Hinz&Kunzt 298 Dezember 2017
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Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>298</strong>/DEZEMBER <strong>2017</strong><br />
Wajeh und Nir wollen<br />
die Grenzen in den<br />
Köpfen der Menschen<br />
überwinden: „Nur dann<br />
wird sich etwas ändern.“<br />
„Vielleicht können wir das Blutvergießen<br />
stoppen“, sagt Wajeh. Sie werden<br />
in Hamburg eine Moschee besuchen<br />
und mit Muslimen reden, sie werden in<br />
einer Kirche von ihrem Schmerz und<br />
ihrer Hoffnung sprechen. Sie suchen<br />
weltweit Verbündete in einem schier<br />
aussichtslosen Kampf.<br />
Parents Circle heißt ihre Organisation.<br />
Aktiv mitmachen darf nur, wer in<br />
den israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen<br />
ein Familienmitglied<br />
verloren hat. „Wir sind wahrscheinlich<br />
die einzige Organisation in der Welt, die<br />
nicht größer werden will“, sagt Wajeh.<br />
Wajeh ist Geschäftsmann, er vertreibt<br />
Hühnerkäfige. Viele seiner Kunden<br />
sind Israelis. Insofern hatte er keine<br />
Berührungsängste mit „den anderen“.<br />
Aber Nir kannte keine Palästinenser. Bis<br />
er zu Parents Circle kam. Sein Sohn<br />
hatte dort bei einer Jugendfreizeit mitgemacht.<br />
Das war acht Jahre nach dem<br />
Bombenattentat, 2003, mitten in der<br />
zweiten Intifada.<br />
„Und es war unglaublich: Menschen<br />
von der anderen Seite vergossen<br />
Tränen, als ich meine Geschichte erzählte“,<br />
sagt der Sozialarbeiter. Aber<br />
natürlich erzählten die Palästinenser<br />
auch ihre Geschichte, in der ein Israeli<br />
„Vielleicht<br />
können wir das<br />
Blutvergießen<br />
stoppen.“ WAJEH<br />
der Täter war: „Es war nicht leicht für<br />
mich, sie anzuhören“, sagt Nir. „Aber<br />
plötzlich spürte ich diesen gemeinsamen,<br />
grenzenlosen Schmerz. Es war<br />
überwältigend.“<br />
Genau das ist die Hauptaktivität<br />
von Parents Circle: Die Menschen beider<br />
Seiten zusammenzubringen – in ihrer<br />
Trauer, in ihrem Schmerz. Es gibt<br />
gemischte Gruppen, die zuerst das<br />
jüdische Mahnmal Yad Vashem besuchen,<br />
in dem an die Opfer des Holocaust<br />
erinnert wird – und danach ein<br />
palästinensisches Dorf, das von den Israelis<br />
zerstört wurde. Das schafft Verständnis,<br />
Nähe.<br />
Eine Nähe, die es vorher so nicht<br />
gab. „Viele Palästinenser kennen nur<br />
israelische Soldaten – und viele Israelis<br />
30<br />
sehen Palästinenser nur als potenzielle<br />
Gewalttäter“, sagt Nir. „Bei mir war es<br />
genauso, für mich war es ein Kulturschock,<br />
mit Palästinensern zu sprechen,<br />
und das auch noch über persönliche<br />
Dinge.“<br />
„Das ist kein religiöser Konflikt“,<br />
erklärt Wajeh. „Der Konflikt, das sind<br />
die Grenzen. Wenn ein Israeli die Landkarte<br />
unseres Landes zeichnet, zeichnet<br />
er sie anders als ein Palästinenser. Wir<br />
sind alle Opfer der Besetzung. Das ist<br />
der Grund, warum mein Bruder und<br />
meine Cousins getötet wurden – und<br />
das ist auch der Grund, warum Nirs<br />
Mutter getötet wurde.“<br />
Am deutlichsten wird der Konflikt<br />
tatsächlich an den Checkpoints und<br />
dem Zaun zwischen Israel und den besetzten<br />
Gebieten. „Wir haben Angst vor<br />
Attentaten“, sagt Nir. Deswegen werden<br />
die Grenzen geöffnet und geschlossen,<br />
Ausgangssperren verhängt und wieder<br />
aufgehoben, Menschen kontrolliert und<br />
dann wieder nicht. „Dieser unerträgliche<br />
Alltag schürt neuen Hass und neue<br />
Gewalt“, da ist sich Nir sicher. Und das<br />
wiederum steigert die Angst der Israelis.<br />
„Die Palästinenser müssen mehr<br />
aushalten als wir“, sagt Nir. Manche<br />
Geschichten hören sich an wie Szenen