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Verita Magazin Frühjahr 2019

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Eine der verbrieften Wahrheiten aber lautet, dass der bisherige<br />

Lebensweg des namentlich weltweit bekanntesten<br />

Schweizer Exportartikels neben Tennis-As Roger Federer<br />

fast ebenso reich an überraschenden Wendungen ist wie<br />

die verschlungene Handlung seiner Bücher. In der Schule<br />

fiel Dicker vor allem durch verstörend geschriebene Aufsätze<br />

auf, die ihm reihenweise ein „Nicht genügend“ einbrachten.<br />

Daher beschloss er auch, an der Universität einen<br />

Bogen um die Literaturwissenschaft zu machen – er<br />

studierte Rechtslehre. Die anfangs heimliche Liebe zum<br />

Schreiben ließ ihn trotzdem nicht los. Es war eine leidenschaftliche,<br />

aber geraume Zeit einseitige Beziehung. Drei<br />

Romane schrieb er, für keinen davon fand er einen Verlag.<br />

Werk Nummer vier wurde zwar verlegt, blieb aber<br />

unter der Wahrnehmungsgrenze.<br />

Unbeirrt schrieb der einstige Jungdichter mit russischen<br />

Wurzeln weiter, in französischer Sprache, die ja in der<br />

Westschweiz den Ton angibt. Und offenkundig hatte<br />

Dicker, nach all den Fehl- und Tiefschlägen,<br />

endlich den richtigen Tonfall gefunden.<br />

Sein nächster Roman held, besagter<br />

Dichter mit Schreibhemmung, wurde vor<br />

allem in Frankreich im Eiltempo zur Kultfigur,<br />

das Buch wurde als „Mörderjagd<br />

mit Suchtfaktor“ bejubelt, an weiteren<br />

internationalen Lobeshymnen bestand keinerlei Mangel.<br />

Sie galten einem Ausnahme-Könner, dem Schreib-<br />

Blockaden zumindest bis zum heutigen Tag völlig fremd<br />

sind. Disziplin, Kontinuität, Ausdauer und nicht zuletzt<br />

ständige Selbstkritik gehören für den leidenschaftlichen<br />

Jogger, der jeden Morgen seine Runden dreht, ehe er<br />

sich an den Schreibtisch setzt, zu den obersten Geboten.<br />

„Wenn etwas zu einfach von der Hand geht, macht es<br />

keine Freude“, sagt Dicker.<br />

Exakt diese Leichtigkeit warfen ihm viele Kritiker bei<br />

seinem zweiten Roman, der bekanntlich fast immer<br />

die schwerste Hürde darstellt, scharenweise vor. Dicker<br />

wollte mit der Familiensaga „Die Geschichte der Baltimores“<br />

neuen literarischen Boden betreten, dies gelang<br />

ihm auch durchaus trittsicher – aber die Erwartungshaltungen<br />

gingen, wenig überraschend nach dem Krimi-<br />

Triumph, in gänzlich andere Richtungen. Man wollte<br />

sich gekonnt und virtuos an der Nase herumführen<br />

lassen von einem ungekrönten König der Finten, der es<br />

faustdick hinter den Ohren hat.<br />

„Wenn etwas zu<br />

einfach von der<br />

Hand geht, macht<br />

es keine Freude.“<br />

Präziser: eine trügerisch-idyllische Kleinstadt namens<br />

Orphea, in der, da legt schon der Autor Hand an, bald<br />

kein Stein mehr auf dem anderen bleibt und nichts mehr<br />

ist, wie es scheint. Erneut dreht Dicker die Uhr zurück,<br />

bis zum Jahr 1994. Ein Mehrfach-Mord erschüttert den<br />

Badeort. Zwei damals noch recht unerfahrene und junge<br />

Ermittler werden wenige Wochen gefeiert, alles deutet<br />

darauf hin, dass es ihnen gelang, den blutigen Fall zu<br />

lösen. Zwanzig Jahre später taucht eine Journalistin<br />

namens Stephanie Mailer in Orphea auf und konfrontiert<br />

das Ermittlerduo mit der Behauptung, damals bei<br />

der Mördersuche wichtige Details übersehen zu haben.<br />

Der Fall wird, trotz einiger Widerstände, neu aufgerollt.<br />

Für viele Krimi-Fans mag dies nach einer Dutzendgeschichte<br />

des Genres klingen, ein keineswegs unberechtigter<br />

Verdacht, der vielleicht auch noch bestehen könnte,<br />

als die Journalistin spurlos verschwindet. Falsche<br />

Fährte, fataler Irrtum. „Ab jetzt beginnt die Schnitzeljagd“,<br />

stöhnt einer der Polizeibeamten in<br />

einem der Anfangskapitel. Das klingt eher<br />

ironisch, ist aber der Auftakt zu einem kriminellen<br />

Furioso, Marke Joël Dicker. Temporeich,<br />

mit geschickt eingebauten Cliffhangern,<br />

die aber keineswegs so inflationär<br />

sind wie etwa bei Dan Brown, nimmt Dicker<br />

seine Leserschaft mit auf eine atembe raubende Zeitreise.<br />

Er stellt die Weichen neu, er stellt sie anders – und<br />

er stellt sie zuweilen falsch. Darauf beruht ja all seine<br />

Cleverness und seine so ausgeprägte Lust am Tarnen und<br />

Täuschen.<br />

Joël Dicker betreibt Gehirnjogging für Krimi-Freunde,<br />

die nichts dagegen haben, dass ihnen der Autor gern ab<br />

und zu ein Bein stellt. Keine Bange, er bietet ohnehin<br />

hilfreich seine Hand an, wissend, dass an der Ecke schon<br />

die nächste Hürde oder Falle wartet. Wie nett sie aber<br />

auch sein können, diese Schweizer, wenngleich einer unter<br />

ihnen ausgerechnet im Land der Uhren gänzlich anders<br />

tickt. Gut denkbar ist es ja, dass die Uhr auf seinem<br />

Schreibtisch über mindestens zwölf Zeiger verfügt; jeder<br />

weist in eine andere Richtung. Aber nur kurz, denn dann<br />

verschwinden auch sie. Wohin? Das weiß nur der Dicker.<br />

Gewünscht, gesagt, getan. Denn nun brilliert Joël Dicker<br />

wieder in jenem Metier, dessen Spielarten und Regeln<br />

ihm höchst vertraut sind und durch seine gefinkelten<br />

Kehrtwendungen und Pirouetten auf dem Papier in<br />

ungeheuerliche Doppelbödigkeiten führten. Auch für<br />

seinen neuen Thriller, „Das Verschwinden der Stephanie<br />

Mailer“, erkor sich Dicker die USA als Schauplatz.<br />

Joël Dicker<br />

Das Verschwinden der<br />

Stephanie Mailer<br />

Übers. v. Michaela Meßner,<br />

Amelie Thoma<br />

Piper, 656 Seiten<br />

Euro 25,70<br />

ISBN 978-3-492-05939-8<br />

E-Book 978-3-492-99330-2<br />

Buchmedia <strong>Magazin</strong> 37<br />

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