VSAO JOURNAL Nr. 5 - Oktober 2019
Ophthalmologie - Gute Aussichten fürs Glaukom Kardiologie - «Gefährliches» EKG Politik - Frauenstreik – über den Tag hinaus
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Perspektiven<br />
Bild: zvg<br />
Der besondere Patient<br />
Tsororo darf<br />
nicht weinen<br />
Das linke Auge tränte heftig,<br />
die Conjunktiven wirkten<br />
durch die Rötung und<br />
Schwellung wie pralle Wurststränge.<br />
Die Patientin rieb sich das Auge<br />
bei jeder Gelegenheit an der armseligen<br />
Einrichtung der Innenstallung. «Wollen<br />
Sie das Auge nicht aus der Nähe anschauen<br />
und untersuchen, Herr Doktor?» Die<br />
scheue Frage des zuständigen Tierpflegers<br />
war so logisch wie fordernd.<br />
Die Patientin war «Tsororo», das<br />
weibliche Spitzmaulnashorn im Zoologischen<br />
Garten Frankfurt. Zum Zeitpunkt<br />
der Erkrankung war die junge Dame bei<br />
einer flotten Körpermasse von geschätzten<br />
1200 kg angekommen. Spitzmaulnashörner<br />
gelten allgemein als sensibel,<br />
empfindlich, scheu, aggressiv und frei<br />
von Furcht; ganz im Gegensatz zu ihren<br />
Verwandten, den Breitmaulnashörnern.<br />
Also gemeinhin kein Patient, dem man<br />
einfach Anweisungen geben kann wie:<br />
«Legen Sie den Kopf nach hinten und<br />
schauen Sie direkt in meine Lampe, bitte<br />
nicht bewegen …»<br />
Normalerweise ist in einem solchen<br />
Fall die Entscheidung für eine Vollnarkose<br />
mit all ihren möglichen Komplikationen<br />
schnell getroffen. Dies ist vermutlich<br />
einer der grössten Unterschiede zur<br />
Humanmedizin oder zur Veterinärmedizin<br />
bei Haustieren. Bei unkooperativen,<br />
gefährlichen Wildtieren ist die Indikation<br />
zur Distanzimmobilisation mit Blasrohr<br />
oder Gewehr schnell gegeben. Und doch,<br />
irgendwie hat man in Fällen wie dem<br />
obigen ein Gefühl der Unangemessenheit<br />
und des unnötigen Risikos beim Gedanken<br />
an eine umgehende Narkose.<br />
Genau dieses Gefühl der Unangemessenheit<br />
hatte mich bereits ein Jahr zuvor,<br />
kurz nach der Ankunft von Tsororo in<br />
Frankfurt veranlasst, mit ihr zu trainieren.<br />
Bei ihren damaligen geschätzten<br />
500 kg schien mir das Risiko eingrenzbar.<br />
Täglich fütterte ich das Nashorn aus der<br />
Hand, mit Karotten – what else. Nach<br />
einiger Zeit begann ich Tsororo am Kopf<br />
zu berühren, dann am Hals, dann am Ohr<br />
und dann kam der grosse Tag. Zwischen<br />
den Gittern schlüpfte ich in die Innenstallung,<br />
direkt neben das Nashorn,<br />
welches mit stoischer Geduld am Ort<br />
verharrte, nur den Kopf zu mir drehte,<br />
um die Karotte zu empfangen. Dieses<br />
tägliche Training erlaubte dann die<br />
manuelle Untersuchung aller Körperoberflächen<br />
einschliesslich des Rektalisierens.<br />
Und wegen dieses Trainings tolerierte<br />
das Nashorn die Untersuchung<br />
seines Auges, die Entfernung des Fremdkörpers,<br />
einer Strohgranne, und die<br />
manuelle Applikation von antibiotischen<br />
Augentropfen. Nach drei Tagen Lokaltherapie<br />
war Tsororo symptomfrei und nach<br />
fünf Tagen wurde die Behandlung<br />
beendet. Das hier geschilderte medizinische<br />
Training ist Courant normal bei<br />
vielen Wildtierarten im Zoo. Es hat nichts<br />
mit Showeffekten zu tun, sondern<br />
bewahrt den potenziellen Patienten doch<br />
vor der einen oder anderen Anästhesie<br />
und den mit dieser verbundenen Risiken.<br />
Prof. Dr. med. vet. Bernd Schildger,<br />
Direktor Tierpark Dählhölzli Bern<br />
Die Fallberichte stammen aus Bernd Schildgers<br />
Zeit als Tierarzt im Zoo Frankfurt.<br />
Spitzmaulnashorn Tsororo, ca. 1200 kg, beim medizinischen Karottentraining mit dem Autor<br />
<strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal 5/19 51