2018_27
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4 Dorfspiegel Wangen-Brüttisellen<br />
Kurier Nr. <strong>27</strong> 6.7.<strong>2018</strong><br />
Tagung der Vereinsvorstände<br />
Sind Vereine noch zeitgemäss?<br />
Im April trafen sich die Vereinsvorstände in Wangen-Brüttisellen zur<br />
Vereinskonferenz, um sich untereinander auszutauschen. Gedanken zur<br />
aktuellen Situation der Vereine und der Freiwilligenarbeit im Allgemeinen<br />
von Arun Müller, Leiter Ressort Gesellschaft bei der Gemeinde und<br />
in engem Kontakt mit Vereinen und Freiwilligen.<br />
Sibylle Ratz<br />
Herr Müller, sind Vereine und<br />
Freiwilligenarbeit überhaupt noch<br />
zeitgemäss?<br />
Arun Müller: Wir haben zwar eine<br />
individualisierte Gesellschaft. Individualität<br />
ist aber nicht gleich Egoismus.<br />
Die Menschen wollen sich immer<br />
noch engagieren. Die Rahmenbedingungen<br />
sind heute vielleicht<br />
anders. Man hat viel mehr Möglichkeiten,<br />
andere Herausforderungen in<br />
Familie und Beruf. Die Leute wollen<br />
mitreden, mitgestalten, etwas Sinnstiftendes<br />
tun. Aber eben anders und<br />
sich nicht mehr gleich für zehn Jahre<br />
verpflichten, wie vielleicht – unausgesprochen<br />
und unterschwellig – erwartet<br />
wird. In unserer Gesellschaft<br />
braucht es nach wie vor das Engagement<br />
der Zivilgesellschaft, braucht<br />
es Ehrenamtliche.<br />
Wie finden Vereine neue Mitglieder?<br />
Es ist sicher schwieriger geworden,<br />
Menschen zur Mitarbeit in einem<br />
Verein zu bewegen. Manche Vereine<br />
müssen sicherlich auch überprüfen,<br />
ob sie noch einem Bedürfnis<br />
entsprechen oder andere Wege suchen<br />
und finden wie zum Beispiel<br />
eine Zusammenführung von Vereinen.<br />
Gedanken machen muss man<br />
sich sicherlich auch über die Kanäle,<br />
über die potenzielle Freiwillige<br />
angesprochen werden können. Die<br />
bisherigen Wege reichen dazu nicht<br />
mehr aus.<br />
Im April haben sich die Vereinsvorstände<br />
in Wangen-Brüttisellen<br />
getroffen. Wie war das Echo?<br />
Es sind erfreulich viele gekommen.<br />
Eigentlich sind sie zufrieden. Künftig<br />
möchten wir aber dem Wunsch<br />
nach Austausch und Vernetzung<br />
mehr Rechnung tragen. Ich möchte<br />
den Vereinen Gelegenheit bieten,<br />
mehr Ideen auszutauschen, Referenten<br />
einladen, neue Denkanstösse<br />
vermitteln.<br />
Wo sehen Sie Entwicklungsmöglichkeiten<br />
in der Freiwilligenarbeit?<br />
Ich war gerade an einer Tagung des<br />
Gottlieb-Duttweiler-Institutes in<br />
Rüschlikon zum Thema «Die neuen<br />
Freiwilligen». Der Anlass war in<br />
zwei Tagen ausgebucht. Das Thema<br />
brennt offenbar unter den<br />
Nägeln. Die Studie, die dabei präsentiert<br />
wurde, spricht von Partizipation<br />
statt von Freiwilligenarbeit.<br />
Egal wie man es benennt. Es gibt<br />
immer noch viele Leute, die sich<br />
engagieren wollen. Die Frage ist<br />
nur wie. Ist das in einem Verein<br />
oder in einer anderen Form. Man<br />
muss aber auch nicht alles schön<br />
reden mit den «neuen Freiwilligen».<br />
Im Kern ist es immer noch<br />
so, dass es bei jedem Projekt, bei<br />
jedem Verein, bei jedem Engagement<br />
auch Dinge gibt, die nicht so<br />
lässig sind und schliesslich auch<br />
«Büez», wie etwa ein Protokoll<br />
schreiben oder anderes. Das gehört<br />
halt dazu. Und der Vorteil von<br />
kurzfristigen Engagements und weniger<br />
Verpflichtung steht im Gegensatz<br />
dazu, dass eine gewisse<br />
Kontinuität bei einem Einsatz auch<br />
Vorteile bringt.<br />
Wie unterstützt die Gemeinde<br />
Wangen-Brüttisellen die Vereine<br />
und die Freiwilligen?<br />
Zum einen – und das ist nicht zu<br />
unterschätzen – unterstützen wir<br />
Vereine finanziell mit rund 50 000<br />
Franken pro Jahr. Wir führen ein<br />
Vereinsverzeichnis. Als Informationsgefäss<br />
dient auch ein Newsletter,<br />
der drei bis vier Mal im Jahr<br />
erscheint. Im Moment überarbeiten<br />
wir ihn gerade. Meine Abteilung<br />
versteht sich als Anlaufstelle für<br />
Gesuche und Drehscheibe von Informationen.<br />
Wir organisieren die<br />
jährliche Konferenz. Im Internet<br />
stellt die Gemeinde den Vereinen<br />
ebenfalls eine Plattform zur Verfügung.<br />
Räumlichkeiten können online<br />
gebucht werden.<br />
Wo sehen Sie noch Verbesserungspotenzial?<br />
