[ke:onda] Dieses Boot ist voll!
Ausgabe 1/2015. Ein Heft über Flucht und Vertreibung.
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DAS VERMÄCHTNIS<br />
DER ÜBERLEBENDEN<br />
Zu Beginn dieses Jahres, an einem kalten, verschneiten Wintertag,<br />
trafen sich mehr als 50 Staatschefs und Regierungsvertreter*innen<br />
nahe der polnischen Kleinstadt „Oświęcim“, die die Deutschen<br />
Auschwitz nannten. Sie kamen, aber sprachen nicht. Sie waren<br />
gekommen, um zuzuhören. Sie lauschten den Erzählungen dreier<br />
älterer Menschen. Alle drei waren bereits über 80 Jahre alt. Drei<br />
Repräsentanten einer Gruppe von etwa 300 älteren Menschen.<br />
Alle etwa im selben Alter. Sie waren einmal mehr gewesen – viel<br />
mehr – und sie waren einmal jünger gewesen. Junge Menschen,<br />
sprudelnd vor Tatendrang.<br />
Was haben die älteren Menschen zu sagen? Warum haben sie<br />
es sich nicht bequem gemacht auf ihren Sofas? So, wie es ältere<br />
Menschen normalerweise eben tun?<br />
Sie sind in diese kalte, kahle, weiße Fläche gekommen, weil sie etwas<br />
zu sagen haben. Etwas, das ihnen wichtig <strong>ist</strong>. Im Hintergrund ragen<br />
Kamine aus dem Schneetreiben auf. Kamine vergangener Barac<strong>ke</strong>n.<br />
Bei angestrengtem Schauen werden immer mehr Kamine sichtbar.<br />
Endlose Reihen. Gespalten nur von den Bahngleisen. Den Bahngleisen<br />
in den Tod. Stacheldraht versperrt den Weg nach außen. Die<br />
älteren Menschen berichten von ihrem Leben in dieser unwirklichen<br />
Kulisse. Mit mehr als 100.000 Menschen haben sie hier gelebt. Sie<br />
waren Gefangene und wussten nicht warum. Man nahm ihnen ihren<br />
Namen und gab ihnen eine Nummer. Und wer eine Nummer bekam,<br />
konnte sich glücklich schätzen, denn eine Nummer bedeutete die<br />
Chance zu leben. Zu leben bedeutete zu arbeiten, hart zu arbeiten<br />
den ganzen Tag. Eingepfercht zu Hunderten. Mit Seuchen und<br />
Ratten und der ständigen Angst als nächstes denen zu folgen, die<br />
<strong>ke</strong>ine Nummern bekamen. Kann man das überhaupt Leben nennen?<br />
Es <strong>ist</strong> ihnen wichtig dies zu erzählen. Bald werden sie es nicht<br />
mehr erzählen können.<br />
Zeitgleich zu diesem Treffen, gab es ein weiteres Treffen, nicht weit<br />
entfernt. Ein Treffen junger Menschen, genauso sprudelnd vor Tatendrang,<br />
wie es die älteren Menschen einst gewesen waren. Sie kamen<br />
aus fünf Ländern und innerhalb dieser Länder aus mehr als 40 Organisationen.<br />
Nachfahren der Opfer und der Täter. Auch zu ihnen kam<br />
einer der dreihundert verbliebenen älteren Menschen. Sie hörten<br />
seine Botschaft, die von den Vielen erzählt, denen es nicht vergönnt<br />
war, diesen Tatendrang auszuleben. Den vielen Ideen, die zwischen<br />
1941 und 1945 mit den Menschenleben verloren gingen. Sie sahen<br />
die Zeichnungen der Kinder in den Barac<strong>ke</strong>n, die stummen Zeugen<br />
des Grauens. Sie erzählen auf ihre Weise von den Ängsten und von<br />
den Hoffnungen, von den Schmerzen und von den Freuden, die es<br />
auch unter den schlimmsten Bedingungen noch gab. Sie sind Zeugen