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DER ANDERMATTER Winter 2013

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Calandagelb leuchtet die Bierflasche in Vaters Hand. Die Buben sind auf<br />

dem Sessellift, die Skis baumeln in der Luft. Bis der Sessellift auf der<br />

letzten Fahrt stecken bleibt. «Nach fünf Tschupatschups ist die Sonne<br />

verschwunden. Wir müssen auf dem Sessel übernachten, sagt mein<br />

Bruder … Vielleicht kommt ja wirklich ein Helioctober, der wirft uns Rucsacs<br />

runter mit … Iclems mit Salami und Gurcas, damit wir nicht Hunger haben<br />

in der Nacht.»<br />

Sie steht einem bildhaft vor Augen, die kleine Szene aus Arno Camenischs<br />

Roman «Hinter dem Bahnhof». Präzis bis ins Detail und in einer mundartlich<br />

gefärbten Sprache, die noch lange im Ohr bleibt. Sonne und viel Schatten,<br />

der Sessellift, Pausen bei Calandabräu, Eingeklemmte aus dem Rucksack,<br />

Wollkappen und Alltagsgespräche – das alles sind wiederkehrende Zutaten<br />

der ersten vier Romane des 35-jährigen Bündners. Aber natürlich nicht<br />

die einzigen. Es gibt unglaublich viel zu entdecken in den vermeintlich einfachen<br />

Geschichten. Nicht zuletzt eben eine einzigartige Sprache. Das finden<br />

auch die Literaturgelehrten dieses Landes, die Camenisch mit zahlreichen<br />

wichtigen Preisen auszeichnen – unter anderem mit dem Eidgenössischen<br />

Literaturpreis 2012 und mit dem Friedrich Hölderlin Förderpreis <strong>2013</strong>.<br />

Arno Camenisch wuchs in Tavanasa auf, einem kleinen «Schattendorf» in der<br />

Surselva, auf der Bündner Seite des Oberalppasses. Obwohl es im Elternhaus<br />

kaum Bücher gab und der Bub Arno meistens Fussball spielte oder vor dem<br />

TV sass, entdeckte er mit knapp 20 das Schreiben, hängte den Lehrerberuf<br />

bald an den Nagel und erlebte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel<br />

seine Wiedergeburt als Autor. «Es gab von da an kein Halten mehr, mir war<br />

klar, wohin ich gehen wollte», so Camenisch. Sein erster Roman «Sez Ner»<br />

spielt auf einer Bündner Alp und ist zweisprachig gesetzt, in Deutsch und<br />

Rätoromanisch. «Hinter dem Bahnhof» ist eine Bubengeschichte, angesiedelt<br />

in einem kleinen Schattendorf am Rhein. «Ustrinkata» hat einen noch<br />

kleineren Rahmen: der letzte Abend in der Dorfbeiz. Und «Fred und Franz»<br />

in seinem eben erschienenen Roman kehren nach dem Casino wieder heim in<br />

ihre Welt. Ja, es ist ein Mikrokosmos, den Camenisch von allen Seiten fast<br />

fotorealistisch beleuchtet. Er betreibt dabei keinen Patriotismus, zeigt nur<br />

selten eine ganz heile Welt. «Literatur öffnet im besten Fall neue Räume.<br />

Damit sie das tun kann, muss ich ganz genau wissen, wovon ich rede.<br />

Die Sprach- und Verhaltenscodes der Leute aus meinem Dorf kenne ich bis<br />

ins kleinste. Das ist es, was mich interessiert: über Menschen zu schreiben,<br />

so glasklar wie möglich», sagt Camenisch. Wer sich nun vorstellt, der Autor<br />

schreibe als Daheimgebliebener, liegt indes falsch. «Ich lebte drei Jahre in<br />