Wir haben beispielsweise festgestellt,<br />
dass die Bewegungswoche,<br />
die nun schon ein paar Jahre existiert,<br />
zwar gut bei den Leuten ankommt,<br />
aber dadurch praktisch keine<br />
neuen Mitglieder für die Vereine<br />
gewonnen werden. Trotzdem ist es<br />
ein grosser Aufwand. Da könnte ich<br />
mir vorstellen, auch einmal einen<br />
Workshop zu organisieren, um gemeinsam<br />
mit den Vereinen zu klären,<br />
ob und wie es andere Lösungen<br />
gibt. Wir müssen aber auch aufpassen.<br />
Die Vereine haben sowieso<br />
schon viel am Hut und wir möchten<br />
nicht an den Vereinen vorbeiplanen.<br />
Es geht darum, zusammen Sachen<br />
zu entwickeln, die dem Bedürfnis<br />
der Vereine entsprechen.<br />
Arun Müller: «Meine Abteilung versteht sich als Anlaufstelle für Gesuche<br />
und Drehscheibe von Informationen.» (Foto sr)<br />
Welche Erwartungen hat die Gemeinde<br />
an die Vereine?<br />
Eigentlich keine, aber wir schätzen<br />
die Unterstützung an der 1.-August-<br />
Feier, an der Wangemer Chilbi und<br />
anderen Anlässen. Das hat Tradition<br />
und ist gut verankert. Wir sind<br />
uns bewusst, wie wichtig das Engagement<br />
der Vereine für unsere Gesellschaft<br />
ist. Ein Händedruck und<br />
ein Dankeschön ist das eine, die<br />
Vereinsbeiträge sind aber vermutlich<br />
doch wichtiger. Wenn Bedürfnisse<br />
da sind, bin ich froh, wenn die<br />
Leute auf mich und auf die Gemeinde<br />
aktiv zukommen. Dann<br />
können wir gemeinsam Lösungen<br />
finden. Ich sehe mich da, wie schon<br />
gesagt, in einer Rolle als Vermittler<br />
und Drehscheibe. Das gilt auch für<br />
diejenigen Freiwilligen, die nicht<br />
in einem Verein organisiert sind. So<br />
können seit kurzem Einsätze in<br />
Wangen-Brüttisellen für Freiwillige<br />
auf der Plattform «Benevol»<br />
aufgeschaltet werden und auch gefunden<br />
werden.<br />
Was ist «Benevol»?<br />
Das ist ein Projekt, das bei der Gemeinde<br />
vorläufig auf drei Jahre befristet<br />
ist. Auf www.benevol-jobs.<br />
ch können Einsätze in unsere Gemeinde<br />
aufgeschaltet und Freiwillige<br />
gesucht werden. Die schweizweite<br />
Plattform hilft dabei, die passende<br />
Person für die Bedürfnisse<br />
zu finden. Die Gesuche können von<br />
Vereinen, aber eben auch Einzelpersonen<br />
sein, die jemanden suchen,<br />
der ihnen hilft beispielsweise<br />
beim Einkaufen oder ein freiwilliges,<br />
regelmässiges Engagement<br />
eben in einem Verein.<br />
Engagieren Sie sich auch freiwillig?<br />
Ja, ich bin an meinem Wohnort in<br />
einem Vereinsvorstand engagiert.<br />
Es handelt sich um einen Verein im<br />
Bereich Freizeit und Kinder. Das<br />
Thema ist mir nahe als Vater, ich<br />
kann meinen fachlichen Hintergrund<br />
nutzen, ich kann mitreden,<br />
ich kann helfen, im Team neue<br />
Wege zu finden. Das hast mich angesprochen<br />
und motiviert zum Mitmachen.<br />
Zur Person:<br />
Arun Müller (45) ist seit knapp<br />
einem Jahr Leiter Gesellschaft bei<br />
der Gemeinde Wangen-Brüttisellen.<br />
Er ist Vater zweier Kinder,<br />
lebt in Uster und engagiert sich<br />
selber in einem Vereinsvorstand<br />
an seinem Wohnort. Früher war er<br />
beim Kanton im Bereich Kinderschutz<br />
und Beistandschaft tätig.<br />
www.gdi.ch<br />
www.benevol.ch<br />
Wer engagiert sich im 21. Jahrhundert eigentlich noch freiwillig? Die<br />
Freiwilligenarbeit als Kitt der Gesellschaft bildet die Grundlage, dass<br />
Markt und Staat funktionieren können. Doch schrecken langfristige<br />
Verpflichtungen heute zunehmend ab, die Individualisierung nimmt zu.<br />
Und auch die Wohngemeinde hat in unserer mobilen Welt ihre identitätsstiftende<br />
Rolle verloren, was sich in weniger lokalem Engagement<br />
niederschlägt. Im Gegenzug entstehen mit der Digitalisierung neue<br />
Möglichkeiten für Partizipation, Engagement und Freiwilligenarbeit.<br />
Die Studie «Die neuen Freiwilligen – Die Zukunft zivilgesellschaftlicher<br />
Partizipation», die das GDI im Auftrag des Migros-Kulturprozent<br />
erstellt hat untersucht, welchen Einfluss gesellschaftliche und technologische<br />
Entwicklungen auf die Freiwilligkeit und die Aufgabenverteilung<br />
zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft haben. Wie lässt sich<br />
in einer individualistischen Welt Gemeinschaftlichkeit erzeugen und<br />
braucht es diese überhaupt für eine funktionierende Gesellschaft? (sr)