Heft 98 - Lernen & Lehren
Heft 98 - Lernen & Lehren
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Schwerpunktthema: Handlungsorientiertes <strong>Lernen</strong><br />
Fazit und Ausblick<br />
Stellt man sich die Frage nach den<br />
Möglichkeiten und Grenzen der Kompetenzentwicklung<br />
durch handlungsorientierten<br />
Unterricht, so gilt es erstens<br />
zu bedenken, dass hier ein ganzheitlicher<br />
Kompetenzerwerb im Mittelpunkt<br />
stehen sollte. Zwar sind Kompetenzen<br />
im engeren Sinn als kognitive Leistungsdispositionen<br />
konzeptualisiert,<br />
im weiten Sinn umfassen sie neben<br />
kognitiven jedoch auch emotionale,<br />
motivationale, volitionale und soziale<br />
Faktoren (WEINERT 2001). Die Bewältigung<br />
von (beruflichen) Handlungssituationen<br />
erfordert immer das Zusammenwirken<br />
eines Systems von Fertigkeiten,<br />
Kenntnissen und Routinen; die<br />
Analyse bzw. Förderung von Fachwissen<br />
alleine greift also zu kurz. Zweitens<br />
ist zu berücksichtigen, dass Kompetenzen<br />
durch erfahrungsbasiertes<br />
<strong>Lernen</strong> erworben werden. Kompetenzorientierte<br />
Lernprozesse bedürfen daher<br />
Anwendungs- und Übungsphasen,<br />
d. h., eine „theoretische“ Auseinandersetzung<br />
reicht nicht aus, um Kompetenzen<br />
zu erwerben. Drittens zeigt die<br />
Zusammenschau der Befunde, dass<br />
der Erwerb von Kompetenzen durch<br />
zielgerichtete Interventionen in Richtung<br />
komplexer Lehr-Lern-Arrangements<br />
zumindest bedingt beeinflussbar<br />
ist. In den berichteten Studien<br />
zeigten sich mehrheitlich Vorteile einer<br />
handlungsorientierten Gestaltung des<br />
Unterrichts für die Zielvariable „Problemlösekompetenz“.<br />
Etwas anders<br />
präsentiert sich die Befundlage für das<br />
Kriterium „Lernmotivation“. Die vielfach<br />
postulierten Vorteile handlungsorientierter<br />
Unterrichtsformen scheinen<br />
hier nicht durchgängig auf. Insbesondere<br />
die Aufrechterhaltung eines<br />
dauerhaften Interesses der <strong>Lernen</strong>den<br />
stellt sich offenbar als nicht unproblematisch<br />
dar. Dies gilt zumindest für die<br />
motivationalen traits (und nicht für die<br />
motivationalen states, die allerdings<br />
selten erhoben werden). 4<br />
Ein direkter Vergleich der einzelnen<br />
Studien erweist sich indes aufgrund<br />
der unterschiedlichen Methoden, respektive<br />
Forschungsdesigns, als<br />
schwierig. Während beispielsweise<br />
BENDORF (2002) eine schriftliche Befragung<br />
im Anschluss an die Lehreinheit<br />
durchführte und dabei keine eindeutigen<br />
Vorteile für die handlungsorientiert<br />
unterrichtete Experimentalgruppe<br />
fand, konnten SEMBILL und Mitarbeiter<br />
im Zuge von Lernprozess-Analysen<br />
sowie Prä-Post-Tests deutliche Vorteile<br />
zu Gunsten der Experimentalgruppen<br />
feststellen. Aus forschungsmethodischer<br />
Sicht stellt sich hier auch<br />
die Frage nach den Möglichkeiten und<br />
Grenzen der Untersuchung von Lehr-<br />
Lern-Prozessen. Möchte man also einen<br />
vertieften Einblick in Unterrichtsprozesse<br />
erlangen, so stellt die – zugegebenermaßen<br />
recht aufwendige<br />
– empirische Koppelung verschiedener<br />
Analyseebenen (Befragung von<br />
<strong>Lernen</strong>den im Anschluss an Unterricht<br />
sowie während des Unterrichts [zum<br />
Beispiel mit Hilfe von Personal Digital<br />
Assistants; SEMBILL/SEIFRIED/DREYER<br />
2008], Unterrichtsbeobachtungen,<br />
Einbezug der <strong>Lehren</strong>den) eine Erfolg<br />
versprechende Möglichkeit dar, wenn<br />
man mehr über die Effekte von unterrichtlichen<br />
Grundentscheidungen (lehrer-<br />
versus lernerzentrierte Gestaltung<br />
des Unterrichts) erfahren möchte.<br />
Anmerkungen<br />