Madrid und nun seit sechs Jahren in Biel. Von hier aus ist der Blick ein anderer,<br />

die Hebelkraft grösser.»<br />

Zwischen Sätzen, Abschnitten und Büchern spannt Camenisch feine Fäden.<br />

Und wer einmal eingetaucht ist in diese Welt, liest seine Werke vielleicht<br />

alle in einem Zug. Die Figuren, Charakterköpfe alle, in ihren Freuden und<br />

Zweifeln, Widersprüchlichkeiten und Verletzlichkeit verleiden nicht.<br />

Vielleicht gerade weil der Autor nicht wertet beim Erzählen. Es sind die<br />

Leserinnen und Leser, die – wo und wie auch immer sie leben – ein Buch mit<br />

ihrer persönlichen Geschichte vollenden. Vier Romane in vier Jahren und<br />

18 Sprachen, diverse Auszeichnungen – hebt man da nicht fast ab?<br />

Camenisch nicht. Da ist er bodenständig. «Ich bin dankbar, dass es gut läuft,<br />

bilde mir nichts drauf ein. Ich will einfach gewissenhaft weiterarbeiten.<br />

Dann kunt das schu guat!»<br />

Fred und Franz, Mai <strong>2013</strong> (ISBN 978-3-906050-06-5)<br />

Ustrinkata, Februar 2012 (ISBN 978-3-033-03028-2)<br />

Hinter dem Bahnhof, Juli 2010 (ISBN 978-3-906050-02-7)<br />

Sez Ner, Mai 2009 (ISBN 978-3-906050-01-0)<br />

The beer bottle in father’s hand glows Calanda yellow. The boys<br />

are on the chairlift, skis swinging in the air. Until the chairlift<br />

suddenly stops on the last trip. “After five Chupa Chups the sun<br />

is gone. We'll have to stay on the lift all night, says my brother …<br />

maybe a helicopter will come and throw down rucksacks with …<br />

sandwiches with salami and pickle, to stop us being hungry during<br />

the night."<br />

The small scene from the Arno Camenisch novel “Behind the<br />

Station” comes alive in your imagination. Precise to the tiniest detail<br />

and written in colourful dialect that stays with you for a long time.<br />

Sun and a lot of shade, the chairlift, breaks with Calanda beer, sandwiches<br />

from the rucksack, woolly hats and everyday conversation –<br />

these are all recurring ingredients in the first four novels of the<br />

35-year-old from the canton of Graubünden. Yet there are many<br />

more besides. There is just so much to discover in these apparently<br />

simple stories. Not least the unique language. That is also the<br />

opinion of the literary critics of this country, who have distinguished<br />

Camenisch with numerous important awards – including the Swiss<br />

Literature Prize 2012 and the Friedrich-Hölderlin-Förderpreis <strong>2013</strong>.<br />

Arno Camenisch grew up in Tavanasa, a small “shadowy village” in<br />

Surselva on the other side of the Oberalppass. Although there were<br />

hardly any books at home and the young Arno mostly played<br />

football or watched TV, he discovered writing just as he turned 20,<br />

quickly gave up the teaching profession and was reborn as an<br />

author at the Swiss Literature Institute in Biel. “There was no stopping<br />

me then. I had no doubt where I wanted to go," said Camenisch.<br />

His first novel “Sez Ner” was set on an alp in Graubünden and is<br />

written in both German and Romansh. “Behind the Station” is a boys’<br />

story, set in a small shadowy village on the Rhine. “Last Orders” has<br />

an even smaller setting: the last evening in the village pub. And<br />

“Fred and Franz”, in his latest novel, head back home to their own<br />

world after a trip to the casino. It is indeed a microcosm that<br />

Camenisch illustrates from all sides in almost picture-perfect clarity.<br />

He isn’t promoting patriotism and only rarely depicts a completely<br />

idyllic world. “At its best, literature opens up new places. To be able<br />

to do that I need to know exactly what I am talking about. I know<br />

the way the people from my village speak and act in the tiniest<br />

detail. That is what interests me: writing about people as transparently<br />

as possible,” says Camenisch. Anyone who imagines that the<br />

author is writing from an insular perspective is wrong. “I lived in<br />

Madrid for three years and have been in Biel for six years now.<br />

The perspective from here is different, the leverage is greater.”<br />

Between the sentences, paragraphs and books, Camenisch weaves<br />

fine threads. Once you get caught up in this world you might<br />

easily find yourself reading all his work in one sitting. The figures,<br />

all real characters, with all their joys and misgivings, contradictions<br />

and vulnerabilities, draw you in. Maybe because the author doesn’t<br />

judge them in the stories. The readers – wherever and however<br />

they live – complete the books with their own personal stories.<br />

Four novels in four years and 18 languages, various awards – isn’t<br />

it easy to get swept away with success? Not Camenisch. He has<br />

his feet firmly on the ground. “I am grateful that it is going well,<br />

I’m not getting carried away. I just want to keep working away.<br />

That will work out fine!”<br />

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