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Eine der verbrieften Wahrheiten aber lautet, dass der bisherige<br />
Lebensweg des namentlich weltweit bekanntesten<br />
Schweizer Exportartikels neben Tennis-As Roger Federer<br />
fast ebenso reich an überraschenden Wendungen ist wie<br />
die verschlungene Handlung seiner Bücher. In der Schule<br />
fiel Dicker vor allem durch verstörend geschriebene Aufsätze<br />
auf, die ihm reihenweise ein „Nicht genügend“ einbrachten.<br />
Daher beschloss er auch, an der Universität einen<br />
Bogen um die Literaturwissenschaft zu machen – er<br />
studierte Rechtslehre. Die anfangs heimliche Liebe zum<br />
Schreiben ließ ihn trotzdem nicht los. Es war eine leidenschaftliche,<br />
aber geraume Zeit einseitige Beziehung. Drei<br />
Romane schrieb er, für keinen davon fand er einen Verlag.<br />
Werk Nummer vier wurde zwar verlegt, blieb aber<br />
unter der Wahrnehmungsgrenze.<br />
Unbeirrt schrieb der einstige Jungdichter mit russischen<br />
Wurzeln weiter, in französischer Sprache, die ja in der<br />
Westschweiz den Ton angibt. Und offenkundig hatte<br />
Dicker, nach all den Fehl- und Tiefschlägen,<br />
endlich den richtigen Tonfall gefunden.<br />
Sein nächster Roman held, besagter<br />
Dichter mit Schreibhemmung, wurde vor<br />
allem in Frankreich im Eiltempo zur Kultfigur,<br />
das Buch wurde als „Mörderjagd<br />
mit Suchtfaktor“ bejubelt, an weiteren<br />
internationalen Lobeshymnen bestand keinerlei Mangel.<br />
Sie galten einem Ausnahme-Könner, dem Schreib-<br />
Blockaden zumindest bis zum heutigen Tag völlig fremd<br />
sind. Disziplin, Kontinuität, Ausdauer und nicht zuletzt<br />
ständige Selbstkritik gehören für den leidenschaftlichen<br />
Jogger, der jeden Morgen seine Runden dreht, ehe er<br />
sich an den Schreibtisch setzt, zu den obersten Geboten.<br />
„Wenn etwas zu einfach von der Hand geht, macht es<br />
keine Freude“, sagt Dicker.<br />
Exakt diese Leichtigkeit warfen ihm viele Kritiker bei<br />
seinem zweiten Roman, der bekanntlich fast immer<br />
die schwerste Hürde darstellt, scharenweise vor. Dicker<br />
wollte mit der Familiensaga „Die Geschichte der Baltimores“<br />
neuen literarischen Boden betreten, dies gelang<br />
ihm auch durchaus trittsicher – aber die Erwartungshaltungen<br />
gingen, wenig überraschend nach dem Krimi-<br />
Triumph, in gänzlich andere Richtungen. Man wollte<br />
sich gekonnt und virtuos an der Nase herumführen<br />
lassen von einem ungekrönten König der Finten, der es<br />
faustdick hinter den Ohren hat.<br />
„Wenn etwas zu<br />
einfach von der<br />
Hand geht, macht<br />
es keine Freude.“<br />
Präziser: eine trügerisch-idyllische Kleinstadt namens<br />
Orphea, in der, da legt schon der Autor Hand an, bald<br />
kein Stein mehr auf dem anderen bleibt und nichts mehr<br />
ist, wie es scheint. Erneut dreht Dicker die Uhr zurück,<br />
bis zum Jahr 1994. Ein Mehrfach-Mord erschüttert den<br />
Badeort. Zwei damals noch recht unerfahrene und junge<br />
Ermittler werden wenige Wochen gefeiert, alles deutet<br />
darauf hin, dass es ihnen gelang, den blutigen Fall zu<br />
lösen. Zwanzig Jahre später taucht eine Journalistin<br />
namens Stephanie Mailer in Orphea auf und konfrontiert<br />
das Ermittlerduo mit der Behauptung, damals bei<br />
der Mördersuche wichtige Details übersehen zu haben.<br />
Der Fall wird, trotz einiger Widerstände, neu aufgerollt.<br />
Für viele Krimi-Fans mag dies nach einer Dutzendgeschichte<br />
des Genres klingen, ein keineswegs unberechtigter<br />
Verdacht, der vielleicht auch noch bestehen könnte,<br />
als die Journalistin spurlos verschwindet. Falsche<br />
Fährte, fataler Irrtum. „Ab jetzt beginnt die Schnitzeljagd“,<br />
stöhnt einer der Polizeibeamten in<br />
einem der Anfangskapitel. Das klingt eher<br />
ironisch, ist aber der Auftakt zu einem kriminellen<br />
Furioso, Marke Joël Dicker. Temporeich,<br />
mit geschickt eingebauten Cliffhangern,<br />
die aber keineswegs so inflationär<br />
sind wie etwa bei Dan Brown, nimmt Dicker<br />
seine Leserschaft mit auf eine atembe raubende Zeitreise.<br />
Er stellt die Weichen neu, er stellt sie anders – und<br />
er stellt sie zuweilen falsch. Darauf beruht ja all seine<br />
Cleverness und seine so ausgeprägte Lust am Tarnen und<br />
Täuschen.<br />
Joël Dicker betreibt Gehirnjogging für Krimi-Freunde,<br />
die nichts dagegen haben, dass ihnen der Autor gern ab<br />
und zu ein Bein stellt. Keine Bange, er bietet ohnehin<br />
hilfreich seine Hand an, wissend, dass an der Ecke schon<br />
die nächste Hürde oder Falle wartet. Wie nett sie aber<br />
auch sein können, diese Schweizer, wenngleich einer unter<br />
ihnen ausgerechnet im Land der Uhren gänzlich anders<br />
tickt. Gut denkbar ist es ja, dass die Uhr auf seinem<br />
Schreibtisch über mindestens zwölf Zeiger verfügt; jeder<br />
weist in eine andere Richtung. Aber nur kurz, denn dann<br />
verschwinden auch sie. Wohin? Das weiß nur der Dicker.<br />
Gewünscht, gesagt, getan. Denn nun brilliert Joël Dicker<br />
wieder in jenem Metier, dessen Spielarten und Regeln<br />
ihm höchst vertraut sind und durch seine gefinkelten<br />
Kehrtwendungen und Pirouetten auf dem Papier in<br />
ungeheuerliche Doppelbödigkeiten führten. Auch für<br />
seinen neuen Thriller, „Das Verschwinden der Stephanie<br />
Mailer“, erkor sich Dicker die USA als Schauplatz.<br />
Joël Dicker<br />
Das Verschwinden der<br />
Stephanie Mailer<br />
Übers. v. Michaela Meßner,<br />
Amelie Thoma<br />
Piper, 656 Seiten<br />
Euro 25,70<br />
ISBN 978-3-492-05939-8<br />
E-Book 978-3-492-99330-2<br />
Buchmedia <strong>Magazin</strong> 37<br />
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