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E_1936_Zeitung_Nr.076

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18<br />

Bei Landquait<br />

Letzte Begegnung<br />

Die Sonne brannte in weissem Feuer aufden<br />

Quai, und das Meer lag davor in einem<br />

tiefblauen, fast violett schimmernden Leuchten.<br />

Ich sass am Geländer und starrte auf die<br />

Gruppen der Spaziergänger, die langsam über<br />

die Promenade des Anglais zogen, mein Blick<br />

irrte zum einsam liegenden Palais de la Jetee<br />

und wieder in die Flucht der Palmen, die sich<br />

leise und trag im lauen Spätnachmittagswind<br />

wiegten. Nizza war eine stille Provinzstadt<br />

geworden. Die Saison war in diesem Jahr<br />

über alle Massen schlecht. In dem prunkhaften<br />

Palais de la M6diterrannee hatten die<br />

Croupiers abendelang umsonst auf die grossen<br />

Spieler gewartet, im grossen Saal zwei Orchester<br />

und die Varietebühne vor vier oder<br />

fünf Paaren gespielt, die ihre Hochzeitsreise<br />

oder irgend ein Zufall hierhergeführt hatte.<br />

Auf den Terrassen, wo sich sonst die elegante<br />

Menge aus Nordeuropa im blauen Licht des<br />

Meeres sonnte und die Silhouetten von New-<br />

York und Buenos-Aires kritisierten, promenierte<br />

jetzt die französische Provinz.<br />

Und da geschah mir nun das Rätselhafte.<br />

Während ich ohne Gedanken in diese Menge<br />

sah, gewahrte ich ein Gesicht. Wem ist nicht<br />

schon in tiefer Nacht zwischen Schlaf und Wachen<br />

ein Antlitz erschienen, das uns einen kühlen<br />

Schauer über den Körper giesst, das uns<br />

den Atem abschneidet, dass wir keuchend mit<br />

dem Erwachen ringen, bis wir mit einem Schrei<br />

aus dem Traum wie aus tiefem Wasser auftauchen<br />

und nun erschreckt ins Dunkle starren,<br />

wo eben die Vision verschwunden ist.<br />

So sass ich da. Fühlte, wie meine Pupillen<br />

sich öffneten und glasig wurden, dem Rückgrat<br />

entlang floss es nieder wie ein kühler Strahl,<br />

der mir in die Glieder drang und ich hatte nur<br />

ein Gefühl: Wenn ich jetzt aufstehen müsste,<br />

könnte ich keinen Schritt tun...<br />

Und dann war die Vision vorbei, das Gesicht<br />

verschwunden. Was war an ihm gewesen, war<br />

es so entsetzlich oder so sonderbar? Warum<br />

starrten nicht alle gefesselt nach ihm, warum<br />

legte sich nicht allen die Lähmung auf die<br />

Brust?<br />

Aber niemand hatte ihn beachtet, niemandem<br />

war er aufgefallen. Trotzdem er unter<br />

vielen allein war, einsamer, abgeschlossener<br />

als ein Mensch in einem Raum ohne Luft, ohne<br />

alles, was zum Leben, zum Atmen gehört. (<br />

Wenn jemand unter den vielen, die da friedlich<br />

gingen, gewusst hätte, wer er war ....<br />

Wenn ihn jemand erkannt hätte, diesen Menschen,<br />

mit dem ich nächtelang am selben Tisch<br />

gesessen und der oft versucht hatte, mir irgend<br />

eine Melodie vorzusingen, wobei er immerfort<br />

denselben Ton sang, diesen Mann, mit<br />

dessen Flucht sich die ganze internationale<br />

Polizei wochenlang beschäftigt hatte, dessen<br />

Bild alle <strong>Zeitung</strong>en der Welt kannten, was für<br />

ein Geist hatte ihn hergetrieben?<br />

Mein Blick hing immer noch wie geblendet<br />

an der Gruppe, in der er verschwunden war.<br />

