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Hundert.<br />
Menschen.<br />
KWA Parkstift St. Ulrich<br />
Plattengeräten. 1953 wird er Abteilungsleiter,<br />
1961 Prokurist. Es ist die<br />
große VW-Käfer-Zeit. Neue Modelle<br />
folgen, VW wird ein Konzern, strukturiert<br />
um; Helmut Valentin wird dem<br />
VW/Audi-Vertriebszentrum zugeordnet.<br />
Während seines ganzen Berufslebens<br />
ist er oft in Wolfsburg. Der<br />
VW-Abgasbetrug erschüttert ihn.<br />
KWA Stift am Parksee<br />
Helmut Valentin:<br />
AEG und VW prägten sein Leben<br />
Insgeheim möchte jeder hundert werden.<br />
Helmut Valentin ist es, seit vorigem<br />
Herbst. Ins Wohnstift ist er mit<br />
neunzig gezogen – und im ersten Jahr<br />
noch den Business-Run mitgelaufen,<br />
die 5-km-Strecke. Heute braucht er<br />
zwar einen Rollator, nutzt ihn jedoch<br />
gerne. „Eine tolle Erfindung“, sagt er.<br />
Jeden Morgen um halb sieben geht<br />
er im Stiftsbad schwimmen. Im Wasser<br />
kann er sich noch so bewegen<br />
wie früher an Land. Wenigstens eine<br />
halbe Stunde Spaziergang an der<br />
frischen Luft gehört ebenso zu seinem<br />
Tagesprogramm. Und sonst? Da<br />
er nur noch verschwommen sieht,<br />
schätzt er Radiosendungen. Seine<br />
Partnerin wohnt im Ort, besucht ihn<br />
täglich, meist zur Kaffeezeit.<br />
Ein großer Schwenk zurück. Im<br />
Jahr 1917 kommt Helmut Valentin<br />
in Berlin-Neukölln zur Welt. Der<br />
Kaiser regiert noch, der Vater ist bei<br />
der Feuerwehr. Berufsbedingt zieht<br />
die Familie an den Alexanderplatz.<br />
Dort wächst der Junge gemeinsam<br />
mit einer Schwester auf. Die Schulzeit<br />
wird gewürzt mit Konzertreisen<br />
des Berliner Staats- und Domchors.<br />
Auf die Schule folgt eine vierjährige,<br />
„unvorstellbar umfassende“ Maschinenschlosserlehre<br />
bei der AEG. Mit<br />
19 muss er zum Arbeitsdienst, mit 20<br />
zur Wehrmacht. Die Kriegsjahre im<br />
Zeitraffer: Polenfeldzug, Frankreichfeldzug,<br />
Russlandfeldzug – ihm bleibt<br />
nichts erspart. Beim Russlandfeldzug<br />
gibt es für die deutschen Soldaten<br />
keine Handschuhe. Bei minus 40<br />
Grad tragen sie die Socken an den<br />
Händen und stecken Lappen in die<br />
Schuhe, um zu überleben. Helmut<br />
Valentin übersteht alles unverletzt,<br />
ohne Gefangenschaft. „Ich hatte in<br />
meinem Leben unwahrscheinliches<br />
Glück in vielen Dingen“, sagt er.<br />
Ein Zoom auf das Berufsleben.<br />
Eigentlich hätte er gerne in Ilmenau<br />
Betriebstechnik studiert, doch das<br />
ist russisch besetzt. So fährt er im<br />
Frühjahr 1945 mit dem Fahrrad gen<br />
Süden, wenige Tage nach Kriegsende<br />
zu seiner Freundin nach Bregenz.<br />
Das junge Paar lässt sich in Kempten<br />
nieder, gründet eine Familie. Die<br />
erste Zeit bestreitet Helmut Valentin<br />
mit der Reparatur von Fahrrädern<br />
und Nähmaschinen. Damit er die<br />
Ausbildung von Lehrlingen weiterführen<br />
darf, legt er die Meisterprüfung<br />
ab. 1950 geht er als Angestellter in<br />
eine VW-Vertragswerkstatt, baut<br />
diese zusammen mit dem Inhaber zu<br />
einem Großhandelsunternehmen auf.<br />
Er ist der Ansprechpartner für VW,<br />
wirkt mit bei der Entwicklung einer<br />
elektronischen Ersatzteileverwaltung,<br />
zunächst mit Lochkarten, später auf<br />
Helmut Valentins größtes Hobby im<br />
Fokus: das Filmen. Ein Onkel begeistert<br />
ihn mit seiner Plattenkamera<br />
schon als Kind dafür. Das Know-how<br />
bringt er sich selbst bei. Am liebsten<br />
filmt er die Natur und Wildtiere.<br />
In Kempten hat er ein Traumhaus.<br />
Doch nachdem die beiden Töchter<br />
aus dem Haus sind und die Ehefrau<br />
verstorben ist, hält ihn im Ruhestand<br />
dort nichts mehr. Mit seiner neuen<br />
Partnerin lebt er zunächst in Tettnang.<br />
Als er 70 ist, zieht das Paar nach<br />
Teneriffa. Die Natur zu beobachten<br />
und sie filmen zu können, empfindet<br />
er als großes Glück. Doch die Partnerin<br />
verträgt das Klima zunehmend<br />
schlecht. Mit Blick auf eine bestmögliche<br />
gesundheitliche Versorgung und<br />
die gute Lage wird Bad Krozingen<br />
das Domizil für den vierten Lebensabschnitt.<br />
Helmut Valentins Resümee<br />
zu seinem Leben: „Vieles war Schicksal,<br />
konnte ich nicht beeinflussen. –<br />
Die Familie war mir immer lieb und<br />
wichtig. Das Schönste in meinem<br />
