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Stadtgespräch<br />
Sympathie und hat kein richtiges Programm.<br />
Und die Grünen sind heute auch nicht anders.“<br />
Auch Harald verzichtet auf eine Stimmabgabe.<br />
Bei der echten Wahl will er kurzfristig die herauspicken,<br />
die am weitesten im Abseits stehen.<br />
Dabei schreckt er auch vor rechten Parteien<br />
nicht zurück. „Ich bin Protestwähler“, sagt er.<br />
Viel Frust und wenig Hoffnung – das äußern<br />
viele Hinz&Künztler, die wir nach ihrer<br />
Meinung fragen. Andi bezweifelt, dass das<br />
Mehrheitsprinzip überhaupt funktioniert. „Ich<br />
bleibe nun mal: einer. Und der Einzelne ist launisch.“<br />
Demokratie sei in kleinen Gruppen<br />
„Jetzt, wo ich ein<br />
Dach über dem<br />
Kopf habe, ist der<br />
Horizont schon<br />
etwas weiter.“<br />
HINZ&KÜNZTLER JÖRG<br />
sinnvoll, aber bundesweit? Er ist sich da nicht sicher.<br />
Für einige Hinz&Künztler kommt Wählen<br />
gar nicht erst infrage. „Weil alle Politiker Betrüger<br />
sind“, meint Verkäufer Jürgen. Zu dem<br />
Schluss kam er 1991, als der damalige Kanzler<br />
Helmut Kohl sein Wahlversprechen brach, im<br />
Zuge der Wiedervereinigung keine Steuern zu<br />
erhöhen. Dass es auch Gegenbeispiele gibt,<br />
glaubt Jürgen nicht. Was er in den Zeitungen lese,<br />
bestärke ihn eher. „Meistens lese ich nur die<br />
Überschriften und dann hab ich schon genug.“<br />
Sein Urteil steht fest: „Traue keinem Politiker.“<br />
Hinz&Künztler David stimmt zu. „Ist doch eh<br />
alles im Arsch in Deutschland“, findet er. „Und<br />
ich kann mich auch nicht dagegen wehren.“<br />
Früher habe er ähnlich gedacht, erzählt<br />
Jörg P. Dreieinhalb Jahre lang machte er Platte.<br />
Damals interessierte ihn Politik überhaupt<br />
nicht, er hatte ganz andere Sorgen: Einen sicheren,<br />
geschützten Schlafplatz finden, den nächsten<br />
Tag überstehen. Dass eine Wahl daran etwas<br />
ändern könnte, erschien absurd. Doch wie<br />
manche Hinz&Künztler hatte Jörg irgendwann<br />
Glück und fand eine feste Bleibe. „Jetzt, wo ich<br />
ein Dach über dem Kopf habe, ist der Horizont<br />
schon etwas weiter“, sagt er, nachdem er seinen<br />
Stimmzettel in der Urne versenkt hat. Jörg hofft<br />
auf „eine menschlichere Politik. Mir geht es darum,<br />
wie der soziale Bereich abgedeckt ist, ob<br />
nicht nur ans Kapital gedacht wird.“ Auch<br />
wenn er im Vergleich zu anderen immer noch<br />
wenig hat – eine Stimme hat er, und die gibt er<br />
ab, auch bei der Bundestagswahl. Jörg P. ist fest<br />
entschlossen, versteht aber auch den Frust, den<br />
viele Obdachlose spüren, wenn es um Politik<br />
geht. „Obdachlosigkeit – das ist eine Dunkelziffer,<br />
die nicht wirklich interessiert“, stellt er fest.<br />
Jörg vermutet: Vielen Politikern wäre es lieber,<br />
wenn nicht einmal über die Dunkelziffer gesprochen<br />
oder geschrieben würde. „Uns geht es<br />
doch allen gut!“, ruft er mit ironischem Lachen.<br />
Was Jörg erzählt, kommt im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Wahllokal immer wieder zur Sprache: Wer auf<br />
der Straße lebt, fühlt sich oft so ausgeschlossen,<br />
dass Wählen scheinbar keinen Sinn hat. Obwohl<br />
das Landeswahlamt auch um die Stimmen<br />
der Obdachlosen wirbt: Wer keine Meldeadresse<br />
hat, kann bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>, in anderen<br />
sozialen Einrichtungen oder bei den Wahldienststellen<br />
die Aufnahme ins Wählerverzeichnis<br />
beantragen. Ein Zugang – aber für viele, die<br />
sich außen vor fühlen, keine wirkliche Motivation.<br />
Was den Blick auf die Welt dagegen radikal<br />
ändert, ist eine feste Bleibe.<br />
So war es auch bei Martina. Seit Januar hat<br />
sie eine Wohnung, vorher schlief sie mal hier,<br />
mal da, bei Bekannten oder im Winternotprogramm.<br />
„Ich habe bis jetzt noch nie gewählt“,<br />
sagt sie, nachdem sie ihren Stimmzettel eingeworfen<br />
hat. „Aber dieses Jahr bin ich dabei.“ Es<br />
muss sich endlich was verändern, findet sie.<br />
„Vor allem für die sozial Schwachen.“ Bei allem,<br />
was Ehrenamtliche leisten in Kleiderkammern<br />
oder Einrichtungen wie dem CaFée mit<br />
Herz, wo Martina oft zu Gast war – eine echte<br />
Lösung sozialer Probleme ist das aus ihrer Sicht<br />
nicht. Mit der Wahl könnte man der Lösung zumindest<br />
näherkommen, hofft Hinz&Künztler<br />
Günther. Er wähle „grundsätzlich aus Prinzip“,<br />
sagt er. Auch bei ihm war das früher anders.<br />
15 Jahre lang lebte Günther auf der Straße. Er<br />
habe damals keine Chance gesehen, wählen zu<br />
gehen, sagt er. Heute stimmt er per Briefwahl<br />
ab – oder fährt zu einem barrierefreien Wahllokal,<br />
wo er mit seinem Rollstuhl hineinkann.<br />
Für Elena ist Wählen eine neue Erfahrung.<br />
In ihrer Heimat Rumänien hat sie darauf ver-<br />
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