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Teil 11/12: Naturwissenschaften

Anthroposophische Perspektiven - In dieser Aufsatzreihe stellen Autoren beispielhaft Perspektiven der Anthroposophie auf das Lebensgebiet ihrer Berufspraxis vor.

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ANTHROPOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN<br />

NATURWISSENSCHAFTEN<br />

SERIE: TEIL <strong>11</strong> / <strong>12</strong><br />

NATURWISSENSCHAFTEN<br />

1


EINFÜHRUNG<br />

Schon dem jungen Rudolf Steiner wurde seine spirituelle Veranlagung bewusst. Seine Lehrer<br />

rieten den Eltern, ihn studieren zu lassen. An der Technischen Hochschule in Wien studierte er<br />

<strong>Naturwissenschaften</strong> und Mathematik, um selbst Lehrer zu werden. Doch bald fesselten ihn<br />

ebenso die Philosophie bei Franz Brentano wie die deutsche Klassik bei Karl Julius Schröer. Ab<br />

1890 gab er in Weimar Goethes naturwissenschaftliche Schriften »Zur Morphologie« aus<br />

dessen Nachlass erstmals vollständig heraus. Er schloss sich dem Anliegen Goethes an, die<br />

<strong>Naturwissenschaften</strong> nicht nur zur technischen Anwendung zu bringen, sondern sie zur<br />

gesellschaftlichen Bildungskultur beitragen zu lassen.<br />

Das ist noch heute keineswegs gelungen, weil die technische Verwendung im Vordergrund<br />

steht. Den Waldorfpädagogen und Evolutionsbiologen Prof. Dr. Wolfgang Schad an der<br />

Universität Witten / Herdecke regte Steiners Auffassung von Geist an, dass derselbe nicht in<br />

lebensfernen Theoremen, Systemen und Konstrukten besteht, sondern das Geistige dann<br />

seinen Namen verdient, wenn es umfänglich lebenstauglich, also praxisfähig ist. Darauf beruht<br />

die gewachsene Praxistauglichkeit der Anthroposophie. Sie versucht, durch die Selbsterkenntnis<br />

den immer besser kennenzulernen, der so massiv in die Welt eingreift: den Menschen. Die<br />

naturwissenschaftliche Methodik bietet dafür das erste Übungsfeld durch Erfahrung und<br />

Verstehen. So gab Steiner seinem frühen philosophischen Hauptwerk »Die Philosophie der<br />

Freiheit« den Untertitel »Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher<br />

Methode«. Beide Seiten verbindet auch der folgende Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Schad.<br />

››› Manon Haccius<br />

I M P R E S S U M<br />

Anthroposophische Perspektiven / Zwölfteilige Serie<br />

<strong>Teil</strong> <strong>11</strong>: Die <strong>Naturwissenschaften</strong> heute und in Zukunft –<br />

Gut für die Technik und schlecht für die Kultur?<br />

Autor: Wolfgang Schad<br />

Herausgegeben von: Manon Haccius, Alnatura Produktions- und Handels GmbH,<br />

Darmstädter Straße 63, DE-64404 Bickenbach, www.alnatura.de<br />

Copyright © 20<strong>11</strong> by Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bickenbach<br />

Gestaltung: usus.kommunikation, Berlin<br />

Abbildungen: Rudolf Steiner Archiv, Dornach; Bernhard Rüffert (8, Porträt);<br />

NASA / Smith / Generosa (5 Sonnensystem); NASA / CXC / M. Weiss (5 Spiralnebel);<br />

NASA/CXC/SAO (2); W. Schad (6)<br />

Verlag: mfk corporate publishing GmbH, Prinz-Christians-Weg 1, DE-64287 Darmstadt<br />

Druck: alpha print medien AG, Darmstadt<br />

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein <strong>Teil</strong> des Werks darf<br />

ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung<br />

elektronischer Systeme oder Datenträger verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />

Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Herausgebers und des Autors unzulässig.<br />