Berufsleben war, dass ich daran mitarbeiten<br />
konnte, neue Technik in der<br />
Praxis umzusetzen.“<br />
Zum Schluss noch die Frage, wie<br />
man hundert wird. Die Antwort des<br />
Hochbetagten: „Ich denke, dass in<br />
erster Linie die Gene dafür verantwortlich<br />
sind. Aber auch: regelmäßig<br />
laufen, wandern oder schwimmen;<br />
hellwach und interessiert sein an<br />
seiner Umgebung; maßvoll essen und<br />
nicht zu viel Alkohol konsumieren. –<br />
Ich habe des Öfteren einen Cognac<br />
in einen Blumentopf gekippt.“<br />
Sieglinde Hankele<br />
Jutta Ballach:<br />
Mit dem Alphorn in Osnabrück<br />
„Musik ist für mich Balsam für die<br />
Seele. Auch in schweren Zeiten“,<br />
sagt Jutta Ballach. Klänge, Töne und<br />
Rhythmen spielten in ihrem Leben<br />
bereits früh eine wichtige Rolle –<br />
auch wenn sie erst im Alter von 50<br />
Jahren aktiv zu musizieren begann.<br />
Die gebürtige Burghauserin wurde<br />
von ihren Eltern bereits als Kind zu<br />
klassischen Konzerten mitgenommen.<br />
„Doch dafür konnte ich mich<br />
nicht begeistern“, gibt sie zu. Auch<br />
ein Instrument erlernte sie nicht – in<br />
Kriegszeiten gab es Wichtigeres.<br />
Doch nach der Ausbildung zur<br />
Kinderkrankenschwester in Mainz<br />
lernte sie Ende der 1950er Jahre in<br />
Darmstadt eine andere Musik kennen:<br />
den Jazz. „So etwas gab es in<br />
meinem Elternhaus nicht. Ich war<br />
sofort vom Jazzvirus infiziert.“ Von<br />
nun an besuchte Jutta Ballach mit<br />
ihrem künftigen Mann die Darmstädter<br />
Jazzclubs. Gemeinsam zogen sie<br />
auf Pferdewägen durch den Wald,<br />
auf denen die Bands jazzten.<br />
In Osnabrück kamen Jutta Ballachs<br />
vier Söhne zur Welt. Sie erhielten<br />
eine musikalische Früherziehung und<br />
lernten Tuba, Posaune, Waldhorn<br />
beziehungsweise Saxofon. „Am<br />
Wochenende lief bei uns eine Jazz-<br />
Platte nach der anderen. Und es<br />
wurde immer viel musiziert.“ Jutta<br />
Ballach organisierte Vorspielabende,<br />
Workshops und Konzerte. Aber selbst<br />
musizierte sie nicht. Noch nicht.<br />
„Plötzlich wurde es still zu Hause.<br />
Die Kinder waren ja ausgezogen.“<br />
Ende der 1980er Jahre entschloss sich<br />
Jutta Ballach dann, in die musikalischen<br />
Fußstapfen ihrer Söhne zu<br />
treten. Beim Hornisten Adolf Leppich<br />
lernte sie Waldhorn. Anfangs zusammen<br />
mit sechs- bis zwölfjährigen<br />
Kindern. Jutta Ballach lernte „unter<br />
Mühen“ Notenlesen und Transponieren,<br />
machte jedoch rasch Fortschritte<br />
auf ihrem Bass-Waldhorn. Es folgten<br />
erfüllende Jahre des Ensemblespiels.<br />
Und ein außergewöhnlicher Instrumentenwechsel.<br />
„Adolf Leppich fragte mich, ob ich<br />
mir vorstellen könnte, in seiner<br />
Alphorngruppe mitzuspielen. Alphorn!<br />
In Osnabrück? Spontan habe<br />
ich ja gesagt – und es nie bereut.“<br />
Für das Alphorn braucht die Hornistin<br />
im wahrsten Sinne des Wortes<br />
einen langen Atem. An einen der<br />
zahlreichen Auftritte des Ensembles<br />
erinnert sich Ballach besonders<br />
gerne: „Wir spielten auf einer Geburtstagsfeier,<br />
aber heimlich. Die<br />
Alphörner wurden vorsichtig unter<br />
der Hecke durchgesteckt. Keiner der<br />
Gäste merkte etwas. Und dann<br />
begannen wir wie aus dem Nichts zu<br />
spielen. Ein Heidenspaß!“ Orchesterreisen<br />
führten Jutta Ballach und ihr<br />
Alphorn bis nach Südafrika.<br />
2000 kehrte sie in ihr geliebtes<br />
Bayern zurück. Sie musizierte weiterhin<br />
mit großer Freude, unter anderem<br />
auch mit dem weltbekannten Tölzer<br />
Knabenchor. Ihr Waldhorn erklingt<br />
übrigens noch heute in Osnabrück –<br />
als Bassfundament der dortigen<br />
„Oldie-Gruppe“.<br />
Und das Alphorn? „Habe ich im<br />
Norden gelassen. Aber ich würde<br />
auch heute noch garantiert einen<br />
sauberen Ton rausbekommen“, ist sie<br />
sich sicher. Doch jetzt möchte die<br />
80-Jährige, die 2013 im KWA Stift am<br />
Parksee ihre neue Heimat gefunden<br />
hat, liebend gerne ein neues Instrument<br />
erlernen. Die Mundharmonika<br />
liegt schon bereit. Forcieren möchte<br />
Jutta Ballach allerdings nichts. „In<br />
meinem Leben und in meiner Musik<br />
hat sich vieles einfach so entwickelt.<br />
So soll es bleiben.“<br />
Jörg Peter Urbach<br />
20 <strong>alternovum</strong> | 2/2018<br />
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