16.01.2018 Aufrufe

buch aktuell Winter 2017/2018

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Literatur/Unterhaltung<br />

Doppelte Moral<br />

Die US-Amerikanerin Jodi Picoult schreibt in ihrem neuen Roman „Kleine große Schritte“<br />

über den unterschwelligen, alltäglichen Rassismus, der in der scheinbar so aufgeklärten<br />

westlichen Welt noch lange nicht überwunden ist.<br />

Mit ihren Roma nen wie „Beim Leben meiner Schwester“,<br />

„Schuldig“, „19 Minuten“ oder „Zerbrechlich“ avancierte<br />

Jodi Picoult (* 1967) zu einer international erfolgreichen<br />

Bestsellerautorin. Sie gilt zu Recht als eine der großen<br />

Stimmen der anspruchsvoll unterhaltsamen Literatur. Protagonistin<br />

ihres neuen Romans ist Ruth Jefferson, eine äußerst erfahrene Säuglingsschwester.<br />

Als sie jedoch ein Neugeborenes versorgen will, wird ihr<br />

das von der Klinikleitung untersagt. Die Eltern wollen nicht, dass eine<br />

Afroamerikanerin ihren Sohn berührt. Als sie eines Tages allein auf der<br />

Station ist und das Kind eine schwere Krise erleidet, gerät Ruth in ein<br />

moralisches Dilemma: Darf sie sich der Anweisung widersetzen und dem<br />

Jungen helfen? Als sie sich dazu entschließt, ihrem Gewissen zu folgen,<br />

kommt jede Hilfe zu spät. Und Ruth wird angeklagt, schuld an seinem Tod<br />

zu sein ... Zum Hintergrund sowie zur Entstehungsgeschichte ihres neuen<br />

Romans „Kleine große Schritte“ erzählt die Autorin Folgendes:<br />

Jodi Picoult<br />

„Ich fragte mich, was mir das Recht<br />

gab, über eine Erfahrung zu schreiben,<br />

die ich nicht selbst gemacht<br />

hatte. [...] Jahrelang hatte ich<br />

meine Hausaufgaben gemacht und<br />

recherchiert und dabei intensive<br />

persönliche Interviews geführt,<br />

um all jenen Menschen, die nicht<br />

so waren wie ich, eine Stimme<br />

zu geben: Männern, Teenagern,<br />

Selbstmordgefährdeten, misshandelten<br />

Frauen, Vergewaltigungsopfern.<br />

Meine Empörung und der<br />

Wunsch, diese Einsichten bekannt<br />

zu machen, gaben den Anstoß, sie niederzuschreiben, um all jenen, die<br />

diese Erfahrungen nicht gemacht hatten, die Augen zu öffnen. Warum<br />

sollte dies anders sein, wenn ich über eine farbige Person schrieb? Weil<br />

Rassenzugehörigkeit etwas anderes ist. Rassismus etwas anderes ist.<br />

Beides ist befrachtet, und es lässt sich nur schwer darüber reden, weshalb<br />

wir es häufig gar nicht erst tun.<br />

Dann las ich in der Zeitung von einer afroamerikanischen Krankenschwester<br />

in Flint, Michigan. Sie war seit über 20 Jahren als Säuglingsschwester<br />

tätig, und dann verlangte eines Tages der Vater eines Neugeborenen,<br />

ihre Vorgesetzte zu sprechen. Er bestand darauf, dass sein Kind<br />

weder von dieser Krankenschwester noch von anderen, die aussahen<br />

wie sie, angefasst wurde. Wie sich herausstellte, war er ein Rechtsextremist.<br />

Die Vorgesetzte legte das Patientenersuchen in der Akte ab,<br />

aber das afroamerikanische Personal tat sich zusammen, klagte wegen<br />

Diskriminierung und gewann. Das stimmte mich nachdenklich, und ich<br />

begann, eine Geschichte zu erfinden.<br />

Für mich stand fest, dass ich aus dem Blickwinkel der schwarzen<br />

Säuglingsschwester, des Skinhead-Vaters und einer Pflichtverteidigerin<br />

schreiben wollte – einer Frau, die wie ich und viele meiner Leserinnen<br />

eine weiße Frau mit besten Absichten war und sich niemals als Rassistin<br />

verstehen würde. Plötzlich wusste ich, dass ich diesen Roman zu Ende<br />

führen könnte und würde. Ich würde ihn nicht schreiben, um Farbigen<br />

zu erzählen, wie ihr Leben aussah. Ich schrieb für meine eigene Gemeinschaft<br />

– weiße Menschen –, die kein Problem damit haben, auf einen<br />

Neonazi-Skinhead zu zeigen und zu sagen, dass er Rassist sei ... den eigenen<br />

Rassismus aber nicht erkennen.“<br />

Jodi Picoult<br />

Kleine große Schritte<br />

übersetzt von Elfriede Peschel<br />

C. Bertelsmann, 592 Seiten, geb.<br />

20,- € (D), 20,60 € (A), 26,90 sFr<br />

ISBN 978-3-570-10237-4<br />

12 | <strong>buch</strong> <strong>aktuell</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!