2


DIE NATURWISSENSCHAFTEN<br />

HEUTE UND IN ZUKUNFT –<br />

GUT FÜR DIE TECHNIK UND SCHLECHT<br />

FÜR DIE KULTUR?<br />

WOLFGANG SCHAD<br />

Sie sitzen im Zug. Wo haben Sie sich Ihren Platz gesucht?<br />

Natürlich dort, wo noch wenige sind. Am besten allein<br />

im Coupé. Warum eigentlich? Wir sind überfüttert vom<br />

Anblick unbekannter Menschen.<br />

Das ist recht anders im Afrika südlich der Sahara.<br />

Ob Bus oder Bahn, der Einheimische setzt sich möglichst<br />

dorthin, wo schon jemand sitzt. Dann hat man doch jemanden,<br />

mit dem man plaudern kann.<br />

Auch wir in Europa sitzen – besonders in Wochenendzügen<br />

– eng zusammen, aber wir schweigen uns an.<br />

Wir reden nur, wenn es sein muss, miteinander. Doch es<br />

gibt Ausnahmen. Es wird lauthals miteinander gesprochen:<br />

per Handy. Serien von Familienintimitäten bekommt<br />

man über einen halben Großraumwagen mit, die<br />

man von keinem Nebensitzer erzählt bekommen würde.<br />

Das ist eine der unseren Alltag handgreiflich bestimmenden<br />

Auswirkungen der <strong>Naturwissenschaften</strong>: Zwischen<br />

Mensch und Mensch schalten wir ein Maschinchen<br />

dazwischen und natürlich die Medien. Medium heißt<br />

Mitte. Medien sollen vermitteln. Sie tun es nur im Informationsgehalt.<br />

Ihr Erlebnisgehalt aber ist reine Täuschung.<br />

Vom Erlebnisreiz lebt die Unterhaltungsindustrie.<br />

In den USA gibt es in jedem größeren Laden eine Kassette<br />

zu kaufen: »Mother’s heartbeat – baby feels well, while<br />

mother ist shopping«. Wie praktisch. Sie möchte einkaufen<br />

gehen, und derweil bekommt der Kleine im Bettchen<br />

Mutters Herzschlag vorgespielt, so als ob er bei ihr<br />

schlafen dürfte – und wird belogen. Da die Nachwachsenden<br />

immer weniger auf ihnen vertraute Realmenschen<br />

treffen, kennen sie kein lohnendes Urvertrauen ins Leben<br />

mehr. Wir sind zur »lonely crowd« geworden, zur Masse<br />

der Vereinsamten. Das ist eine gar nicht so ferne Fernwirkung<br />

der <strong>Naturwissenschaften</strong>.<br />

Wir leben aber nicht nur in der Menschenentfremdung,<br />

sondern auch in der Weltentfremdung. Wir sehen<br />

die natürliche Umwelt nicht mehr so, wie sie sich darbietet,<br />

sondern so, wie das naturwissenschaftliche Denkkonzept<br />

sie uns anbietet: als Industriepalast. Pflanzen,<br />

Tiere und Menschen sind Eiweißmaschinen, von der<br />

Software ihrer DNA gesteuert. Also nutzt diese Welt nur<br />

noch als Rohstoffressource für die Cyberwelt. Ökokatastrophen<br />

sind die logischen Folgen.<br />

Hier regt sich längst Widerstand: politisch in der grünen<br />

Bewegung und in der Vernunft des Einzelnen sowieso.<br />

Immer mehr Leute merken sich die Halbwertzeit des<br />

Plutoniums: 24 200 Jahre wird es dauern, bis die Hälfte<br />

dieses im 20. Jahrhundert künstlich erzeugten radioaktiven<br />

Elementes zerfallen sein wird. Nach 200 000 Jahren<br />

ist noch etwa ein Prozent vorhanden – das ist ist<br />

immer noch zuviel. Haben alle an den politischen und<br />

wirtschaftlichen Hebeln der Macht Sitzenden die Zahl<br />

von 24 200 Jahren Halbwertzeit des Plutoniums aus ihrer<br />

Schulzeit noch im Kopf?<br />

Rechnen wir auf 100 Jahre 3 Generationen, so müssen<br />

unabdingbar dreimal 2 000 (= 6 000) Generationen<br />

unserer Nachfahren die Quittung für diese Technik einlösen.<br />

