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Ausgabe 1/2015. Ein Heft über Flucht und Vertreibung.

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Bei der Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz trafen wir<br />

Zeitzeugin Esther Bejarano. Esther wurde 1924 in Saarlouis<br />

geboren und überlebte Auschwitz. Dort musste sie unter<br />

anderem für neu angekommene deportierte Menschen<br />

Musik spielen, die aus den Viehwaggons herausgetrieben<br />

und häufig direkt in die Gaskammern geführt wurden.<br />

Esther lebt heute in Hamburg, engagiert sich gegen<br />

Rechtsextremismus, kritisiert die europäische Asylpolitik<br />

und hat ein Album mit der Rapgruppe Microphone Mafia<br />

aufgenommen.<br />

FÜNF FRAGEN AN ESTHER BEJARANO<br />

Frage: Wenn du heute Nazi-Aufmärsche und<br />

Brandanschläge auf Flüchtlingsheime mitbekommst<br />

– wie <strong>ist</strong> das für dich?<br />

Esther: Das <strong>ist</strong> ja logisch, dass ich mich ganz schlecht fühle. Das<br />

<strong>ist</strong> schlimm, und zwar nicht nur für mich sondern auch für alle, die<br />

das Schreckliche [den Nationalsozialismus, Red.] durchgemacht<br />

haben. Ich kann es einfach nicht verstehen, dass heute immer<br />

noch so viele Nazis in Deutschland und auf der ganzen Welt herumlaufen.<br />

Und das unsere Regierung sehr, sehr wenig dagegen<br />

tut. Die [Nazis, Red.] können schon wieder so viele schreckliche<br />

Dinge tun. Wir haben die NSU und die Prozesse, und man sieht<br />

doch geradezu, dass das Ganze immer weiter herausgezögert<br />

wird, statt einen Schlussstrich zu ziehen. Ich bin sehr enttäuscht.<br />

Frage: Esther, hat deine Zeit in Auschwitz dein<br />

Verhältnis zur Musik verändert?<br />

Esther: Meine Liebe zur Musik hat sich überhaupt nicht geändert.<br />

Es gibt ja Menschen, die sagen: Nach Auschwitz kann man <strong>ke</strong>ine<br />

Musik mehr machen, <strong>ke</strong>ine Bilder mehr malen und <strong>ke</strong>ine Gedichte<br />

mehr schreiben. Das finde ich falsch! Genau das Gegenteil muss<br />

der Fall sein. Man muss sich doch ausdrüc<strong>ke</strong>n können, und ich<br />

mache das mit Musik. Ich bin sogar unter die Rapper gegangen.<br />

Microphone Mafia <strong>ist</strong> für mich eine besondere Gruppe, denn auf<br />

der Bühne sind wir drei Generationen und drei Religionen. Wir<br />

wollen Vorbild sein für alle Leute, die noch den<strong>ke</strong>n, dass man<br />

mit anderen Kulturen nichts anfangen kann. Wir jedenfalls sind<br />

Juden, Chr<strong>ist</strong>en und Moslems, und wir verstehen uns wunderbar<br />

miteinander.<br />

Frage: Woher hast du die Kraft, von deinen<br />

schlimmen Erlebnissen zu erzählen.<br />

Esther: Es <strong>ist</strong> ein Geben und ein Nehmen. Ich bekomme Kraft<br />

von denen, die mir zuhören wollen, die etwas lernen wollen und<br />

die sich für diese Materie interessieren. Ich sage immer: „Ihr seid<br />

nicht schuldig an dem, was damals geschah. Aber ihr macht euch<br />

schuldig, wenn ihr über diese Geschichte nichts wissen wollt.“<br />

Frage: Wie stehst du zu den späten Einsichten<br />

und Entschuldigungen in den Prozessen, die<br />

gegen die Täter geführt werden?<br />

Esther: Also, bis jetzt habe ich von diesen Prozessen nicht den<br />

Eindruck gehabt, dass die Täter sich entschuldigt haben. Dieser<br />

Mann in Lüneburg [Oskar Gröning, Red.] hat ja noch total<br />

die Sprache der Nazis benutzt. Er hat zwar gesagt, er fühle sich<br />

moralisch schuldig. Aber ich stehe auf dem Standpunkt, dass<br />

diese Menschen, die nach 1945 ohne ein schlechtes Gewissen<br />

unbehelligt leben konnten, unbedingt verurteilt werden müssen.<br />

Ich bin sehr dafür, dass sie, ob sie nun 80, 90 oder noch mehr<br />

Jahre in Frieden gelebt haben, jetzt endlich mal belangt werden<br />

müssen für das, was sie getan haben.<br />

Frage: Wie glaubst du, dass Erinnern und Geden<strong>ke</strong>n<br />

möglich <strong>ist</strong>, wenn es <strong>ke</strong>ine Zeitzeug*innen<br />

mehr gibt? Wie verhindern wir das Vergessen?<br />

Esther: Ein bisschen haben wir ja schon vorgearbeitet. Im Auschwitz-Komitee<br />

haben wir Geschichten geschrieben und Filme<br />

gemacht, aber natürlich kann das die Zeitzeugen nicht ersetzten.<br />

Aber ich wünsche mir, dass alle, die diese Geschichten hören,<br />

sie auch weitererzählen. Ich mer<strong>ke</strong> das immer wieder, dass junge<br />

Menschen zu mir kommen und mir sagen: „Esther, ich werde deine<br />

Geschichte weitererzählen!“ Und das <strong>ist</strong> für mich eine große<br />

Sache, ich freue mich wahnsinnig darüber.

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