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Wenn Eltern und Lehrer vor<br />
der Schule Schlange stehen<br />
Zu viele Elterntaxis; motorisierte Lehrer, die mit einer<br />
Verknappung der Parkplätze zu kämpfen haben, welche<br />
für viele nicht mehr umsonst sind: Der Schulanfang<br />
ist mancherorts zu einem Prüfstein für die beteiligten<br />
Erwachsenen geworden, vor allem in der Agglomeration.<br />
TEXT JÉRÔME LATHION | FOTO PIA NEUENSCHWANDER | ILLUSTRATION NICOLAS KRISTEN<br />
Elterntaxis? «Manche würden<br />
mit dem Auto ins Schulgebäude<br />
fahren, wenn sie könnten»,<br />
scherzt Jean-Marc Haller, Generalsekretär<br />
der Westschweizer Lehrergewerkschaft<br />
(SER), die acht kantonale<br />
Verbände und 7000 Mitglieder in<br />
der französischsprachigen Schweiz<br />
vereint. Wenn er vom Gefühl der Unsicherheit<br />
hört, das ein solches Verhalten<br />
auslöst – Angst vor Unfall, Entführung<br />
oder Schlägereien zwischen<br />
Schulkindern –, beklagt er eine Situation,<br />
die nicht immer gerechtfertigt ist<br />
(siehe Kasten). Die Lehrerschaft ihrerseits<br />
muss sich mit wachsenden Parkplatzproblemen<br />
herumschlagen. Die<br />
Zeiten, in denen die von der Gemeinde<br />
entlohnten Lehrer gleichzeitig als<br />
Hausabwarte fungierten und über eine<br />
Dienstwohnung im Schulgebäude verfügten,<br />
sind nämlich vorbei. «Angesichts<br />
der damaligen Gehälter stellte<br />
diese Unterkunft bis in die 70er-Jahre<br />
ein Privileg bei einer Anstellung dar»,<br />
erläutert Jean-Marc Haller. Heute sind<br />
Primarlehrer Staatsangestellte und<br />
müssen nicht mehr auf dem Gemeindegebiet<br />
wohnen. Die Folge davon:<br />
«Das Pendeln hat zugenommen, wobei<br />
regional Unterschiede bestehen, die<br />
von verschiedenen Faktoren wie etwa<br />
den Wohnkosten abhängen.»<br />
Mobile Lehrer<br />
Da statistische Daten fehlen, ist die<br />
SER nicht in der Lage, den Anteil des<br />
Lehrpersonals, das lieber mit dem<br />
Auto zur Arbeit fährt, zu beziffern.<br />
Doch manchmal ist ein Fahrzeug<br />
schlicht unverzichtbar, vor allem<br />
wenn pädagogisches Material oder<br />
eine Vielzahl von Heften zum Korrigieren<br />
transportiert werden muss. Gewisse<br />
Lehrer unterrichten nämlich an<br />
mehreren Standorten, und nicht alle<br />
Schulgebäude – von denen einige übrigens<br />
früh schliessen – verfügen über<br />
Räume, die es gestatten, das Pensum<br />
nach den Schulstunden vor Ort zu erfüllen.<br />
«Ich schätze, dass etwa 15 Prozent<br />
des Lehrpersonals gezwungen<br />
sind, tagsüber berufshalber ein Fahrzeug<br />
zu benutzen», gesteht der Generalsekretär,<br />
der in diesem Zusammenhang<br />
eine sich langsam ausbreitende<br />
Tendenz beklagt: «Was einmal gratis<br />
war, muss nun bezahlt werden.»<br />
Die Abnahme guter<br />
Parkmöglichkeiten in der<br />
Nähe von Schulen wird seiner<br />
Ansicht nach durch die Entwicklung<br />
der Teilzeitarbeit<br />
verschärft, da stets mehr Personen<br />
mehr Autos parkieren<br />
wollen. «Etwas mehr Flexibilität<br />
seitens der Behörden wäre<br />