Ist also, als der geistige Verursacher dieser Sachlage,<br />

die Naturwissenschaft des Teufels?<br />

Keineswegs. Der Begründer einer modernen gründlichen<br />

Menschenkunde, der Anthroposophie, sah einen<br />

anderen Umgang mit dem Anliegen der Naturwissenschaft<br />

als Möglichkeit. Rudolf Steiner: »An der Naturwissenschaft<br />

liegt es wirklich nicht, die bietet tatsächlich<br />

Gediegenes.« Steiners Kritik lag vielmehr darin, dass nicht<br />

immer die Naturwissenschaftler, wohl aber die Naturwissenschaft<br />

voll des guten Geistes ist.<br />

ABBAU DER DOPPELHEIT<br />

IN DER WELT<br />

Die europäische Aufklärung stand an der Wiege der modernen<br />

<strong>Naturwissenschaften</strong>. Der französische Denker<br />

René Descartes (1596 – 1650) teilte alle Erfahrungen in<br />

zwei Hälften ein: alle räumlichen, also messbaren Dinge<br />

einerseits und die eigenen Bewusstseinsinhalte andererseits.<br />

Keines könne vom anderen abgeleitet werden und<br />

das jeweils andere erklären. Descartes begründete die<br />

Sicht von der Doppelheit der Welt: den Dualismus.<br />

Doch alle Menschen werden trotzdem den Verdacht<br />

nicht los, dass wir letztlich mit der Welt in einer Einheit<br />

leben. Ganzheitssuche, Ganzheitsmedizin, ein ganzheitli-<br />

NATURWISSENSCHAFTEN<br />

3


ches Weltverständnis werden überall proklamiert, um uns<br />

aus dem kartesischen Dualismus, diesem öffentlichen<br />

Spaltungsbewusstsein, zu erlösen. Drei Einheitsanschauungen<br />

(Monismen) bieten sich dafür an:<br />

• Es gibt nur das räumlich Mess-, Wäg- und<br />

Abzählbare (Materialismus).<br />

• Es gibt nur das sicher, was ich von der Welt in<br />

meinem Bewusstsein vorfinde. Die Welt ist mein<br />

Konstrukt (Konstruktivismus).<br />

• Materie und Bewusstsein, Leib und Seele, Geist und<br />

Stoff sind alles ein und dasselbe (Holismus).<br />

Jeder dieser drei Monismen bleibt ideologieverdächtig,<br />

auch wenn man mit allen dreien ungeniert Naturwissenschaft<br />

machen kann. Gibt es nicht auch eine <strong>Teil</strong>berechtigung<br />

des Dualismus? Als kleine, staunende Kinder<br />

nennen sich Karl und Liese mit ihrem Namen, denn so<br />

werden sie von allen genannt. Sie erleben sich als Weltinhalt.<br />

Das kleine Kind ist Monist. Dann tritt das Bewusstsein<br />

der eigenen Einmaligkeit ein. Karlchen und Lieschen<br />

bezeichnen sich selbst mit dem gleichen Wort, wie die<br />

Erwachsenen längst: »Ich«. Ich und Welt haben sich getrennt.<br />

Die Kinder werden Dualisten. Die Ganzheit mit<br />

der Welt spaltet sich in Subjekte und Objekte – aber nur<br />

für das menschliche Bewusstsein.<br />

Im Alltagsbewusstsein des Menschen trennen sich<br />

beide Hälften. Der Weltgehalt ist zwar ganzheitlich einschließlich<br />

des Menschen. Er zerfällt aber im menschlichen<br />

Bewusstsein ab dem dritten Lebensjahr in den Dualismus<br />

von Innenwelt und Außenwelt. So beginnt aus dem<br />

Dualismus heraus die Suche nach der verlorenen Einheit,<br />

nach der Zusammengehörigkeit von allem. Dieser dritte<br />

Schritt bringt einen erneuerten Monismus hervor, der<br />

nicht mehr der alte ist. Das macht alle Kultur aus. Diese<br />

Suche ist nun der lebenslange Beweggrund für echte Wissenschaft,<br />

alle Künste und Religionen. Also letztlich auch<br />

der <strong>Naturwissenschaften</strong>. Naturwissenschaft als Kul turtherapie?<br />