1) Bei BENDORF (2002) stellt sich ein ähnliches<br />
Bild dar: Die (handlungsorientierte)<br />
Experimentalgruppe liegt hinsichtlich<br />
der wahrgenommenen Überforderung<br />
im Mittel signifikant über der<br />
Kontrollgruppe.<br />
2) Neben diesen „quantitativ“ orientierten<br />
methodischen Vorgehensweisen hat<br />
beispielsweise BEYEN (2007) den Einfluss<br />
der Unterrichtsform auf die Lernmotivation<br />
bei Einzelhandelskaufleuten<br />
mit Hilfe von Einzelfallstudien untersucht.<br />
Er kam zu dem Befund, dass<br />
die handlungsorientiert unterrichteten<br />
Schülerinnen und Schüler eine positivere<br />
Lernhaltung aufwiesen.<br />
3) Weiterführende Informationen zu Design<br />
und empirischen Befunden finden<br />
sich u. a. bei SEMBILL u. a. (2007).<br />
4) Ein Blick in den gewerblich-technischen<br />
Bereich der Arbeiten der Stuttgarter<br />
Gruppe um NICKOLAUS ist im vorliegenden<br />
Kontext trotz des Domänenwechsels<br />
von unmittelbarem Interesse,<br />
da die Studien ähnlich gelagerte Fragestellungen<br />
verfolgen und daher ein<br />
vergleichbares Forschungsdesign aufweisen<br />
wie die bisher skizzierten. So<br />
untersuchten beispielsweise NICKOLAUS<br />
und BICKMANN (2002) in einer einjährigen<br />
Feldstudie zwei eher direktiv mit<br />
zwei eher handlungsorientiert unterrichtete<br />
Klassen. Sie konnten hinsichtlich<br />
der Lernmotivation keine überzufälligen<br />
Effekte feststellen (wohl aber in Bezug<br />
auf die Lernleistung, hier schnitten die<br />
direktiv unterrichteten Klassen signifikant<br />
besser ab). Die jüngeren Aktivitäten<br />
der Gruppe sind in der Dissertation von<br />
KNÖLL (2007) umfänglich dokumentiert.<br />
Bei einem Vergleich von insgesamt<br />
zehn Klassen angehender Elektroinstallateure<br />
konnten erneut keine Vorteile für<br />
handlungsorientiert unterrichtete Klassen<br />
im Vergleich zu eher direktiv unterrichteten<br />
Klassen festgestellt werden<br />
(siehe auch den Beitrag von NICKOLAUS<br />
in diesem Band).<br />
Literatur<br />
ACHTENHAGEN, F. (2006): Lehr-Lern-Arrangements.<br />
In: Kaiser, F.-J./Pätzold, G.<br />
(Hrsg.): Handwörterbuch Berufs- und<br />
Wirtschaftspädagogik. 2., überarbeitete<br />
und erweiterte Auflage, Bad Heilbrunn,<br />
S. 322–327<br />
ACHTENHAGEN, F./GRUBB, W. N. (2001): Vocational<br />
and occupational education: Pedagogical<br />
complexity, institutional diversity.<br />
In: RICHARDSON, V. (Ed.): Handbook<br />
of research on teaching. 4th edition.<br />
Washington (D. C.), pp. 604–639<br />
BENDORF, M. (2002): Bedingungen und Mechanismen<br />
des Wissenstransfers. Lehr-<br />
und Lern-Arrangements für die Kundenberatung<br />
in Banken, Wiesbaden<br />
BEYEN, W. (2007): Handlungsorientierter<br />
Unterricht in Warenverkaufskunde. Essen<br />
CZYCHOLL, R. (2006): Handlungsorientierung.<br />
In: KAISER, F.-J./PÄTZOLD, G.<br />
(Hrsg.): Handwörterbuch Berufs- und<br />
Wirtschaftspädagogik. 2., überarbeitete<br />
und erweiterte Auflage, Bad Heilbrunn,<br />
S. 271–274<br />
GRUEHN, S. (2000): Unterricht und schulisches<br />
<strong>Lernen</strong>. Schüler als Quellen der<br />
Unterrichtsbeschreibung, Münster u. a.<br />
KNÖLL, B. (2007): Differentielle Effekte von<br />
methodischen Entscheidungen und Organisationsformen<br />
beruflicher Grundbildung<br />
auf die Kompetenz- und Motivationsentwicklung<br />
in der gewerblich-technischen<br />
Erstausbildung: eine empirische<br />
Untersuchung in der Grundausbildung<br />
von Elektroinstallateuren. Aachen<br />
NEEF, C. (2008): Förderung beruflicher<br />
Handlungskompetenz – Ein experimenteller<br />
Vergleich zwischen handlungsorientiertem<br />
und traditionellem Unterricht.<br />
Stuttgart<br />
66 lernen & lehren (l&l) (2010) <strong>98</strong>