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„Oh, hoffentlich hat das niemand abbekommen.“<br />
„Darauf kann keine Rücksicht genommen<br />
werden.“<br />
Lange Minuten verrinnen, Flemming<br />
laufen Schweißperlen über die Stirn, er<br />
muss handeln! Als er unter sich eine<br />
nur geringfügig abgeschrägte große<br />
Wiese entdeckt – nur ganz außen Bäume<br />
und harmloses Felsgestein – , erteilt<br />
er entschlossen die Anweisung zur<br />
Notlandung.<br />
Ein Ruck, ein Stoß, ein Beben. Das<br />
Luftschiff ist auf die Wiese gedonnert.<br />
Durch die helle Ballonhülle hat sich an<br />
manchen Stellen das Gitterwerk des<br />
Schiffsrumpfes gebohrt, die vordere<br />
Gondel hängt schief. Eine Strickleiter<br />
wird entrollt, einer von der Mannschaft<br />
klettert heraus. Er hat das Ende eines<br />
von Stahladern geflochtenes Seil, das<br />
im Schiff verankert ist, in den Händen.<br />
Gewandt springt der Mann ab, stürzte<br />
auf die Bäume zu, schlingt das Seil um<br />
einen Baum, verknotet es. Nacheinander<br />
steigt die Mannschaft aus. Betreten<br />
schaut sie sich um, sieht Menschen<br />
auftauchen; neugierig, erregt, ängstlich.<br />
Die Landung des unbekannten<br />
Apparates ist natürlich nicht unbemerkt<br />
geblieben und hat die Bewohner<br />
des Dorfes aufgescheucht. Aber ja, sie<br />
haben vom Grafen Zeppelin und seinen<br />
abenteuerlichen Flugmaschinen<br />
gehört. Seit sich die riesigen Fabrikanlagen<br />
und Kali-Gruben in der Nähe<br />
erstrecken, leben sie nicht gerade<br />
hinterm Mond. Monatlich erreicht sie<br />
der Kreisanzeiger, es existieren jetzt<br />
feste Straßen, eine Wasserleitung gibt<br />
es auch, und der Bürgermeister hat<br />
ein Motorrad, eine Zündapp. Wenn<br />
er auf ihr los rattert, ach, wie da die<br />
schnatternden Gänse flüchten und der<br />
Hofhund argwöhnisch und aufgestört<br />
winselt. Das aber auf dem Feld- und<br />
Wiesenstück hinterm Dorf ein Luftschiff<br />
vom Himmel fällt, ist ein tolles<br />
Ereignis.<br />
Einer der Dorfbewohner schreitet das<br />
Luftschiff prüfend ab, geht zu der stattlichen<br />
Kiefer, wo das Rettungsseil vertaut<br />
ist. Da faucht eine Bö heran, trifft<br />
den Mann. Er wird zu Boden geschleudert,<br />
erhebt sich mühsam, stellt sich<br />
neben Flemming.<br />
Besatzungsmitglieder umrunden das<br />
Luftschiffwrack, einige sind erschöpft<br />
auf die Wiese gesunken. Am stärksten<br />
ist durch den Aufprall das Mittelschiff<br />
betroffen, die hintere Gondel ist beim<br />
Absturz auseinandergebrochen. Zum<br />
Glück im Unglück ist es nicht zur Katastrophe<br />
gekommen, das Wasserstoffgas<br />
entzündete sich nicht. Forderte keine<br />
Opfer.<br />
Schon am selben Tag beginnt die<br />
Demontage des Riesen. Die leinene<br />
Hülle wird mit vereinten Kräften heruntergezogen<br />
und zusammengerollt.<br />
Die Tiefenorter, schwankend zwischen<br />
Betroffenheit, Wissbegierde und heller<br />
Aufregung packen kräftig mit an. Die<br />
Mannschaft staunt über die willige<br />
Hilfsbereitschaft. Die Feuerwehr steht<br />
bereit, der Herr Pfarrer, ein Mann der<br />
Nächstenliebe, gibt seelsorgerlichen<br />
Beistand. Und die Frauen des Dorfes?<br />
Sie haben in dieser bitteren Zeit eine<br />
große Last zu tragen. Der Krieg verändert<br />
auch ihr Leben nachhaltig. Die<br />
jungen Männer – ihre Gatten, erwachsenen<br />
Söhne, ihre Brüder und Verlobten<br />
– sind im Felde, die schwere Arbeit<br />
auf dem Hof und in der Landwirtschaft<br />
umklammert die Daheimgebliebenen.<br />
Jetzt aber ist es für sie selbstverständlich<br />
zu helfen. Die Tiefenorter sind bis<br />
in die nächsten Tage hinein gute Gastgeber.<br />
Beim gemeinsamen Treffen im<br />
„Stern“ werden die Frauen nicht müde,<br />
große Bleche herein zu tragen, den<br />
leckeren selbstgebackenen Kuchen darauf<br />
aufzuschneiden und zu servieren.<br />
Informationen<br />
Peter Drescher, Schriftsteller<br />
aus Tiefenort, hat die Geschichte<br />
der Notlandung des L 55 vor<br />
genau 100 Jahren sehr emotional<br />
und aus anderer Sicht für<br />
das Magazin „<strong>Landstreicher</strong>“<br />
aufgeschrieben.