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Forum Heftes 2/2006

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KONGRESS<br />

330<br />

cher haben mit dem Chauvinismus und Nationalismus des vergangenen<br />

Jahrhunderts nichts zu tun, sie sind vielmehr den<br />

modernen Narrativen von Zivilgesellschaft und Multikulturalität<br />

verpflichtet.<br />

IV.<br />

Mit dem Raum kommt schließlich und viertens auch<br />

der Kulturraum wieder in unsere Wahrnehmung<br />

zurück. Auch dafür ist Görlitz ein gutes Beispiel. Gleich nach<br />

der Wende nämlich ließ Görlitz von Sachsen und entdeckte<br />

seine niederschlesische Vergangenheit.<br />

Aber man muss zugeben: Damit betreibt es seit 15 Jahren eine<br />

recht erfolgreiche Geschichts-, Identitäts- und man kann auch<br />

sagen Imagepolitik. Dass dieses funktioniert, hat auch damit<br />

zu tun, dass »Schlesien« in unserer Wahrnehmung nicht mehr<br />

nur das Thema von Heimattouristen oder Landsmannschaften<br />

ist, sondern auch auf der kulturellen Landschaft der Jüngeren<br />

angekommen ist. Schlesien ist damit nicht mehr nur Verlust,<br />

sondern auch ein Hinzugewinn.<br />

Es ist deshalb kein Zufall, dass gerade in Görlitz eine Zeitschrift<br />

erscheint, die wie keine andere diesem modernen Begriff von<br />

Kultur, Region und grenzüberschreitender Zusammenarbeit<br />

verpflichtet ist. Ihr Name ist gleichzeitig Programm: »Silesia<br />

Nova«. (Der zweite Standort dieser Zeitschrift ist Wroclaw /<br />

Breslau, das auf dem Felde dieses »Mit der Geschichte in die<br />

Zukunft« inzwischen zu so etwas wie einem europäischen Taktgeber<br />

geworden ist.)<br />

2<br />

V.<br />

Doch die Rückkehr der Räume ist nicht automatisch mit<br />

einem Zugewinn an Zukunft verbunden, auch das zeigt<br />

das Beispiel Görlitz. Görlitz gehört, wie viele Städte in den<br />

neuen Bundesländern auch, zu den schrumpfenden Städten.<br />

Schrumpfung, auch das kann man messen, und in Görlitz sind<br />

die Zahlen alles andere als beruhigend.<br />

Von den 80.000 Einwohnern, die zur Wende in Görlitz lebten,<br />

haben inzwischen 20.000 ihrer Stadt den Rücken gekehrt –<br />

und das, obwohl die Innenstadt, die zu DDR-Zeiten zur Sprengung<br />

stand, inzwischen vorbildlich saniert ist.<br />

Am Untermarkt reihen sich spätgotische und Renaissancebauten<br />

nebeneinander wie sonst nur in Krakau oder Italien,<br />

und in den Bögen der Tuchhallen sowie an den prunkvollen<br />

Fassaden der Patrizierhäuser lässt sich erahnen, welche Bedeutung<br />

Görlitz einmal hatte. Einst war die Stadt an der Neiße<br />

reich geworden durch den Handel mit Waid, dem mittelalterlichen<br />

Färbestoff, der hier, auf der »Via Regia«, seinen Weg nach<br />

Osten nahm. Damals war Görlitz noch in der Mitte, heute liegt<br />

es am Rand.<br />

Meine Damen und Herren, Sie wissen: Diese Randlagen werden<br />

im zusammenwachsenden Europa nicht weniger, sondern<br />

mehr werden. »Die Ungleichheit zwischen den Regionen wird<br />

wachsen«, prophezeit der Soziologe Ulf Matthiesen vom Institut<br />

für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner<br />

bei Berlin. »Es wird neue und immer mehr Peripherien geben<br />

und neue und immer weniger Zentren, in denen sich das Wirtschaftswachstum<br />

konzentriert.«<br />

Diejenigen von Ihnen, die aus den neuen Bundesländern kommen,<br />

wissen, was damit gemeint ist. Außer einigen Leuchttürmen<br />

wie Leipzig, Dresden, Jena oder dem Berliner Speckgürtel<br />

gibt es hier keine Wachstumskerne, sondern Abwanderung<br />

und Arbeitslosigkeit allenthalben. Schrumpfung allenthalben.<br />

Für Görlitz heißt dies: Schönheit alleine macht noch keine<br />

Zukunft. Es sei denn die einer Pensionopolis.<br />

VI.<br />

So wird Europa derzeit also neu vermessen – räumlich,<br />

historisch, kulturell und wirtschaftlich. Lassen Sie<br />

mich, bevor ich zu den Chancen und Risiken dieser Neuvermessung<br />

komme, noch eine weitere kleine Geschichte erzählen.<br />

Im Zusammenhang mit meiner Arbeit über die Oder bin ich<br />

auch an die polnisch-tschechische Grenze zwischen Racibórz /<br />

Ratibor und Ostrava / Ostrau gekommen.<br />

Die Oder ist dort nicht der große mächtige Strom, als den wir<br />

sie an der deutsch-polnischen Grenze kennen, sondern ein kleiner<br />

Fluss, der bei Bohumin und Chalupki über sieben Kilometer<br />

vor sich hin mäandert. Dabei markiert er, das ist wichtig für diese<br />

Geschichte, den Grenzverlauf zwischen Polen und Tschechien.<br />

Das ist, in normalen Zeiten nichts, worüber es sich zu berichten<br />

lohnte, doch manchmal tritt die Oder über ihre Ufer und<br />

ändert, wie bei der großen Oderflut im Sommer 1997, ihren<br />

Lauf. Den Grenzmäandern, wie sie dort heißen, wurde damals<br />

eine Mäanderschlinge abgeschnitten. Mit dem neuen Lauf des<br />

Flusses, Sie ahnen es, änderte sich natürlich auch der Verlauf<br />

der polnisch-tschechischen Grenze. In der Vergangenheit haben<br />

solche Ereignisse immer ganze Heerscharen von Vermessungsingenieuren,<br />

Geographen und Diplomaten auf Trab gebracht.<br />

Das soll sich seit dem Hochwasser 1997 ändern.<br />

Nachdem ein Bündnis von Umweltschützern mit dem Namen<br />

»Zeit für Oder« eine Rückverlegung der Oder in ihr altes Bett<br />

verhindert hatte, schlug es gleich noch vor, die Oder zum freien<br />

Fluss zu erklären. Das würde bedeuten, dass nicht mehr die<br />

Grenze der Oder angepasst werden müsste, sondern sich die<br />

Grenze wie auch der Fluss ihren Lauf suchen dürfte. Aus einer<br />

klaren Grenzlinie würde damit ein zu beiden Seiten gehörendes<br />

Grenzland werden.<br />

VII.<br />

Dieses Beispiel verdeutlicht vielleicht ganz sinnbildlich,<br />

welche beiden Haltungen gegenüber dem<br />

neuen Europa zur Verfügung stehen: Abschottung und Öffnung.<br />

Öffnung, d. h., die Herausforderungen anzunehmen, nicht die<br />

Probleme in den Vordergrund zu stellen, sondern die Chancen.<br />

Abschottung dagegen heißt, am besten alles so zu lassen, wie<br />

es ist, wohl ahnend, das dieses eine Illusion sein wird.<br />

Dabei ist klar, auch das gehört zum Vermessen des neuen Europa,<br />

dass die Haltung des Sichöffnens weitaus schwieriger ist<br />

als die des Sichabschottens. Schließlich gibt es, das Beispiel<br />

KONGRESS<br />

2<br />

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