zu begrüssen, zumindest für<br />
Spezialfälle», seufzt Jean-<br />
Marc Haller. «Eins ist sicher:<br />
Der Umstieg auf die sanfte<br />
Mobilität ist für unseren Beruf<br />
nicht leicht.»<br />
Problem: Parkplätze<br />
Philippe Lemière von der Generaldirektion<br />
für allgemeine<br />
Schulpflicht des Kantons Genf nimmt<br />
die Klagen ernst: «Die Parkplätze sind<br />
ein Problem, doch die Schulgebäude<br />
gehören den Gemeinden», ruft er<br />
vorab in Erinnerung. «Wir können<br />
den Lehrern also nur raten, an die Gemeindebehörden<br />
zu gelangen, um<br />
möglichst ein Arrangement bezüglich<br />
Parkplätzen zu finden. Es ist vorauszuschicken,<br />
dass die sanfte Mobilität<br />
vom Regierungsrat stark unterstützt<br />
wird und dass der Kanton als Arbeitgeber<br />
grundsätzlich keine Parkplätze für<br />
Fahrten zwischen Wohn- und Arbeitsort<br />
bereitzustellen hat. Auch die Gemeinden<br />
sind nicht dazu verpflichtet.»<br />
Genf kennt alle Aspekte des Problems.<br />
Beim nächsten Schulanfang gibt es<br />
hier 58 schulische Einrichtungen mit<br />
165 Gebäuden, wovon ein Drittel im<br />
Stadtzentrum liegt; es werden 2400<br />
Primarschullehrer und 36 500 Schulkinder<br />
– 800 mehr als letztes Jahr – erwartet.<br />
«Im Zentrum bereitet den Lehrern<br />
nicht nur das Parkieren, sondern<br />
auch die Verkehrsverhältnisse Mühe.<br />
Viele von ihnen entscheiden sich für<br />
ein Zweirad oder den öffentlichen Verkehr.<br />
In den Gemeinden auf dem Land<br />
ist dies schwieriger, da die tiefere Verbindungsfrequenz<br />
zuweilen schwer<br />
mit den Stundenplänen vereinbar ist»,<br />
fährt Philippe Lemière fort. «Wir berücksichtigen<br />
nach Möglichkeit die<br />
Wünsche der Angestellten nach Nähe<br />
zum Arbeitsplatz. Doch unser Handlungsspielraum<br />
ist<br />
beschränkt, da wir<br />
in erster Linie auf<br />
die Bedürfnisse<br />
der Einrichtungen<br />
eingehen müssen.»<br />
«Das Pendeln hat zugenommen,<br />
wobei es<br />
regional Unterschiede<br />
gibt, etwa bei den<br />
Wohnkosten»<br />
Jean-Marc Haller,<br />
Generalsekretär der Westschweizer<br />
Lehrergewerkschaft (SER)<br />
In den ländlich geprägten<br />
Kantonen<br />
scheint die Situation<br />
weniger angespannt<br />
zu sein. Fabien<br />
Kohler, Leiter<br />
der Verwaltungsstelle<br />
des jurassischen<br />
Bildungswesens,<br />
bestätigt<br />
dies. Von den rund<br />
600 erfassten Primarschullehrern<br />
arbeiten mehr als 400 ausserhalb der<br />
beiden städtischen Zentren Delsberg<br />
und Pruntrut. Das heisst, dass die<br />
meisten auf ein Auto angewiesen sind:<br />
«An unseren Gesprächen mit den<br />
Schulleitungen erhalten wir keine<br />
nennenswerten Rückmeldungen über<br />
Unzufriedenheit, abgesehen vom Problem<br />
des Ein- und Ausladens der Kinder<br />
durch die Eltern», gesteht der Verantwortliche.<br />
Die jurassischen Behörden<br />
konzentrieren sich also vor allem auf<br />
die sanfte Mobilität der Schulkinder,<br />
indem sie den Schulweg zu Fuss oder<br />
im Pedibus fördern. ◆<br />
18 touring | <strong>September</strong> <strong>2019</strong>