Aber ich wusste jetzt deutlich: Ich hatte<br />

Angst um ihn ... entsetzliche Angst ...<br />

Novelle von Alesander Castell<br />

(Photo Meister, Bfilach)<br />

Wo ich ihn zum erstenmal gesehen? Ich<br />

konnte mich dessen kaum erinnern. Er war jedenfalls<br />

ein scharmanter, weitgereister Mensch,<br />

klug und mit geschärftem Blick und doch voll<br />

lächelnder Nachsicht.<br />

Ich dachte daran, dass wir in einer warmen<br />

Frühlingsnacht zusammen in einem Kabarett<br />

gesessen hatten. Ringsum tanzten Mädchen,<br />

dazu sang ein Neger. Und im Raum war ein<br />

junges Geschöpf, kaum über fünfzehn alt. Sie<br />

tanzte, indem sie sich mit verwegenen Hüftbewegungen<br />

vorwärts schob. Ihr Gesicht war<br />

blass, mager. Ihre Augen gross und geschlitzt,<br />

die Pupillen nicht blau und nicht grün, die<br />

Brauen scheinbar über die Schläfen geschweift<br />

und der Blick vergeistert und flackernd wie<br />

ein Irrlicht. Er sagte damals: « Sie ist wie aus<br />

dem Grab gestiegen... ». Da öffnete jemand<br />

die dicken Vorhänge. Es war Morgen. Ein<br />

Frühlingsmorgen so herrlich* und klar. In fast<br />

weisser Reinheit strahlte der Himmel. Es<br />

schüttelte uns, wir Hessen die dumpfe Schwüle<br />

des Ortes. Langsam gingen wir auf den Boulevard<br />

zur Gare Montparnasse. ,<br />

Ich hatte ihn für einen Maler gehalten, wenn<br />

ich auch nicht wusste, was er tat, wo er<br />

wohnte. Der Barmann nannte ihn «Mister<br />

Jack»,, womit er offenbar seinen Vornamen<br />

bezeichnete.<br />

Und dann kam sein Bild in den <strong>Zeitung</strong>en.<br />

Er war darauf jünger, schmaler. Wir alle<br />

waren unglaublich überrascht. Es hiess, dass<br />

er in England zum Tode verurteilt sei, dass<br />

ihn die Polizei schon seit fünf Jahren gesucht<br />

hatte, dass man jetzt in Paris auf seiner Spur<br />

sei... dann wurde es bald wieder still.<br />

Wir alle bebten wie für einen Freund.<br />

Und weshalb dieses Todesurteil? Weil er<br />

unter ganz merkwürdigen, eigentlich entsetzlichen<br />

Umständen ein junges Mädchen erwürgt<br />

hatte. Soviel sagten die <strong>Zeitung</strong>en. Wir hatten<br />

vom Prozess nie etwas gehört.<br />

Uns, die wir ihn kannten und denen er der<br />

harmloseste aller Menschen zu sein schien,<br />

war die Geschichte absurd, unwahrscheinlich.<br />

Aber sie war nun einmal da und Jack blieb<br />

verschwunden.<br />

Aber wir waren in einer entsetzlichen Sorge<br />

um ihn.<br />

Bernardi, der von der Medizin zum Journalismus<br />

übergegangen war, behauptete, solche<br />

Verbrechen würden gleichsam ohne Bewusstsein<br />

begangen und die, die ihrer fähig wären,<br />

seien alle hereditäre Syphilitiker, bei denen<br />

gewisse Hemmungszentren zerstört oder zeitweilig<br />

ausgeschaltet seien.<br />

Jedenfalls waren wir froh, dass er der Polizei<br />

entkam.<br />

Die Zeit verging. Ein Jahr später bekam ich<br />

aus einem Nest in Spanien eine Karte. Es<br />

stand nur darauf: « From your friend ». Daneben<br />

war das Heiligenbild der Dorfkirche.<br />

War sie von ihm?<br />

Und nun? Was für ein Geist hatte ihn nach<br />

Nizza getrieben? Was tat er hier? Er, den ich<br />

empfand wie ein Gespenst, das lautlos durch<br />

die Reihen schritt.<br />

Mich fröstelte. Ich stand auf. Mein Gesicht<br />

war heiss. Ich schritt dem Geländer entlang,<br />