Die Natur hält sich dafür bereit. Der Na turwissenschaftler<br />

Goethe mit den an ihn anschließenden goetheanistischen<br />

Naturforschern und auch die Väter der<br />

Quantenphysik seien als Beispiele angeführt. Jedes Mal<br />

wurde die Subjekt- / Objektspaltung neu überbrückt.<br />

Der Weg vom frühen Monismus über den Dualismus<br />

zu einem neuwertigen Monismus geschieht bei näherem<br />

Zusehen bei jedem Menschen. Die ersten beiden Schritte<br />

treten wie von selbst ein, der dritte hingegen geschieht<br />

nur aus eigenem Antrieb auf der eigenen, rein individuellen<br />

Suche. Kultur tritt nie automatisch von selbst auf,<br />

sondern bedarf des Engagements.<br />

Aber nicht nur in jedem Menschenleben spielt sich<br />

die gekennzeichnete Entwicklung mehr oder weniger ab,<br />

sondern auch im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung.<br />

Beim Eintreten der Selbst- und Weltentfremdung<br />

halfen die <strong>Naturwissenschaften</strong> kräftig mit. Das antike<br />

4<br />

und mittelalterliche Weltbild zerbrach unter den Entdeckungen<br />

der Astronomen, Physiker, Biologen und Psychologen.<br />

Viele fühlten sich dadurch verunsichert und<br />

angegriffen. So sprach 1917 Sigmund Freud von drei<br />

narzistischen Kränkungen des menschlichen Seelenlebens,<br />

welche die Neuzeit dem menschlichen Selbstverständnis<br />

zugefügt habe:<br />

• Die Entdeckung, dass nicht die Erde, sondern<br />

die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems<br />

stehe, durch Nikolaus Kopernikus 1543.<br />

• Die Entdeckung, dass der Mensch aus dem Tierreich<br />

abstamme, durch Charles Darwin 1859.<br />

• Die Entdeckung, dass im Menschen das bewusste<br />

Ich nicht Herr im eigenen Seelenhaushalt ist,<br />

durch Sigmund Freud 1917.<br />

DIE ERDE IM WELTRAUM<br />

Nun muss der Autor ein Geständnis machen: Ich fühle<br />

mich überhaupt nicht durch Kopernikus gekränkt. Die<br />

Feststellung, nicht die Erde, sondern die Sonne stehe inmitten<br />

aller Planeten, hat sich seit dem 16. Jahrhundert<br />

allgemein durchgesetzt, nachdem schon Plato 2 000 Jahre<br />

vorher diese Idee erwähnt hatte. Die kopernikanische,<br />

heliozentrische Auffassung des Planetensystems ist eine<br />

wundervolle Entdeckung: Wäre die Erde die Sonne oder<br />

stünde sie nahe an der Sonne, so würde die Hitze so groß<br />

sein, dass alles Leben verkochen müsste. Stünde sie weiter<br />

weg, als es der Fall ist, so wäre es viel zu kalt für alles<br />

Leben. Auch die Größe des Erdballs ist optimal. Wäre sie<br />

kleiner, so könnte die geringere Schwerkraft nicht das<br />

Wasser und die Atmosphäre – Grundlage des Lebens – auf<br />

ihr festhalten. Beides fehlt dem Mond. Wäre sie größer, so<br />

wäre die Gewichtszunahme auf ihr erdrückend. Durch<br />

ihre ausgewogene Stellung, Größe und Mondbegleitung<br />

ist sie der alleinige Planet des Lebens im gesamten Sonnensystem.<br />

Leben ist nicht unter extremen Be dingungen<br />

möglich, sondern in der gemäßigten Mitte. »Mitte« ist<br />

hier nicht die räumliche, sondern die funktio nelle Mitte.<br />

1718 stellte der englische Astronom Edmund Halley<br />

fest, dass die Fixsterne nicht starr zueinander stehen,<br />

sondern sich bewegen. Daraufhin kartierte Wilhelm<br />

Herschel ihre Bewegungsrichtungen über den gesamten<br />

Sternenhimmel hin und entdeckte 1783, dass sie im und<br />

um das Sternbild des Herkules vorwiegend auseinanderweichen,<br />

beim gegenüberliegenden Sternbild der Taube<br />

im Südhimmel sich scheinbar aufeinander zubewegen.<br />

Hier zeigt sich der perspektivische Eindruck davon, dass<br />

sich unser gesamtes Sonnensystem im Sternenraum in<br />

Richtung des Herkules selbst auch bewegt (Apexbewegung).<br />

Der Herkules und seine Nachbarbilder sind für<br />

uns blasse Sterne am Sommerhimmel, im Gegensatz zu<br />

den hell leuchtenden Wintersternbildern um den Orion<br />

oberhalb der Taube. Es ist, als ob die Sonne als hell<br />

leuchtender Fixstern selbst am Ausgleich durch ihre<br />

Wanderrichtung beteiligt ist.


Unser Sonnensystem, nicht maßstabgerecht, und seine<br />

Lage im Milchstraßensystem. Bild links: Sonnensystem von<br />

innen nach außen: Sonne; innere Planeten: Merkur,<br />

Venus, Erde (siehe Pfeil), Mars; Asteroiden gürtel; äußere<br />

Planeten: Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun (© Nasa/Smith,<br />

