betteln’<br />
Beispielsatz: Was bischt dann schun nomol fechte khumm? (Bakowa)<br />
schmecken – hsprl. ‘einen Geschmack haben’, ‘kosten’, ma. ‘riechen’<br />
Beispielsatz: Schmak mol, wie die Blum gut schmackt. (Bakowa)<br />
Für betteln kennt man auch noch die Ausdrücke geipen (in Kowatschi) und<br />
hausieren (in Orzidorf).<br />
Ich habe mich auch hier auf die Feststellung <strong>de</strong>r Existenz dieser Be<strong>de</strong>utungen<br />
beschränkt. Es wäre jedoch von Nutzen, sich auch mit <strong>de</strong>r geographischen<br />
Verbreitung dieser Be<strong>de</strong>utungen zu beschäftigen.<br />
Wie bereits erwähnt, gibt es zwischen <strong>de</strong>m Standard<strong>de</strong>utschen und <strong>de</strong>n Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Mundarten semasiologische und onomasiologisch Differenzen. Diese<br />
gibt es aber nicht nur zwischen Mundarten und Schriftsprache (auf <strong>de</strong>r Vertikale),<br />
son<strong>de</strong>rn auch auf horizontaler Ebene, zwischen <strong>de</strong>n Ortsmundarten, wie in <strong>de</strong>n<br />
vorherigen Beispielen zu veranschaulichen versucht wur<strong>de</strong>. Als wichige Aufgaben<br />
für die Erfassung <strong>de</strong>r gesamten Banater <strong>de</strong>utschen Mundartlexik bleibt die<br />
Erforschung <strong>de</strong>r noch ungeklärten Etymologien, sowie <strong>de</strong>r geographischen<br />
Verbreitung <strong>de</strong>r hier angeführten Be<strong>de</strong>utungen und Formen, für die noch Belege<br />
aus manchen Orten fehlen.<br />
Literatur<br />
Michels, Katharina (1974): Der Be<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>l in <strong>de</strong>r Mundart von<br />
Sackelhausen (unveröffentlichte Diplomarbeit), Temeswar.<br />
Schippan, Thea (1975): Einführung in die Semasiologie. 2. Auflage, Leipzig:<br />
VEB Bibliographisches Institut.<br />
Schmidt, Ilse (1978): Der Eigenwortschatz <strong>de</strong>r Mundart von Guttenbrunn<br />
(unveröffentlichte Diplomarbeit) Temeswar.<br />
Wahrig, Gerhard, Hrsg. (1997): Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, München:<br />
DTV .<br />
Wiegand, H.E. (1970): „Synchronische Onomasiologie und Semasiologie.<br />
Kombinierte Metho<strong>de</strong>n <strong>zur</strong> Strukturierung <strong>de</strong>r Lexik.“ In: Germanistische<br />
Linguistik 3/ 1970, S. 243- 384.<br />
Wolf, Johann (1987): Banater <strong>de</strong>utsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Bukarest: Kriterion.<br />
Zwick, Hertha (1979): Semantische Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>r Mundart von<br />
Bakowa und <strong>de</strong>r Hochsprache (unveröffentlichte Diplomarbeit), Temeswar.<br />
12 Michels, Katharina (1974): S. 89.<br />
378
HANS DAMA<br />
WIEN<br />
Französische Ausdrücke und Lehnwörter am Beispiel <strong>de</strong>r<br />
Mundart von Großsanktnikolaus (GSN)<br />
Aus <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Mundart von GSN erscheinen<strong>de</strong>n Eigenheiten und ihrer<br />
Übereinstimmung mit Charakteristika binnen<strong>de</strong>utscher Mundarten geht hervor 1 ,<br />
daß die pfälzisch -lothringisch – hessischen Merkmale überwiegen und von <strong>de</strong>n<br />
Merkmalen jener binnen<strong>de</strong>utschen Mundarten gestützt wer<strong>de</strong>n (z.B. vom<br />
Alemannischen und Bairischen), mit <strong>de</strong>nen das Pfälzisch – Lothringisch –<br />
Hessische Gemeinsamkeiten aufweist. Der überwiegen<strong>de</strong> südrheinfränkische<br />
Charakter <strong>de</strong>r Mundart von GSN ist also nicht zu verkennen, obwohl sich einige,<br />
vor allem ostmoselfränkische Beson<strong>de</strong>rheiten durchzusetzen vermochten. 2<br />
In <strong>de</strong>n zweihun<strong>de</strong>rtfünfzig Jahren seit <strong>de</strong>r einsetzen<strong>de</strong>n Besiedlung von GSN hat<br />
sich die Ortsmundart, haben sich aber auch die Mundarten <strong>de</strong>s binnen<strong>de</strong>utschen<br />
Sprachraumes geän<strong>de</strong>rt. Diese Verän<strong>de</strong>rungen haben aber auch zu einem<br />
Prozeß <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rentwicklung geführt. Die Siedler sind aus sprachlich sehr<br />
unterschiedlichen Teilen Deutschlands eingewan<strong>de</strong>rt.<br />
Der noch während und später, nach <strong>de</strong>r Einwan<strong>de</strong>rung, erfolgte Integrationsprozeß<br />
führte zum Sprachausgleich erster Stufe und im Anschluß zum heute noch<br />
andauern<strong>de</strong>n Ausgleich zweiter Stufe, <strong>de</strong>r sich aber, bedingt durch die<br />
Massenauswan<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n inner<strong>de</strong>utschen Sprachraum, wohl kaum mehr wird<br />
durchsetzen können.<br />
Es wäre zu einfach, eine Sprachinselmundart allein von <strong>de</strong>n Herkunftsgebieten <strong>de</strong>r<br />
Siedler und von <strong>de</strong>n Siedlerzahlen abzuleiten. Den noch während <strong>de</strong>r<br />
Ansiedlungszeit erfolgten soziologischen Verän<strong>de</strong>rungen sollte mehr Augenmerk<br />
zugewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn in einem Auslesevorgang größten Ausmaßes starb in<br />
vielen Orten ein Teil <strong>de</strong>r Einwan<strong>de</strong>rerfamilien völlig aus, während an<strong>de</strong>re sich<br />
rasch vermehrten 3 und eine intensive Binnenwan<strong>de</strong>rung einsetzte.<br />
Von <strong>de</strong>n 258 nach GSN zugewan<strong>de</strong>rten Siedlerfamilien konnte nur bei 230<br />
Familien die Herkunft eruiert wer<strong>de</strong>n: Pfalz: 92, Saarland: 46, Lothringen: 29, Trier:<br />
20, Sauerland: 10, übriges Westfalen: 10, Essen: 1, Württemberg: 6, Luxemburg:<br />
4, Elsaß: 3, Südba<strong>de</strong>n: 3, Nordba<strong>de</strong>n: 2, Rheinhessen: 1, Hessen: 1, Mittelfranken:<br />
1, Nie<strong>de</strong>rbayern: 1; Herkunft nicht feststellbar: 28 Familien.<br />
1 Vgl. Dama, Hans: Die Mundart von Großsanktnikolaus im rumänischen Banat.<br />
Marburg: N. G. Elwert, 1991; 195 Seiten. 7 Kartenskizzen. Deutsche Dialektgeographie,<br />
Band 89., S.175.<br />
2 Ebenda, S.176.<br />
3 Schwob, Anton: Wege und Formen <strong>de</strong>s Sprachausgleichs in neuzeitlichen ost – und<br />
südost<strong>de</strong>utschen Sprachinseln, München, 1971, S.84.<br />
379
Die von <strong>de</strong>n Siedlern bei ihrer Ankunft in GSN gesprochenen Mundarten lassen<br />
sich prozentuell wie folgt glie<strong>de</strong>rn: rheinfränkisch: 95 Fam.(= 36,82%);<br />
rheinfränkisch – moselfränkisch: 75 Fam.(=29,07%); moselfränkisch: 24 Fam.<br />
(=9,35%); hessisch: 11 Fam. (= 4,27%); alemannisch: 12 Fam.(= 4,65%);<br />
westfälisch: 11 Fam.(=4,27%); ostfränkisch, mittelbairisch: 2 Fam.(=0,775%); nicht<br />
eruierbar: 28 Fam.(= 10,85%).<br />
In <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Mundarten vermochte sich in GSN<br />
das Pfälzische durchzusetzen, weil es Merkmale aufweist, die sich durch<br />
Übereinstimmung mit <strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten an<strong>de</strong>rer Dialekte ein zahlenmäßiges<br />
Übergewicht im Sprachgebrauch <strong>de</strong>r Siedler sichern konnte. So hat sich das<br />
Pfälzische z.B. mit Hilfe <strong>de</strong>s Alemannischen, Hessischen und Bairischen<br />
gegenüber an<strong>de</strong>ren Mundarten, vor allem gegenüber <strong>de</strong>m Moselfränkischen<br />
durchsetzen können, zumal es gera<strong>de</strong> in einigen Gemeinsamkeiten mit diesem<br />
eine günstige Stütze fand.<br />
Trotz<strong>de</strong>m haben sich auch einige moselfränkische Eigenheiten 4 behaupten<br />
können, so daß das Ergebnis <strong>de</strong>s Sprachausgleichs in GSN eine<br />
südrheinfränkische fescht-Mundart mit einigen moselfränkischen Einschlüssen ist.<br />
Johann Wolf 5 reiht die Mundart von GSN in Gruppe 7 (von 21 Gruppen <strong>de</strong>r Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Mundarten), gemeinsam mit <strong>de</strong>n Mundarten von Bogarosch,<br />
Gertjanosch, Großjetscha, Kleinjetscha, Hatzfeld, Kleinbetschkerek, Knes,<br />
Lenauheim, Pesak, Sackelhausen und Tschene.<br />
Viele Siedler haben aus ihrer Ursprungsmundart französische Ausdrücke und<br />
Lehnwörter in die neue Heimat mitgenommen, die hier die Jahrhun<strong>de</strong>rte<br />
überdauert haben, wobei genau differenziert wer<strong>de</strong>n muß zwischen <strong>de</strong>n vor allem<br />
nach 1918 und vermehrt nach 1945 aus <strong>de</strong>m Rumänischen stammen<strong>de</strong>n<br />
Lehnwörtern und <strong>de</strong>n ursprünglich französischen; in manchen Fällen könnte es zu<br />
voreiligen Fehleinstufungen kommen, wenn man das Rumänische als<br />
vermeintlichen Ursprung <strong>de</strong>s Lehnwortes betrachtete.<br />
Für die aus <strong>de</strong>m Französischen stammen<strong>de</strong>n Ausdrücke aranschere < fr.arranger<br />
(= in Ordnung bringen) = ordnen, ermitteln, veranstalten; Aren<strong>de</strong> < fr. à ren<strong>de</strong>ment<br />
(= auf Ertrag) = Feldpacht; atakeere < fr. attaquer (= angreifen) = angreifen,<br />
Wortgeplänkel führen – um nur einige exemplarische Darstellungen zu bringen –<br />
bestehen beispielsweise auch rumänische Entsprechungen (a aranja, arenda, a<br />
ataca).<br />
Die französischen Lehnwörter weisen jedoch auf einen sehr frühen Bestand in <strong>de</strong>r<br />
Mundart hin, d.h. noch bevor die Beeinflussung durch das Rumänische eingesetzt<br />
hat. Der beste Beweis hierfür ist <strong>de</strong>r Gebrauch <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Französischen<br />
stammen<strong>de</strong>n Lehnwörter in jenen donauschwäbischen Mundarten, die keiner<br />
rumänischen Beeinflussung ausgesetzt sind/waren.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> aus drucktechnischen Grün<strong>de</strong>n auf die Lautschrift verzichtet.<br />
Daher können z.B. Ausdrücke, die hochsprachlich mit [b,d,g,] beginnen, in <strong>de</strong>r<br />
4 Vgl. Dama, Hans: Die Mundart von Großsanktnikolaus im rumänischen Banat.<br />
Marburg: N. G. Elwert, 1991; 195 Seiten. 7 Kartenskizzen. Deutsche Dialektgeographie.<br />
Band 89, S.176.<br />
5 Vgl. Wolf, Johann: Banater <strong>de</strong>utsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Bukarest: Kriterion, 1987,<br />
S.135.<br />
380
Mda. unter [p,t,k] gereiht aufscheinen. Aspirata sind durch ph, th, kh<br />
gekennzeichnet.<br />
atje, adjé < fr.á Dieu (= zu Gott) = mit Gott, auf Wie<strong>de</strong>rsehen;<br />
adjusteere < fr.adjuster, ajuter (= recht machen, anpassen) = herrichten, in<br />
Ordnung bringen;<br />
affekteert < fr.affecter (= Vorliebe haben für, begierig streben nach etwas,<br />
erkünsteln, <strong>zur</strong> Schau tragen) = eingebil<strong>de</strong>t;<br />
Agrassl < fr.groseille (= Stachelbeere, lat. acris = bitter; ribes uvacrispa) =<br />
Stachelbeere, über österr. Agrassl;<br />
allegr < fr.allègre (= munter, lustig) = munter, lebhaft, lustig, gesund;<br />
allert < fr.alerte (= wachsam, munter, flink) = lebhaft, aufgeweckt;<br />
Ambaschur < fr.embouchure (= Mündung, Mundstück) = Mundstück und/o<strong>de</strong>r<br />
Ansatz; auch: üben durch Mundstück – Ansatz beim Spielen eines<br />
Blasinstruments;<br />
apporteere < fr.apporter (= bringen: ein Hund apporteert ) dazu: „Apportl“ für<br />
Diener;<br />
Arranscheer < fr.arrangeur (= Veranstalter) = Arrangeur;<br />
arranschere < fr.arranger (= in Ordnung bringen) = ordnen, vermitteln,<br />
veranstalten;<br />
Aren<strong>de</strong> < fr. à ren<strong>de</strong>ment (= auf Ertrag) = Feldpacht;<br />
attakeere < fr.attaquer (=angreifen) = angreifen, Wortgeplänkel führen;<br />
a(r)teesische Prunne = Artesischer Brunnen < fr.Landschaft Artois;<br />
Bagasch < fr.bagage (= Gepäck; 13.Jh. von altfranz. „bagues“ – Paket;<br />
wahrscheinlicher von „bagasse“ – 16.Jh.: “Freu<strong>de</strong>nweib“, später bis ins<br />
19.Jh. als Schimpfwort) = schlechte Hor<strong>de</strong>;<br />
balweere < fr. ébarber (= Bart abschnei<strong>de</strong>n) = rasieren;<br />
Billjaar(t) < fr. billard (= krummer Stab <strong>de</strong>r Landleute) = Billard;<br />
Bizikl < fr. bicyclette (= Zweirad; im 19.Jh.< engl. bicycle/ bi = zwei und cycle =<br />
Kreis + ette = franz. Verkleinerungsform) = Fahrrad;<br />
Demjon < fr.dame – jeanne ( = große, dickbäuchige Flasche) = Korbflasche;<br />
<strong>de</strong>schperat < fr.désperér (= verzweifeln) = fassungslos;<br />
Dischkorsch < fr.discours (= Re<strong>de</strong>) = Aussprache, Diskussion;<br />
exgepreß < fr.exprès (= ausdrücklich, absichtlich) = absichtlich, zum Trotz, gera<strong>de</strong><br />
darum, gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen;<br />
eschtemeere < fr.estimer (= schätzen, hochachten) = achten, ehren;<br />
faschee < fr.fâcher (= ärgern, verdrießen, betrüben) = streitig, böse, uneinig, in<br />
Faschee sein – jeman<strong>de</strong>n nicht grüßen;<br />
Fascheertes < fr.farce (= Fleischfüllsel) = gewürzte Fleischklöße (österr.:<br />
Fleischlaibchen), über österr. Fascheertes;<br />
Finesse < fr.finesse (= Feinheit) = Trick, Finte;<br />
flangeere < fr.flâner (= umherbummeln) = herumstrolchen;<br />
flateere < fr.flatter (= beschönigen, schmeicheln) = <strong>zur</strong>e<strong>de</strong>n, bitten, schmeicheln;<br />
fugeije < fr.fouca<strong>de</strong>, fouga<strong>de</strong>, fougasse (= Flucht, verschwin<strong>de</strong>n, entweichen ) =<br />
laufen, rennen;<br />
Guschte < fr.goût (= Geschmack, Neigung) = Appetit, Geschmack;<br />
huschte = huschte naus! – beim Schweine austreiben < fr.oust! ouste! (=hinaus! )=<br />
381
volkstümlicher Ausdruck,um jeman<strong>de</strong>n zu verjagen o<strong>de</strong>r ihn <strong>zur</strong> Eile<br />
anzutreiben;<br />
Khalette < fr.galette (= flacher Kuchen, Fla<strong>de</strong>n) = flacher Brotkuchen;<br />
kascholeere < fr.cajoler (= schmeicheln) = einschmeicheln, schöntun;<br />
Khanepett < fr.canapé‚ (= Ruhebett) = Ruhebett mit Sitzpolstern, Lehnpolstern;<br />
khaprizeere < fr.caprice (= Laune, Eigensinn) = eigensinnig sein, sich auf etwas<br />
versteifen;<br />
khaprizeert = launenhaft; extrakhaprizeert = ausgefallene Wünsche äußern/haben;<br />
Kharambool < fr.carambole (= die rote Kugel beim Billardspiel): a) Zusammenstoß,<br />
Ausdruck beim Billardspiel;<br />
Kharmenadl < fr.carbonna<strong>de</strong> (= Rostbraten) = Rippen- o<strong>de</strong>r Rückenstück <strong>de</strong>s<br />
Schweines;<br />
Kharnaali < fr.canaille (=Gesin<strong>de</strong>l) = altes, keifen<strong>de</strong>s Weib; auch: Taugenichts;<br />
Kheile < lothringisch kai /du pain/ (= großes Stück Brot) = großes Stück (Brot,<br />
Speck);<br />
Klicker < fr.cliquart (= Art sehr guter Bausteine ) = kleine Ton- o<strong>de</strong>r Marmorkugel<br />
als Knabenspielzeug;<br />
Kramasch < fr.âge (Alter) + <strong>de</strong>utsch: Kram = wertloses altes Zeug, Gerümpel;<br />
Krischpindl < fr.Crispin (= Bedienstetentypus in <strong>de</strong>r Komödie) = kleiner Kerl;<br />
dumme, unansehliche Person;<br />
Kroise < fr.croiser (= kreuzen, übereinan<strong>de</strong>rschlagen) = eine Speise, zubereitet<br />
aus Rollgerste und <strong>de</strong>r restlichen Brühe, in <strong>de</strong>r das Kopffleisch, die Würste<br />
und die Schwarten gekocht wer<strong>de</strong>n (Schweineschlachten);<br />
Kruppich < fr.accroupi; s'accroupir (= nie<strong>de</strong>rhocken, sich zusammenkauern) =<br />
kleiner Bengel;<br />
khulant < fr.coulant (= gewandt) = gefällig, entgegenkommend;<br />
Khulleger < fr.collègue (= Amtsgenosse) = Kamerad, Freund, Herzbru<strong>de</strong>r;<br />
Khumeedi < fr.comédie (= Komödie, Lustspiel) = Lärm, Komödie;<br />
Khupee < fr.coupé‚ (= Abteil) = Zugabteil, über österr, Kupee;<br />
Khupfer < fr.coffre (= Koffer, La<strong>de</strong>) = Koffer;<br />
Khuräsch < fr.courage (= Mut) = Mut;<br />
kusche < fr.coucher (= nie<strong>de</strong>rlegen, zu Bett bringen) = schweigen;<br />
Khuwärt < fr.couvert (= Briefumschlag ) = Briefumschlag, über österr. Khuwärt;<br />
Lakäi < fr.laquais (= Soldat, Diener) = Kumpanei;<br />
Lawoor < fr.lavoir (= Waschhaus, Waschküche, Waschbecken, Waschschüssel) =<br />
Waschschüssel, Waschgefäß;<br />
Maläär < fr.malheur (= Unglück) = Unglück, Leid;<br />
margeere < fr.marquer (= merken, bezeichen) = angeben, vortäuschen, sich<br />
wichtig machen;<br />
Moodi < fr.mo<strong>de</strong> (= Art, Weise) = Sitte, Gewohnheit, Brauch;<br />
Montour < fr.monture (= Tier zum Reiten, Reitpferd, Gestell, Fassung – in <strong>de</strong>r<br />
Militärsprache) = Arbeitskleidung;<br />
noowl < fr. noble (= a<strong>de</strong>lig, vornehm) = vornehm (häufig im spöttischen Sinn<br />
gebraucht);<br />
ordinäär < fr. ordinaire (= gewöhnlich) = gemein, vulgär, gewöhnlich;<br />
Ordonanz < fr.ordonnance (= Vorschrift, Anordnung) = a) Amtsdiener, b) Vorspann,<br />
Gemein<strong>de</strong>fuhrmann;<br />
382
Paradi < fr.para<strong>de</strong> (= Gepräge; 16.Jh.: ein Pferd anhalten, dann: Vorbeimarsch,<br />
Zurschaustellung < span. parada) = Festaufmarsch, Galakleidung;<br />
Parapett (Mauer) < fr.parapet (= Brustwehr – in <strong>de</strong>r Militärsprache,16.Jh.von ital.<br />
para /vor/ + petto /Brust/ ) = Brustmauer im Gang;<br />
Partie < fr. partie (=Teil) = a) Gesellschaft, b) Arbeitsgemeinschaft (z.B. beim<br />
Drusch), c) Ehe (eine gute Partie machen);<br />
Passion < fr. passion (= Lei<strong>de</strong>nschaft, Lei<strong>de</strong>n) = Neigung, Liebhaberei;<br />
Poschtur < fr.posture (= Haltung, 16.Jh. ital. postura) = Statur;<br />
phetze < fr.pincer (= abkneifen, klemmen, zupfen, zwicken) = zwicken;<br />
Phanz < fr.panse (= Wanst, Bauch, Vormagen) = Bauch;<br />
Plafon < fr.plafond (= Zimmer<strong>de</strong>cke, 16.Jh. von plat / flach/ + fond /Grund/,<br />
Hintergrund) = Zimmer<strong>de</strong>cke;<br />
plärre < fr.pleurer (= weinen) = vor Zorn weinen, schreien;<br />
populär < fr.populaire (= volksmäßig, volkstümlich) = volkstümlich, bekannt;<br />
's presseert < fr.presser (= drücken, auspressen, bedrängen) = es eilt, es drängt;<br />
Professionist < fr. profession (= Bekenntnis, Beruf,Stand, Fach) = Handwerker;<br />
puje < fr.aboyer (= bellen) = hetzen;<br />
Quardjan < fr. gardien (= Bewacher, Wächter; wahrscheinlicher von < fr. quartiermaître<br />
– Quartiermeister, Unteroffizier <strong>de</strong>r Reiterei) = unruhiges (schlimmes)<br />
Kleinkind;<br />
räsoneere < fr.raisonner (= urteilen, schließen, Einwendungen machen,<br />
durch<strong>de</strong>nken, begrün<strong>de</strong>n, überzeugen wollen ) = toben, schimpfen;<br />
Rekamé = Couch < Personennamen: Madame Récamier (1777- 1849),<br />
geistreiche und hübsche Frau, nach <strong>de</strong>r u.a. ein Liegebett benannt ist;<br />
retereere < fr.retraire (= <strong>zur</strong>ückziehen; möglich auch: < retirer – <strong>zur</strong>ückziehen,<br />
entziehen) = davonlaufen, fliehen;<br />
rewellisch mache < fr.réveiller (= erwecken, aufwecken) = schreien, sich<br />
ungebührlich benehmen;<br />
Ringlotte < fr.reine /Königin/ + Clau<strong>de</strong> /Frau <strong>de</strong>s franz. Königs Franz I. (1499-<br />
1524)/ = eine größere Zwetschkenart, österreichische Form;<br />
Rolloo < fr.rolleaux (= Rolla<strong>de</strong>n) = Fenster- o<strong>de</strong>r Türschutz aus Blech o<strong>de</strong>r Holz mit<br />
Gurten;<br />
Rulaad < fr.roula<strong>de</strong> (= gerolltes Fleisch mit Füllung) = gerollte Fleisch – o<strong>de</strong>r<br />
Kuchenfüllung;<br />
Schandaar < fr. gens d'armes = Ortspolizist;<br />