hörte nur das Herz im Hals klopfen, nur das<br />

Blut in einem dumpfen, summenden Rauschen<br />

in den Ohren.<br />

Wo war er hingegangen? Woher kam er?<br />

Ich war bei den Palmengärten und musste<br />

mich auf eine Bank setzen. Etwas würgte mich<br />

in der Brust, tat mir weh, als ob das Blut nicht<br />

mehr richtig zirkulierte. Da war eine dicke,<br />

mächtige Palme vor mir. Ich zählte mechanisch<br />

die Jahrringe. Es waren zweiunddreissig.<br />

Also zweiunddreissig Jahre stand diese<br />

Palme schon da, oder vielleicht war sie... ich<br />

dachte weiter: Er ist wie einer, der auf einem<br />

hohen, riesenhohen Seil geht, das zwischen<br />

zwei Planeten gespannt ist und wo von allen<br />

Seiten die Unendlichkeit gähnt.<br />

Aber was tat er hier? War er verrückt?<br />

Handelte er im Traum?<br />

Eine Stimme schreckte mich auf. Ich zuckte<br />

zusammen, kam wieder zur Besinnung. Ein<br />

Freund stand vor mir, ein Pariser Dramatiker.<br />

Er sagte ruhig: « Wollen wir nicht zusammen<br />

zum Aperitif gehen? »<br />

Man schrie die Abendblätter aus, die Pariser<br />

<strong>Zeitung</strong>en waren eben gekommen —. Wir<br />

sassen beide nebeneinander auf einer schwarzgepolsterten<br />

Bank- an der Wand. Wenn ich<br />

seitwärts schaute, sah ich durch die Scheiben<br />

die Place Massena. Es wurde bald dämmerig.<br />

Die Kellner drehten das Licht an.<br />

Er fragte: «Und wie ist es nun mit dem<br />

Ministerium? »<br />

Ich begann r « Die politische Lage... »<br />

Das Wort erstarb mir auf den Lippen. Im<br />

Nebensaal, neben dem Pfeiler, sass er. Starrte<br />

mir direkt in die Augen. N<br />

« Was wird denn nun kommen? » hörte ich<br />

den anderen fragen.<br />

Ich öffnete den Mund, redete irgend etwas.<br />

Aber ich hörte meine Worte nicht. Ich hing<br />

an seinem Blick. Aber er sah mich nur gross<br />

und gelassen an. Er schien ohne Furcht zu<br />

sein.<br />

Ich dachte: Der irrsinnigste aller Zufälle<br />

könnte ihn verraten und dann ist er verloren.<br />

Man würde ihn sofort ausliefern, und dann<br />

käme drüben eine Nacht ... ich sah den Galgen<br />

aufgerichtet... Grosser Gott, und er sass<br />

ruhig da, lenkte jetzt sogar den Blick von mir<br />

ab, wie von etwas Gleichgültigem.<br />

Mein Begleiter sprach jetzt von den schlechten<br />

Zeiten und davon, dass man von den hohen<br />

Steuern ruiniert werde, dass die Regierung sich<br />

einen Teufel um die Intellektuellen kümmere,<br />

dabei Milliarden in der ganzen Welt verpumpe.<br />

« Unter uns gesagt,» erklärte er dann, « glauben<br />

Sie wirklich, dass man je zurecht kommen<br />

wird? Dabei ist die Situation unserer<br />

Regierung auch nicht so einfach...»<br />

« Allerdings,» gab ich zu.<br />

Ich musste abseits schauen. Auf dem Platz<br />

hielt jetzt eben das Tramway von Villefranche.<br />

Dahin waren wir gestern gefahren und waren<br />

dann zum Tee nach Beaulieu gegangen. Es war<br />

ein schöner Tag gewesen.<br />

Mein Blick wandte sich wieder zu ihm. Ich<br />

war wie hypnotisiert Ein Mörder, überlegt«<br />

ich, in diese* so freundlichen, ruhigen Menge«<br />

Ein Wort, ein Wink würde genügen, sie alle iq<br />

reissende Wölfe zu verwandeln.<br />

Das kam mir alles grauenhaft vor. Er (rank<br />

jetzt langsam aus seinem Glas. Sein Gesicht«<br />

