Forum Heftes 2/2006
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KONGRESS<br />
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cher haben mit dem Chauvinismus und Nationalismus des vergangenen<br />
Jahrhunderts nichts zu tun, sie sind vielmehr den<br />
modernen Narrativen von Zivilgesellschaft und Multikulturalität<br />
verpflichtet.<br />
IV.<br />
Mit dem Raum kommt schließlich und viertens auch<br />
der Kulturraum wieder in unsere Wahrnehmung<br />
zurück. Auch dafür ist Görlitz ein gutes Beispiel. Gleich nach<br />
der Wende nämlich ließ Görlitz von Sachsen und entdeckte<br />
seine niederschlesische Vergangenheit.<br />
Aber man muss zugeben: Damit betreibt es seit 15 Jahren eine<br />
recht erfolgreiche Geschichts-, Identitäts- und man kann auch<br />
sagen Imagepolitik. Dass dieses funktioniert, hat auch damit<br />
zu tun, dass »Schlesien« in unserer Wahrnehmung nicht mehr<br />
nur das Thema von Heimattouristen oder Landsmannschaften<br />
ist, sondern auch auf der kulturellen Landschaft der Jüngeren<br />
angekommen ist. Schlesien ist damit nicht mehr nur Verlust,<br />
sondern auch ein Hinzugewinn.<br />
Es ist deshalb kein Zufall, dass gerade in Görlitz eine Zeitschrift<br />
erscheint, die wie keine andere diesem modernen Begriff von<br />
Kultur, Region und grenzüberschreitender Zusammenarbeit<br />
verpflichtet ist. Ihr Name ist gleichzeitig Programm: »Silesia<br />
Nova«. (Der zweite Standort dieser Zeitschrift ist Wroclaw /<br />
Breslau, das auf dem Felde dieses »Mit der Geschichte in die<br />
Zukunft« inzwischen zu so etwas wie einem europäischen Taktgeber<br />
geworden ist.)<br />
2<br />
V.<br />
Doch die Rückkehr der Räume ist nicht automatisch mit<br />
einem Zugewinn an Zukunft verbunden, auch das zeigt<br />
das Beispiel Görlitz. Görlitz gehört, wie viele Städte in den<br />
neuen Bundesländern auch, zu den schrumpfenden Städten.<br />
Schrumpfung, auch das kann man messen, und in Görlitz sind<br />
die Zahlen alles andere als beruhigend.<br />
Von den 80.000 Einwohnern, die zur Wende in Görlitz lebten,<br />
haben inzwischen 20.000 ihrer Stadt den Rücken gekehrt –<br />
und das, obwohl die Innenstadt, die zu DDR-Zeiten zur Sprengung<br />
stand, inzwischen vorbildlich saniert ist.<br />
Am Untermarkt reihen sich spätgotische und Renaissancebauten<br />
nebeneinander wie sonst nur in Krakau oder Italien,<br />
und in den Bögen der Tuchhallen sowie an den prunkvollen<br />
Fassaden der Patrizierhäuser lässt sich erahnen, welche Bedeutung<br />
Görlitz einmal hatte. Einst war die Stadt an der Neiße<br />
reich geworden durch den Handel mit Waid, dem mittelalterlichen<br />
Färbestoff, der hier, auf der »Via Regia«, seinen Weg nach<br />
Osten nahm. Damals war Görlitz noch in der Mitte, heute liegt<br />
es am Rand.<br />
Meine Damen und Herren, Sie wissen: Diese Randlagen werden<br />
im zusammenwachsenden Europa nicht weniger, sondern<br />
mehr werden. »Die Ungleichheit zwischen den Regionen wird<br />
wachsen«, prophezeit der Soziologe Ulf Matthiesen vom Institut<br />
für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner<br />
bei Berlin. »Es wird neue und immer mehr Peripherien geben<br />
und neue und immer weniger Zentren, in denen sich das Wirtschaftswachstum<br />
konzentriert.«<br />
Diejenigen von Ihnen, die aus den neuen Bundesländern kommen,<br />
wissen, was damit gemeint ist. Außer einigen Leuchttürmen<br />
wie Leipzig, Dresden, Jena oder dem Berliner Speckgürtel<br />
gibt es hier keine Wachstumskerne, sondern Abwanderung<br />
und Arbeitslosigkeit allenthalben. Schrumpfung allenthalben.<br />
Für Görlitz heißt dies: Schönheit alleine macht noch keine<br />
Zukunft. Es sei denn die einer Pensionopolis.<br />
VI.<br />
So wird Europa derzeit also neu vermessen – räumlich,<br />
historisch, kulturell und wirtschaftlich. Lassen Sie<br />
mich, bevor ich zu den Chancen und Risiken dieser Neuvermessung<br />
komme, noch eine weitere kleine Geschichte erzählen.<br />
Im Zusammenhang mit meiner Arbeit über die Oder bin ich<br />
auch an die polnisch-tschechische Grenze zwischen Racibórz /<br />
Ratibor und Ostrava / Ostrau gekommen.<br />
Die Oder ist dort nicht der große mächtige Strom, als den wir<br />
sie an der deutsch-polnischen Grenze kennen, sondern ein kleiner<br />
Fluss, der bei Bohumin und Chalupki über sieben Kilometer<br />
vor sich hin mäandert. Dabei markiert er, das ist wichtig für diese<br />
Geschichte, den Grenzverlauf zwischen Polen und Tschechien.<br />
Das ist, in normalen Zeiten nichts, worüber es sich zu berichten<br />
lohnte, doch manchmal tritt die Oder über ihre Ufer und<br />
ändert, wie bei der großen Oderflut im Sommer 1997, ihren<br />
Lauf. Den Grenzmäandern, wie sie dort heißen, wurde damals<br />
eine Mäanderschlinge abgeschnitten. Mit dem neuen Lauf des<br />
Flusses, Sie ahnen es, änderte sich natürlich auch der Verlauf<br />
der polnisch-tschechischen Grenze. In der Vergangenheit haben<br />
solche Ereignisse immer ganze Heerscharen von Vermessungsingenieuren,<br />
Geographen und Diplomaten auf Trab gebracht.<br />
Das soll sich seit dem Hochwasser 1997 ändern.<br />
Nachdem ein Bündnis von Umweltschützern mit dem Namen<br />
»Zeit für Oder« eine Rückverlegung der Oder in ihr altes Bett<br />
verhindert hatte, schlug es gleich noch vor, die Oder zum freien<br />
Fluss zu erklären. Das würde bedeuten, dass nicht mehr die<br />
Grenze der Oder angepasst werden müsste, sondern sich die<br />
Grenze wie auch der Fluss ihren Lauf suchen dürfte. Aus einer<br />
klaren Grenzlinie würde damit ein zu beiden Seiten gehörendes<br />
Grenzland werden.<br />
VII.<br />
Dieses Beispiel verdeutlicht vielleicht ganz sinnbildlich,<br />
welche beiden Haltungen gegenüber dem<br />
neuen Europa zur Verfügung stehen: Abschottung und Öffnung.<br />
Öffnung, d. h., die Herausforderungen anzunehmen, nicht die<br />
Probleme in den Vordergrund zu stellen, sondern die Chancen.<br />
Abschottung dagegen heißt, am besten alles so zu lassen, wie<br />
es ist, wohl ahnend, das dieses eine Illusion sein wird.<br />
Dabei ist klar, auch das gehört zum Vermessen des neuen Europa,<br />
dass die Haltung des Sichöffnens weitaus schwieriger ist<br />
als die des Sichabschottens. Schließlich gibt es, das Beispiel<br />
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