Schatoo < fr.cha<strong>de</strong>au = Sauce aus Wein + Eiern: zu Kuchen verarbeitet;<br />
Schäslong < fr.chaise (=/Stuhl/+long /lang/-langer Stuhl) =Liegestuhl;<br />
scheneere < fr. se gêner (= sich schämen) = sich schämen, sich nicht getrauen;<br />
Schiffon < fr. chiffon (= Lappen, Lumpen, Stoffetzen, 17.Jh. von altfr. chipe, chiffe =<br />
Lumpen, dünnes Zeug; durch Sinnübertragung auch Truhe, Möbelstück zum<br />
Aufbewahren von Wäsche) = Kasten;<br />
sekeere < fr.secour (=schütteln, rütteln, ausschütteln) = ärgern;<br />
Späktakel < fr. spectacle (= Schauspiel) = Krach, Lärm, Schauspiel;<br />
Spaleer < fr.espalier (= Gitter, Aufbau an einer Wand) = Spaleer stehn,<br />
Spaleerobst;<br />
Trafik < fr.trafic (= Han<strong>de</strong>l, Verkehr) = Tabakhandlung;<br />
transcheere < fr.trancher (= zerlegen) = zerlegen;<br />
383
Truuwl < fr.trouble (= Lärm) = Durcheinan<strong>de</strong>r, Lärm, ausgelassene Stimmung;<br />
Tschik < fr.tabaque chiquer (= Kautabak) = Zigarren- o<strong>de</strong>r Zigarettenstummel;<br />
verletzeteere < fr. liciter (= versteigern) = versteigern;<br />
verprodäje < fr.prodiquer + <strong>de</strong>utsche Vorsilbe ver- (= verschwen<strong>de</strong>n) = verprassen,<br />
verschwen<strong>de</strong>n;<br />
wisawii < fr. vis – à – vis = gera<strong>de</strong> gegenüber;<br />
Wisit < fr. visite (= Besuch) = Ärztebesuch, seltener: Besuch.<br />
Literatur<br />
Dama, Hans (1991): Die Mundart von Großsanktnikolaus im rumänischen<br />
Banat. Deutsche Dialektgeographie. Bd. 89. Marburg: N.G.Elwert.<br />
Ders. (1996): „Re<strong>de</strong>wendungen und Ausdrücken auf <strong>de</strong>r Spur“. In: Zeitschrift <strong>de</strong>r<br />
Germanisten Rumäniens, Bukarest, Heft 1-2 (9 – 10), S.153 – 156.<br />
Gehl, Hans (1997): Wörterbuch <strong>de</strong>r donauschwäbischen Bekleidungsgewerbe<br />
(Schriftenreihe <strong>de</strong>s Instituts für donauschwäbische Geschichte und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>,<br />
Nr. 6), Tübingen.<br />
Gehl, Hans/Pur<strong>de</strong>la- Sitaru, Maria (Hrsg.) (1994): Interferenzen in <strong>de</strong>n Sprachen<br />
und Dialekten Südosteuropas (Materialien 4/1994 <strong>de</strong>s Instituts für<br />
donauschwäbische Geschichte und Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>),Tübingen.<br />
Lammert, Erich (1943): „Mundartenwandlungen in <strong>de</strong>r Banater<br />
Mundartenlandschaft“. In: Deutsche Forschung im Südosten, II. 1943/3, S.483<br />
– 506.<br />
Moser, Hugo (1937): Schwäbische Mundart und Sitte in Sathmar (Schriften <strong>de</strong>r<br />
Deutschen Aka<strong>de</strong>mie, Bd.30), München.<br />
Petri, Anton Peter (1968): „Französische Lehnwörter und Ausdrücke in <strong>de</strong>n<br />
donauschwäbischen Mundarten (Ergänzung zu Josef Schramm)“. In:<br />
Südost<strong>de</strong>utsche Semesterblätter, Nr. 20 u. 21, München, S. 53-66.<br />
Post, Rudolf (1982): Romanische Entlehnungen in <strong>de</strong>n westmittel<strong>de</strong>utschen<br />
Mundarten. In: Bellmann, Günter/Kleiber, Wolfgang/Schwedt, Herbert (Hrsg.):<br />
Mainzer Studien <strong>zur</strong> Sprach- und Volksforschung, Bd. 6. Wiesba<strong>de</strong>n, Franz<br />
Steiner.<br />
Rein, Kurt (1979): Neuere Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache in<br />
Rumänien. In: Sture Ureland, P. (Hrsg.): Standardsprache und Dialekte in<br />
mehrsprachigen Gebieten Europas. Akten <strong>de</strong>s 2. Symsposions über<br />
Sprachkontakt in Europa. Mannheim 1978. Tübingen, Max Niemeyer, S.125 – 147.<br />
Schramm, Josef (1967): „Französische Lehnwörter und Ausdrücke in <strong>de</strong>n<br />
donauschwäbischen Mundarten“. In: Südost<strong>de</strong>utsche Semesterblätter,<br />
München, Nr.19, S.19 – 32.<br />
Wolf, Johann (1987): Banater <strong>de</strong>utsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Bukarest, Kriterion.<br />
384
ALVINA IVĂNESCU<br />
TEMESWAR<br />
Einige Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Personalpronomens in <strong>de</strong>n Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Mundarten<br />
Einleiten<strong>de</strong> Hinweise<br />
Die hier behan<strong>de</strong>lten Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Personalpronomen <strong>de</strong>r Banater<br />
<strong>de</strong>utschen Mundarten wur<strong>de</strong>n an Hand <strong>de</strong>r Wenkersätze untersucht, die in <strong>de</strong>n<br />
meisten Banater Ortschaften En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 50er und in <strong>de</strong>n 60er Jahren innerhalb <strong>de</strong>s<br />
Forschungsprojekts Wörterbuch <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten erhoben<br />
wur<strong>de</strong>n. Dabei wur<strong>de</strong>n 127 Ortschaften erfaßt, davon 95, die <strong>de</strong>m rheinfränkischen<br />
Mundarttypus zugeordnet wer<strong>de</strong>n, 10 <strong>de</strong>m ost- und südfränkischen, 19 <strong>de</strong>m<br />
bairischen und 1 Ortschaft <strong>de</strong>m alemannischen Typus. Zwei Ortschaften sind<br />
durch eine westmittel<strong>de</strong>utsch-ober<strong>de</strong>utsche Mischmundart gekennzeichnet (Wolf<br />
1987: 73-75). Um eine vollständige Analyse vornehmen zu können, wur<strong>de</strong>n auch<br />
mundartliche Belege aus <strong>de</strong>m Zettelarchiv <strong>de</strong>r Forschungseinrichtung Wörterbuch<br />
<strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten herangezogen. 1<br />
Hier sei darauf hingewiesen, daß es sich nicht bei allen Ortschaften um rein<br />
bairische o<strong>de</strong>r rheinfränkische usw. Mundarten han<strong>de</strong>lt. Es gibt mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r<br />
Einflüsse aus an<strong>de</strong>ren Dialekttypen. (Kottler 1984: 230-232)<br />
Um Aufschluß über die Verbreitung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Formen und<br />
Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Personalpronomen zu erzielen, wur<strong>de</strong> hier nach <strong>de</strong>r<br />
dialektgeographischen Metho<strong>de</strong> gearbeitet.<br />
Die aus <strong>de</strong>n Wenkersätzen und aus <strong>de</strong>m Zettelarchiv exzerpierten Daten wur<strong>de</strong>n<br />
auf Karten eingetragen, die 1975 von Peter Kottler nach Johann Wolfs Einteilung<br />
<strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten (Wolf 1975) bearbeitet wur<strong>de</strong>n. Der große<br />
Vorteil dieser Karten besteht darin, daß nebst <strong>de</strong>n Ortspunkten die jeweilige<br />
Dialektzugehörigkeit <strong>de</strong>r Ortschaften durch Symbole angegeben ist. Das<br />
erleichterte die Überprüfung <strong>de</strong>r erhobenen Daten und bot einen geographischen<br />
Überblick über die Verbreitung <strong>de</strong>r Pronominalformen.<br />
Problemstellung<br />
Der Gebrauch <strong>de</strong>r Pronomen in <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten weist<br />
auffallen<strong>de</strong> Unterschie<strong>de</strong> <strong>zur</strong> Standardsprache auf: die Mundarten kennen<br />
1 Vgl. Kottler 1996:198-200, Bin<strong>de</strong>r 1997:276. Zur Zeit umfaßt das Archiv rund 350.000<br />
Zettel.<br />
385
starke/volltonige und schwache/schwachtonige Formenreihen. Diese wur<strong>de</strong>n<br />
bisher nur zum Teil erforscht (s. Wolf 1987: 192-193).<br />
Volltonige Personalpronomen/ -formen kommen meistens dann vor, wenn diese<br />
hervorgehoben wer<strong>de</strong>n sollen o<strong>de</strong>r wenn sie am Anfang <strong>de</strong>s Satzes stehen:<br />
ihn (Akkusativ zu er)<br />
(1) Ich han ihne schon lang nämmi gsiehn. Perj (Ivanescu 1997:31)<br />
[Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen – ihn und nicht einen<br />
an<strong>de</strong>ren]<br />
ihnen (Dativ zu sie)<br />
(2) Ihne han mer jo schon so vill gholf, awer die han jo ke Dankscheen.<br />
Perj (Ivanescu1997:31)<br />
[Ihnen haben wir ja schon viel geholfen, aber die haben ja keinen Dank.]<br />
Die schwachtonigen Personalpronomen und die enklitischen Pronomen sind<br />
Reduktionsformen <strong>de</strong>r volltonigen Pendants. Sie haben als Träger finite Verben<br />
und tragen keinen Akzent:<br />
ihm (Dativ zu er)<br />
(3) De Vatter hat’m <strong>de</strong> Hindri gut versohlt. Perj (Ivanescu 1997:30)<br />
[Der Vater hat ihm <strong>de</strong>n Hintern gut versohlt.]<br />
Die vorliegen<strong>de</strong> Untersuchung beschränkt sich auf die 1. Person Plural Nominativ<br />
und auf die 2. Person Plural Nominativ, Akkusativ und Dativ.<br />
Aus objektiven Grün<strong>de</strong>n konnte hier die Erfassung <strong>de</strong>r Pronominalformen auf<br />
Karten nicht gebracht wer<strong>de</strong>n. Deshalb wer<strong>de</strong>n zu je<strong>de</strong>m Pronomen die Formen<br />
mit Ortschaft angeführt.<br />
Die 1. Person Plural Nominativ<br />
Die 1. Person Plural Nominativ wur<strong>de</strong> an Hand <strong>de</strong>r Wenkersätze 12 und 24 für die<br />
unbetonte und an Hand <strong>de</strong>s Wenkersatzes 23 2 für die betonte Stellung erarbeitet.<br />
Die Vollformen <strong>de</strong>s Personalpronomens erscheinen in fast allen Banater<br />
Ortschaften als phonetische Varianten zu mir: mir, miir, mer, meer, mjer, mje, mii,<br />
mi, miia, mije. Ausnahme bil<strong>de</strong>t das wje in Dogn und Bok (wahrscheinlich durch<br />
<strong>de</strong>n Einfluss <strong>de</strong>s Interviewers auf die Gewährsperson).<br />
Das mhd. wir wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n mittelhoch<strong>de</strong>utschen Mundarten durch die Form mir mit<br />
<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ‘wir’ ersetzt. Mir entstand durch die Inversionsstellung <strong>de</strong>r mhd.<br />
Vollform wir, die durch die Assimilation an <strong>de</strong>n Nasal <strong>de</strong>s Morphems -en <strong>de</strong>r 1.<br />
Person Plural <strong>de</strong>s vorausgehen<strong>de</strong>n Verbs <strong>de</strong>n Frikativ aufgab und <strong>de</strong>n Nasal<br />
übernahm (Paul 21 1975:167): haben wir > [homa] > [mia hom] (Mauser 1998:228).<br />
2 Wenkersatz (WS) 12: Wo gehst du hin, sollen wir mit dir gehen?<br />
WS 24: Als wir gestern abend <strong>zur</strong>ückkamen, lagen die an<strong>de</strong>ren schon im Bett und waren<br />
fest am Schlafen.<br />
WS 23: Wir sind mü<strong>de</strong> und haben Durst.<br />
386
Die meist verbreiteten phonetischen Varianten sind mir und miir.<br />
R 3 : mir Albr Alex AB Aur Bak Bar Beth Blum DSt Eich Gil Gir Gis Gottl Grab Jos<br />
Kal Ket KB KJ KO Joh KönH Kow Len Mar Nero ND NPan NP NS Nitz Ob Paul<br />
Rek SAndr Seml Tolw Trieb Tschaw Tsche Üb Uiw Wet, miir Altr Blum Bog Bruck<br />
Charl Den DSP Dol Eb Eng Fib Gis GK Mar GSP Jos KSP Klop Len Low Mer MF<br />
NH Ob Ost Par Perj Sack Schönd Tolw Trau Trieb Tschak War Wies Wis, meer Bir<br />
Dol Gert GSN Gutt Hatz Jahrm Len Lieb NB Tscha, mer Bill Bir. – A 4 : mjer Sad. –<br />
O 5 : miir Glog Mat Pank Schir, mir SA Schim Senl, mje SM, mije Gal. – B 6 : mje<br />
ASad Lind Sekul Stei Weid Wolf, mir<br />
Bus Eich KönG NKar Sas Tem, mije Resch Rusk, mija Resch, mii Wolf, wje Bok<br />
Dogn. – M 7 : mir Lip NAr, mi Lip.<br />
In manchen Ortsmundarten wer<strong>de</strong>n parallel zwei, manchmal auch drei Varianten<br />
von mir verwen<strong>de</strong>t:<br />
- mir und miir in Blum Gis Jos Mar Ob Rek Tolw Trieb<br />
- mir, miir und meer in Len<br />
- mer und meer in Bir<br />
- mir und mi Lip<br />
- miir und meer in Dol<br />
- mije und miia Resch<br />
- mii und mje in Wolf.<br />
Ortsmundarten mit moselfränkischem Einfluß kennen die Varianten mer und meer;<br />
hier wird das i vor r gesenkt: Bill Gert GSN Hatz Jahrm Len NB Tscha.<br />
Hervorzuheben wäre die Mundart von Len, wo nebst meer auch mir und miir<br />
vorkommen. Das wäre durch <strong>de</strong>n immer stärkeren Einfluß <strong>de</strong>r Verkehrsmundart zu<br />
erklären. Die Mundarten von Dol und Bir wer<strong>de</strong>n als südrheinfränkisch bzw. als<br />
südrheinfränkisch mit bairischem Einfluß eingestuft, trotz<strong>de</strong>m kommt hier das meer<br />
vor. Formen wie mi, miia, mii, mje kommen in <strong>de</strong>n bairischen Ortsmundarten vor.<br />
Die schwachtonigen Pronominalformen <strong>de</strong>r 1. Person Plural sind mer, me, mr, ma.<br />
Vorherrschend ist die phonetische Variante mer.<br />
R: mer Albr Alex Altr Aur Bak Bar Beth Bill Bir Blum Bog Bres Bruck Charl Dar<br />
Den DSM DSP DSt Dol Eich Fib Gert Gis Gottl Grab GSch GD GJ GSN GSP Gutt<br />
Hatz Jahrm Joh Jos Kal Kegl Kisch KB KJ KO KSP KönH Kow Len Lieb Low Lun<br />
Mar Mer MF Nero NB NH NPan NP NS Nitz Ob Ost Par Paul Perj Rek Sack SAndr<br />
Schag Schönd Seml Tolw Trau Trieb Tschaw Tsche Üb Uiw Wies Wis, mr Albr Altr<br />
Bak Gert Grab Jahrm Klop Lun NP Seml, me Albr Beth Drei Eb Eich Eng Freid GJ<br />
Jos Kisch KönH Len NB ND Nitz Rek Schag Sek Tscha Tsche Wet Wies. – A: mer<br />
Sad. – O: me Gal SA SM Schim Schir Senl, mer Baumg Glog Mat Pank. – B: me<br />
3<br />
Diese Dialektgruppe umfaßt Ortschaften mit vorwiegend rheinfränkischen Eigenheiten<br />
nebst moselfränkischen und bairischen Elementen.<br />
4<br />
Eine vorwiegend alemannische Mundart wird in Sad gesprochen.<br />
5<br />
Mundarten vorwiegend ost- und südfränkischer Prägung wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Ortschaften<br />
nördlich <strong>de</strong>r Marosch gesprochen.<br />
6<br />
Diese Dialektgruppe umfaßt Ortschaften mit überwiegend bairischen Eigenheiten.<br />
7<br />
Zu dieser Gruppe – <strong>de</strong>r Mischmundarten – gehören drei Ortschaften: KSN<br />
(Kleinsanktnikolaus – hier nicht belegt) Lip NAr. Hier wer<strong>de</strong>n mehrere <strong>de</strong>r obengenannten<br />
Mundarten gesprochen. Ein Ausgleich ist festzustellen.<br />
387
ASad Bok Eich Ferd KönH Lind Lug Oraw Sas Sekul Tem Weid Wolf, mer Bus Lug<br />
NKar, ma Dogn Dom Resch. – M: me Lip NAr.<br />
Nebeneinan<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n:<br />
- mer und me in Ortschaften wie Beth Eich GJ Jos Kisch KönH Len Lug NB Nitz<br />
Schag Tsche Wies<br />
- mer und mr in Altr Bak Gert Grab Jahrm Lun NP Seml<br />
- mer, me und mr in Albr.<br />
Auffallend in <strong>de</strong>n bairischen Mundarten sind Konstruktionen wie:<br />
(4) mje wîll’me [wir wollen-wir] in Weid<br />
(5) Mije håm’me nua mi’n Schupfkoarn zu tun [Wir haben-wir nur mit <strong>de</strong>m<br />
Schubkarren zu tun] in Franzd<br />
(6) jetz loos’me mje [jetzt horchen wir-wir] in Oraw.<br />
Hier wird die Vollform <strong>de</strong>s Personalpronomens in Enklise nochmals wie<strong>de</strong>rholt,<br />
doch nicht um zu betonen. Das fakultative Enklitikon hat hier die Funktion eines<br />
Flexionsmorphems.<br />
Die 2. Person Plural Nominativ<br />
Die 2. Person Plural Nominativ wur<strong>de</strong> an Hand <strong>de</strong>r Wenkersätze 28 und 31 für die<br />
betonte und an Hand <strong>de</strong>r Wenkersätze 27, 30, 32 8 für die unbetonte Stellung<br />
erarbeitet.<br />
Die Vollformen <strong>de</strong>r 2. Person Plural Nominativ lauten nebst ihr, ir, ehr, jer und je<br />
auch tihr, tir, tehr, ter, tije,tr (reduzierte Form), ees und es:<br />
R: ihr Albr Alex Altr Beth Blum Bog Bres Charl Den DSt Dol Drei Eich Fib Freid Gis<br />
Gottl Grab GJ GK Joh Jos Kegl Kisch KB KO KönH Kow Low Lun Mar MF Nero<br />
NH NPan NP NS Ob Ost Par Paul Schag Schönd Sek Seml Tem Tolw Trau Wies<br />
Wis, ir AB Tschaw, tihr Bar Ben Bruck DSP Eb Eng Gert GD GSch Joh KJ KSP<br />
Kisch Kn Mer MF NS Nitz Perj Sack Tschak Üb Uiw War, tir Alex Bar Dar DSM Kal<br />
Ket KSP Kow MF NB ND Rek SAndr Uiw Wet, tehr Bill Dol Gert GJ GSN Gutt Hatz<br />
KB Jahrm Len Tolw Tscha, ter Kal, tr Bak Gert NS, ehr Bir Klop Nitz. – A: jer Sad.<br />
– O: tihr Gal SA Schir, tir Pank, ihr Glog Mat Senl, je Schim SM, jer Baumg. – B:<br />
ees ASad Franzd Lind Oraw Stei Weid, es Eich Ferd Wolf, ihr Tem. – M: es Lip, tije<br />
NAr.<br />
Die häufigste Vollform in <strong>de</strong>n rheinfränkischen Mundarten ist tihr mit seinen<br />
Varianten. Wolf (Wolf 1987:193) bemerkt dazu:<br />
Obwohl viele Dörfer in <strong>de</strong>r 2. Person Plural ihr o<strong>de</strong>r ehr verwen<strong>de</strong>n, hat sich in <strong>de</strong>r<br />
Verkehrsmundart doch tihr (zuweilen auch tehr) als charakteristische Form<br />
durchgesetzt. Diese Form ist auf <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Mos.fr. <strong>zur</strong>ückzuführen. Sie<br />
kommt aber auch im Oberhessischen und im Oberfr. vor. Im Pfälzischen fehlt sie,<br />
dieses konnte sich <strong>de</strong>mnach im Banat nicht in je<strong>de</strong>r Hinsicht behaupten.<br />
Ähnlich wie bei <strong>de</strong>r 1. Person Plural Nominativ ergab sich auch die Form tihr <strong>de</strong>r 2.<br />
8 WS 28: Ihr dürft solche Kin<strong>de</strong>reien nicht treiben.<br />
WS 31: Ich verstehe euch nicht, ihr müßt ein wenig lauter sprechen.<br />
WS 27: Könnt ihr noch ein Augenblickchen auf uns warten, dann gehen wir mit euch.<br />
WS 30: Wieviel Pfund Wurst und wieviel Brot wollt ihr haben?<br />
WS 32: Habt ihr kein Stückchen Seife für mich auf meinem Tisch gefun<strong>de</strong>n?<br />
388
Person Plural Nominativ. In <strong>de</strong>r Inversionsstellung ging die Vollform ihr die<br />
Verbindung mit <strong>de</strong>m konsonantischen Teil <strong>de</strong>s mhd. Morphems -et <strong>de</strong>r 2. Person<br />
Indikativ Präsens ein: macht ihr > macht tihr > tihr macht (Wolf 1987:193). Die<br />
Varianten tehr und ter sind in <strong>de</strong>nselben Ortschaften zu verzeichnen, <strong>de</strong>ren<br />
Mundarten einen moselfränkischen Einfluß erfuhren: Bill Gert GJ GSN Gutt Hatz<br />
Jahrm KB Len Tscha und – Dol! Parallele Varianten, die in <strong>de</strong>r selben<br />
Ortsmundart verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, sind:<br />
-ihr und tihr in Joh Kisch<br />
- ihr und tir in Alex Kow<br />
- ihr und tehr in Dol! GJ KB Tolw!<br />
- tihr und tir in Bar KSP Uiw<br />
- tehr und tr in Gert<br />
- ihr, tihr und tir in MF<br />
- ihr, tihr und tr in NS<br />
- ihr und es in Eich.<br />
In Eich stehen eine rheinfränkische fescht-Mundart und eine bairische Mundart<br />
nebeneinan<strong>de</strong>r.<br />
Die bairischen Mundarten <strong>de</strong>s Banater Berglan<strong>de</strong>s haben für die 2. Person Plural<br />
Nominativ ees o<strong>de</strong>r es – <strong>de</strong>n alten germanischen Dual, an <strong>de</strong>m das Gotische<br />
festhielt, <strong>de</strong>r aber im Ahd. nicht mehr belegt war. Regional blieb <strong>de</strong>r Dual in <strong>de</strong>n<br />
bairischen Dialekten formal mit pluralischer Be<strong>de</strong>utung erhalten. (Paul 21 1975:167<br />
f.)<br />
Sätze wie:<br />
(7) Es wolt’s ins Kino gehn? [ Ihr wollt-ihr ins Kino gehen?] in Lip<br />
(8) Wellt’s ees noo en Augnblick af unz woåtn? [Wollt-ihr ihr noch einen Augenblick<br />
auf uns warten?] in ASad<br />
(9) Wellt’s ees hoom? [Wollt-ihr ihr heim?] in Lind<br />
zeigen, daß auch hier das Enklitikon als Flexionsmorphem empfun<strong>de</strong>n wird.<br />
Die schwachtonigen Formen und die Enklitika <strong>de</strong>r 2. Person Plural Nominativ sind<br />
ter, te, tr bzw. ∂r, ∂, r und s:<br />
R: ter Alex Bak Bar Ben Bill Bruck Dar DSM DSP Dol Eng Gert GJ GSP GSch Gutt<br />
Hatz Jahrm Joh Kal Ket KB KJ KSP Kn Kow Len Mer MF NB Ofs Perj Sack SAndr<br />
Tolw Trieb Tsche Üb Uiw War, tr Gert GSP Jahrm Kal Kn MF NS, te Eb NB ND<br />
Nitz Rek Tscha Wet, e Beth Eich Rek Sek Tscha, (n) 9999 er Albr Altr Blum Fib Klop<br />