das alle Ruhe zeigte, schien dennoch gespannt<br />

zu sein. Eine seltsame Starrheit lag um seinem<br />

Mund. Vielleicht dachte er dasselbe wie ich,<br />

vielleicht litt er furchtbare Schmerzen, viel*<br />

leicht sah sein Blick dieselben wahnsinnige»<br />

Bilder und sein Antlitz, sein ganzer Körpec<br />

war vor Erregung nur noch eine kalte, £e*<br />

frorene Malse.<br />

Oh, er wusste gewiss, dass sein Leben wie<br />

ein flackerndes Licht der Grenze des Todes<br />

entlanggaukelte, er machte sich darüber keine;<br />

i Illusionen.<br />

Ich dachte, wenn er vor lauter Erregung ver*<br />

rückt würde, wenn er plötzlich von seinee<br />

Geschichte zu reden anfinge.<br />

Und jetzt sah er mich wieder lange und in<br />

merkwürdiger Starrheit an, als ob er mir etwas<br />

andeuten, etwas nahelegen wollte. Und dennoch<br />

war mir, als ob er über mich hinaus nach etwas<br />

ganz Entferntem sehe, das ihm unendlich<br />

wichtiger war, was wusste ich denn?<br />

Ich musste mich zurücklehnen, die Augen<br />

schliessen. Aber ich fühlte diesen wesenlosen^<br />

ins Unendliche gerichteten Blick auf den LM<br />

dern brennen.<br />

Ich begann: « In Mentone könnte ein Defclc«<br />

tiv ins Coupe steigen und ihm den Pass abver*<br />

langen...»<br />

'<br />

« Was sagen Sie? » fragte mein Begleiter.<br />

Ich erschrak, als ob ich auf etwas Entsetz»«<br />

lichem ertappt worden sei. « Ich habe eines<br />

furchtbare Migräne, » stammelte ich. '<br />

« Da gibt es nichts Besseres als Bromsalz, W<br />

antwortete er mir. Ich schlug die Lider *U£J<br />

Mein Gegenüber war verschwunden. _J<br />

Ich verabschiedete mich, ging den Wändedi<br />

entlang ins Hotel. Lag zwei Stunden lang starej<br />

auf meinem Bett.<br />

Da klopfte es.<br />

Ich hatte die Gewissheit: Er war es. Er^waüj<br />

mir vielleicht nachgegangen, wollte mit xnil?<br />

reden.<br />

Es war der Liftboy, der mir die Aben&i|<br />

<strong>Zeitung</strong>en brachte.<br />

Ich hatte acht Tage schweres Fieber. Als*<br />

ich wieder zu mir kam, lag da viel Korrespon-«<br />

denz und darunter ein Brief von Miss Lie*<br />

einem älteren Fräulein, die Jack gekannt und<br />

mit der er oft musiziert hatte.<br />

Sie schickte mir einen Ausschnitt aus 'dem<br />

Daily Mail, worin mit ein paar Zeilen gesagt<br />

wurde, dass der so lang gesuchte John Freemantle,<br />

der Mörder der jungen Liddy Scott«<br />

in New-York in der Untergrundbahn verun-»<br />

glückt sei, wo er seit einiger Zeit unter fal*<br />

schem Namen als Mechaniker arbeitete. Sein<br />

Bild war dabei.<br />

Ich las" die Stelle hundertmal, die Halbe<br />

Nacht... Wo war der Zusammenhang, der<br />

beklemmende, unheimliche Zusammenhang?!<br />

Atemraubendes Mysterium. Mir ist heute noch'<br />

alles so dunkel wie in jener Nacht. Aber ich]<br />

weiss eines sicher: Dass ich ihn sah.<br />

Die Zufahrtsstrassen aus der ganzen Schweiz sind ersichtlich In O. R. Wagners<br />

CH Touring, Führer für Automobilfahrer, offizielle-Ausgabe des T. C. S.<br />

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A. Widmer, Bes.<br />

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Druck, Cliches und Verlas: HALLWAG A.-G., Eallersche Buchdruckerei und Wagnersche Verlagsanstalt, Bern.

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