Generosa). Bild oben: Die Rekonstruktion unseres<br />

Milchstraßensystems (Lage unseres Sonnensystems darin,<br />

siehe Pfeil) von außen ergab einen Balkenspiralnebel<br />

(© Science Library, London).<br />

Die Stellung der Sonne mit ihren Begleitern ist eine beachtenswerte.<br />

Wir können die mit bloßem Auge gut<br />

sichtbaren Fixsterne der Sternbilder deshalb als die hervorstechenden<br />

Sterne sehen, weil sie uns noch relativ nahe<br />

stehen. Sehr viel weiter umgibt uns das Milchstraßenband.<br />

Der holländische Astronom C. Easten hatte um<br />

1900 die Vermutung, dass dieses Band einen Spiralnebel<br />

von innen gesehen darstellt. Das konnte im Laufe des<br />

20. Jahrhunderts gesichert werden. Es wurde inzwischen<br />

ermittelt, dass die Milchstraße ein Balkenspiralnebel mit<br />

vier Spiralarmen ist, worin die Sonne mit ihren sie begleitenden<br />

Planeten und näheren Fixsternen steht. Ihre und<br />

damit auch der Erde Stellung ist nun nicht im Kern dieses<br />

Spiralnebels und nicht in seiner Peripherie, sondern in<br />

einer Zwischenlage. Dabei liegt sie mit ihren nahen Himmelsgeschwistern<br />

nicht auf einem der Spiralnebelarme,<br />

auch nicht zwischen zweien, sondern in der Nähe eines<br />

solchen, wiederum die möglichen Extreme vermeidend.<br />

Sind das nicht alles dankbar zu bewundernde Ergebnisse<br />

der Naturwissenschaft von der Lage unserer Erde im<br />

näheren und weiteren Gesamt des astronomischen Kosmos?<br />

Es besteht heute kein Anlass mehr zur Kränkung<br />

durch die kopernikanische Astronomie.<br />

NATURWISSENSCHAFTEN<br />

5


GEMEINSAME VORFAHREN<br />

Der früheste bekannte Vertreter der Menschheit ist heute<br />

ein versteinerter Schädel mit einem Alter von sieben Millionen<br />

Jahren, 2001 gefunden in der Sahelzone der südlichen<br />

Sahara Afrikas, daher genannt »Sahelanthropus«.<br />

Schon vor Darwin war den meisten Naturwissenschaftlern<br />

des 18. und frühen 19. Jahrhunderts klar, dass alle<br />

Organismen einer gemeinsamen Entwicklung (Evo lution)<br />

entsprungen sind. Durch Darwin wurde diese Ent deckung<br />

seit 1859 in weiten Bevölkerungskreisen bekannt.<br />

Was soll daran kränkend sein? Alle Organismen sind<br />

danach miteinander und untereinander Brüder und Schwestern.<br />

Diese geschwisterliche Auffassung ist doch et was<br />

tief Befriedigendes. Und indem wir Menschen als einzige<br />

uns dessen bewusst werden, übernehmen wir damit solidarisch<br />

die Verantwortung für den Erhalt aller Ar ten.<br />

Nur die reine Kampftheorie Darwins ist sehr zeitgebunden<br />

ausgefallen und keinesfalls naturwissenschaftlich.<br />

Kränkt uns aber nicht doch die damit behauptete<br />

Abstammung des Menschen von den nächststehenden<br />

Affen, den Menschenaffen? Charles Darwin und seinem<br />

deutschen Kollegen Ernst Haeckel war selbst klar, dass<br />