KönH Trau Wies, (n)e 10 10 10 10 Drei, (e)r Alex AB Beth Bir Bog Charl Den Gis Gottl Grab<br />
Joh Jos Kegl KB KO Kow Lieb Low Lun Mar Nero NP NS Ob Ost Seml Tolw<br />
Tschaw Wis. – A: er Sad. – O: <strong>de</strong> SA Schir, e Mat SM Schim, <strong>de</strong>r Gal Pank, er<br />
Baumg Schim Senl, r Glog. – B: s ASad Bok Bus Det Dogn Dom Eich Ferd Lind<br />
NKar Oraw Resch Rusk Sas Sekul Stei Tem Weid Wolf, ter NKar Tem, er Bus. –<br />
M: s Lip, te NAr.<br />
Dazu Beispielsätze:<br />
(10) Was suchts am unserm Berch? [Was sucht ihr an unserem Berg?] Oraw<br />
(11) Well’ter heit nämmi schloofe gehn? [Wollt ihr heute nicht mehr schlafen<br />
gehen?] Perj<br />
9 Ortschaften, die <strong>de</strong>n Einheitsplural -en kennen.<br />
10 Mundart mit Einheitsplural<br />
389
(12) Wievill Kilo Werscht un wivill Brout willner han? [Wieviel Kilogramm Wurst<br />
und wieviel Brot wollt ihr haben?] Blum<br />
Willner (12) enthält <strong>de</strong>n für nur einige Ortsmundarten typischen Einheitsplural -en.<br />
In Eich stehen drei Varianten nebeneinan<strong>de</strong>r: ∂r, r, s.<br />
Die 2. Person Plural Akkusativ und Dativ<br />
Weiterhin soll nur noch auf die 2. Person Plural Dativ und Akkusativ aufmerksam<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n. 11<br />
2. Person Plural Dativ:<br />
R: eich Albr Alj Altr Bar Ben Bill Blum Bog Bruck Dar Drei DSM DSP Eich Gert Gier<br />
Gis Gottl Gutt GD GJ GSN GSP Jahrm Joh Jos Ket Kisch Klop KönH Kow KJ KSP<br />
Kn Kreuz Len Lieb Low Lun Mer MF ND NH NP Nitz Ofs Orz Ost Par Perj Pes<br />
Sack SAndr Sar Schag Schönd Sek Seml Trieb Tschak Tscha Tsche Üb Uiw War<br />
Wies Wis, enk AB Bak Beth Bres Charl Den DSt Eng Freid Gis GK Grab GSch Kal<br />
Kegl Mar Nero NPan<br />
NP Paul Rek Tschaw Trau Wet Wies, åich Gutt, iich NB. – A: e Sad. – O: eich Gal<br />
Mat SA SM Schim, enk Baumg Glog Pank Schimon Schir, engg Senl. – B: enk<br />
ASad Dogn Dom Eich Ferd Franzd GPer KönG Lind Nad NKar Oraw Resch Rusk<br />
Sas Sekul Weid<br />
Wolf, engg ASad Stei, eng KönG Wolf, eich Bok Bus Det Kar Lug NKar Oraw<br />
Orsch Tem. – M: enk KSN Lip NAr, eich Lip.<br />
2. Person Plural Akkusativ:<br />
R: eich Albr Alex Alj Altr Aur Bar Ben Bill Blum Bog Bres Bruck Charl Dar Den DSM<br />
DSP Dol Drei Eich Eng Fib Gert Ghil Gis Gottl GD GJ GK GSN GSP Gutt Hatz<br />
Jahrm Joh Jos Kal Kisch KJ KO Klop Kn KönH Kow Kreuz Len Lieb Low Lun Mer<br />
ND NH NP NS Nitz Ob Orz Ost Par Perj Pes Rek Sack SAndr Sar Schag Schönd<br />
Sek Seml Tolw Trieb Tschak Tscha Tschaw Tsche Üb Uiw War Wies Wis, enk AB<br />
Beth DSt Eb Eng Gis Grab GK GSch Kegl Mar Morw Nero NPan NP Paul Rek<br />
Trau Wet, eng Paul, engg Bak, eech/iich NB, åich Gutt Paul. – O: eich Mat SA SM<br />
Schim, enk Baumg Glog Pank Schir, eng Senl, åich Gal. – B: enk ASad Bus Dogn<br />
Dom Eich Ferd Franzd KönG Lind Nad NKar Oraw Orsch Resch Rusk Sas Sekul<br />
Weid Wolf, eich Bus Det Eich Kar NKar Oraw. – M: enk Lip KSN NAr, eich Lip.<br />
In <strong>de</strong>n bairischen Mundarten und in <strong>de</strong>n rheinfränkischen Mundarten mit<br />
bairischem Einfluß wird sowohl im Dativ als auch im Akkusativ die alte Dualform<br />
mit Pluralbe<strong>de</strong>utung enk verwen<strong>de</strong>t (Paul 21 1975:167-168), mit <strong>de</strong>n lautlichen<br />
Varianten eng und engg, während in <strong>de</strong>n rheinfränkischen Mundarten eich, åich<br />
o<strong>de</strong>r eech/iich steht. Im Akkusativ wer<strong>de</strong>n nebeneinan<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>t:<br />
- enk und eich in <strong>de</strong>n Ortschaften Bus Eich Eng Gis GK Lip NP NKar Oraw Rek.<br />
Hier ist keine völlige Deckung mit <strong>de</strong>m Dativ Plural zu verzeichnen (enk in GK Eng<br />
11 Dazu wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r WS 27 für <strong>de</strong>n Dativ und <strong>de</strong>r WS 31 für <strong>de</strong>n Akkusativ herangezogen<br />
(S. Anm. 8).<br />
390
Rek).<br />
- åich und eich in Gutt (auch im Dativ).<br />
Im Dativ stehen enk und eng in KönG Wolf nebeneinan<strong>de</strong>r.<br />
NB (moselfränkische Mundart) und Sad (alemannische Mundart) kennen die 2.<br />
Person als eech / iich bzw. als e.<br />
Bei <strong>de</strong>r Distribution von eich und enk treten Inkonsequenzen auf: So kommt für die<br />
2. Person Plural Dativ in <strong>de</strong>n als rheinfränkisch eingestuften Ortsmundarten von<br />
Bres Charl Den GSch Kal Tschaw das bairische enk vor. In <strong>de</strong>r Ortsmundart von<br />
Ben, die als rheinfränkisch mit bairischen Elementen eingestuft wird, tritt sowohl im<br />
Akkusativ als auch im Dativ eich statt enk auf. In folgen<strong>de</strong>n Ortschaften, wo man<br />
enk erwarten wür<strong>de</strong>, steht eich: Bok Det Jos Kar NKar. In Tschaw Charl Den Kal<br />
steht <strong>de</strong>r Akkusativ mit <strong>de</strong>r Form eich und <strong>de</strong>r Dativ mit enk. Vergleicht man weiter<br />
mit <strong>de</strong>m Possessivpronomen <strong>de</strong>r 2. Person Plural Dativ (hier nicht erarbeitet), sind<br />
weitere Inkonsequenzen festzustellen: in Sek und Tschak heißt es im Akkusativ<br />
<strong>de</strong>s Personalpronomens eich und im Dativ <strong>de</strong>s Possessivpronomens engr∂m.<br />
Schlußfolgerungen<br />
Zusammenfassend läßt sich folgen<strong>de</strong>s sagen:<br />
1. Die Personalpronomen <strong>de</strong>r 1. Person Plural Nominativ und <strong>de</strong>r 2. Person Plural<br />
Nominativ, Dativ und Akkusativ weisen eine große Formenvielfalt auf, sowohl in<br />
ihren volltonigen, als auch in ihren schwachtonigen Reihen.<br />
2. In <strong>de</strong>n bairischen Mundarten kommt es vor, dass das Enklitikon <strong>de</strong>r 1. Person<br />
Plural Nominativ und <strong>de</strong>r 2. Person Plural Nominativ als Flexionsmorphem<br />
empfun<strong>de</strong>n wird. Somit wird das Pronomen in seiner vollen Form nochmals<br />
wie<strong>de</strong>rholt.<br />
3. Die Distribution von euch und enk <strong>de</strong>r 2. Person Plural Dativ und Akkusativ weist<br />
Inkonsequenzen auf. Das weist auf eine Rückgangsten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s bairischen enk<br />
hin.<br />
Ortsverzeichnis<br />
Mundarten mit rheinfränkischer Hauptcharakteristik: Albr = Albrechtsflor / Teremia<br />
Mică, Alex = Alexan<strong>de</strong>rhausen / Şandra, Alj = Aljosch, AB = Altbeba / Beba Veche,<br />
Altr = Altringen, Aur = Aurelheim / RăuŃi, Bak = Bakowa, Bar = Baratzhausen /<br />
Bărăteaz, Ben = Bentschek / Bencecu <strong>de</strong> Sus, Beth = Bethausen, Bill = Billed, Bir<br />
= Birda, Blum = Blumental / Maşloc, Bog = Bogarosch / Bulgăruş, Bres =<br />
Bresondorf / Brezon, Bruck = Bruckenau / Pişchia, Charl = Charlottenburg, Dar =<br />
Darowa, Den = Denta, DSM = Deutschsanktmichael / Sânmihaiu German, DSP =<br />
Deutschsanktpeter, DSt = Deutschstamora / Stamora Germană, Dol = Dolatz, Drei<br />
= Dreispitz / Şagu, Eb = Ebendorf / Ştiuca, Eich = Eichenthal / Sălbăgelu Nou, Eng<br />
= Engelsbrunn / Fântânele, Fib = Fibisch, Freid = Freidorf, Gert = Gertjanosch /<br />
Cărpiniş, Ghil = Ghilad, Gir = Girok, Gier = Gier, Gis = Giselladorf / Ghizela, Gottl =<br />
Gottlob, Grab = Grabatz, GD = Großdorf / Satu Mare, GJ = Großjetscha / Iecea<br />
Mare, GK = Großkomlosch / Comloşu Mare, GSN = Großsanktnikolaus /<br />
391
Sânnicolau Mare, GSch = Großscham / Jamu Mare, Gutt = Guttenbrunn / Zăbrani,<br />
Hatz = Hatzfeld / Jimbolia, Jahrm = Jahrmarkt / Giarmata, Joh = Johannisfeld, Jos<br />
= Josefsdorf / Iosifălău, Kal = Kalatscha, Kegl = Keglewitschhausen / Cheglevici,<br />
Ket = Ketfel / Gelu, Kisch = Kischoda, KB = Kleinbetschkerek / Becicherecu Mic,<br />
KJ = Kleinjetscha / Iecea Mică, KO = Kleinomor / RoviniŃa Mică, KSP =<br />
Kleinsankpeter / Sânpetru Mic, Klop = Klopodia, Kn = Knes / Satchinez, KönH =<br />
Königshof / Remetea Mică, Kow = Kowatschi, Kreuz = Kreuzstätten / Cruceni, Len<br />
= Lenauheim, Lieb = Liebling, Lig = Liget / Tipar, Low = Lowrin, Lun = Lunga, Mar<br />
= Marienfeld / Teremia Mare, Mer = Mercydorf / Carani, Morw = Morawitz, MF =<br />
Moritzfeld / Măureni, Nero = Nero, NB = Neubeschenowa / Du<strong>de</strong>ştii Noi, ND =<br />
Neudorf, NH = Neuhof / Bogda, NPan = Neupanat / Horia, NP = Neupetsch / Peciu<br />
Nou, NS = Neusie<strong>de</strong>l / Uihei, Nitz = Nitzkydorf, Ob = Obad, Ofs = Ofsenitz, Orz =<br />
Orzidorf / OrŃişoara, Ost = Ostern / Comloşu Mic, Par = Paratz / ParŃa, Paul =<br />
Paulisch, Perj = Perjamosch / Periam, Perk = Perkos / Percosova, Pes = Pesak,<br />
Rek = Rekasch, Sack = Sackelhausen / Săcălaz, SAndr = Sanktandres /<br />
Sânandrei, Sar = Sarafol / Saravale, Schag = Schag / Şag Timişeni, Schimon =<br />
Schimonidorf / Satu Nou, Schönd = Schöndorf / Frumuşeni, Sek = Sekeschut /<br />
Secusigiu, Seml = Semlak, Tolw = Tolwadin / Tolvădia, Trau = Traunau / Aluniş,<br />
Trieb = Triebswetter / Tomnatic, Tschak = Tschakowa, Tscha = Tschanad / Cenad,<br />
Tschaw = Tschawosch / Grăniceri Timiş, Tsche = Tschene / Cenei, Üb = Überland<br />
/ Giarmata Vii, Uiw = Uiwar, War = Warjasch, Wet = Wetschehausen / P(i)etroasa<br />
Mare, Wies = Wiesenheid / Tisa Nouă, Wis = Wiseschdia.<br />
Mundart mit alemannischer Hauptcharakteristik: Sad = Sa<strong>de</strong>rlach / Zădăreni.<br />
Mundarten mit ostfränkischer Hauptcharakteristik: Baumg = Baumgarten / Livada,<br />
Gal = Galscha, Glog = Glogowatz / Vladimirescu, Lig = Liget / Tipar, Mat =<br />
Matscha, Pank = Pankota, SA = Sanktanna / Sântana, SM = Sanktmartin /<br />
Sânmartin, Schim = Schimand, Schimon = Schimonidorf / Satu Nou, Schir =<br />
Schiria, Senl = Senlan / Sânleani.<br />
Mundarten mit bairischer Hauptcharakteristik: ASad = Altsadova / Sadova Veche,<br />
An = Anina, Bok = Bokschan / Bocşa Montană, Bus = Busiasch, Det = Detta, Dogn<br />
= Dognatschka / Dognecea, Dom = Doman, Eich = Eichenthal / Sălbăgelu Nou, Fat<br />
= Fatschet / Făget, Ferd = Ferdinandsberg / OŃelu Roşu, Franzd = Franzdorf /<br />
Văliug, GPer = Großpereg / Peregu Mare, Kar = Karansebesch, KönG =<br />
Königsgnad / Tirol, Lind = Lin<strong>de</strong>nfeld, Lug = Lugosch, Nad = Nadrag, NKar =<br />
Neukaransebesch / Caransebeşu Nou, Oraw = Orawitz / OraviŃa, Orsch =<br />
Orschowa, Resch = Reschitz / Re<strong>şi</strong>Ńa, Rusk = Ruskberg / Rusca Monatană, Sas =<br />
Saska, Sekul = Sekul / Secu, Stei = Steierdorf, Tem = Temeswar / Timişoara, Weid<br />
= Wei<strong>de</strong>nthal / Brebu Nou, Wolf = Wolfsberg / Gărîna.<br />
Rheinfränkisch-bairische Mischmundarten: KSN = Kleinsanktnikolaus / Sânnicolau<br />
Mare, Lip = Lippa / Lipova, NAr = Neuarad / Aradu Nou.<br />
Literatur<br />
Bin<strong>de</strong>r, Stefan (1997): „Forschungsschwerpunkte in <strong>de</strong>n Abhandlungen Banater<br />
Germanisten. Ein Rückblick und Ausblick“. In: GuŃu, George / SperanŃa Stănescu<br />
(Hrsg.): Beiträge <strong>zur</strong> Geschichte <strong>de</strong>r Germanistik in Rumänien (I). Bucureşti:<br />
392
Charme Scott, 271-295.<br />
Ivănescu, Alvina (1997): Die lexikographische Darstellung <strong>de</strong>r Mundart von<br />
Perjamosch (Buchstaben I, J, K). Temeswar, unveröffentlichte Diplomarbeit.<br />
König, Werner ( 11 1996): dtv-Atlas <strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Sprache. München:<br />
C.H.Beck’sche Buchdruckerei.<br />
Kottler, Peter (1984): Sprachliche Kennzeichnung <strong>de</strong>r Banater Deutschen. In:<br />
Gehl, Hans (Hrsg.): Schwäbisches Volksgut. Temeswar : Facla, 226-263.<br />
Kottler, Peter (1996): Gegenwärtiger Stand und Perspektiven <strong>de</strong>r Arbeit am<br />
Wörterbuch <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten. In: Schwob, Anton / Fassel, Horst<br />
(Hrsg.): Deutsche Sprache und Literatur in Südosteuropa – Archivierung und<br />
Dokumentation. Beiträge <strong>de</strong>r Tübinger Fachtagung vom 25.-27. Juni 1992.<br />
München: Südost<strong>de</strong>utsches Kulturwerk, 148-154.<br />
Mauser, Peter (1998): Die Morphologie im Dialekt <strong>de</strong>s Salzburger Lungaus.<br />
Frankfurt am Main.<br />
Paul, Hermann ( 21 1975): Mittelhoch<strong>de</strong>utsche Grammatik. Tübingen: Max<br />
Niemeyer Verlag.<br />
Post, Rudolf ( 2 1992): Pfälzisch. Einführung in eine Sprachlandschaft. Landau:<br />
Pfälzische Verlagsanstalt.<br />
Wolf, Johann (1975): Kleine Banater Mundartenkun<strong>de</strong>. Bukarest: Kriterion.<br />
Wolf, Johann (1987): Banater <strong>de</strong>utsche Mundartenkun<strong>de</strong>. Bukarest: Kriterion.<br />
393
394
KARIN DITTRICH<br />
TEMESWAR<br />
Zu <strong>de</strong>n morphologischen Merkmalen <strong>de</strong>s Temeswarer<br />
Stadt<strong>de</strong>utsch<br />
Wie in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Banater Städten, wird auch in Temeswar Bairisch-<br />
Österreichisch gesprochen. Die Temeswarer Stadtsprache gleicht stark <strong>de</strong>m Alt-<br />
Wienerischen, von welchem sie auch abstammt 1 .<br />
Bis En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts sprach man in <strong>de</strong>n Vorstädten Temeswars eine<br />
bairische Mundart, während man in <strong>de</strong>r Festung die Wiener Stadtsprache<br />
verwen<strong>de</strong>te. Diese bei<strong>de</strong>n Mundarten haben sich aber gegenseitig beeinflußt, so<br />
daß man von einem Sprachausgleich sprechen kann, <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>r bairischen<br />
Mundart und <strong>de</strong>m Wiener Beamten<strong>de</strong>utsch stattgefun<strong>de</strong>n hat 2 . Auch die<br />
Menschen, die aus <strong>de</strong>n umliegen<strong>de</strong>n schwäbischen Dörfern nach Temeswar<br />
zogen, und die eine rheinfränkische Mundart sprachen, verän<strong>de</strong>rten <strong>de</strong>n Alt-<br />
Wiener Dialekt, vor allem in <strong>de</strong>n Vorstädten 3 .<br />
Die wienerische Stadtmundart hatte eine kurze Lebensdauer. Aus ihr entstan<strong>de</strong>n<br />
zwei Varietäten: die bairisch-österreichische Umgangssprache und <strong>de</strong>r Slang <strong>de</strong>r<br />
Vorstädte. Es bil<strong>de</strong>te sich ein Temeswarer Deutsch heraus, das sich in einigem<br />
sowohl von <strong>de</strong>r Standardsprache, als auch von <strong>de</strong>n rheinfränkischen<br />
Dorfmundarten <strong>de</strong>r umliegen<strong>de</strong>n Dörfer unterschei<strong>de</strong>t.<br />
Gă<strong>de</strong>anu bemerkt, daß man wegen <strong>de</strong>s unvollständigen Sprachausgleichs <strong>de</strong>r<br />
bairischen Mundart mit <strong>de</strong>r Wiener Stadtsprache in <strong>de</strong>r Temeswarer<br />
Umgangssprache noch zahlreiche Merkmale <strong>de</strong>r bairischen Mundart erkennen<br />
kann. Das Wienerische hat die Temeswarer Umgangssprache dabei eher<br />
lexikalisch geprägt, während die bairische Mundart sich mehr in <strong>de</strong>n<br />
morphologischen Formen wi<strong>de</strong>rspiegelt 4 .<br />
Im folgen<strong>de</strong>n sollen die typischsten morphologischen Merkmale <strong>de</strong>r Temeswarer<br />
Stadtsprache, die sich bis in die heutige Zeit erhalten haben, zusammengefaßt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Feminine Substantive, die in <strong>de</strong>r Standardsprache auf –e en<strong>de</strong>n, verlieren das –e 5 ,<br />
z.B. Katz, Tant, Wäsch, Grenz, Ruh, Freid. Einige erhalten zusätzlich ein –n. Ihre<br />
Form im Singular ist i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>r im Plural, z.B. Gassn, Nasn, Suppn, Wochn,<br />
Taschn, Zungn, Rosn, Minutn.<br />
1<br />
S. Gehl (1997), S. 16-17.<br />
2<br />
Vgl. Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 147.<br />
3<br />
Vgl. Gehl (1997), S. 16-17.<br />
4<br />
S. Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 182-183.<br />
5<br />
Vgl. Wolf (1987), S. 124; Fink (1965), S. 34-35.; Gehl (1997), S. 38-39.<br />
395
Diejenigen Substantive, die <strong>zur</strong> zweiten Pluralgruppe gehören, <strong>de</strong>n Plural also auf<br />
–e o<strong>de</strong>r auf –e mit Umlaut bil<strong>de</strong>n, verän<strong>de</strong>rn ihre Form im Plural <strong>de</strong>s Temeswarer<br />
Stadt<strong>de</strong>utsch nicht o<strong>de</strong>r sie bekommen bloß <strong>de</strong>n Umlaut, z.B. Fisch, Haar, Pferd,<br />
Schuh, Gäns, Knepf, Kieh, Meis 6 . Diese Pluralbildung ohne –e kommt <strong>de</strong>m<br />
Bestreben <strong>de</strong>r Abschleifung entgegen. Eine Differenzierungsmöglichkeit zwischen<br />
<strong>de</strong>m Singular und <strong>de</strong>m Plural gibt es nur für jene Gruppe, die <strong>de</strong>n Plural mit Umlaut<br />
bil<strong>de</strong>t.<br />
Substantive, die im Nominativ Singular auf –l en<strong>de</strong>n, bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Plural mit <strong>de</strong>r<br />
Endung –n, z.B. Pantoffln, Stiefln, Engln, Schlissln, Fligln, Katzln, Radln 7 . Dasselbe<br />
gilt auch für jene femininen Substantive, die das –e im Singular verlieren, wie<br />
Katzn, Tantn, Schuln, Freidn, Grenzn 8 .<br />
Ein allgemeines Merkmal <strong>de</strong>r Umgangssprache, welches auch ein Kennzeichen<br />
aller Mundarten <strong>de</strong>s süd<strong>de</strong>utschen Sprachraums ist, ist die Umschreibung <strong>de</strong>s<br />
Genitivs mit Hilfe <strong>de</strong>s Dativs 9 , z.B. mei Vatta sei Haus statt das Haus meines<br />
Vaters, ti Mutta von ta Leni o<strong>de</strong>r ta Leni ihre Mutta statt Lenis Mutter. Bei<br />
unbelebten Substantiven ist nur eine Variante gebräuchlich: ta Deckl vom Topf, tes<br />
Tor vom Haus 10 .<br />
Das substantivische Diminutivsuffix –l ist nach Gă<strong>de</strong>anu 11 das einzig bekannte<br />
Diminutivsuffix <strong>de</strong>r Temeswarer Umgangssprache, z.B. Katzl, Radl, Kastl, Flaschl.<br />
Die in Wien übliche Verkleinerungssilbe –erl ist in Temeswar nur in wenigen<br />
Wörtern erhalten, wie in Wimmerl, Flascherl, Glaserl. Die standard<strong>de</strong>utsche<br />
Verkleinerungsform mit <strong>de</strong>m Suffix –chen wird selten und nur bei unechten<br />
Diminutiva wie Märchen, Schneewittchen, Rotkäppchen, Ständchen 12 verwen<strong>de</strong>t.<br />
In Temeswar ist auch eine analytische Verkleinerungsform üblich 13 . Bei<br />
Substantiven, die in <strong>de</strong>r Grundform auf –l auslauten, aber auch bei an<strong>de</strong>ren<br />
Substantiven, bei <strong>de</strong>nen die Diminutiva mit –l unüblich sind, wird die Verkleinerung<br />
mit <strong>de</strong>m Adjektiv klein umschrieben: klaana Vogl, Apfl, Stuhl, Ball, aber auch<br />
klaana Baum, klaane Maua, Taube, klaanes Bett.<br />
Typisch für Temeswar, sowie auch für alle bairischen Mundarten, ist die Form mir<br />
statt wir <strong>de</strong>s Personalpronomens in <strong>de</strong>r ersten Person Plural.<br />
Statt <strong>de</strong>s Personalpronomens ihr wird in Temeswar die Form ees verwen<strong>de</strong>t, z.B.<br />
Ees seids aba langsam gangen statt Ihr seid aber langsam gegangen.<br />
Dabei erscheint das Pronomen ees verdoppelt – <strong>zur</strong> Ver<strong>de</strong>utlichung 14 – einmal als<br />
6<br />
Siehe: Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 184.<br />
7<br />
Ebenda, S. 183-184.<br />
8<br />
Ebenda, S. 184.<br />
9<br />
Vgl. Gehl (1997), S. 39; Hollinger (1989), S. 28; Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 186-187; Fink (1965),<br />
S. 36-37.<br />
10<br />
S. Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 187.<br />
11<br />
Ebenda, S. 185.<br />
12<br />
Vgl. Fink (1965), S. 36; Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 186.<br />
13<br />
Vgl. Gehl (1997), S. 39; Fink (1965), S. 35f; Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 186.<br />
