12.03.2019 Aufrufe

[ke:onda] Dieses Boot ist voll!

Ausgabe 1/2015. Ein Heft über Flucht und Vertreibung.

Ausgabe 1/2015. Ein Heft über Flucht und Vertreibung.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

WENN GEISTIGE BRANDSTIFTER<br />

ECHTE FEUER LEGEN<br />

Lübeck, Vorra, Limburgerhof, Tröglitz – in letzter Zeit gingen Unterkünfte<br />

für Asylbewerber*innen in Flammen auf. Im Kielwasser von<br />

Pegida und Co. scheinen sich die Angriffe wieder zu häufen. Ein<br />

Problem, dass nach den Erfahrungen der 1990er Jahre eigentlich<br />

überwunden schien. Ganz tief im kollektiven Gedächtnis hat sich<br />

ein Ereignis rund um das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen<br />

eingegraben.<br />

Im August 1992 sind die Krawalle in Lichtenhagen der traurige Zenit<br />

einer ganzen Reihe von rass<strong>ist</strong>ischen Übergriffen auf Migrant*innen<br />

und Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte. Vor dem Sonnenblumenhaus<br />

tobte der Mob, der den Ausländern die Schuld für die<br />

schlechte wirtschaftliche Lage in Mecklenburg-Vorpommern gab.<br />

Die Parallele zur aktuellen Situation <strong>ist</strong> deutlich – „besorgte Bürger“<br />

gingen Hand in Hand mit rass<strong>ist</strong>ischen Neonazis, die „Schuldige“<br />

für ihre prekäre Situation suchten und fanden. In Rostock stand die<br />

Polizei ratlos und unterbesetzt daneben, Kamerateams filmten den<br />

zunehmend gewaltbereiten Mob vor dem Sonnenblumenhaus, in<br />

dem vietnamesische Asylbewerber lebten. Tagelang gab es Angriffe<br />

mit Steinen und Molotow-Cocktails auf die Unterkunft. Nur mit<br />

Glück blieb dieser Anschlag ohne Todesopfer.<br />

Nur einen Monat später, im September 1992 brannte im sächsischen<br />

Hoyerswerda ein Wohnheim, in dem frühere DDR-Gastarbeiter<br />

untergebracht waren. Auch hier waren wieder hunderte Menschen<br />

auf der Straße, die das Gebäude mit Molotow-Cocktails angegriffen.<br />

In Folge der Pogrome in Rostock und Hoyerswerda wurden die<br />

betroffenen Menschen aus beiden Städten ausquartiert und an<br />

anderen Orten untergebracht. Ein fatales Signal, denn der tobende<br />

Mob hatte sein Ziel damit erreicht. Verurteilungen gab es in beiden<br />

Fällen nur vereinzelt. Die Strafen fielen gering aus, manche<br />

Verfahren zogen sich so lange hin, dass die Straftaten verjährten.<br />

Obwohl beide Übergriffe in den neuen Bundesländern waren, sind<br />

Brandanschläge <strong>ke</strong>in ostdeutsches Phänomen. Im November 1992<br />

verübten Neonazis in Mölln (Schleswig-Holstein) Brandanschläge<br />

auf zwei von türkischstämmigen Familien bewohnte Häuser. Drei<br />

Menschen starben, neun wurden zum Teil schwer verletzt. Im Mai<br />

1993 zündeten Neonazis in Solingen (NRW) das Haus einer Familie<br />

mit türkischem Hintergrund an. Dabei kamen fünf Menschen ums<br />

Leben, 14 Personen kämpfen zum Teil noch immer mit den Folgen.<br />

Angesichts dieser Ereignisse scheinen mir die aktuellen Ereignisse<br />

mehr als bedrohlich. Nachdem die Zahl der Anschläge auf Wohnheime<br />

nach 1992 langsam san<strong>ke</strong>n, <strong>ist</strong> sie in den letzten Jahren<br />

wieder stark gestiegen. Bis wir wieder Tote rass<strong>ist</strong>ischer Gewalt<br />

beklagen müssen, <strong>ist</strong> wohl nur eine Frage der Zeit. Damals wie<br />

heute manifestieren sich Abstiegsängste in der Bevöl<strong>ke</strong>rung aufgrund<br />

der schlechten Wirtschaftslage im Hass auf (vermeintlich)<br />

Fremde. Bundesweit gab es im Jahr 2014 153 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte,<br />

davon allein 35 Brandanschläge.<br />

Woher aber kommt dieser Hass gegen Menschen, die vor Krieg,<br />

Hunger und Verfolgung flüchten? Nach den Erfahrungen des zweiten<br />

Weltkriegs wurde das Recht auf Asyl explizit in Arti<strong>ke</strong>l 16a des<br />

Grundgesetzes veran<strong>ke</strong>rt. Dabei spielte insbesondere die Erfahrung<br />

von Deutschen, die als politisch oder religiös Verfolgte vor den<br />

Nazis ins Ausland fliehen mussten, eine große Rolle. Asyl <strong>ist</strong> ein<br />

Grundrecht – und dennoch gehen Menschen zu hunderten auf die<br />

Straße, um gegen Flüchtlingsunterkünfte in Berlin-Hellersdorf,<br />

Ludwigshafen oder Freital zu demonstrieren.<br />

Willkommenskultur sieht anders aus. Auch eine Unterbringung<br />

in abgeschotteten Kasernen und ohne jegliche Möglich<strong>ke</strong>iten zur<br />

Integration in die Gesellschaft, sind nicht besonders hilfreich, um<br />

„besorgten Bürgern“ ihre irrationalen Ängste zu nehmen. Was wir<br />

brauchen, <strong>ist</strong> eine echte Willkommenskultur, einen vorurteilsfreien<br />

Umgang und vor allem die Bereitschaft, neue Mitmenschen in<br />

unsere Gesellschaft aufzunehmen.<br />

Jörg Weißgerber

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!