keiner der heutigen Menschenaffen der natürliche Vorfahre<br />

des Menschen gewesen sein konnte. Der Sahelanthropus<br />

zeigt im Bau des Gesichtsschädels viele menschliche<br />

Züge, zum Beispiel eine vertikale Antlitzfront. Der<br />

Bau des kleinen, flachen Gehirnschädels ist jedoch mehr<br />

schimpansenartig gebaut. Dieser Sahelanthropus muss<br />

dem etwas älteren gemeinsamen Vorfahren noch recht<br />

ähnlich gewesen sein. Er ist eine Mischform, die die Merkmale<br />

zur Entmischung in beide Richtungen enthielt. Der<br />

heute führende Urmenschenforscher, Prof. Dr. Friedemann<br />

Schrenk an der Universität Frankfurt, hat es im<br />

Darwin-Gedenkjahr 2009 formuliert: Der Mensch stammt<br />

nicht vom Affen ab, sondern von einer gemeinsamen<br />

Mischform, die die Merkmale und Entwicklungspotenzen<br />

zu beiden Richtungen in sich trug. Der Zusammenhang<br />

ist also evolutiv ein noch engerer, als man vorher<br />

meist angenommen hatte. Was soll daran kränkend sein?<br />

6


Schädel eines Jetztmenschen Homo sapiens<br />

aus dem Mittelalter, des Sahelanthropus tschadensis, der<br />

vor sieben Millionen Jahren lebte, und eines heutigen<br />

Schimpansen (von links nach rechts). Die Gesichtsfront<br />

des Sahelanthropus ähnelt dem Jetztmenschen, der<br />

Gehirnschädel dem des Schimpansen (Foto: W. Schad).<br />

DAS »ICH« IM UNBEWUSSTEN<br />

Wie aber steht es mit der dritten narzistischen Kränkung<br />

Freuds, mit seiner eigenen Entdeckung der unbewussten<br />

Regionen der Seele, der Tiefenpsyche? Sie war schon im<br />

Blick der naturwissenschaftlich interessierten Romantiker<br />

des frühen 19. Jahrhunderts, wie Novalis, Carl Gustav<br />

Carus und Gotthilf Heinrich Schubert. Ende des 19.<br />

Jahrhunderts waren es dann die Ärzte Breuer, Adler,<br />

Freud und Jung, die sich besonders der seelisch bedingten<br />

Leiden ihrer Patienten annahmen und bei ihnen und<br />

Freud sah weitgehend die<br />

dunkle Seite im Unbewussten,<br />

Jung ahnte die helle Seite<br />

davon, Steiner beschrieb sie<br />

gezielt: Wir können nie<br />

mit uns gänzlich zufrieden<br />

sein. Gerade das macht<br />

uns entwicklungsfähig.<br />

sich selbst auf die Tiefenpsyche stießen. Freuds Resultat<br />

war: »Das Ich ist nicht Herr im Hause«, und beschrieb<br />

dies als dritte narzistische Kränkung der Menschheit.<br />

Hier geht es um eine Frage, die über die Naturwissenschaft<br />

hinausreicht, auch wenn Freud versuchte, sie<br />

auf dem Weg der naturwissenschaftlichen Analyse, eben<br />

der Psychoanalyse, anzugehen. Schon Goethe wusste um<br />

seine Untiefen und gestand: »Wenn der Mensch über<br />

sein Physisches oder Moralisches nachdenkt, findet er<br />

sich gewöhnlich krank.« Darum lobte er sein Heilmittel,<br />

sich nicht so sehr mit sich selbst, sondern mit der Natur<br />

zu beschäftigen. Der Introvertierte braucht den Blick in<br />