14<br />
Vgl. Gehl (1997), S. 40; Wolf (1987), S. 123; Hollinger (1989), S. 28; Hollinger (1958), S.<br />
249.<br />
396
eigentliches Pronomen und einmal als enklitische Endung –s bei <strong>de</strong>n konjugierten<br />
Verbformen. Ees fiel lautlich mit <strong>de</strong>m neutralen Pronomen es zusammen und<br />
konnte sinngemäß für dieses gehalten wer<strong>de</strong>n. Weil es aber als zu schwach<br />
empfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, wollte man durch die enklitische Wie<strong>de</strong>rholung Klarheit und<br />
Nachdruck schaffen. Dieses nachgestellte Personalpronomen ist so weit mit <strong>de</strong>m<br />
Verb verschmolzen, daß es nur noch als <strong>de</strong>ssen Endung empfun<strong>de</strong>n wird und<br />
<strong>de</strong>shalb noch einmal als selbständiges Pronomen wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n muß. Es<br />
erscheint aber nicht nur in <strong>de</strong>n Formen ees habts o<strong>de</strong>r ees kommts, son<strong>de</strong>rn auch<br />
in <strong>de</strong>r Form ihr habts wird das enklitische –s beibehalten.<br />
In <strong>de</strong>r zweiten Person Plural Präsens kommt die Stützform –s in allen Fragesätzen<br />
vor, dafür fällt das Pronomen aber aus 15 : Wann kommts? Was wollts? Wohin<br />
gehts? Was machts?<br />
Die dritte Person Maskulin lautet sowohl im Dativ als auch im Akkusativ ihm 16 :<br />
Dativ: Ich habs ihm gsagt.<br />
Akkusativ: Ich hab ihm gsegn.<br />
Wie in allen bairischen Mundarten stehen nach Präpositionen, die <strong>de</strong>n Akkusativ<br />
verlangen, die Pronomen im Dativ 17 :<br />
Sie ham glacht iba ihm.<br />
Ta Vatta bringt auch fir mir etwas.<br />
Ihr Bruda war bees auf ihr.<br />
Der Dativ ersetzt <strong>de</strong>n Akkusativ auch beim Reflexivpronomen nach <strong>de</strong>r<br />
Höflichkeitsform <strong>de</strong>s Personalpronomens 18 :<br />
Setzn S‘Ihna und essn S‘Ihna satt.<br />
(Setzen Sie sich und essen Sie sich satt.)<br />
Statt <strong>de</strong>s Reflexivpronomens uns wird in <strong>de</strong>r ersten Person Plural die Form sich<br />
verwen<strong>de</strong>t 19 :<br />
Mir setzn sich.<br />
Mir frein sich.<br />
Mir ham sich a Buch kauft.<br />
Eine <strong>de</strong>r augenfälligsten Erscheinungen <strong>de</strong>r Temeswarer Stadtsprache ist die<br />
15<br />
S. Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 189.<br />
16<br />
Vgl. Gehl (1997), S. 40; Wolf (1987), S. 123; Hollinger (1989), S. 28.<br />
17<br />
Vgl. Fink (1965), S. 37; Wolf (1987), S. 123; Gehl (1997), S. 40; Gă<strong>de</strong>anu (!998), S. 187-<br />
188.<br />
18<br />
Vgl. Gehl (1997), S. 40; Wolf (1987), S. 123.<br />
19<br />
Vgl. Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 188; Gehl (1997), S. 40; Wolf (1987), S. 123-124, Hollinger<br />
(1989), S. 29.<br />
397
obligatorische Begleitung von Relativpronomen in Nebensätzen durch ein was<br />
o<strong>de</strong>r ein wo 20 :<br />
Ter was nit kommt, wert schon seins kriegn.<br />
(Wer nicht kommt, wird schon seins bekommen.)<br />
Ter wo neba mei Vatta steht, is sei Freind.<br />
(Der neben meinem Vater steht, ist sein Freund.)<br />
Bei Gehl und Hollinger heißt es, daß die Konjugation <strong>de</strong>r Verben in Temeswar auf<br />
drei Tempora reduziert ist: Präsens, Perfekt und Futurum 21 . Nur das Hilfsverb sein<br />
hat eine Präteritumform: ich war.<br />
Ein allgemeines Merkmal aller <strong>de</strong>utschen Umgangssprachen ist <strong>de</strong>r bevorzugte<br />
Gebrauch <strong>de</strong>s Präsens Indikativ (Es wird auch verwen<strong>de</strong>t, um vergangene und<br />
zukünftige Handlungen auszudrücken.) 22<br />
Ich geh morgn in ti Schul.<br />
Wie ich gestan iba ti Straßn geh, treff ich ihm.<br />
Das Präteritum ist vollständig vom Perfekt verdrängt wor<strong>de</strong>n 23 :<br />
Er is kommen und hat sich gsetzt.<br />
(Er kam und setzte sich.)<br />
Gelegentlich wird das Perfekt durch das Plusquamperfekt ersetzt 24 : Ich war im<br />
Mosi gwesn, statt Ich pin im Mosi gwesn für Ich war im Kino.<br />
Aus <strong>de</strong>r Mundart stammt eine Son<strong>de</strong>rform <strong>zur</strong> Bildung <strong>de</strong>s Plusquamperfekts 25 .<br />
Eine hypothetische Aussage wird mit <strong>de</strong>m Präsens Indikativ <strong>de</strong>r Modalverben<br />
müssen o<strong>de</strong>r sollen, einem Adjektiv und <strong>de</strong>r unverän<strong>de</strong>rlichen Form waren <strong>de</strong>s<br />
Hilfsverbs sein zum Ausdruck gebracht:<br />
Er muß krank warn.<br />
Tes Madl soll noch jung warn.<br />
Die Flexionsendungen <strong>de</strong>s Präsens sind stark reduziert. Eine charakteristische<br />
Erscheinung aller Umgangssprachen ist <strong>de</strong>r Lautabfall in <strong>de</strong>r ersten Person<br />
Singular Präsens 26 , z.B. ich lauf, komm, koch, geh, sag, mach, hab.<br />
20<br />
S. Ga<strong>de</strong>anu (1998), S. 187.<br />
21<br />
S. Gehl (1997), S. 41; Hollinger (1989), S. 28.<br />
22<br />
Vgl. Fink (1965), S. 37; Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 189-190; Gehl (1997), S. 41; Hollinger<br />
(1969), S. 84.<br />
23<br />
S. Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 192.<br />
24<br />
Vgl. Hollinger (1989), S. 28; Gehl (1997), S. 42.<br />
25<br />
Vgl. Fink (1965), S. 39; Gehl (1997), S. 42; Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 192.<br />
26<br />
Vgl. Gehl (1997), S. 41; Hollinger (1958), S. 248-249; Wolf (1987), S. 124; Gă<strong>de</strong>anu<br />
(1998), S. 190; Fink (1965), S. 37.<br />
398
In <strong>de</strong>r Temeswarer Umgangssprache fällt die Tonerhöhung <strong>de</strong>r Standardsprache<br />
in <strong>de</strong>r zweiten und dritten Person <strong>de</strong>s Präsens Indikativ und <strong>de</strong>r zweiten Person<br />
Singular <strong>de</strong>s Imperativs <strong>de</strong>r meisten starken Verben aus:<br />
ich nehm – du nehmst – er nehmt – nehm!<br />
ich ess – du esst – er esst – ess!<br />
ich les – du lest – er lest – les!<br />
Aus <strong>de</strong>r Mundart hat das Temeswarer Deutsch <strong>de</strong>n Ausfall <strong>de</strong>r Umlautung in <strong>de</strong>r<br />
zweiten und dritten Person Singular <strong>de</strong>s Präsens Indikativ übernommen 27 :<br />
ich lauf – du laufst – er lauft<br />
ich trag – du tragst – er tragt<br />
Beim Perfektpartizip fällt gewöhnlicherweise das e aus <strong>de</strong>m Präfix ge- aus, z.B.<br />
ghabt, gmacht, graucht, gsagt, gsessn, gschaut, gessn. Einige auf b, d, g, p, t, k,<br />
qu und z anlauten<strong>de</strong>n Verben erhalten das Präfix ge- gar nicht, wie gebm, gehn,<br />
kommen, kriegn, kaufn 28 .<br />
Ta Franz is aus ta Stadt kommen.<br />
Hast du a Kartn krigt?<br />
Ein allgemeines Merkmal <strong>de</strong>r Umgangssprache ist die Ersetzung <strong>de</strong>r synthetischen<br />
Formen <strong>de</strong>s Konjunktivs durch Umschreibungen. Die synthetische Form <strong>de</strong>s<br />
Konjunktivs Präteritum kann die Mundart nicht bil<strong>de</strong>n, weil sie das Präteritum <strong>de</strong>s<br />
Indikativs nicht kennt.<br />
Zum Ausdruck eines Wunsches, einer Möglichkeit o<strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeit wird <strong>de</strong>r<br />
Konjunktiv mit mögen, können, sein o<strong>de</strong>r tun umschrieben 29 :<br />
Ich mecht schon zu eich kommen, aba es kennt regnen.<br />
Tes wäret schon gut, wann du kommen tätst.<br />
Die bairische Mundart Alt-Temeswars kennt kein Präsens <strong>de</strong>s Konjunktivs. Er wird<br />
durch das Präsens <strong>de</strong>s Indikativs ersetzt:<br />
Ta Karl hat mir gsagt, daß er im Freien eine Jacke tragt.<br />
(Karl hat mir gesagt, daß er im Freien eine Jacke trage.)<br />
Weil sie keinen Konjunktiv Präsens von haben und sein kennt, kann die Mundart<br />
<strong>de</strong>n Konjunktiv Perfekt nicht bil<strong>de</strong>n. Dieser wird durch <strong>de</strong>n Indikativ Perfekt ersetzt,<br />
obwohl dieser nicht <strong>de</strong>nselben Sinn wie<strong>de</strong>rgeben kann:<br />
27<br />
Vgl. Fink (1965), S. 37-38; Gehl (1997), S. 41; Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 190-191; Hollinger<br />
(1989), S. 28-29.<br />
28<br />
Vgl. Wolf (1987), S. 124; Gehl (1997), S. 41; Fink (1965), S. 42.<br />
29 Vgl. Gehl (1997), S. 41-42; Gă<strong>de</strong>anu (1998), S. 192-193.<br />
399
Ta Ludwig meint, daß ta Hans ten Brief gschriebm hat.<br />
(Ludwig meint, daß Hans <strong>de</strong>n Brief geschrieben habe.)<br />
In <strong>de</strong>r Umgangssprache wird statt <strong>de</strong>s Konjunktivs Perfekt <strong>de</strong>r Konjunktiv<br />
Plusquamperfekt gesetzt:<br />
Ta Meista hat erzählt, daß er friha Fußball gspielt hätt.<br />
Da es keine Form <strong>de</strong>s Konjunktivs Präsens für das Hilfsverb wer<strong>de</strong>n gibt, wird das<br />
Futurum <strong>de</strong>s Konjunktivs durch das Futurum <strong>de</strong>s Indikativs ersetzt 30 :<br />
Ti Anna hat vasprochn, daß sie alles lernen wert.<br />
Literatur<br />
Fink, Hans (1965): Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Temeswarer <strong>de</strong>utschen Umgangssprache<br />
(unveröffentlichte Diplomarbeit).<br />
Gă<strong>de</strong>anu, Sorin (1998): Sprache auf <strong>de</strong>r Suche. Zur I<strong>de</strong>ntitätsfrage <strong>de</strong>s<br />
Deutschen in Rumänien am Beispiel <strong>de</strong>r Temeswarer Stadtsprache,<br />
Regensburg: Ro<strong>de</strong>rer.<br />
Gehl, Hans (1997): Deutsche Stadtsprachen in Provinzstädten<br />
Südosteuropas, Stuttgart: Franz Steiner.<br />
Hollinger, Rudolf (1969): Fenomene specifice ale limbii populare germane din<br />
Timişoara. In: Analele UniversitaŃii din Timişoara. Seria ŞtiinŃe Filologice, Bd.<br />
VII, 79-90.<br />
Hollinger, Rudolf (1989): „Temeswar und sein Deutsch“. In: Banatica. Beiträge<br />
<strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Kultur, H. 4, Jg. 6, Freiburg, 24 – 31.<br />
Hollinger, Rudolf (1993): Die <strong>de</strong>utsche Umgangssprache von Alt-Temeswar. In:<br />
Kelp, Helmut (Hrsg.): Germanistische Linguistik in Rumänien 1958 – 1983.<br />
Eine Textauswahl, Bukarest: Kriterion, 242 – 250.<br />
Wolf, Johann (1987): Banater <strong>de</strong>utsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Bukarest: Kriterion.<br />
30 S. Fink (1965), S. 40-41.<br />
400
ILEANA IRIMESCU<br />
TEMESWAR<br />
InfluenŃa limbii germane asupra limbii române. Corecturi <strong>şi</strong><br />
completări<br />
În general, specialiştii sunt <strong>de</strong> acord că problema influenŃei limbii germane asupra<br />
limbii române a fost insuficient cercetată. Acest lucru a fost posibil <strong>şi</strong> pentru că, la<br />
vremea când s-au scris cele mai ample lucrări <strong>de</strong>spre această influenŃă lingvistică,<br />
nu existau încă toate tratatele <strong>de</strong> dialectologie germană sau toate dicŃionarele<br />
dialectale germane <strong>de</strong> care putem noi dispune astăzi, pentru a <strong>de</strong>tecta aceste<br />
elemente <strong>şi</strong> a putea evalua mai bine pon<strong>de</strong>rea elementului lexical <strong>de</strong> origine<br />
germană în română.<br />
Dorim să înlăturăm <strong>de</strong> la început impresia unei critici severe asupra câtorva lucrări<br />
apărute până acum, care tratează această problemă – aşa cum s-ar putea cre<strong>de</strong><br />
că a fost intenŃia noastră – <strong>de</strong>oarece, din lipsă <strong>de</strong> timp, nu vom insista <strong>şi</strong> asupra<br />
părŃilor bune ale lucrărilor discutate. Adăugăm, <strong>de</strong>ci, că fiecare dintre aceste lucrări<br />
a contribuit masiv la clarificarea problemelor legate <strong>de</strong> influenŃa limbii germane<br />
asupra limbii române. Ar fi nedrept din partea noastră să nu spunem acest lucru,<br />
pentru că puŃini au fost cei care s-au încumetat să trateze acest subiect <strong>şi</strong> cele<br />
doar câteva observaŃii pe care le vom face nu trebuie să <strong>de</strong>a impresia că aceste<br />
studii nu au o valoare ridicată. Dacă am adus unele obiecŃii, am făcut-o pentru că<br />
am consi<strong>de</strong>rat necesar să corectăm ceea ce nu corespun<strong>de</strong> realităŃii lingvistice<br />
<strong>de</strong>scrise, pentru a putea împiedica folosirea gre<strong>şi</strong>tă a unor informaŃii neconforme<br />
cu realitatea <strong>şi</strong> perpetuarea acestora. Cât <strong>de</strong> uşor se poate gre<strong>şi</strong>, o <strong>de</strong>monstrează<br />
un singur alineat scris <strong>de</strong> Sextil Puşcariu, care cunoştea bine limba germană<br />
literară în mod sigur, dar nu a bănuit cât <strong>de</strong> mari sunt într-a<strong>de</strong>văr diferenŃele dintre<br />
aceasta <strong>şi</strong> dialectele germane. De<strong>şi</strong> Puşcariu se referă la influenŃa limbii germane<br />
asupra limbii române, am luat în discuŃie acest pasaj pentru a invita la precauŃie <strong>şi</strong><br />
la verificarea afirmaŃiilor lansate în pripă.<br />
În Limba română, vol. I, p. 273, Sextil Puşcariu pune pe seama influenŃei române<br />
în dialectele săseşti din Transilvania folosirea dublei negaŃii <strong>de</strong> către sa<strong>şi</strong>, pe care<br />
el o consi<strong>de</strong>ră o inovaŃie. De fapt, dubla negaŃie, ca arhaism morfologic în<br />
germană, s-a mai păstrat încă dialectal chiar <strong>şi</strong> la şvabii din Banat, <strong>şi</strong> <strong>de</strong>ci cu atât<br />
mai mult la sa<strong>şi</strong>i transilvăneni, care sosesc pe aceste meleaguri cu o fază arhaică<br />
<strong>de</strong> limbă germană, păstrarea dublei negaŃii putând fi eventual întărită <strong>de</strong> fenomenul<br />
<strong>de</strong> limbă similar din română. În Sieb-sächs V 93, s. v. kein găsim următoarele<br />
exemple: la 1494 – "Kain mester sal keinen nit fw<strong>de</strong>ren noch Arbeth geben"; la<br />
1609/15 "keiner <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn nichts rest blieb"; la 1761 – "ohne gürtel soll keiner<br />
niehmals gehen"; în jurul anului 1900 este obişnuită construcŃia cu negativ dublu<br />
kener net. După cum se ve<strong>de</strong>, dubla negaŃie s-a păstrat mult timp dialectal în limba<br />
401
sa<strong>şi</strong>lor din Transilvania. Exemplul dat <strong>de</strong> Puşcariu este: ech hun nätjen Kretser<br />
ge:lt nätj verdänjt. Sinonimul lui kein este nichein cu variantele sale (Sieb-sächs V<br />
93, s. v. kein).<br />
Tot Puşcariu, în acela<strong>şi</strong> alineat, pune pe seama influenŃei limbii române asupra<br />
dialectelor săseşti din Transilvania o topică ce se aseamănă foarte mult cu cea a<br />
limbii române. Atragem aici atenŃia că topica germanei literare nu se suprapune<br />
întot<strong>de</strong>auna cu cea specifică diferitelor dialecte germane, <strong>şi</strong>, <strong>de</strong>ci s-ar putea să nu<br />
fie vorba <strong>de</strong> o influenŃă românească. Exemple <strong>de</strong> genul ..., obwohl er kommt<br />
nicht..., înregistrate astăzi în spaŃiul lingvistic german la vorbitori care nu vorbesc<br />
neapărat dialect, în care nu se respectă poziŃia finală a verbului în propoziŃiile<br />
secundare, sau nu se respectă bine cunoscuta Rahmenstellung (poziŃie <strong>de</strong><br />
încadrare) a verbului în alte exemple, nu sunt rareori întâlnite. Asemenea ca<strong>zur</strong>i nu<br />
sunt rare nici în dialectele şvăbeşti vorbite în Banat sau odinioară în Bucovina.<br />
Topica actuală a limbii germane, poziŃia fixă a verbului (finit) în propoziŃia principală<br />
<strong>şi</strong> în secundară a <strong>de</strong>venit normă abia în secolul al XVI-lea, respectiv al XVII-lea.<br />
PoziŃia finală a verbului în secundară <strong>şi</strong> fixarea ei pot fi urmărite în scrierile lui<br />
Martin Luther. Topica actuală a limbii germane este <strong>de</strong>ci <strong>de</strong> provenienŃă cultă. Tot<br />
în aceea<strong>şi</strong> perioadă se impun construcŃiile culte hipotactice, care, exagerate, sunt<br />
mai apoi combătute <strong>de</strong> către scriitorii <strong>şi</strong> poeŃii secolului al XVII-lea.( Joachim<br />
Schildt, Kurze Geschichte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, Berlin, 1991.)<br />
Exemplele date <strong>de</strong> Puşcariu sunt: nätj dau do 'nu face asta' <strong>şi</strong> nîimmentem so: et<br />
'nu spune asta nimănui'. Bernhard Capesius, în articolul Wesen und Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Siebenbürgisch-Sächsischen, în Helmut Kelp (coord.), Germanistische Linguistik<br />
in Rumänien. 1958-1983, Bucureşti, 1993, p. 69, notează: "Im Verbotsatz steht<br />
die Negation am Anfang: net goŋk duer! (Geh nicht hin!), nemi ri:ed ese felt! (Re<strong>de</strong><br />
nicht mehr so viel!). Diese in fast allen idg. und germ. Sprachen und auch noch im<br />
Ahd. übliche, erst im Mhd. bzw. Nhd. abgekommene, aber auch in <strong>de</strong>n<br />
binnen<strong>de</strong>utschen Mundarten nicht mehr übliche Wortstellung ist kaum durch <strong>de</strong>n<br />
Einfluß <strong>de</strong>s Rumänischen und Magyarischen erst im Sbg.-S. wie<strong>de</strong>r hergestellt<br />
wor<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn dadurch höchstens bewahrt geblieben."<br />
Sensul “cerul gurii” al săs. Himmel, nu este neapărat, după cum afirmă Puşcariu în<br />
acela<strong>şi</strong> alineat, împrumutat din română, ci el poate fi atestat în Rhein II, s. v.<br />
Himmel, <strong>de</strong>ci în dialectul vorbit în zona principală din care au venit coloniştii sa<strong>şi</strong> la<br />
noi.<br />
Ultimul exemplu din Limba română, vol. I, p. 273, <strong>de</strong> folosire "după românescul la"<br />
a prepoziŃiei germane bei, reprezintă, pentru cunoscători, o altă pildă <strong>de</strong><br />
particularitate a dialectelor germane din vestul teritoriului lingvistic german<br />
(Westmittel<strong>de</strong>utsch) (<strong>de</strong> exemplu: Komm bei mich!, în loc <strong>de</strong> Komm zu mir! Ich<br />
gehe bei <strong>de</strong>r Post, în loc <strong>de</strong> Ich gehe <strong>zur</strong> Post.). Din acele împrejurimi au fost<br />
colonizaŃi o mare parte a strămo<strong>şi</strong>lor sa<strong>şi</strong>lor transilvăneni, <strong>şi</strong> <strong>de</strong>ci apariŃia<br />
fenomenului în dialectele săseşti nu ar trebui să ne surprindă. B. Capesius, lucr.<br />
cit., p. 69, se referă tocmai la folosirea diferită faŃă <strong>de</strong> germana literară a<br />
prepoziŃiilor în dialectele săseşti: "Ein bisher noch wenig beachtetes Gebiet ist <strong>de</strong>r<br />
von <strong>de</strong>r Schriftsprache häufig abweichen<strong>de</strong> Gebrauch verschie<strong>de</strong>ner<br />
Präpositionen. Dazu gehört die allgemein sbg.-s. übliche Verwendung von "bei" mit<br />
<strong>de</strong>m Akk. auf die Frage „wohin?" (Adică bei <strong>şi</strong> în locul prepoziŃiei zu.)" În<br />
continuare, Capesius dă exemple <strong>şi</strong> mai ciudate <strong>de</strong> folosire a prepoziŃiei mit altfel<br />
402
<strong>de</strong>cât în limba germană literară.<br />
Riscul unei cercetări pe un teren atât <strong>de</strong> alunecos este, după cum ne putem da<br />
uşor seama, foarte mare. Un prim simptom al cunoaşterii insuficiente a elementelor<br />
germane preluate este atribuirea unor fenomene <strong>de</strong> limbă germană (veche sau<br />
dialectală) influenŃei româneşti, aşa cum am arătat mai sus, iar un al doilea îl<br />
constituie explicarea unor transformări fonetice pe terenul limbii române, atunci<br />
