Breslau/Wrocław – die ehrgeizige Stadt - Instytut Filologii Germańskiej
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Elixiere 5. Ausgabe Wrocław 2011 AKTUELLES<br />
Eine Schlesierin gewährt Einblick in <strong>die</strong> schlesische<br />
Wirklichkeit an lebensnahen Beispielen und<br />
deutet auf <strong>die</strong> Unterschiede zur polnischen Alltagskultur.<br />
Lange hat Oberschlesien nicht mehr so eine große,<br />
nati onale Aufmerksamkeit der Öff entlichkeit<br />
erregt wie in <strong>die</strong>sem Jahr. Nach der höchst kontroversen<br />
Aussage Jarosławs Kaczyńskis über <strong>die</strong><br />
Schlesier als getarnte deutsche Opti on, erschienen<br />
unzählige Presseberichte über Oberschlesien,<br />
insbesondere über <strong>die</strong> fragliche schlesische<br />
Nati onalität und <strong>die</strong> Bewegung für <strong>die</strong> Autonomie<br />
Schlesiens. Man nahm unterschiedliche Haltungen<br />
an: von der Solidarität mit den Schlesiern, über<br />
Verständnis oder Unverständnis, bis zur nati onalisti<br />
schen Phobie. Man äußerte sich über Identi tät,<br />
Kultur, Geschichte, aber von dem, was den Alltag<br />
des Oberschlesiers auszeichnet, wurde abgesehen.<br />
Das, was zu erst in Schlesien auff ällt, ist natürlich<br />
<strong>die</strong> Sprache. Sie ist eine bunte Mischung aus polnischen,<br />
tschechischen, deutschen und eigenen<br />
schlesischen Wörtern. Dabei kommt es sehr oft<br />
vor, dass <strong>die</strong> Begriff e fremde Endungen bekommen.<br />
Zum Beispiel ein deutsches Wort eine polnische<br />
Endung, wie in den Wörtern einfachowy,<br />
familia, rajtować. Man muss auch aufpassen, weil<br />
manche Wörter, <strong>die</strong> polnisch klingen, eine andere<br />
Bedeutung im Schlesischen haben, wie z.B. przodek<br />
(poln. ein Ahne, schl. <strong>die</strong> Vorderseite) oder<br />
kucanie (poln. hocken, schl. husten). Wenn man<br />
einen Schlesier fragt – Czy Twój tata pracuje w hucie?<br />
– kann er sagen, dass sein Vater ohne Kopfbedeckung<br />
arbeitet. Weil <strong>die</strong>ses w hucie sowohl<br />
Eisenhütt e als auch Hut bedeuten kann. Die schlesische<br />
Sprache ist nur eine gesprochene Sprache<br />
und ist nicht einmal für <strong>die</strong> ganze Region typisch,<br />
sondern unterscheidet sich noch lokal. Von Ort zu<br />
Ort wird ein wenig anders gesprochen. Als ich das<br />
Lyzeum in Oppeln besuchte, waren wir 30 Schüler<br />
aus 23 Ortschaft en. Nehmen wir als Beispiel das<br />
Wort viel: in meiner Klasse sagten es manche wie<br />
Seite 20<br />
Schlesische Alltagsbilder<br />
im Polnischen dużo, andere sagten kans, noch andere<br />
westlich der Oder gebrauchten siyła und bei<br />
mir im Süden sagt man moc, was eine tschechische<br />
Bezeichnung für das Wort viel ist.<br />
Die regionale Küche bietet auch einige Leckereien.<br />
Die bekanntesten Spezialitäten sind wohl <strong>die</strong><br />
schlesische Wurst und <strong>die</strong> schlesischen Klöse. An<br />
Wochentagen isst man eine einfache Brotsuppe<br />
– <strong>die</strong> Wodzionka. Am Sonntag zu Mitt ag wird traditi<br />
onell eine Nudelsuppe zubereitet und als zweiten<br />
Gang Rouladen, Klöse und Blaukraut. Bei allen<br />
beliebt ist auch der Streuselkuchen in den drei<br />
Sorten mit Käse, Mohn oder Apfelmus.<br />
Die meisten kirchlichen Feste in Schlesien werden<br />
identi sch wie in ganz Polen gefeiert, aber auch hier<br />
gibt es einige Besonderheiten. Vor allem wird in<br />
vielen Pfarrkirchen eine der Sonntagsmessen in<br />
deutscher Sprache gehalten. Was interessant ist<br />
– vor dem 2. Weltkrieg wurde immer eine Messe<br />
am Sonntag in polnischer Sprache gehalten. Der<br />
wohl bedeutendste Wallfahrtsort Schlesiens ist<br />
der St. Annaberg, wo vor dem Krieg alle großen<br />
Wallfahrten drei mal gefeiert wurden – einmal für<br />
<strong>die</strong> deutschsprachigen Pilger, in einer Woche für<br />
<strong>die</strong> polnischsprachigen und dann noch einmal in<br />
tschechischer Sprache. Diese Tatsache ist ein gutes<br />
Beispiel für <strong>die</strong> Multi kulturalität Schlesiens.<br />
Die schlesischen Diözesen Oppeln und Gleiwitz waren<br />
auch <strong>die</strong> ersten in Polen, <strong>die</strong> offi ziell Mädchen<br />
als Ministranten zuließen und auch <strong>die</strong> Kommunion<br />
auf <strong>die</strong> Hand einführten. Heute ist beides zu<br />
Alltag geworden. Die Einführung <strong>die</strong>ser Änderungen<br />
war in Schlesien ganz natürlich, weil viele es<br />
aus Deutschland kannten. In anderen polnischen<br />
Diözesen galten <strong>die</strong> Reformen als kontrovers.<br />
Was immer wieder meine Bekannten wundert: <strong>die</strong><br />
Hochzeitsmesse fi ndet in Schlesien üblicherweise<br />
vormitt ags statt , meistens um 11 Uhr. Oft wird das<br />
Brautpaar von den sog. Brautjungfern und deren<br />
Partnern begleitet. Typisch für Schlesien ist auch,<br />
dass man einige Wochen vor der Hochzeit <strong>die</strong> Gäste<br />
sowie Nachbarn, Bekannte und den breiteren