die Natur, der Extrovertierte bedarf der Besonnenheit<br />

auf sich selbst. Schiller dichtete so im Blick auf Goethe<br />

und sich:<br />

Wahrheit suchen wir beide, Du außen im Leben, ich innen<br />

In dem Herzen, und so findet sie jeder gewiss.<br />

Ist das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer,<br />

ist es das Herz, dann gewiss spiegelt es innen die Welt.<br />

NATURWISSENSCHAFTEN<br />

7


Aber welche Rolle spielt dabei das Freud’sche Ich? Dieses<br />

Alltags-Ich bemerkt bei einiger Bestandsaufnahme, dass<br />

es von vielen Antrieben mitbestimmt wird, die es oft<br />

nicht wahrhaben will und zum Selbstschutz lieber verdrängt.<br />

Doch das bekommt auf die Dauer nicht. Der<br />

Umgang mit sich selbst ist eine Lebenskunst, um sich und<br />

andere einschätzen und schätzen zu lernen. Das trifft<br />

zum Beispiel auf jeden erzieherischen Beruf zu. So machte<br />

Rudolf Steiner als Begründer der Waldorfschulpädagogik<br />

bald die von ihm zusammengerufenen Lehrer darauf<br />

aufmerksam, dass in jedem Menschen ein zweiter »sitzt«,<br />

von dem man als moderner Mensch wissen müsse. Anhand<br />

einer Krankengeschichte aus der Feder von C. G.<br />

Jung machte er auf die Raffinesse und Intriganz dieser<br />

Tiefen und Untiefen aufmerksam: »Und dieses Unterbewusstsein<br />

des zweiten Menschen, der im Menschen sitzt,<br />

ist oftmals viel raffinierter als der Mensch in seinem<br />

Oberstübchen … In jedem Menschen sitzt unten, gleichsam<br />

unterirdisch, der andere Mensch. In diesem anderen<br />

Menschen lebt auch der bessere Mensch, der sich immer<br />

vornimmt, bei einer Handlung, die er begangen hat, in<br />

einem ähnlichen Falle die Sache das nächste Mal besser<br />

zu machen« (GA 293, Seite 67 ff.).<br />

Das ist eine weittragende Entdeckung: In unserem<br />

Wachbewusstsein kennen wir einigermaßen den Unterschied<br />

von Gut und Böse, von Besser und Schlechter. Im<br />

Unterbewussten ist aber die Spannung zwischen beiden<br />

weitaus größer. Das Fragwürdige und das Bessere in uns<br />

sind dort noch viel prägnanter vorhanden und setzen<br />

sich noch viel dramatischer auseinander. Die Heftigkeit<br />

der Kriegsführung miteinander ist hier noch sehr viel<br />

größer und würde uns gewaltig den täglichen Seelenfrieden<br />

stören, wenn wir das Unbewusste jederzeit im Bewusstsein<br />

haben könnten. Deshalb sind wir erst einmal<br />

davor geschützt, indem diese Gefilde gewöhnlich unbewusst<br />

bleiben.<br />

Doch das eben macht die Moderne aus, einiges, was<br />

unbewusst da ist, bewusst zu bekommen. Freud sah weitgehend<br />

nur die dunkle Seite darin, Jung ahnte die helle<br />

Seite davon, Steiner beschrieb sie gezielt: Wir können nie<br />

mit uns gänzlich zufrieden sein. Gerade das macht uns<br />

entwicklungsfähig. Ist das nicht eine wertvolle, dankbar<br />