când ele <strong>de</strong> fapt nu trebuie explicate, pentru că etimonul <strong>de</strong> origine germană<br />
dialectală este reprodus aproape exact în română, doar că el nu este bine<br />
cunoscut <strong>şi</strong> <strong>de</strong>seori i<strong>de</strong>ntificat cu corespon<strong>de</strong>ntul său din germana literară, <strong>de</strong> către<br />
cercetători. Tot aşa, sunt explicate aşa-zisele con<strong>de</strong>nsări semantice, ca având loc<br />
pe terenul limbii române, când <strong>de</strong> fapt au loc pe terenul limbii germane: germ.<br />
Speise(kammer) 'cămară' > rom. spais, spaiŃ, germ. Le<strong>de</strong>r(meister) > rom. Ledăr<br />
'pielar', sau că<strong>de</strong>rea sufixului -er pe terenul limbii române: germ. Le<strong>de</strong>r(er) > rom.<br />
ledăr 'pielar', care are loc tot pe terenul limbii germane, aşa cum o arată clar<br />
dicŃionarele dialectale.<br />
O lucrare consacrată tocmai acestui domeniu al relaŃiilor lingvistice românogermane<br />
este <strong>şi</strong> publicaŃia Interferenzen in <strong>de</strong>n Sprachen und Dialekten<br />
Südosteuropas, coordonată <strong>de</strong> Hans Gehl <strong>şi</strong> Maria Pur<strong>de</strong>la Sitaru, în Materialien,<br />
Heft 4,Tübingen, 1994. Volumul, pe drept apreciat în nenumărate recenzii,<br />
reprezintă o sursă <strong>de</strong> informaŃie valoroasă pentru cercetarea influenŃei lexicale<br />
germane în română. Articolul Rumänische Fachausdrücke <strong>de</strong>utscher Herkunft im<br />
Bereich <strong>de</strong>r Kochkunst. Lexikalische und etymologische Anmerkungen, p. 121-139,<br />
reprezintă o cercetare inovatoare <strong>şi</strong> exemplară a materialului lexical <strong>de</strong> origine<br />
germană din limba română, mai precis din domeniul produselor culinare <strong>şi</strong> din<br />
sfera semantică a gătitului. Fără a intra în amănunte, vom încerca să aducem<br />
completările cele mai necesare. În partea finală a lucrării se propune o clasificare a<br />
împrumuturilor <strong>de</strong> origine germană în funcŃie <strong>de</strong> dialectul german din care acestea<br />
provin. Această încercare, temerară chiar <strong>şi</strong> pentru un germanist, are însă câteva<br />
mici scăpări.<br />
Printre particularităŃile dialectale germane renano-francone, se strecoară <strong>şi</strong> unele<br />
<strong>de</strong> tip cel puŃin <strong>şi</strong> bavarez, pentru simplul motiv că nu se face distincŃia dintre<br />
vocala a:, lungă, <strong>şi</strong> cea scurtă, a, care au un tratament diferit în diversele dialecte<br />
germane discutate aici. Un a scurt se închi<strong>de</strong> la o [å] în dialectele prepon<strong>de</strong>rent<br />
bavareze din Banat, pe când un a: lung se închi<strong>de</strong> la å: sau chiar o:, ou în<br />
dialectele <strong>de</strong> tip renano-francon din Banat. [Lungimea vocalei este marcată prin<br />
cele două puncte :.]. De exemplu: rheinfr. Strouß, bair. Månn.<br />
Apoi vocala labială ü nu este "înlocuită" (ersetzt), ci trece în faza i, î<strong>şi</strong> pier<strong>de</strong><br />
caracterul labial (Entrundung) în dialectele germane, dar nu numai în cele renanofrancone,<br />
fenomenul fiind mult mai răspândit în jumătatea sudică a spaŃiului<br />
lingvistic german. Este vorba <strong>de</strong>ci, mai <strong>de</strong>grabă <strong>de</strong> o "alunecare" a sunetului. (De<br />
exemplu: germ. lit. bügeln – germ. dial. bigle [piglă] – rom. băn. a piglui.)<br />
Singurul exemplu în care vocala labială ü din germană ar fi trecut pe terenul limbii<br />
române în faza u, poate fi uşor combătut cu argumentele autorilor enunŃate în<br />
lucrare cu un rând mai sus, în care se spune că formele fără "Umlaut" (alternanŃă<br />
vocalică), provin din bavareză. Exemplul dat este a dunstui, care provine dintr-o<br />
formă germană fără "Umlaut" dunsten.<br />
Asupra adaptării sunetului ă (Schwa, redat tot prin ă <strong>de</strong> noi din motive <strong>de</strong> ordin<br />
403
tehnic) din germ. Zimmăt, Zellăr, Zuckăr, care în română a "<strong>de</strong>venit" ă, nu cre<strong>de</strong>m<br />
că trebuie să se mai insiste, <strong>de</strong>oarece diferenŃele dintre cele două sunete nu<br />
reprezintă pentru vorbitorii, care au preluat termenii ce le conŃin, nici o dificultate <strong>de</strong><br />
adaptare, ele fiind foarte asemănătoare.<br />
O carte fundametală pentru acest domeniu este cea a lui V. Arvinte, Die<br />
<strong>de</strong>utschen Entlehnungen in <strong>de</strong>n rumänischen Mundarten (nach <strong>de</strong>n Angaben<br />
<strong>de</strong>s rumänischen Sprachatlasses), Berlin, 1971. Această lucrare, apărută <strong>de</strong><br />
aproape 30 <strong>de</strong> ani, nu este suficient cunoscută, <strong>de</strong><strong>şi</strong> are valoare <strong>de</strong> piatră <strong>de</strong><br />
fundament pentru cercetările în domeniul influenŃei limbii germane asupra românei.<br />
Acest lucru, insuficienŃa cunoaşterii ei, se datoreşte <strong>şi</strong> faptului că nu a fost tradusă<br />
încă în limba română <strong>şi</strong> că circulă într-un număr <strong>de</strong>stul <strong>de</strong> redus <strong>de</strong> exemplare. În<br />
ciuda faptului că materialul prelucrat este doar cel cules <strong>de</strong> anchetatorii ALR,<br />
elementul lexical <strong>de</strong> origine germană din română este masiv reprezentat, foarte<br />
bine <strong>şi</strong> cu precauŃie interpretat.<br />
Şi în privinŃa lucrărilor cercetătorului ieşean, se observă o evoluŃie în timp, în<br />
sensul abordării mult mai cu pru<strong>de</strong>nŃă a problemelor legate <strong>de</strong> clasificarea <strong>şi</strong><br />
încadrarea dialectală <strong>şi</strong> în diferite etape <strong>de</strong> timp a elementelor lexicale germane<br />
preluate în română. Astfel, în articolul său “Criterii <strong>de</strong> <strong>de</strong>terminare a împrumuturilor<br />
săseşti ale limbii române”, {publicat în Anuar <strong>de</strong> lingvistică <strong>şi</strong> istorie literară, X<br />
(1965), Ia<strong>şi</strong>, p. 97-105. Versiunea franceză în RRL, X, nr. 1-3, 127-132,} la pagina<br />
102 afirmă: Împrumuturile în care nu apare cea <strong>de</strong> a doua mutaŃie consonantică<br />
germană – există câteva exemple – provin cu siguranŃă din dialectul săsesc<br />
transilvănean, în care acest fenomen nu s-a petrecut în toate ca<strong>zur</strong>ile. Exemple:<br />
rom. pipă "canea", faŃă <strong>de</strong> germ. Pfeife, rom. perj (< săs. piärš), faŃă <strong>de</strong> germ.<br />
Pfirsich, rom. cop "vas <strong>de</strong> lut", faŃă <strong>de</strong> germ. Kopf (în rom. există <strong>şi</strong> forma cu<br />
mutaŃie consonantică cofă, tot <strong>de</strong> origine săsească). În constituirea dialectului<br />
săsesc au participat <strong>şi</strong> elemente provenind din germana <strong>de</strong> jos (nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsch).<br />
Totu<strong>şi</strong>, cea mai mare parte a "şvabilor" bănăŃeni <strong>şi</strong> a celor bucovineni, vorbeşte<br />
sau vorbea dialecte <strong>de</strong> tip renano-francon în care această a doua mutaŃie<br />
consonantică nu avut loc. Astfel, din aceste dialecte, aşa-numite "Appel-<br />
Mundarten", vorbite mai ales în ju<strong>de</strong>Ńul Timiş, au fost împrumutate <strong>şi</strong> cuvinte care<br />
nu prezintă fenomenul fricatizării oclusivei sur<strong>de</strong> labiale p > pf. Un astfel <strong>de</strong> cuvânt,<br />
<strong>de</strong>stul <strong>de</strong> tânăr, aşa cum ne-o arată <strong>şi</strong> realitatea pe care o <strong>de</strong>semnează, <strong>şi</strong> care în<br />
nici un caz nu este săsism, este rom. băn. bubicop 'fri<strong>zur</strong>ă băieŃească purtată <strong>de</strong><br />
femei în anii '20-'30' [DSB IV s. v.], cf. germ. Bubikopf. Alt cuvânt care se sustrage<br />
rigorii criteriului enunŃat <strong>de</strong> V. Arvinte este rom. cramp 'târnăcop' (cf. germ. Kramp<br />
'Spitzhacke'), care nu numai că nu este săsesc, dar provine chiar din dialectul<br />
german bavarez, în care însă a fost împrumutat (v. Kluge, s. v.) din germana <strong>de</strong><br />
jos. Dacă l-am fi găsit <strong>şi</strong> în dicŃionarele dialectale germane în care este prelucrat<br />
materialul lexical din principalele teritorii <strong>de</strong> provenienŃă a germanilor din România,<br />
am fi înclinat spre o altă soluŃie. SituaŃia este, după cum se poate lesne observa,<br />
<strong>de</strong>stul <strong>de</strong> complicată. În dialectele germane bavareze, în care a avut loc a doua<br />
mutaŃie consonantică, există <strong>de</strong>ci <strong>şi</strong> cuvinte în care nu a avut loc cea <strong>de</strong>-a doua<br />
mutaŃie consonantică, <strong>de</strong>oarece au fost împumutate din dialecte germane <strong>de</strong> jos<br />
(Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsch) sau <strong>de</strong> mijloc (Mittel<strong>de</strong>utsch) la o dată mai recentă.<br />
Astăzi, când există atâtea lucrări <strong>de</strong> sinteză cu privire la <strong>de</strong>zvoltarea lingvistică <strong>şi</strong><br />
istorică a dialectelor germane, ar fi păcat să nu se apeleze la ele, pentru a clarifica<br />
404
o parte încă incomplet <strong>de</strong>slu<strong>şi</strong>tă din istoria limbii române. În continuare, vom<br />
prezenta fapte care, pentru germanişti, par <strong>de</strong>sigur banale, dar care găsim necesar<br />
să fie cunoscute <strong>şi</strong> <strong>de</strong> cei care doresc să înŃeleagă acest fenomen complex al<br />
pătrun<strong>de</strong>rii cuvintelor germane în limba română.<br />
Încercări <strong>de</strong> periodizare a împrumuturilor germane, în funcŃie <strong>de</strong> repartiŃia lor<br />
teritorială sau <strong>de</strong> data atestării lor, s-au mai făcut. (Vezi, <strong>de</strong> ex., Vasile, Arvinte,<br />
“Criterii <strong>de</strong> <strong>de</strong>terminare a împrumuturilor săseşti ale limbii române”, în Anuar <strong>de</strong><br />
lingvistică <strong>şi</strong> istorie literară, X/1965), Ia<strong>şi</strong>, 97-105. Versiunea franceză în RRL,<br />
X, nr. 1-3, 127-132. De asemenea s-a arătat în numeroase lucrări că unele cuvinte<br />
au intrat pe cale "orizontală", populară, în limba română, iar altele pe cale<br />
"verticală", culturală, la distanŃă. ParticularităŃile fonetice care fac să fie<br />
recunoscute etimoanele aparŃinând cutărui sau cutărui dialect german nu sunt<br />
conŃinute însă în toate cuvintele <strong>de</strong> origine germană din română. De asemenea,<br />
faptul că dialectele germane vorbite la noi nu continuă în formă pură dialectele<br />
germane din teritoriile <strong>de</strong> origine ale coloniştilor germani, ci reprezintă dialecte mai<br />
mult sau mai puŃin mixte, rezultate ale unei duble nivelări (una locală, între<br />
coloniştii veniŃi din regiuni mai mult sau mai puŃin în<strong>de</strong>părtate, <strong>şi</strong> una interlocală,<br />
survenită în urma contactului nemŃilor din diferitele localităŃi germane <strong>de</strong> la noi), nu<br />
uşurează situaŃia. O cunoaştere a situaŃiei dialectelor germane vorbite la noi, pune<br />
pe orice cercetător în gardă, înainte <strong>de</strong> a trage concluzii pripite cu privire la<br />
această problemă. Nu trebuie uitată nici situaŃia specială a limbii germane literare<br />
faŃă <strong>de</strong> dialectele germane, diferenŃa mare dintre acestea <strong>şi</strong> limba scrisă <strong>şi</strong><br />
diferenŃele mari dintre ele, în comparaŃie cu situaŃia dacoromânei faŃă <strong>de</strong><br />
subunităŃile ei dialectale. SituaŃia extralingvistică, contextele sociale, istorice <strong>şi</strong><br />
economice invocate, pot servi <strong>de</strong>seori, dar nu întot<strong>de</strong>auna, ca argumente.<br />
Propunem, <strong>de</strong>ocamdată, două criterii <strong>de</strong> <strong>de</strong>partajare cronologică a cuvintelor <strong>de</strong><br />
origine germană din limba română, cu menŃiunea că pot exista întot<strong>de</strong>auna<br />
excepŃii, <strong>şi</strong> că cel <strong>de</strong>-al doilea a fost <strong>de</strong>ja folosit <strong>şi</strong> comentat în literatura <strong>de</strong><br />
specialitate:<br />
1. Substantivele feminine din română terminate în -ă, care provin din substantive<br />
feminine germane cu finala în -e [ă], reprezintă fie împrumuturi din germană făcute<br />
la o dată foarte timpurie (cantă, jufă, aptică, ciuhă etc.), fie împrumuturi, ceva mai<br />
noi, făcute din germana literară (ştanŃă, mufă, clupă, borma<strong>şi</strong>nă etc.). Acestea din<br />
urmă reprezintă mai ales termeni tehnici din sfera diverselor meşteşuguri sau<br />
meserii. Astfel, substantivele româneşti provenite din forme dialectale germane în<br />
care acest -e [e] sau [ă] final a căzut, reprezintă împrumuturi populare, dar mai<br />
recente (şpiŃ – germ. Spitze, şpalt – germ. Spalt, cant – germ. Kante).<br />
Chiar dacă astăzi acest -e [e], [ă] final al substantivelor feminine din dialectele<br />
săseşti <strong>de</strong> la noi a căzut, aceasta nu înseamnă că, aşa cum o arată exemplele, el<br />
nu a existat în perioada timpurie în care s-au făcut aceste împrumuturi. La noi au<br />
sosit <strong>şi</strong> vorbitori ai unor dialecte germane din zonele în care acest -e final la<br />
feminine s-a păstrat până astăzi.<br />
2. Cuvintele româneşti în care fricativa alveolară predorsală <strong>de</strong>ntală s- [z-] iniŃial<br />
din germană sau -s- [-z-] intervocalic, are reflexul j-, respectiv -j- reprezintă<br />
împrumuturi foarte vechi, săseşti (jufă, joagăr, strujac, jeŃ, jeŃar (faŃă <strong>de</strong> mai noul<br />
zeŃar), jechilă; glajă <strong>de</strong> exemplu).<br />
Nu putem să nu amintim că majoritatea cuvintelor <strong>de</strong> origine germană intrate foarte<br />
405
<strong>de</strong>vreme în română din dialectele săseşti vorbite în Transilvania, sau chiar în afara<br />
arcului carpatic, o vreme, a fost atribuită influenŃei maghiare în română. Faptul că<br />
nu există însă <strong>şi</strong> un etimon maghiar pentru unele dintre aceste cuvinte (pentru<br />
jeŃar, jeŃ, jechilă sau joagăr, <strong>de</strong> exemplu) ne face să cre<strong>de</strong>m că o astfel <strong>de</strong><br />
încadrare este întemeiată. SituaŃia aproape paralelă a adaptării în ambele limbi,<br />
română <strong>şi</strong> maghiară a germanului s- [z-] sau -s- [-z-] > j-, -j-, în împrumuturile vechi<br />
<strong>de</strong> origine germană o discutăm <strong>şi</strong> mai jos. Acela<strong>şi</strong> reflex apare <strong>şi</strong> în cazul<br />
împrumuturilor timpurii făcute din germană în limba poloneză <strong>şi</strong> în slovenă. De fapt,<br />
în documentele <strong>de</strong> limbă slovenă veche, scrise sub influenŃa ortografiei germanei<br />
<strong>de</strong> sus vechi (Althoch<strong>de</strong>utsch) este folosit grafemul s pentru sl. [sic!] š <strong>şi</strong> ž, iar z,<br />
pentru sl. s <strong>şi</strong> z, <strong>de</strong> un<strong>de</strong> unii lingvişti au tras concluzia că fricativa (germana <strong>de</strong><br />
sus veche) ahd. s era articulată dorsal, asemănător cu sunetul [∫] din germana<br />
actuală. Aceasta ar fi însemnat însă că limba germană ar ocupa o poziŃie aparte în<br />
cadrul celorlaltor limbi germanice, din acest punct <strong>de</strong> ve<strong>de</strong>re, fapt care i-a făcut pe<br />
alŃi lingvişti, precum Hermann Paul, <strong>de</strong> exemplu, să respingă această ipoteză. O<br />
discuŃie mai veche poate fi urmărită în Hermann Paul, Deutsche Grammatik, I,<br />
Halle/ Saale, 1958, p. 349-350. Într-o lucrare astăzi la în<strong>de</strong>mâna oricui, Werner<br />
König, dtv-Atlas <strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Sprache, ed. a 11-a, München, 1996, la p. 151,<br />
putem citi:<br />
Die š-Aussprache <strong>de</strong>s s bezeugen uns einmal <strong>de</strong>utsche Lehnwörter in <strong>de</strong>n<br />
westslawischen Sprachen: Hier ist das alte s durch š bzw. ž vertreten [...] Zum<br />
an<strong>de</strong>ren ist in konservativen Walser- und bairischen Sprachinsel-Mundarten am<br />
Südrand <strong>de</strong>r Germania das alte s auch vor und zwischen Vokal als š bzw. šähnlicher<br />
Laut bewahrt.<br />
Deci, chiar dacă vorbim <strong>şi</strong> în continuare, pentru limba germană, <strong>de</strong> [s] sau [z]<br />
intervocalici sau la iniŃială urmate <strong>de</strong> vocală, ne referim la situaŃia <strong>de</strong> astăzi din<br />
dialectele săseşti.<br />
Trebuie să ne gândim că aceste împrumuturi provin din variante dialectale din<br />
perioada germanei <strong>de</strong> sus medii (Mittelhoch<strong>de</strong>utsch), <strong>şi</strong> chiar mai <strong>de</strong>vreme (B.<br />
Capesius, Wesen und Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Siebenbürgisch-Sächsischen..., p. 65-66),<br />
aflate în curs <strong>de</strong> <strong>de</strong>zvoltare, iar pronunŃarea ca š sau ž a acestei africate pentru<br />
acea perioadă timpurie, nu se ştie exact în ce măsură <strong>şi</strong> cum era ea repartizată <strong>şi</strong><br />
realizată la coloniştii "sa<strong>şi</strong>" veniŃi la noi <strong>de</strong> pe teritorii atât geografic cât <strong>şi</strong> lingvistic<br />
diferenŃiate. Cert este, că în Transilvania au fost colonizaŃi germani (<strong>şi</strong> nu numai<br />
germani) <strong>de</strong> pe un teritoriu foarte vast din vestul spaŃiului lingvistic german <strong>şi</strong> pînă<br />
în est la Elba. Au fost adu<strong>şi</strong> la noi, în diverse straturi, vorbitori <strong>de</strong> dialecte ce<br />
aparŃineau unele <strong>de</strong> germana <strong>de</strong> sus, altele <strong>de</strong> germana <strong>de</strong> jos (Hoch<strong>de</strong>utsch,<br />
Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsch), ba chiar din părŃile sudice ale acestui spaŃiu lingvistic meridional<br />
(Ober<strong>de</strong>utsch).<br />
O altă problemă care se pune, <strong>şi</strong> care este discutată în tratatele <strong>de</strong> dialectologie<br />
germană <strong>şi</strong> <strong>de</strong> istoria limbii germane, este situaŃia neclară <strong>şi</strong> <strong>de</strong>osebită a dialectelor<br />
germane dintre Rin <strong>şi</strong> Mosela, <strong>de</strong> un<strong>de</strong> se presupune că au venit cei mai mulŃi<br />
colonişti germani în Transilvania. Unii lingvişti susŃin că acest spaŃiu a fost iniŃial<br />
german <strong>de</strong> jos (Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsch) <strong>şi</strong> a fost apoi "cucerit" <strong>de</strong> germana <strong>de</strong> sus<br />
(Hoch<strong>de</strong>utsch). Oricum, aici se vorbesc dialecte (Moselfränkisch, Ripuarisch) care<br />
aparŃin <strong>de</strong> "Mittel<strong>de</strong>utsch" (germana <strong>de</strong> mijloc) aşa-numita fî<strong>şi</strong>e ce face trecerea <strong>de</strong><br />
la germana <strong>de</strong> jos la germana <strong>de</strong> sus. În aceste dialecte controversate, atât <strong>de</strong><br />
406
cunoscuta a doua mutaŃie consonatică germană, care a pornit din sudul spaŃiului<br />
lingivstic german spre nord, nu există ca fenomen general, ci este înregistrată doar<br />
în anumite cuvinte. Aceasta este însă situaŃia din zilele noastre. Această mutaŃie<br />
consonantică, în funcŃie <strong>de</strong> care lingviştii au efectuat repartizarea pe grupuri a<br />
