03/2017
Fritz+Fränzi
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Monatsinterview<br />
>>> dungen und Schmerzen ohne trauen aufzubauen. Ihre Eltern<br />
medizinisch erkennbare Ursachen,<br />
trifft sich in der Freizeit nicht mehr<br />
mit seinen Freunden. Wie sich herausstellt,<br />
ist seine Mutter psychisch<br />
erkrankt und hat ihren Sohn an sich<br />
gebunden. Er muss die Rolle eines<br />
Pflegenden und Verpflegenden übernehmen<br />
und verliert dadurch die<br />
Möglichkeit, noch Kind sein zu können.<br />
Ein anderer Junge meldet sich<br />
per E-Mail und schreibt, dass er es<br />
nicht mehr aushalte zu Hause. Seine<br />
Mutter schreie ihn mindestens einmal<br />
wöchentlich «den ganzen<br />
Abend» an, werfe ihm vor, wie böse<br />
und undankbar er sei. Sie wecke ihn<br />
nachts auf und verletze fortlaufend<br />
seine Privatsphäre.<br />
In welchen Fällen müssen die Behörden<br />
eingreifen?<br />
Immer dann, wenn das Kindeswohl<br />
gefährdet ist und die Eltern nicht<br />
fähig beziehungsweise nicht willens<br />
sind, an ihrem Verhalten beziehungsweise<br />
der Gefährdungssituation<br />
etwas zu ändern.<br />
Haben Sie ein konkretes Beispiel?<br />
Ich erinnere mich an eine 15-Jährige,<br />
die sich selbst an den Sozialdienst<br />
gewandt hat, weil sie es zu Hause<br />
nicht mehr ausgehalten hat. Ihre<br />
Mutter, in der Trennung zum Vater<br />
lebend, sagte Dinge zu ihr wie:<br />
haben nie eine Beziehung zu ihrem<br />
Kind aufbauen können oder wollen.<br />
Was ist mit ihr passiert?<br />
Die Behörden haben entschieden,<br />
dass das Mädchen in einer betreuten<br />
Wohngruppe platziert werden soll.<br />
Alle Beteiligten haben dem zugestimmt.<br />
Wie erkennen Sie einen Fall von psychischer<br />
Gewalt?<br />
Wir sind vor allem auf die Aussagen<br />
von Eltern und Kindern angewiesen.<br />
«Mein Mami sagt, dass sie mich lieber<br />
nie geboren hätte.» Es gibt Eltern,<br />
die so etwas völlig unbedarft vor<br />
Zeugen aussprechen. Im Rahmen<br />
von Untersuchungen wurde festgestellt,<br />
dass in Misshandlungsfamilien<br />
weniger kommuniziert wird und,<br />
wenn kommuniziert wird, oftmals<br />
negativ. Und in einem Umfeld, wo<br />
Beleidigungen und Schimpfwörter<br />
zum Standard der Kommunikation<br />
gehören, werden Beschimpfungen<br />
auch eher ausserhalb der eigenen<br />
vier Wände geäussert.<br />
Sie sprachen gerade von typischen<br />
Missbrauchsfamilien …<br />
... so einfach ist das leider nicht. So<br />
vielfältig die Formen und Ausprägungen<br />
von psychischer Gewalt sind,<br />
so vielfältig sind auch die Familien.<br />
Das können Eltern mit niedrigem<br />
Bildungshintergrund sein, Mütter<br />
oder Väter mit einer psychischen<br />
«Das können Eltern<br />
Krankheit oder einem Suchtproblem.<br />
Es können aber auch Eltern<br />
wie Sie und ich sein,<br />
wie Sie und ich sein, die manchmal<br />
die in Situationen<br />
in Situationen von Stress, Überforderung<br />
an ihre Grenzen kommen.<br />
von Stress an ihre<br />
Die aus einer Enttäuschung heraus<br />
Grenzen kommen.»<br />
eine Äusserung machen und danach<br />
denken: «Oh nein, so etwas willst du<br />
«Wenn du nicht mehr leben würdest,<br />
hätten wir kein Problem mehr.» Die<br />
Jugendliche wurde für das zerrüttete<br />
Verhältnis der Eltern verantwortlich<br />
gemacht. Dass sie Hilfe und Unterstützung<br />
nötig hatte, war naheliegend.<br />
Jemand, der dem Teenager ein<br />
Umfeld bieten konnte, das ihm half,<br />
die Verletzungen zu verarbeiten und<br />
das Selbstbewusstsein und Selbstverdoch<br />
eigentlich gar nicht sagen!» So<br />
wie es auch in der Kommunikation<br />
unter Erwachsenen passieren kann.<br />
Nur darf man dann nicht, weil es sich<br />
beim Gegenüber um ein Kind handelt,<br />
einfach darüber hinwegsehen.<br />
Kann man das Gesagte zurücknehmen,<br />
sich entschuldigen?<br />
Ja, unbedingt. «Sorry, es tut mir leid.<br />
Jetzt habe ich wieder etwas total<br />
Unüberlegtes gesagt.» Aber dann<br />
lassen Sie es auch darauf bewenden.<br />
Diese Dinge passieren fast jeder<br />
Mutter oder jedem Vater mal. Davor<br />
ist keiner gefeit.<br />
«Mehr Fantasie<br />
im Umgang mit<br />
Kindern würde<br />
vielen guttun.»<br />
Und was können Eltern tun, damit es<br />
erst gar nicht so weit kommt?<br />
Wenn man merkt, dass es auf eine<br />
Eskalation zuläuft: sich zurücknehmen,<br />
ein Timeout nehmen, nachdenken<br />
und schauen, was man<br />
anders machen kann, um die Situation<br />
zu einem guten Ende zu bringen.<br />
Es gibt nur sehr wenige Situatio<br />
nen, in denen man unmittelbar<br />
handeln muss. Doch nicht selten<br />
beharren Eltern auf ihren Erziehungsmustern.<br />
Und das sind jahrhundertealte,<br />
unkreative Muster.<br />
Mehr Fantasie im Umgang mit Kindern<br />
würde vielen Familien guttun.<br />
Darüber hinaus sollte man sich<br />
immer wieder fragen: Möchte ich<br />
wirklich so behandelt werden, wie<br />
ich mein Kind gerade behandle? Ein<br />
Kind ist kein Objekt, sondern ein<br />
Subjekt mit Rechten und einem<br />
Anrecht auf Integrität.<br />
Ich persönlich finde es immer hilfreich,<br />
in extremen Stresssituationen<br />
mit den Kindern an meinen Partner zu<br />
übergeben: «Mach du das bitte, ich<br />
explodiere gleich.» Er ist in diesem<br />
Moment vielleicht entspannter und<br />
kann mit der Konfliktsituation gelassener<br />
umgehen. Aber was machen<br />
Eltern, die diese Möglichkeit nicht<br />
haben, weil sie beispielsweise alleinerziehend<br />
sind?<br />
Ein altes Postulat von mir ist die<br />
Nachbarschaftshilfe. Warum schotten<br />
wir uns, wenn es um Erziehungsfragen<br />
geht, nach aussen hin so ab?<br />
Warum tun wir uns so schwer, über<br />
Erziehungsprobleme zu reden? Es ist<br />
36 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi