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Hinz&Kunzt 295 September 2017

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Stadtgespräch<br />

Sympathie und hat kein richtiges Programm.<br />

Und die Grünen sind heute auch nicht anders.“<br />

Auch Harald verzichtet auf eine Stimmabgabe.<br />

Bei der echten Wahl will er kurzfristig die herauspicken,<br />

die am weitesten im Abseits stehen.<br />

Dabei schreckt er auch vor rechten Parteien<br />

nicht zurück. „Ich bin Protestwähler“, sagt er.<br />

Viel Frust und wenig Hoffnung – das äußern<br />

viele Hinz&Künztler, die wir nach ihrer<br />

Meinung fragen. Andi bezweifelt, dass das<br />

Mehrheitsprinzip überhaupt funktioniert. „Ich<br />

bleibe nun mal: einer. Und der Einzelne ist launisch.“<br />

Demokratie sei in kleinen Gruppen<br />

„Jetzt, wo ich ein<br />

Dach über dem<br />

Kopf habe, ist der<br />

Horizont schon<br />

etwas weiter.“<br />

HINZ&KÜNZTLER JÖRG<br />

sinnvoll, aber bundesweit? Er ist sich da nicht sicher.<br />

Für einige Hinz&Künztler kommt Wählen<br />

gar nicht erst infrage. „Weil alle Politiker Betrüger<br />

sind“, meint Verkäufer Jürgen. Zu dem<br />

Schluss kam er 1991, als der damalige Kanzler<br />

Helmut Kohl sein Wahlversprechen brach, im<br />

Zuge der Wiedervereinigung keine Steuern zu<br />

erhöhen. Dass es auch Gegenbeispiele gibt,<br />

glaubt Jürgen nicht. Was er in den Zeitungen lese,<br />

bestärke ihn eher. „Meistens lese ich nur die<br />

Überschriften und dann hab ich schon genug.“<br />

Sein Urteil steht fest: „Traue keinem Politiker.“<br />

Hinz&Künztler David stimmt zu. „Ist doch eh<br />

alles im Arsch in Deutschland“, findet er. „Und<br />

ich kann mich auch nicht dagegen wehren.“<br />

Früher habe er ähnlich gedacht, erzählt<br />

Jörg P. Dreieinhalb Jahre lang machte er Platte.<br />

Damals interessierte ihn Politik überhaupt<br />

nicht, er hatte ganz andere Sorgen: Einen sicheren,<br />

geschützten Schlafplatz finden, den nächsten<br />

Tag überstehen. Dass eine Wahl daran etwas<br />

ändern könnte, erschien absurd. Doch wie<br />

manche Hinz&Künztler hatte Jörg irgendwann<br />

Glück und fand eine feste Bleibe. „Jetzt, wo ich<br />

ein Dach über dem Kopf habe, ist der Horizont<br />

schon etwas weiter“, sagt er, nachdem er seinen<br />

Stimmzettel in der Urne versenkt hat. Jörg hofft<br />

auf „eine menschlichere Politik. Mir geht es darum,<br />

wie der soziale Bereich abgedeckt ist, ob<br />

nicht nur ans Kapital gedacht wird.“ Auch<br />

wenn er im Vergleich zu anderen immer noch<br />

wenig hat – eine Stimme hat er, und die gibt er<br />

ab, auch bei der Bundestagswahl. Jörg P. ist fest<br />

entschlossen, versteht aber auch den Frust, den<br />

viele Obdachlose spüren, wenn es um Politik<br />

geht. „Obdachlosigkeit – das ist eine Dunkelziffer,<br />

die nicht wirklich interessiert“, stellt er fest.<br />

Jörg vermutet: Vielen Politikern wäre es lieber,<br />

wenn nicht einmal über die Dunkelziffer gesprochen<br />

oder geschrieben würde. „Uns geht es<br />

doch allen gut!“, ruft er mit ironischem Lachen.<br />

Was Jörg erzählt, kommt im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Wahllokal immer wieder zur Sprache: Wer auf<br />

der Straße lebt, fühlt sich oft so ausgeschlossen,<br />

dass Wählen scheinbar keinen Sinn hat. Obwohl<br />

das Landeswahlamt auch um die Stimmen<br />

der Obdachlosen wirbt: Wer keine Meldeadresse<br />

hat, kann bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>, in anderen<br />

sozialen Einrichtungen oder bei den Wahldienststellen<br />

die Aufnahme ins Wählerverzeichnis<br />

beantragen. Ein Zugang – aber für viele, die<br />

sich außen vor fühlen, keine wirkliche Motivation.<br />

Was den Blick auf die Welt dagegen radikal<br />

ändert, ist eine feste Bleibe.<br />

So war es auch bei Martina. Seit Januar hat<br />

sie eine Wohnung, vorher schlief sie mal hier,<br />

mal da, bei Bekannten oder im Winternotprogramm.<br />

„Ich habe bis jetzt noch nie gewählt“,<br />

sagt sie, nachdem sie ihren Stimmzettel eingeworfen<br />

hat. „Aber dieses Jahr bin ich dabei.“ Es<br />

muss sich endlich was verändern, findet sie.<br />

„Vor allem für die sozial Schwachen.“ Bei allem,<br />

was Ehrenamtliche leisten in Kleiderkammern<br />

oder Einrichtungen wie dem CaFée mit<br />

Herz, wo Martina oft zu Gast war – eine echte<br />

Lösung sozialer Probleme ist das aus ihrer Sicht<br />

nicht. Mit der Wahl könnte man der Lösung zumindest<br />

näherkommen, hofft Hinz&Künztler<br />

Günther. Er wähle „grundsätzlich aus Prinzip“,<br />

sagt er. Auch bei ihm war das früher anders.<br />

15 Jahre lang lebte Günther auf der Straße. Er<br />

habe damals keine Chance gesehen, wählen zu<br />

gehen, sagt er. Heute stimmt er per Briefwahl<br />

ab – oder fährt zu einem barrierefreien Wahllokal,<br />

wo er mit seinem Rollstuhl hineinkann.<br />

Für Elena ist Wählen eine neue Erfahrung.<br />

In ihrer Heimat Rumänien hat sie darauf ver-<br />

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