dialectelor germane, se presupune că se afla în curs <strong>de</strong> <strong>de</strong>făşurare în aceste<br />
teritorii tocmai când au fost strămutaŃi din aceste zone o parte a strămo<strong>şi</strong>lor<br />
"sa<strong>şi</strong>lor" transilvăneni. Ea a durat, în aceste părŃi, cam <strong>de</strong> pe la anul 800 până în<br />
1200. (Gothard, Lerchner, Zur II. Lautverschiebung im Rheinisch-<br />
Westmittel<strong>de</strong>utschen. Diachronische und diatopische Untersuchungen, Halle/<br />
Saale, 1971.)<br />
Întorcându-ne în Transilvania, trebuie să insistăm asupra faptului că dialectele<br />
vorbite <strong>de</strong> sa<strong>şi</strong> astăzi, atât <strong>de</strong> diferite încă <strong>de</strong> la o localitate la alta, sunt rezultatul<br />
unei lungi evoluŃii, a unui proces în<strong>de</strong>lungat <strong>de</strong> nivelare, care mai durează <strong>şi</strong> astăzi,<br />
acolo un<strong>de</strong> mai trăiesc sa<strong>şi</strong>. Premisele unei <strong>de</strong>zvoltări atât <strong>de</strong> spectaculoase mai<br />
ales sub aspect fonetic al acestor dialecte germane săseşti au fost următoarele:<br />
1. Colonişti germani <strong>şi</strong> <strong>de</strong> alte naŃionalităŃi veniŃi din spaŃii geografice <strong>şi</strong> lingvistice<br />
foarte diferite. Faze <strong>de</strong> limbă foarte veche <strong>şi</strong> diferenŃieri mari între dialectele vorbite<br />
<strong>de</strong> colonişti, care mai apoi s-au pierdut, în mare parte.<br />
2. Colonizarea în etape diferite.<br />
3. Izolarea coloniilor săseşti <strong>de</strong> restul spaŃiului lingvistic german.<br />
4. Contactul cu limba scrierilor lui Luther în secolul al XVI-lea.<br />
5. Contactul cu populaŃiile aloglote din Transilvania, condiŃionat <strong>de</strong> la caz la caz <strong>de</strong><br />
starea socială a coloniştilor germani (nesupu<strong>şi</strong> sau iobagi).<br />
Urmele diferenŃierilor dialectale pot fi urmărite <strong>şi</strong> astăzi în dialectele săseşti<br />
(bissken: = bisschen ş. a., [kăn] = sufixul diminutival -chen [çăn], aşa cum îl<br />
cunoaştem <strong>şi</strong> din germana literară. Altă formă a acestui sufix diminutival este -<br />
(t)schen, acestea trei având o distribuŃie complementară, în funcŃie <strong>de</strong> natura<br />
sunetului anterior (B. Capesius, lucr. cit., p. 70). Altele, dispărute sau nu din<br />
dialecte sunt atestate în împrumuturile <strong>de</strong> origine germană din română: strujac<br />
'saltea <strong>de</strong> paie' / germ. lit. Strohsack, cu rostirea germană <strong>de</strong> jos (Nie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utsch) a<br />
grupului consonantic st- la început <strong>de</strong> cuvânt, faŃă <strong>de</strong> foarte vechiul ştreang /germ.<br />
lit. Strang. O rostire germană <strong>de</strong> jos o atestă <strong>şi</strong> etimonul împrumutului spiŃuri<br />
'dantelă <strong>de</strong> pus la cearşaf (Oltenia)' [CADE s. v.: 'horbote lucrate cu igliŃa'], care<br />
este germ. Spitze(n) cu s- (din grupul consonantic iniŃial sp) netrecut la [∫]. (La fel:<br />
spargă / şpargă 'sparanghel' (CADE s. v.), în Transilvania, un<strong>de</strong> nu se poate<br />
invoca cu uşurinŃă evitarea rostirii grupului consonantic iniŃial şp- > sp-, contrar<br />
mo<strong>de</strong>lului german, <strong>de</strong>oarece rostirea aceasta a grupului consonantic amintit încă<br />
mai este frecventă: şpital, şpeŃial, precum <strong>şi</strong> în cazul grupului consonantic iniŃial şt-:<br />
ştu<strong>de</strong>nt, ştate (<strong>de</strong> plată) etc. Varianta cu şp- la iniŃială, şpargă se poate explica <strong>şi</strong><br />
din magh. spárga, dar <strong>şi</strong> din germ. Spargel [∫parg∂l]).<br />
Nu trebuie să uităm că nu există documente care să facă pe <strong>de</strong>plin lumină în<br />
problema colonizării cu "sa<strong>şi</strong>" a Transilvaniei. Pentru a putea <strong>de</strong>pista teritoriile <strong>de</strong><br />
origine ale sa<strong>şi</strong>lor, s-a apelat inclusiv la <strong>de</strong>scoperiri arheologice, la distingerea<br />
diferitelor tipuri <strong>de</strong> ceramică (ro<strong>şi</strong>e <strong>şi</strong> cenu<strong>şi</strong>e), la analiza stilului <strong>de</strong> construcŃie a<br />
bisericilor (romanic, mai vechi, sau gotic, mai nou), sau la tipul <strong>de</strong> construcŃie al<br />
caselor coloniştilor (<strong>de</strong> tip francon sau saxon, "fränkisch", "sächsisch"). În unele<br />
documente păstrate acolo <strong>de</strong> un<strong>de</strong> au plecat aceşti colonişti se spune doar că au<br />
407
plecat în Ungaria, <strong>de</strong> multe ori însă nu se ştie dacă au ajuns în Transilvania sau sau<br />
stabilit pe teritoriul Ungariei <strong>de</strong> astăzi.<br />
O altă latură pe care am abordat-o în întreprin<strong>de</strong>rea <strong>de</strong> faŃă este cea privitoare la<br />
cuvintele <strong>de</strong> origine franceză din germană, care au intrat prin intermediul<br />
dialectelor germane vorbite la noi în română. Majoritatea coloniştilor germani<br />
strămutaŃi la noi provine din teritoriile <strong>de</strong> vest ale spaŃiului lingvistic german <strong>şi</strong><br />
vorbea dialecte germane în care elementele <strong>de</strong> origine franceză au o pon<strong>de</strong>re<br />
numerică foarte însemnată. Pe lângă elementele lexicale vechi <strong>de</strong> origine<br />
franceză, din aceste dialecte germane, vestice, trebuie să le amintim <strong>şi</strong> pe cele mai<br />
noi, intrate în urma unei puternice influenŃe exercitate <strong>de</strong> limba franceză, văzută ca<br />
mo<strong>de</strong>l, asupra germanei literare.<br />
De situaŃia din limba germană ne-am folosit <strong>şi</strong> atunci când, în cazul unor cuvinte,<br />
aceasta prezintă o evoluŃie "logico-semantică paralelă" cu cea din română, pentru<br />
a stabili originea unor cuvinte cum ar fi păcăli sau pic (v. infra). În aceste ca<strong>zur</strong>i nu<br />
este vorba <strong>de</strong> o influenŃă germană asupra limbii române, ci <strong>de</strong> structuri logicoformale<br />
ajutătoare.<br />
Am insistat mai mult asupra informaŃiilor privitoare la dialectele săseşti din<br />
Transilvania, <strong>de</strong>oarece dialectele germane "şvăbeşti" vorbite în Banat nu pun atât<br />
<strong>de</strong> multe probleme pentru specialişti.<br />
Bibliografie, sigle <strong>şi</strong> abrevieri<br />
AUT = Analele UniversităŃii <strong>de</strong> Vest din Timişoara<br />
bair. = bairisch<br />
bav. = bavarez<br />
Bin<strong>de</strong>r, Stefan, ContribuŃii la studiul elementelor germane în lexicul graiurilor<br />
populare româneşti, I, II, III, IV. In: AUT, Seria ŞtiinŃe Filologice, III (1965), IV<br />
(1966),V (1967), VI (1968), p. 103-123; 221-247; 49-73; 189-203.<br />
CADE = Candrea, Ion Aurel, DicŃionarul enciclopedic ilustrat “Cartea<br />
românească”, Bucureşti, 1931.<br />
Capesius, Bernhard, Soziologische Aspekte im Siebenbürgisch-Sächsischen. In:<br />
Helmut Kelp (coord.), Germanistische Linguistik in Rumänien. 1958-1983,<br />
Bucureşti, 1993, p. 124-134.<br />
I<strong>de</strong>m, Wesen und Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Siebenbürgisch-Sächsischen. In: Helmut Kelp<br />
(coord.), op. cit, p. 56-81.<br />
Crössmannn-Osterloh, Helga, Die <strong>de</strong>utschen Einflüsse auf das Rumänische,<br />
Tübingen, 1985.<br />
Cujbă, Cornelia, InfluenŃa limbii germane asupra vocabularului limbii române<br />
literare contemporane, Rezumatul tezei <strong>de</strong> doctorat, Universitatea "Al. I. Cuza"<br />
Ia<strong>şi</strong>, 1988.<br />
I<strong>de</strong>m, Promotori ai elementului german în Moldova. In: Beiträge <strong>zur</strong> Geschichte<br />
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DGR = DicŃionar român-german, ed. a II-a revăzută <strong>şi</strong> îmbogăŃită, coord. Mihai<br />
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DRG = DicŃionar german-român, Mihai Isbăşescu, M. Iliescu (coord.), ed. a II-a,<br />
revăzută <strong>şi</strong> îmbogăŃită, Bucureşti, 1989.<br />
408
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bănăŃean, vol. I-IV, Timişoara, 1985-1988.<br />
dtv – Atlas <strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Sprache, elaborat <strong>de</strong> Werner König, ed. a 11-a,<br />
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1961. Ed. revizuită, Leipzig, 1965 ş. u.<br />
ELS I = Wörterbuch <strong>de</strong>r Elsässischen Mundarten, prelucrat <strong>de</strong> E. Martin <strong>şi</strong> H.<br />
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Frings, Theodor, Grundlegung einer Geschichte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, ed. a<br />
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I<strong>de</strong>m, „Sprache und Geschichte“, I-III. In: Mittel<strong>de</strong>utsche Studien, nr. 16, 17, 18,<br />
revistă editată <strong>de</strong> Th. Frings <strong>şi</strong> K. Bischoff, Halle (Saale), 1956.<br />
Gehl, Hans, Pur<strong>de</strong>la Sitaru, Maria (coordonatori), Interferenzen in <strong>de</strong>n Sprachen<br />
und Dialekten Südosteuropas. In: Materialien. Heft 4, Tübingen, 1994.<br />
germ. dial. = germanul dialectal<br />
germ. lit. = germanul literar<br />
IoniŃă/Gehl = IoniŃă, Vasile, Gehl, Hans, „Ethnographische <strong>de</strong>utsche Entlehnungen<br />
in <strong>de</strong>n Banater rumänischen Mundarten“. In: Zeitschrift für Dialektologie und<br />
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Irimescu, Ileana, Câteva contribuŃii privind influenŃa limbii române asupra graiurilor<br />
şvăbeşti din Banat. In: Gheorghe I. Tohăneanu 70, Timişoara, 1995, p. 251-255.<br />
I<strong>de</strong>m, Două împrumuturi <strong>de</strong> origine germană din Banat. In AUT, Seria ŞtiinŃe<br />
Filologice, XXXIII, 1995, p. 167-171.<br />
Kelp, Bernhard (coord.), Germanistische Linguistik in Rumänien. 1958-1983,<br />
Bucureşti, 1993.<br />
Kisch, Gustav, Germanische Kontinuität in Siebenbürgen, Jena, Leipzig, 1936.<br />
Klaster-Ungureanu, Grete, Luthers Sprache in Siebenbürgen. In: Helmut Kelp<br />
(coord.), op. cit., p. 303-317.<br />
Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, ed. a<br />
23-a, revizuită <strong>de</strong> Elmar Seebold, Berlin/New York, 1995.<br />
Kottler, Peter, Sprachliche Kennzeichnung <strong>de</strong>r Banater Deutschen. In: Hans Gehl,<br />
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I<strong>de</strong>m, Die Deklination <strong>de</strong>s Adjektivs in <strong>de</strong>n Banater Mundarten mit vorwiegend<br />
westmittel<strong>de</strong>utschem Gepräge. In: AUT, Seria ŞtiinŃe Filologice, XI (1973), p. 31-<br />
50.<br />
I<strong>de</strong>m, Die Grundformen <strong>de</strong>s Verbs in <strong>de</strong>n Banater Mundarten rhein- und<br />
moselfränkischer Prägung, Timişoara, TUT, 1977.<br />
Krauß, Friedrich, Wörterbuch <strong>de</strong>r nordsiebenbürgischen Handwerkssprachen,<br />
Siegburg, 1957.<br />
LR = Limba română<br />
Lothr. = Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-lothringischen Mundarten, prelucrat <strong>de</strong><br />
Michael Ferdinand Follmann, Leipzig, 1909.<br />
LUX I = Luxemburger Wörterbuch, vol. I-V, Luxemburg, 1950-1977.<br />
Mihăilă, DLRV = Mihăilă, G., DicŃionarul limbii române vechi.<br />
Nordsieb. I = Nordsiebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch, fondat Friedrich<br />
Krauß, redactat <strong>de</strong> Gisela Richter, vol. I Köln <strong>şi</strong> Viena, 1986 ş. u.<br />
Paul, Hermann, Mittelhoch<strong>de</strong>utsche Grammatik, ediŃia a 21-a revãzutã <strong>de</strong> Hugo<br />
409
Moser <strong>şi</strong> Ingeborg Schröbler, Tübingen, 1975.<br />
Pfälz. I = Pfälzisches Wörterbuch, 6 vol., fondat <strong>de</strong> Ernst Christmann, redactat <strong>de</strong><br />
Julius Krämer, Post, Rudolf, Josef Schwing, Sigrid Bingenheimer, Wiesba<strong>de</strong>n /<br />
Stuttgart, vol. I (A-B/P) 1965-1997.<br />
Post, Rudolf, Pfälzisch. Einführung in eine Sprachlandschaft, Landau/Pfalz,<br />
1992.<br />
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Diatopische, diachrone und diastratische Untersuchungen <strong>zur</strong> sprachlichen<br />
Interferenz am Beispiel <strong>de</strong>s landwirtschaftlichen Sachwortschatzes,<br />
Wiesba<strong>de</strong>n, 1982.<br />
Puşcariu, Sextil, Limba română, vol. I, Privire generală, prefaŃă <strong>de</strong> G. Istrate,<br />
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REW = Meyer-Lübke, Wilhelm, Romanisches Etymologisches Wörterbuch, ed.<br />
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Rhein. I = Müller, Josef, Rheinisches Wörterbuch, vol. I, Bonn, 1928.<br />
rheinfr. = rheinfränkisch<br />
Ringseis, Franz, Neues Bayerisches Wörterbuch, ed. a 3-a, München, 1994.<br />
săs. = săsesc<br />
Schirmunski, Viktor, Deutsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Berlin, 1962.<br />
Schmeller = Schmeller, Andreas, Bayerisches Wörterbuch, 4 vol., Tübingen<br />
1827, 1828, 1836, 1837. Reprint 1985.<br />
Schützeichel, Rudolf, Die Grundlagen <strong>de</strong>s westlichen Mittel<strong>de</strong>utschen,<br />
Tübingen, 1976.<br />
Sieb-sächs = Siebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch, vol. I-II prelucrate <strong>de</strong><br />
Adolf Schullerus ş. a., Berlin/Leipzig, 1924-1926; vol. III-V prelucrate <strong>de</strong> Gisela<br />
Richter, Anneliese Thudt ş. a., Berlin/Bucureşti, 1971-1975; fasc. 1-2 din vol. V<br />
prelucrate <strong>de</strong> Johann Roth, Friedrich Krauß ş. a., Berlin/Leipzig, 1929-1931.<br />
WBÖ = Wörterbuch <strong>de</strong>r Bairischen Mundarten in Österreich, editat <strong>de</strong> Viktor<br />
Dollmayr <strong>şi</strong> Eberhard Kranzmayer, Viena, 1963 ş. u.<br />
Wiesinger, Peter, Raffin, Elisabeth, în colab. cu Gertrau<strong>de</strong> Voigt, Bibliographie<br />
<strong>zur</strong> Grammatik <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Dialekte. Laut-, Formen-, Wortbildungs- und<br />
Satzlehre, Berna, Frankfurt pe Main, 1982.<br />
Wolf, Johann, Banater <strong>de</strong>utsche Mundartenkun<strong>de</strong>, Bucureşti, 1987.<br />
410
SIGRID HALDENWANG<br />
HERMANNSTADT<br />
Die Verständigungsmittel <strong>de</strong>r siebenbürgisch-sächsischen<br />
Nachbarschaftsgemeinschaft: „Zeichen“, „Nachbarzeichen“,<br />
„Nachbarstab“, „Nachbarschaftstäfelchen“<br />
Zur Erläuterung dieser Verständigungsmittel sollen im folgen<strong>de</strong>n zunächst die<br />
Begriffe „Nachbar“ und „Nachbarschaft“ <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Das DWB (13: 22-23) 1 gibt <strong>zur</strong> Herkunft und allgemeinen, umgangssprachlichen<br />
Verwendung von Nachbar und Nachbarschaft einen Anhalt. Nachbar geht auf<br />
mittelhoch<strong>de</strong>utsch n â c h b û r <strong>zur</strong>ück, das sich aus „nach“, d.h. <strong>de</strong>m Adverb<br />
„nahe“ und b û r , d.h. „Bauer“, also <strong>de</strong>r „nahe Bauer“ zusammensetzt. Das Wort<br />
bezeichnete in seiner ursprünglichen sozialen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>njenigen, „<strong>de</strong>ssen<br />
Haus o<strong>de</strong>r Wohnung angrenzt o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Nähe eines an<strong>de</strong>ren ist, oft gra<strong>de</strong>zu <strong>de</strong>n<br />
Nächsten“, <strong>de</strong>n „Gemein<strong>de</strong>angehörigen, Mitnachbarn, convicaneus“, „<strong>de</strong>ssen<br />
Grundstück o<strong>de</strong>r Gut an ein an<strong>de</strong>res angrenzt, Feld-, Garten-, Gutsnachbarn“, „<br />
<strong>de</strong>n Angrenzer an einen Ort, an ein Land“, „<strong>de</strong>r einem nahe steht, <strong>de</strong>ssen Nächster<br />
und Freund ist“.<br />
Die Verbindung <strong>de</strong>r Nachbarn miteinan<strong>de</strong>r ist die Nachbarschaft. Das Wort wird<br />
gebraucht für „die Gesamtheit <strong>de</strong>r Nachbarn in einem Orte o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Umgegend,<br />
sodann auch die von <strong>de</strong>nselben bewohnte naheliegen<strong>de</strong> Gegend, das Verhältnis<br />
<strong>de</strong>r Nachbarn zueinan<strong>de</strong>r und die damit verbun<strong>de</strong>nen Pflichten“ und schließlich<br />
„das gegenseitige Nahesein, die nahe Beziehung, örtlich und verwandtschaftlich“<br />
DWB (13: 27f.); vgl. auch Du<strong>de</strong>n (8. 2333) 2 .<br />
In diesen verschie<strong>de</strong>nen Be<strong>de</strong>utungen kehren zum einen die räumliche Nähe und<br />
zum an<strong>de</strong>ren die sozialen Beziehungen <strong>de</strong>r Nebeneinan<strong>de</strong>rwohnen<strong>de</strong>n als zwei<br />
zusammengehören<strong>de</strong> Dimensionen <strong>de</strong>s Begriffes Nachbarschaft wie<strong>de</strong>r (vgl.<br />
SCHUBERT 1980: 17) 3 .<br />
Wir wollen auf <strong>de</strong>n sozialen Aspekt <strong>de</strong>r siebenbürgisch-sächsischen Nachbarschaft<br />
näher hinweisen:<br />
Die Nachbarschaft dient <strong>de</strong>m Zweck, gegenseitige Selbsthilfe <strong>de</strong>r Nachbarn zu<br />
1 DWB = Deutsches Wörterbuch. 33 Bän<strong>de</strong>. Leipzig 1991. Fotomechanischer Nachdruck<br />
<strong>de</strong>r Erstausgabe, hrsg. und bearb. von Jakob und Wilhelm GRIMM. Leipzig 1854. (In run<strong>de</strong>r<br />
Klammer Bandangabe, nach Doppelpunkt folgt Seitenangabe).<br />
2 DUDEN – Das große Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache. Hrsg. und bearb. von Günter<br />
DROSDOWSKI [u.a.]. 2. Aufl. 8 Bän<strong>de</strong>. Mannheim, Leipzig, Wien 1993.<br />
3 SCHUBERT, Hans-Achim. 1980. Nachbarschaft und Mo<strong>de</strong>rnisierung. Eine historische<br />
Soziologie traditionaler Lokalgruppen am Beispiel Siebenbürgens. Köln. Wien. (=<br />
Studia Transylvanica 6).<br />
411
för<strong>de</strong>rn, nachbarlich-brü<strong>de</strong>rliche Gesinnung zu pflegen, ehrbare evangelische<br />
Lebensführung und gute, sächsische Sitte unter <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>glie<strong>de</strong>rn aufrecht zu<br />
erhalten, <strong>de</strong>n Stolz und die Freu<strong>de</strong> ebenso an <strong>de</strong>m ererbten väterlichen Besitz, wie<br />
an <strong>de</strong>r Zugehörigkeit <strong>zur</strong> Volks- und Kirchengemeinschaft und an <strong>de</strong>r Heimat zu<br />
wecken und zu beleben, überhaupt alle auf die Volkswohlfahrt und Heimatpflege<br />
gerichteten Bestrebungen <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong>n, Vereine und Genossenschaften <strong>de</strong>s<br />
Heimatortes zu för<strong>de</strong>rn (SCHULLERUS 1926: 146-147). 4<br />
SCHULLERUS (1926: 150) <strong>de</strong>utet darauf hin, daß Stephan Ludwig Roth das Wesen<br />
<strong>de</strong>r Nachbarschaft folgen<strong>de</strong>rmaßen umschrieben hat:<br />
Die aus einem Brunnen tranken, Brot aus einem Ofen aßen, die die Nachthut für<br />
einen hielten, die sich die Wohnhäuser aus gemeinschaftlicher Kraft aufrichteten, in<br />
Krankheit und Unglücksfällen <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>r Anverwandten hatten, die endlich auf<br />
<strong>de</strong>rselben Totenbank ruhten, die sich einan<strong>de</strong>r ihre Gräber gruben, eigenhändig<br />
ihre Toten auf <strong>de</strong>n Gottesacker trugen und die letzte traurige Ehre <strong>de</strong>r<br />
Leichenbegleitung als eine Gemeinsamkeit erwiesen, beim Tränenbrot <strong>de</strong>s<br />
Verschie<strong>de</strong>nen Verdienste rühmten und aus nachbarlichem Vermögen und Beruf<br />