begrüßenswerte Entdeckung in der Tiefenpsyche? Sie<br />

kränkt durchaus nicht, sondern bringt uns weiter.<br />

Wir tragen nicht nur unser Tages-Ich mit seinen eingefahrenen<br />

Rollen mit uns herum, sondern jeder in sich<br />

noch einen versteckten Menschen, der das unverbrüchliche<br />

Recht auf Menschenwürde gewährleistet: Unser<br />

wahres Selbst. Wir besitzen ein öffentlich gespieltes und<br />

ein unauffälliges wahres Ich.<br />

Freuds Vorstoß in die Tiefenpsyche ist also gar kein<br />

Anlass, über sich selbst persönlich gekränkt zu sein, sondern<br />

ganz im Gegenteil: Eine erweiterte Selbsterfassung<br />

gehört zur schönsten, weil sozialsten Entdeckung der<br />

Moderne. Sozialverhalten wird dann nicht mehr von außen<br />

vorgeschrieben oder durch Konditionierung eingeschliffen.<br />

Erst die in den eigenen Tiefenschichten selbst<br />

entdeckte freimotivierte Selbstlosigkeit hilft tatsächlich.<br />

Wer fühlt sich heute noch gekränkt? Der Autor jedenfalls<br />

durch alle drei neuzeitlichen Entdeckungen nicht.<br />

Früher bestand die Schulung des Denkens in der Auflösung<br />

langer Satzperioden griechischer und lateinischer<br />

Schriftsteller. Zu viel selbstständigerem Denken führt<br />

jede gute methodische Bildung an den <strong>Naturwissenschaften</strong>.<br />

Das muss auch von den Naturwissenschaftlern<br />

selbst erst wieder entdeckt werden, dass sie von hohem<br />

Bildungswert sind. Sie stärken – recht betrieben – Wahrnehmungsfreude,<br />

Wahrheitsstreben, Selbstkontrolle und<br />

umsichtiges, welttaugliches Denken.<br />

DER AUTOR<br />

Prof. Dr. Wolfgang Schad, geboren 1935 in<br />

Biberach, Studium der Biologie, Chemie<br />

und Physik in Marburg und München, der<br />

Pädagogik in Göttingen. Lehrer an der Waldorfschule<br />

Pforzheim von 1962 – 75, Dozent<br />

am Seminar für Waldorfpädagogik sowie<br />

am Freien Hochschulkolleg in Stuttgart von<br />

1975 – 91, 1992 Berufung auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für<br />

Evolutionsbiologie und Morphologie der Universität Witten / Herdecke,<br />

heute emeritiert. Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderem<br />

»Säugetiere und Mensch« 1971 und vier Sammelbände »Goetheanistische<br />

Naturwissenschaft« von 1982 – 85.<br />

LESE-TIPPS:<br />

Schad, Wolfgang: »Goethes Weltkultur«, Verlag Freies<br />

Geistesleben, Stuttgart 2007.<br />

Ders. (Hrsg.): »Naturwissenschaft heute im Ansatz Goethes«,<br />

Verlag Johannes Mayer, Stuttgart/Berlin 2008.<br />

Ders. (Hrsg.): »Evolution als Verständnisprinzip in Kosmos,<br />

Mensch und Natur«, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2009.<br />

Ders.: »Säugetiere und Mensch. Studien zur Gestaltbiologie«, 2 Bände,<br />

Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart (voraussichtlich 20<strong>12</strong>).<br />

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