für Witwen und Waisen sorgten – diese brü<strong>de</strong>rliche Gesellschaft, durch Örtlichkeit<br />
bezeichnet, nannte sich die ‘Nahen’, die Nachbarschaft.<br />
Aufgrund gründlicher Dokumentation aus geschichtlichen Quellen wird <strong>de</strong>r Begriff<br />
Nachbarschaft im obigen Sinn im Manuskript N, <strong>de</strong>s SSWB 5 wie folgt <strong>de</strong>finiert:<br />
Organisation <strong>de</strong>r Bewohner eines Straßenzuges, Wohnviertels mit <strong>de</strong>r Aufgabe,<br />
anhand festgelegter Vorschriften für die öffentliche Lebensordnung und die<br />
persönliche Betätigung zu sorgen; auch bloß teritorielle Einheit (Mitte 16. Jh.<br />
aufgekommen, heute meist nur noch ländlich, außer Agn, Mb, Schbg).<br />
Im allgemeinen läßt sich <strong>de</strong>r eigentliche Zweck dieser Genossenschaft<br />
<strong>zur</strong>ückführen auf:<br />
- gegenseitige Hilfeleistung in Freu<strong>de</strong> und Leid;<br />
- Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r öffentlichen bürgerlichen Ordnung und Sicherheit;<br />
- Pflege <strong>de</strong>r sittlichen Wohlanständigkeit und ganz beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>s kirchlichen<br />
Sinnes in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>.<br />
Geleitet wird die Nachbarschaft durch <strong>de</strong>n „Nachbarvater“, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r „jüngere<br />
Nachbarvater“ und <strong>de</strong>r „Schreiber“ <strong>zur</strong> Seite stehen. Der Zweck dieser<br />
Genossenschaft läßt sich am genauesten erkennen aus <strong>de</strong>n<br />
Nachbarschaftsgesetzen, die das Verhalten <strong>de</strong>r Nachbarn regeln, <strong>de</strong>n<br />
sogenannten „Artikeln“.<br />
Die Wahl <strong>de</strong>r Beamten, die Austragung von Streitigkeiten, die Bestrafung für<br />
erwiesene Pflichtversäumnis gemäß <strong>de</strong>n genauen Bestimmungen <strong>de</strong>r<br />
Nachbarschaftsartikel erfolgt auf <strong>de</strong>m jährlich, meist zum Fasching abgehaltenen<br />
4 SCHULLERUS, Adolf. 1926. Siebenbürgisch-sächsische Volkskun<strong>de</strong> im Umriß. Leipzig.<br />
5 SSWB = Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch. Band 1 (A-C) bearb. von<br />
Adolf SCHULLERUS, Band 2 (D-F) bearb. von Adolf SCHULLERUS, Friedrich<br />
HOFSTÄDTER, Georg KEINTZEL; Berlin und Leipzig 1924, 1926 (in einzelnen<br />
Lieferungen schon ab 1908). Band 5 [R-Salarist: alte Zählung] bearb. von Johann<br />
ROTH, Gustav GÖCKLER, Berlin und Leipzig 1929-1931. Weitergeführt von einem<br />
Wörterbuchkollektiv: Band 3 (G), Band 4 (H-J), Band 5 [neue Zählung] (K). Berlin,<br />
Bukarest 1971-1975. Band 6 (L) Bukarest, Köln, Weimar, Wien 1993. Band 7 (M)<br />
Bukarest, Köln, Weimar, Wien 1998. (Wird fortgesetzt).<br />
412
„Richttag“ (Sittag). Die Nachbarschaftsartikel, die Strafgel<strong>de</strong>r und sonstiger Besitz<br />
<strong>de</strong>r Nachbarschaft wer<strong>de</strong>n in einer meist hölzernen Truhe, <strong>de</strong>r Nachbarschaftsla<strong>de</strong><br />
aufbewahrt, die <strong>de</strong>r alte Nachbarvater in Verwahrung hat. Soweit die Mittel reichen,<br />
wer<strong>de</strong>n auch die Kosten <strong>de</strong>s unfehlbar an <strong>de</strong>n Richttag sich anschließen<strong>de</strong>n<br />
Nachbarschaftsmahles, samt <strong>de</strong>n sonstigen Lustbarkeiten bestritten.<br />
In die Nachbarschaft richten sich die jungen Ehepaare durch Abgabe einer kleinen<br />
Gebühr bald nach <strong>de</strong>r Hochzeit ein. Es ist natürlicher Zwang, daß je<strong>de</strong>s Ehepaar,<br />
überhaupt je<strong>de</strong>s hinzukommen<strong>de</strong> Mitglied es tun muß. So heißt es in einem Artikel<br />
<strong>de</strong>r Heiligleichnamsgasse, Kronstadt 1606:<br />
Wer sich <strong>de</strong>n Anordnungen <strong>de</strong>r Nachbarschaft nicht fügt, soll solange <strong>de</strong>rselben<br />
müßig gehen, bis er in <strong>de</strong>n Willen kommt.<br />
Der Nachbarschaft „müßig gehen“ aber sei so viel als<br />
<strong>de</strong>s Brunnens, <strong>de</strong>s Backhauses und <strong>de</strong>s Baches, <strong>de</strong>r eigenen Feuerstelle<br />
entbehren zu müssen.<br />
Die Verständigungsmittel, die innerhalb einer Nachbarschaft im Umlauf waren,<br />
befan<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r Verwahrung <strong>de</strong>s alten Nachbarvaters bzw. <strong>de</strong>s<br />
Nachbarhannen und wur<strong>de</strong>n ursprünglich mit <strong>de</strong>r mündlichen Anordung <strong>de</strong>s<br />
Nachbarhannen später in Begleitung <strong>de</strong>r geschriebenen o<strong>de</strong>r gedruckten<br />
Verlautbarung von Nachbar zu Nachbar geschickt (vgl. MÜLLER 1985: 132) 6 .<br />
Das „Nachbarzeichen“ war meist ein herzförmiges, oft mit Schnitzereien verziertes<br />
Holzstück (etwa 21 – 26 cm lang). Um <strong>de</strong>n Zweck dieses Vertsändigungmittels zu<br />
ver<strong>de</strong>utlichen, bringen wir folgen<strong>de</strong>s Zitat:<br />
Soll eine Versammlung <strong>de</strong>r Nachbarschaft einberufen, eine Arbeit angesagt, eine<br />
Anordnung <strong>de</strong>s Nachbarvaters von Haus zu Haus in Umlauf gesetzt wer<strong>de</strong>n, so<br />
wird das Nachbarzeichen zugleich mit <strong>de</strong>r mündlichen Anordnung <strong>de</strong>s<br />
Nachbarvaters von Haus zu Haus in Umlauf gesetzt und muß ohne Ruhe und Rast<br />
in vorgeschriebenem Lauf durch die Nachbarschaft gehen und wie<strong>de</strong>r zum<br />
Nachbarvater <strong>zur</strong>ückkehren. Damit Unordungen im Lauf und Entstellungen <strong>de</strong>s<br />
mündlich mitgehen<strong>de</strong>n Auftrages vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, soll es stets durch<br />
zuverlässige Personen von Haus zu Haus getragen wer<strong>de</strong>n (FRONIUS 1879: 111-<br />
112) 7 .<br />
Gegen die nicht zeitgerechte sowie gegen die unrichtige Übermittlung <strong>de</strong>r<br />
Nachrichten mittels <strong>de</strong>s Nachbarzeichens wur<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rholt Strafen angedroht. In<br />
<strong>de</strong>r siebenbürgischen Urkun<strong>de</strong>nsprache 8 und im Südsiebenbürgischen tritt das<br />
Wort zunächst als Simplex (als Maskulinum o<strong>de</strong>r Neutrum) auf: „welcher meyster<br />
das c z e c h e n nit snell weg send als pald es zw Im kumpt vnd lest es lygen, <strong>de</strong>r<br />
selbig sal /bestraft wer<strong>de</strong>n/“ (MÜLLER 1973: 102) 9 ; „welichem Mester <strong>de</strong>s<br />
6 MÜLLER, Georg Eduard. 1985. Stühle und Distrikte als Unterteilungen <strong>de</strong>r Siebenbürgisch-<br />
Deutschen Nationsuniversität 1141-1876. Fotomechanischer Nachdruck. Köln. Wien.<br />
7 FRONIUS, Fr(anz) Fr(iedrich). 1879. Bil<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m sächsischen Bauernleben in<br />
Siebenbürgen. Ein Beitrag <strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Culturgeschichte. Wien.<br />
8 Die <strong>de</strong>utsche Sprache in siebenbürgischen Quellen vom 13. bis Mitte <strong>de</strong>s 19. Jh.<br />
9 MÜLLER, Friedrich. 1973. Deutsche Sprach<strong>de</strong>nkmäler aus Siebenbürgen. Aus<br />
schriftlichen Quellen <strong>de</strong>s zwölften bis sechzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts. Hermannstadt 1864.<br />
Unverän<strong>de</strong>rter Neudruck. Walluf bei Wiesba<strong>de</strong>n.<br />
413
C z e c h e n n kompt, das er czw eyner leych /Beerdigung/ komen sol, vnnd kompt<br />
nit ... vorbüst eynn pfünt was“ (MÜLLER 1973: 172); „Der Weber hat auch viel in <strong>de</strong>r<br />
Nachparschafft mit betrügerey aufgesetzet /Aufsehen erregt/, also das wir auch<br />
<strong>de</strong>n Z e i c h e n bey im vorhin geschickt haben etlig mahl“ (1605, Arch.) 10 . Für die<br />
Mundart lassen wir einige Beispiele sprechen: „Das Rechts-Symbol, Wappen <strong>de</strong>r<br />
Nachbarschaft, mit <strong>de</strong>m mündliche o<strong>de</strong>r schriftliche Mitteilungen von Haus zu Haus<br />
in Umlauf gesetzt wur<strong>de</strong>n, heißt d#r ts$|#n“ (SSWB 2: 439); d#r han let d#t<br />
ts$|#n amgi&n #m s%l m§n (mähen) (Schöbg); <strong>de</strong>r Gruß <strong>de</strong>s eintreten<strong>de</strong>n<br />
Nachbarn in die Zusammenkunft <strong>de</strong>r Nachbarschaft lautet: #t äs #s b#kunt, wä d#r<br />
tsei|#n geräf#n h%t, #t seil sij # j§t g§t n§b#r hä äštal#n än <strong>de</strong>s#r §w#ntštÆn y d –<br />
#si štal#n i| mij u³ än, #n bid#n men y ts§konft sÇl e| ug#n§m ox g#fali| sin y (D-<br />
Wk).<br />
Für das Kompositum bringen wir folgen<strong>de</strong> Belege: „So <strong>de</strong>r Nachbarhan außschickt<br />
<strong>de</strong>r N a c h b a r z e i c h e n vnnd dasselbich bei ieman<strong>de</strong>n ferdret wirdt ... <strong>de</strong>r<br />
verfelt d. 10“ (1563, V.A. 20, 132) 11 ; m#r hu ne@ @s# g#w§nli|#n n%b#rts$|#n<br />
#ramg#šekt (Bod); d#r nib#rts$$|# räft af nib#rš#fszÆrb#t (Hamr); iän #r j§d#r<br />
nî#b#rš#ft iäs #n nî#b#rtsii|#n, iint#n /eines/ wa #n harts, iousz hîults, miäd #r<br />
räµk /Ring/ î#w#n (oben) ts#m #rwuaš#n (Lesch); d#r nî#b#rf%t#r šakt d#t<br />
nî#b#rtsii|#, wun iäszt iäsz: fî#r #n uÆrb#d o³ un d# fei#rt@j#n am d# kir| sî#n<br />
(Lesch); d#t nøb#rtsei|# geid am /wird umher geschickt/ w$ f#rgäszt d#t<br />
nøb#rtsei|# fürtts#drøn, wirt b#štrøft (Zied).<br />
Für Südsiebenbürgen ist mundartlich auch <strong>de</strong>r Nachbarstab belegt. Es ist ein<br />
Holzstab, <strong>de</strong>r als To<strong>de</strong>sanzeige in <strong>de</strong>r Nachbarschaft weitergereicht wur<strong>de</strong>: d#r<br />
niub#rštÇf g#id am, wu#n iem#szt g#štu#rw#n iäsz, miat d§m tierw #m nied iän<br />
d# štuf giun, #m miesz d§n gle| we y t#rdriun (weitertragen) (Jdf/Agn).<br />
Das „Täfelchen“ und das Kompositum dazu Nachbarschaftstäfelchen sind nur für<br />
Nordsiebenbürgen mundartlich bezeugt. So heißt es in einer Leichenordnung <strong>de</strong>s<br />
19. Jahrhun<strong>de</strong>rts: „Endlich hat die Anmeldung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>sfalles auch beim<br />
Nachbarvater zu erfolgen, <strong>de</strong>r zu gelegener Tageszeit ‘d#t t§f#lt|i’ mit <strong>de</strong>r<br />
Umsage in <strong>de</strong>r Nachbarschaft in Umlauf setzt (O-Neudf); i| hu d#t<br />
n%b#ršÆtst§f#lt|i ts#m n%b#r g#dr% (B, NSSWB: 4, 9) 12 .<br />
Einen einzigen Beleg für <strong>de</strong>n Begriff Tafelzeichen bringt TRÖSTER (1666: 208-<br />
209) 13 :<br />
10<br />
Nationalarchiv Hermannstadt (früher Archiv <strong>de</strong>r Stadt Hermannstadt und <strong>de</strong>r<br />
Nationsuniversität).<br />
11<br />
Archiv <strong>de</strong>s Vereins für siebenbürgische Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>. Neue Folge. 50 Bän<strong>de</strong>. Band 1-9<br />
Kronstadt 1853-1871, Band 10-49 Hermannstadt 1872-1938, Band 50 Hermannstadt und<br />
Bistritz 1941-1944.<br />
12<br />
NSSWB = Nordsiebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch. Band 1 (A-C) von Friedrich<br />
KRAUSS, bearb. von Gisela RICHTER. Köln, Wien 1986. Band 2 (D-G) von Gisela RICHTER<br />
aufgrund <strong>de</strong>r nachgelassenen Sammlungen von Friedrich KRAUSS. Köln, Wien 1990. Band 3<br />
(H-M), Band 4 (N-Sch) von Gisela RICHTER unter Mitarbeit von Helga FESSLER, aufgrund <strong>de</strong>r<br />
nachgelassenen Sammlungen von Friedrich KRAUSS. Köln, Weimar, Wien 1993, 1995. (Wird<br />
fortgesetzt).<br />
13 TRÖSTER, Johannes. 1666. Das Alt- und Neu Teutsche Dacia. Das ist: Neue<br />
Beschreibung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Siebenbürgen. Nürnberg.<br />
414
Wenn nun <strong>de</strong>r Raht etwas in die gantze Stadt ausgebieten will, låsst er nur diese<br />
Centuriones beruffen, <strong>de</strong>rer <strong>de</strong>nn ein je<strong>de</strong>r an einem h£ltzern T a f f e l -<br />
Z e i c h e n einen Ze<strong>de</strong>l, darauf <strong>de</strong>s Befehls Innhalt geschrieben ist, zum nåhsten<br />
Nachbar schicket, so gehet dasselbe in einem paar Stun<strong>de</strong>n von Haus zu Haus die<br />
gantze Stadt um.<br />
Er bezieht sich auf die städtischen Nachbarschaften und gibt dazu einige<br />
Erläuterungen. Die Bürgerschaft in <strong>de</strong>n Städten wird von einem innern und ewigen<br />
Rat von 12 Herren und einem äußeren Rat, von 100 Männern regiert. In <strong>de</strong>m<br />
innersten Rat sind die Vornehmsten, d.h. <strong>de</strong>r Königsrichter, <strong>de</strong>r Bürgermeister, <strong>de</strong>r<br />
Stuhlsrichter und <strong>de</strong>r Stadthahn. Der äußere Rat hat seinen Tribunum plebis, die<br />
ganze Stadt ist in Centurias, o<strong>de</strong>r Nachbarschaften eingeteilt, die je<strong>de</strong> ihren<br />
Centurionem o<strong>de</strong>r Nachbarhannen über sich hat. Die Aufgabe <strong>de</strong>r Nachbarhannen<br />
ist es eine Mitteilung in Umlauf zu bringen.<br />
Nachbarschaft ist keineswegs ein spezifisch germanisches o<strong>de</strong>r europäisches<br />
Phänomen, son<strong>de</strong>rn sie bil<strong>de</strong>t sich vielmehr typischerweise auf einer bestimmten<br />
Stufe <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse. In <strong>de</strong>r Soziologie sind<br />
aufgrund <strong>de</strong>s Gra<strong>de</strong>s sozialer Differenzierung Gesellschaftstypen unterschie<strong>de</strong>n<br />
wor<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>ren Hilfe SCHUBERT (1980: 3ff.) <strong>de</strong>n sozialen Ort von Nachbarschaft<br />
von außen her allgemein zu bestimmen versucht.<br />
SCHUBERT (1980: 29-31) <strong>de</strong>utet darauf hin, daß die beson<strong>de</strong>ren Ausprägungen <strong>de</strong>r<br />
siebenbürgisch-sächsischen Nachbarschaft wohl auf ursprüngliche fränkische<br />
Formen <strong>zur</strong>ück gehen, aber <strong>de</strong>nnoch die wesentlichen Züge <strong>de</strong>s „universalen“<br />
Typs <strong>de</strong>r Nachbarschaftsgemeinschaft tragen. Er belegt diese Behauptung mit<br />
Querverweisen auf asiatische und europäische Parallelformen.<br />
Da die angeführten Verständigungsmittel <strong>de</strong>r siebenbürgisch-sächsischen<br />
Nachbarschaftsgemeinschaft im DWB und im Rhein. Wb. 14 nicht belegt sind,<br />
nehmen wir an, daß es <strong>de</strong>n Siebenbürger Sachsen eigene Verständigungsformen<br />
sind, die situationsbedingt im Laufe <strong>de</strong>r Zeit entstan<strong>de</strong>n sind.<br />
ZUR LAUTSCHRIFT<br />
Die Lautschrift ist an <strong>de</strong>r „Teuthonista“ (Zeitschrift für <strong>de</strong>utsche Dialektforschung<br />
und Sprachgeschichte. Hrsg. von Hermann TEUCHERT. Halle 1924 bis 1934)<br />
orientiert.<br />
I. VOKALE<br />
Die Lautung <strong>de</strong>r Vokale entspricht im allgemeinen <strong>de</strong>r hochsprachlichen, kleine<br />
Unterschie<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Schreibung nicht berücksichtigt.<br />
Abweichend von <strong>de</strong>r Schriftsprache sind zu lesen:<br />
ei = e – i<br />
ie = i – e<br />
14 Rhein. Wb. = Rheinisches Wörterbuch. 9 Bän<strong>de</strong>. Band 1-6 bearb. und hrsg. von Josef<br />
MÜLLER, Band 7, 8 unter Mitarbeit von Matthias ZENDER und Heinrich DITTMAIER, hrsg. von<br />
Karl MEISEN, Band 9 nach <strong>de</strong>n Vorarbeiten von Josef MÜLLER bearb. von Heinrich DITTMAIER.<br />
Band 1 Bonn 1928; Band 2-9 Berlin 1931-1971.<br />
415
oe = o – e<br />
ue = u – e<br />
Kürze wird nicht bezeichnet; Länge durch darübergesetzten gera<strong>de</strong>n Strich (@);<br />
Nasalisierung durch darübergesetzte kleine Til<strong>de</strong> (ã).<br />
Beson<strong>de</strong>re Lautzeichen:<br />
Æ dumpfes a<br />
e offenes e<br />
î geschlossener Mittelgaumenlaut ohne Lippenrundung<br />
Ñ offenes o<br />
× offenes ö<br />
# Murmel-e (auch in betonten Silben)<br />
II. KONSONANTEN<br />
p, t, k meist nicht behauchte Fortes<br />
b, d, g stimmhafte Lenes<br />
| stimmloser Ich-Laut<br />
j stimmhafter Ich-Laut<br />
y stimmhafter Ach-Laut<br />
x stimmloser Ach-Laut<br />
s stimmhafter S-Laut<br />
sz stimmloser S-Laut<br />
² stimmhafter Sch-Laut<br />
š stimmloser Sch-Laut<br />
ts hoch<strong>de</strong>utsches z<br />
µ Gutturalnasal ng<br />
Liste mit <strong>de</strong>n abgekürzten siebenbürgisch-sächsischen Ortsnamen<br />
Agn = Agnetheln, Kreis Hermannstadt;<br />
B = Bistritz, Kreis Bistritz-Nassod;<br />
Bod = Bo<strong>de</strong>ndorf, Kreis Kronstadt;<br />
D-Wk = Deutsch-Weißkirch, Kreis Kronstadt;<br />
Hamr = Hamru<strong>de</strong>n, Kreis Kronstadt;<br />
Jdf/Agn = Jakobsdorf/Agnetheln, Kreis Hermannstadt;<br />
Lesch = Leschkirch, Kreis Hermannstadt;<br />
Mb = Mühlbach, Kreis Alba;<br />
O-Neudf = Oberneudorf, Kreis Bistritz-Nassod;<br />
Schbg = Schäßburg, Kreis Mureş.<br />
Zied = Zied, Kreis Hermannstadt.<br />
416
CSILLA – ANNA SZABÓ<br />
GROSSWARDEIN<br />
Sprachkontaktphänomene im sathmarschwäbischen Dorf<br />
Petrifeld<br />
Sprachliche Kontaktsituationen kommen als Folge <strong>de</strong>s Nebeneinan<strong>de</strong>rstehens von<br />
zwei o<strong>de</strong>r mehreren Sprachen in Sprachinseln zustan<strong>de</strong>. Der Begriff<br />
Sprachkontakt ist in <strong>de</strong>r Soziolinguistik durch Uriel Weinreich bekannt gewor<strong>de</strong>n.<br />
Im Sinne von Weinreich bezeichnet man zwei o<strong>de</strong>r mehrere Sprachen als<br />
miteinan<strong>de</strong>r in Kontakt stehend, wenn sie von <strong>de</strong>nselben Personen abwechselnd<br />
gebraucht wer<strong>de</strong>n 1 . Diese Verwendung von mehreren Sprachen führt dann zu<br />
Sprachkontakt- und Sprachwan<strong>de</strong>lphänomenen und nicht zuletzt zum Umschalten<br />
von einer Sprache <strong>zur</strong> an<strong>de</strong>ren (co<strong>de</strong>-switching). Je häufiger umgeschaltet wird,<br />
<strong>de</strong>sto fortgeschrittener ist die Assimilation.<br />
Sprachkontakt impliziert nicht unbedingt einen Sprachkonflikt. Sprachkonflikte sind<br />
meist das Ergebnis von politischen, wirtschaftlichen o<strong>de</strong>r soziokulturellen Gewalt-<br />
und Machtstrukturen, die einer kleineren, bzw. schwächeren Sprach- und<br />
Kulturgemeinschaft von einer stärkeren auferlegt wer<strong>de</strong>n, wobei auch<br />
Sprachzwänge auftreten 2 . Die Konfliktsituation besteht somit im unfreiwilligen<br />
Charakter <strong>de</strong>r Sprach- bzw. Kulturübernahme. Sprachphänomene wie<br />
Mehrsprachigkeit und Diglossie sind nicht als Folge einer natürlichen historischen<br />
Entwicklung anzusehen, son<strong>de</strong>rn in erster Linie als ein Ergebnis von<br />
Sprachdominanz, Sprachzwang und somit Sprachkonflikt.<br />
Das Umschalten von einer Sprache <strong>zur</strong> an<strong>de</strong>ren ist für weitere zwei sprachliche<br />
Phänomene verantwortlich, u.zw. für Sprachbewahrung (language maintenance)<br />
und/o<strong>de</strong>r für Sprachwechsel (language shift) und Sprachverlust (language loss).<br />
Unter Sprachbewahrung wird die Erhaltung <strong>de</strong>r Sprache auch unter verän<strong>de</strong>rten<br />
sozialen Bedingungen verstan<strong>de</strong>n 3 . Der Wechsel <strong>de</strong>r Sprache ergibt sich auch als<br />
Reaktion auf die sozialen Verän<strong>de</strong>rungen. Sind zwei Sprachen für eine längere<br />
Zeitspanne in Kontakt, dann kommt es vielfach zum sogenannten Sprachwechsel.<br />
Das Phänomen <strong>de</strong>s Sprachwechsels lässt sich bei <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />
Bevölkerungsresten im Sathmarer Gebiet im Nordwesten Rumäniens ein<strong>de</strong>utig<br />
verfolgen. Dies untersuche ich jetzt am Beispiel <strong>de</strong>s sathmarschwäbischen Dorfes<br />
Petrifeld (rum. Petreşti, ung. Mezıpetri). Dabei stütze ich mich im ersten Teil<br />
meiner Analyse auf historische Daten und Tatsachen. Weiterhin sollen hier auch<br />
Teilergebnisse einer soziolinguistischen Untersuchung skizziert wer<strong>de</strong>n, die<br />
1 Weinreich (1977), S. 15.<br />
2 Dirven/Pütz (1996), S. 684.<br />
3 Hartig (1985), S. 118.<br />
417
Aufschluß über neuere sprachgebräuchliche Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen und über<br />
<strong>de</strong>n heutigen Sprachgebrauch in dieser Ortschaft geben.<br />
Historisch betrachtet blicken die Petrifel<strong>de</strong>r Schwaben in diesem Jahr auf eine<br />
bereits 257jährige Geschichte <strong>zur</strong>ück. Petrifeld, an <strong>de</strong>r Landstraße Großwar<strong>de</strong>in –<br />
Sathmar gelegen, zählt zu <strong>de</strong>n letzten <strong>de</strong>utschen Siedlungen <strong>de</strong>s Grafen<br />
Alexan<strong>de</strong>r Károlyi, zugleich aber auch zu <strong>de</strong>n ältesten Siedlungen <strong>de</strong>s Sathmarer<br />
Komitates. Das ursprünglich mit ungarischen Einwohnern bevölkerte Dorf, wie aus<br />
historischen Dokumenten abzuleiten ist, wur<strong>de</strong> im Laufe seiner Geschichte<br />
mehrmals zerstört, so daß im Frühling <strong>de</strong>s Jahres 1740 im Petrifel<strong>de</strong>r<br />
Bo<strong>de</strong>nausweis 26 besetzte und 27 unbesetzte Bauernhöfe registriert wur<strong>de</strong>n 4 . Um<br />
auch in Petrifeld <strong>de</strong>n Grundstein zum wirtschaftlichen Aufschwung zu legen, ließ<br />
Graf Károlyi hier Schwaben ansie<strong>de</strong>ln. Im Gegensatz aber zu <strong>de</strong>n bereits<br />
bestehen<strong>de</strong>n schwäbischen Orten <strong>de</strong>s Komitates Sathmar wur<strong>de</strong> die Gemein<strong>de</strong><br />
Petrifeld nicht von Einwan<strong>de</strong>rern aus <strong>de</strong>r Urheimat, d.h. aus Oberschwaben<br />
gegrün<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn sie entstand vielmehr durch Übersiedlung von bäuerlichen<br />
Familien aus <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren schwäbischen Dörfern <strong>de</strong>s Komitates. Diese Tatsache<br />
belegen viele Familiennamen, die in mehreren sathmarschwäbischen Dörfern<br />
aufzufin<strong>de</strong>n sind, wie z.B. Zumbiel – Czumbil, Demfle – Tempfli, Morent, Fastus,<br />
Jussel, Haller, Schwegler, Kunz, Mannherz u.a. 5 . Die ersten schwäbischen Bauern<br />
kamen im Jahre 1740 und durch die Übersiedlung von weiteren Bauernfamilien vor<br />
allem aus <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>n Fienen, Schinal, Maitingen, Er<strong>de</strong>ed, Kaplan und Bil<strong>de</strong>gg<br />
wur<strong>de</strong> aus Petrifeld bereits 1742 ein schwäbisches Dorf mit 44 schwäbischen<br />
Familien 6 . Es ist urkundlich belegt, daß sich in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren auch<br />
Neuankömmlinge in Petrifeld nie<strong>de</strong>rließen. Gemäß <strong>de</strong>n Pfarrbüchern erhielt die<br />
Gemein<strong>de</strong> während <strong>de</strong>r Besiedlung ebenfalls 38 Einwan<strong>de</strong>rerfamilien direkt aus<br />
Oberschwaben 7 . Wie sich die Gemein<strong>de</strong> während <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Jahre entwickelt<br />
hat, zeigt <strong>de</strong>r bischöfliche Schematismus aus <strong>de</strong>m Jahre 1931, <strong>de</strong>r 897 Einwohner<br />
für das Jahr 1808, 1.455 für das Jahr 1912 und 1.588 für 1930 verzeichnet 8 .<br />
Bezieht man sich auf die angestammte Sprache <strong>de</strong>r Petrifel<strong>de</strong>r Schwaben, so<br />
weist diese Gemein<strong>de</strong> eine schwäbisch-alemannische Mundart 9 auf, die<br />
hauptsächlich mit <strong>de</strong>n im württembergischen Oberschwaben gesprochenen<br />
schwäbischen Mundarten i<strong>de</strong>ntisch ist. Diese schwäbische Mundart war über ein<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt lang die einzige Sprache dieser Sprachgemeinschaft. Die<br />
Einsprachigkeit wur<strong>de</strong> aber in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts aufgelöst.<br />
Die <strong>de</strong>utsche Sprache bzw. die schwäbische Mundart wur<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Schule und<br />
aus <strong>de</strong>m Gotteshaus verdrängt, was zum allmählichen Wechsel zugunsten <strong>de</strong>s<br />
Ungarischen führte. Es kam also zum ersten Mal zu einem Sprachwechsel bei <strong>de</strong>r<br />
Petrifel<strong>de</strong>r schwäbischen Sprachgemeinschaft, wobei die Kirche und die Schule<br />
die wichtigste Rolle übernahmen. Gab es in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 19.<br />
4 Schmied (1972), S. 4; Vonház (1997), S. 124.<br />
5 Merli, Rudolf: ”Mezıpetri 250 éves jubileuma” (II.). In: Szatmári Friss Újság, 16. Oktober<br />
1992, S. 4.; Schmied (1972), S. 5-6.<br />
6 Schmied (1972), S. 4; Vonház (1997), S. 124.<br />
7 Schmied (1972), S. 5.<br />
8 Vonház (1997), S. 200.<br />
9 Berner (1996), S. 219.; Moser (1937), S. 11.<br />
418
Jahrhun<strong>de</strong>rts in <strong>de</strong>r Petrifel<strong>de</strong>r Schule noch <strong>de</strong>utschen bzw. zweisprachigen<br />
(<strong>de</strong>utsch-ungarischen) Unterricht, so wur<strong>de</strong> am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rts die<br />
Zweisprachigkeit im Unterricht ganz eingestellt. Die schwäbischen Kin<strong>de</strong>r mußten<br />
damals die neue Unterrichtssprache von ihren ungarischen und rumänischen<br />
Mitschülern in <strong>de</strong>r Schule o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Straße lernen. Oft haben aber auch die<br />
Eltern zum schnelleren und leichteren Erlernen dieser Sprachen beigetragen,<br />
in<strong>de</strong>m sie diese im engen Familienkreis verwen<strong>de</strong>ten. Trotz dieser Bestrebungen<br />
versuchten die Petrifel<strong>de</strong>r Schwaben die Eigenart in Sprache, Glaube, Sitte und<br />
Brauchtum zu bewahren. Der Anschluß <strong>de</strong>s Sathmarer Siedlungsgebietes im<br />
Jahre 1920 an Rumänien hat positive Einwirkungen auf die Lage <strong>de</strong>s Deutschtums<br />
und auf <strong>de</strong>ssen sprachliche Situation ausgeübt. Die <strong>de</strong>utsche Sprache wur<strong>de</strong> mit<br />
Unterstützung <strong>de</strong>r rumänischen Schulbehör<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r eingeführt, es wur<strong>de</strong> sogar<br />
ein <strong>de</strong>utscher Kin<strong>de</strong>rgarten gegrün<strong>de</strong>t und auch in <strong>de</strong>r Kirche konnte man, dank<br />
einem <strong>de</strong>utschen Kaplan, wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>utsch beten und singen. Auf diese Weise<br />
konnte <strong>de</strong>m Sprachwechsel und <strong>de</strong>r sprachlichen Assimilierung <strong>de</strong>r Petrifel<strong>de</strong>r<br />
Schwaben in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit Einhalt geboten wer<strong>de</strong>n. Diese<br />
Entwicklungsperio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r kulturellen und schulpolitischen Konsolidierung <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen I<strong>de</strong>ntität wur<strong>de</strong> aber dann durch die Rückglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Sathmarer<br />
Gebietes neben Nord- und Westsiebenbürgen, <strong>de</strong>m Marmarosch und <strong>de</strong>m<br />
Kreischgebiet an Ungarn durch <strong>de</strong>n Wiener Schiedsspruch aus <strong>de</strong>m Jahre 1940<br />
unterbrochen. Viele Eltern entschie<strong>de</strong>n sich aus Angst und Sorge um die Zukunft<br />
ihrer Kin<strong>de</strong>r, sie nicht mehr in die <strong>de</strong>utsche Schule zu schicken. Aus Furcht, wegen<br />
<strong>de</strong>r schwäbischen Mundart verspottet zu wer<strong>de</strong>n und um <strong>de</strong>n sozialen Aufstieg<br />
ihrer Kin<strong>de</strong>r zu sichern, haben viele die schwäbische Mundart aufgegeben. Nach<br />
<strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg, als das Gebiet nach vierjähriger Zugehörigkeit zu Ungarn<br />
wie<strong>de</strong>r Rumänien zufiel, konnte <strong>de</strong>n Petrifel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Kin<strong>de</strong>rn kein<br />
<strong>de</strong>utschsprachiger Unterricht erteilt wer<strong>de</strong>n. Die <strong>de</strong>utsche Sprache wur<strong>de</strong> auch aus<br />
<strong>de</strong>r Kirche verbannt. Die Evakuierungsmaßnahmen <strong>de</strong>s Jahres 1944 und die<br />
Verschleppung zahlreicher volks<strong>de</strong>utscher Männer und Frauen führte dazu, daß<br />
viele Schwaben ihre Nationalitätszugehörigkeit und ihre Muttersprache aufgaben,<br />
da die <strong>de</strong>utsche Sprache bzw. die schwäbische Mundart ausgesprochen verpönt<br />
war. Da diese Sprache keine Rolle im sozialen Verkehr <strong>de</strong>r damaligen Gesellschaft<br />
einnehmen konnte, wur<strong>de</strong> das Schwäbische im Bewußtsein <strong>de</strong>r heranwachsen<strong>de</strong>n<br />
Generationen verdrängt. Die Kollektivierung <strong>de</strong>r Landwirtschaft und die<br />
nationalistisch ausgerichtete Nationalitätenpolitik <strong>de</strong>s Ceauşescu-Regimes seit<br />
<strong>de</strong>m Jahr 1965 haben <strong>de</strong>m Rumänischen Raum geschaffen. So bil<strong>de</strong>te sich<br />
allmählich eine schwäbisch-ungarisch-rumänische Dreisprachigkeitssituation in<br />
Petrifeld heraus.<br />
Gemäß <strong>de</strong>n Daten <strong>de</strong>r letzten rumänischen Volkszählung vom 7. Januar 1992<br />
macht die schwäbischstämmige Dorfgemeinschaft mehr als die Hälfte <strong>de</strong>r<br />
Gesamtbevölkerung aus (55,12%). Die Teilergebnisse <strong>de</strong>r Untersuchung, die<br />
aufgrund eines Fragebogens und von Interviews mit Gewährspersonen<br />
verschie<strong>de</strong>nen Alters durchgeführt wur<strong>de</strong> und wird, zeigen, daß heute für Petrifeld<br />
die Dreisprachigkeitssituation nicht mehr charakteristisch ist. Während bei <strong>de</strong>r<br />
älteren Generation noch passive Schwäbischkenntnisse vorhan<strong>de</strong>n sind, ist die<br />
mittlere und die jüngere Generation <strong>de</strong>r schwäbischen Mundart ganz unkundig. Die<br />
schwäbische Mundart erfüllt auf diese Weise nicht mehr die Rolle <strong>de</strong>r funktional<br />
419
ersten Sprache, obwohl sich die Mehrheit auch heute noch <strong>zur</strong> schwäbischen<br />
Nationalitätszugehörigkeit und Muttersprache bekennt. Die Mundart wird nur noch<br />
selten verwen<strong>de</strong>t und höchstens unter <strong>de</strong>n älteren Dorfbewohnern, in <strong>de</strong>r Familie<br />
im weiteren Sinne, vor allem unter älteren Eheleuten, die nicht in Mischehen leben,<br />
mit <strong>de</strong>n Nachbarn o<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r Kirche. Die zahlreichen Auswan<strong>de</strong>rungswellen <strong>de</strong>r<br />
Deutschen haben auch in Petrifeld Lücken hinterlassen. Anstelle <strong>de</strong>r<br />
ausgewan<strong>de</strong>rten <strong>de</strong>utschen Familien wohnen jetzt ungarische o<strong>de</strong>r rumänische<br />
Familien in Petrifeld, die die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Sprachwahl unter <strong>de</strong>n schwäbischen<br />
Dorfbewohnern erheblich beeinflußt haben. Mit <strong>de</strong>r jüngeren Generation wird als<br />
gemeinsames Verständigungsmittel fast ausschließlich Ungarisch gesprochen, da<br />
die Kin<strong>de</strong>r und Enkelkin<strong>de</strong>r kein Schwäbisch sprechen. Der Sprachwechsel vom<br />
Schwäbischen zum Ungarischen scheint in diesem Fall als vollkommen<br />
durchgesetzt, doch läßt sich ein an<strong>de</strong>res Phänomen beobachten, u.zw. daß die<br />
jüngere Generation die <strong>de</strong>utsche Hochsprache erlernt, sei es als Fremdsprache<br />
o<strong>de</strong>r aber als Muttersprache in Petrifeld (bis zu vier Klassen) und in <strong>de</strong>n<br />
naheliegen<strong>de</strong>n Städten Großkarol (rum. Carei, ung. Nagykároly) o<strong>de</strong>r Sathmar<br />
(rum. Satu Mare, ung. Szatmár). Trotz<strong>de</strong>m existiert zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />
Generationen eine Sprachbarriere, da die Jüngeren kein Schwäbisch sprechen<br />
und verstehen, die Älteren dagegen die Hochsprache nicht beherrschen, so bleibt<br />
nur das Ungarische als gemeinsame Sprache.<br />
In <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Domänen, d. h. in <strong>de</strong>r Schule, am Arbeitsplatz, in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />
und in <strong>de</strong>r Kirche herrscht die Verwendung <strong>de</strong>s Ungarischen und <strong>de</strong>s<br />
Rumänischen vor. Daß die Dorfbewohner im Gespräch mit <strong>de</strong>m Arzt, mit <strong>de</strong>r<br />
Krankenschwester, mit <strong>de</strong>r Verkäuferin im Geschäft o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Markt und im<br />
Bürgermeisteramt ausschließlich von <strong>de</strong>n Sprachen Ungarisch und Rumänisch<br />
Gebrauch machen, spricht für einen totalen Sprachwechsel in <strong>de</strong>r öffentlichen<br />
Domäne. Zur Zeit wird die katholische Kirchengemein<strong>de</strong> von einem ungarischen<br />
Pfarrer betreut, die Gottesdienste wer<strong>de</strong>n ausschließlich in ungarischer Sprache<br />
gehalten. Nur selten kommt es vor, daß im Dorf eine <strong>de</strong>utsche Messe gehalten<br />
wird. Mit <strong>de</strong>m Pfarrer sprechen die schwäbischen Dorfbewohner ausschließlich<br />
ungarisch, weil dieser das Schwäbische nicht beherrscht. Im Bereich <strong>de</strong>r Schule<br />
bestehen heute große Bemühungen, die <strong>de</strong>utsche Abteilung <strong>de</strong>r Petrifel<strong>de</strong>r<br />
Achtklassenschule aufrechtzuerhalten. Lei<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n sich viele Eltern, ihre<br />
Kin<strong>de</strong>r entwe<strong>de</strong>r <strong>zur</strong> Großkaroler o<strong>de</strong>r Sathmarer <strong>de</strong>utschen Schule o<strong>de</strong>r sogar in<br />
die ungarische o<strong>de</strong>r rumänische Abteilung zu schicken. Dadurch ist die Zukunft<br />
<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Unterrichts in Petrifeld gefähr<strong>de</strong>t. Aus Mangel an Schülern wer<strong>de</strong>n<br />
keine <strong>de</strong>utschen Klassen mehr gebil<strong>de</strong>t.<br />
Die schwäbische Mundart in Petrifeld befin<strong>de</strong>t sich also auf <strong>de</strong>m Wege zum<br />
Sprachverlust. Dazu trägt auch die Tatsache bei, daß das Schwäbische keine<br />
schriftnahe Mundart ist, wie die an<strong>de</strong>ren und daher keine Stütze im<br />
Schrift<strong>de</strong>utschen <strong>de</strong>r Schul- und Kirchensprache fand. Während <strong>de</strong>r Gespräche mit<br />
<strong>de</strong>n Gewährspersonen konnte ich mehrmals feststellen, daß die Mehrheit oft ins<br />
Ungarische umschaltet. Es kam auch häufig vor, daß ihnen die <strong>de</strong>utschen bzw.<br />
schwäbischen Wörter nicht immer einfielen und dann drückten sie sich besser auf<br />
Ungarisch aus. Diese Tatsache schil<strong>de</strong>rn auch die Antworten auf die Frage „Wenn<br />
Sie schwäbisch sprechen, benutzen Sie gelegentlich auch Wörter an<strong>de</strong>rer<br />
Sprachen?“ aus <strong>de</strong>m Fragebogen: bei etwa Zweidrittel <strong>de</strong>r Befragten kommt<br />
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dieses Phänomen vor. Dieses ständige Umschalten kann mit <strong>de</strong>r überlappen<strong>de</strong>n<br />
Rolle <strong>de</strong>s Ungarischen und <strong>de</strong>s Rumänischen, mit <strong>de</strong>ren funktionalem Übergewicht<br />
in <strong>de</strong>r heutigen Gesellschaft erklärt wer<strong>de</strong>n. So kommen auch oft<br />
Interferenzerscheinungen vor, wobei sehr viele Wörter sowohl aus <strong>de</strong>m<br />
Ungarischen als auch aus <strong>de</strong>m Rumänischen in die schwäbische Mundart<br />
eingedrungen sind. Die rumänischen Wörter sind meist auf indirektem Wege, über<br />
das Ungarische in die Mundart gelangt, z.B. ung. szfát < rum. sfat ‘Rathaus’, ganz<br />
wenige, wie z.B. rum. liceu ‘Lyzeum’, rum. societate ‘Gesellschaft’ wur<strong>de</strong>n direkt<br />
aus <strong>de</strong>m Rumänischen übernommen 10 . Dank <strong>de</strong>m jahrhun<strong>de</strong>rtealten Kontakt mit<br />
<strong>de</strong>m Ungarischen haben sich Komposita herausgebil<strong>de</strong>t, die durch partielle<br />
Übersetzung aus <strong>de</strong>m Ungarischen zustan<strong>de</strong>gekommen sind, wie z.B. brotgyár <<br />
ung. kenyérgyár (pékség) ‘Bäckerei’; csúfname < ung. csúfnév ‘Spottname’;<br />
megyehaus < ung. megyeház ‘Rathaus’; zweiemeletes < ung. kétemeletes<br />
‘zweistöckig’; akárwann < ung. akármikor ‘je<strong>de</strong>rzeit’ usw. 11 .<br />
Schlußfolgerungen und Ausblick<br />
Aufgrund <strong>de</strong>r oben dargestellten Tatsachen und <strong>de</strong>r Teilergebnisse <strong>de</strong>r<br />
Untersuchung <strong>de</strong>s heutigen Stands <strong>de</strong>s schwäbischen/<strong>de</strong>utschen<br />
Sprachgebrauchs in Petrifeld habe ich festgestellt, daß schwäbisch-ungarische<br />
Sprachwechsel vollen<strong>de</strong>t ist. Es ist ebenfalls zu vermuten, daß die Mundart in<br />
Kürze aussterben wird. Gesteuert ist das Aufgeben <strong>de</strong>r angestammten<br />
Muttersprache von Faktoren wie Alter, Familienzusammensetzung, Bildung,<br />
ethnische Zusammensetzung <strong>de</strong>s Wohngebietes, Kirche und Auswan<strong>de</strong>rung 12 . Die<br />
schwäbische Mundart hat ihren Prestigewert im Laufe <strong>de</strong>r Zeit verloren. Nicht nur<br />
die politisch–historischen Umstän<strong>de</strong> im Wer<strong>de</strong>gang dieser Sprache, son<strong>de</strong>rn auch<br />
die Verän<strong>de</strong>rungen auf makrosoziologischer und sozio–ökonomischer Ebene<br />
sowie die Rolle <strong>de</strong>r Sprache im alltäglichen Leben <strong>de</strong>r engeren<br />
Sprachgemeinschaft haben <strong>zur</strong> Sprachverlagerung vom Schwäbischen zum<br />
Ungarischen geführt.<br />
Die Untersuchung <strong>de</strong>s schwäbischen/<strong>de</strong>utschen Sprachgebrauchs in Petrifeld<br />
befin<strong>de</strong>t sich erst in <strong>de</strong>r Anfangsphase. Sie wird aufgrund von<br />
Fragebogenerhebungen und Interviews weitergeführt und womöglich auf alle<br />
sathmarschwäbische Ortschaften ausge<strong>de</strong>hnt, um ein umfassen<strong>de</strong>s Bild über <strong>de</strong>n<br />
Stand <strong>de</strong>r schwäbischen und an<strong>de</strong>rsstämmigen Mundarten im Sathmarer,<br />
Marmaroscher und Kreischgebiet zu bekommen.<br />
10 Knecht, T., Interferenzen im Sprachgebrauch <strong>de</strong>r Petrifel<strong>de</strong>r und Beschene<strong>de</strong>r Schwaben.<br />
Vortrag gehalten anlässlich <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Tagung Interethnische Beziehungen<br />
im rumänisch-ungarisch-ukrainischen Kontaktraum vom 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt bis <strong>zur</strong><br />
Gegenwart, Großwar<strong>de</strong>in – September 1999.<br />
11 Ebd.<br />
12 Rosenberg, P. (1994), S. 154; Nel<strong>de</strong>, P. H. (1981), S. 85.<br />
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Literatur<br />
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