vsao Journal Nr. 5 - Oktober 2023
Sprache - Verstehen, verstummen, vermitteln Politik - Zulassungssteuerung – quo vadis? Adipositas - Neue Medikamente wecken Hoffnungen Offene Handverletzungen - Tipps und Tricks für den Notfall
Sprache - Verstehen, verstummen, vermitteln
Politik - Zulassungssteuerung – quo vadis?
Adipositas - Neue Medikamente wecken Hoffnungen
Offene Handverletzungen - Tipps und Tricks für den Notfall
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<strong>vsao</strong><br />
<strong>Nr</strong>. 5, <strong>Oktober</strong> <strong>2023</strong><br />
<strong>Journal</strong><br />
Das <strong>Journal</strong> des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte<br />
Sprache<br />
Verstehen,<br />
verstummen,<br />
vermitteln<br />
Seite 28<br />
Politik<br />
Zulassungssteuerung –<br />
quo vadis?<br />
Seite 6<br />
Adipositas<br />
Neue Medikamente<br />
wecken Hoffnungen<br />
Seite 40<br />
Offene Handverletzungen<br />
Tipps und Tricks für den Notfall<br />
Seite 44
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Inhalt<br />
Sprache<br />
Verstehen, verstummen, vermitteln<br />
Coverbild: Stephan Schmitz<br />
Editorial<br />
5 Wortreich und sprachlos<br />
Politik<br />
6 Bürokratiemonster statt sinnvolles<br />
Steuerungsinstrument<br />
8 Nationale Wahlen: die Vertretung der<br />
Ärzteschaft stärken<br />
11 Auf den Punkt gebracht<br />
Weiterbildung /<br />
Arbeitsbedingungen<br />
12 «Eine chirurgische Weiterbildung ist in<br />
einer 42+4-Stunden-Woche möglich»<br />
17 Im AA-Universum<br />
Perspektiven<br />
40 Aktuelles zur Adipositas:<br />
Therapie statt Chirurgie?<br />
44 Aus der «Therapeutischen<br />
Umschau» – Übersichtsarbeit:<br />
Tipps und Tricks in der Behandlung<br />
offener Handverletzungen in der<br />
Notfallpraxis<br />
51 Der besondere Ort<br />
mediservice<br />
52 Briefkasten<br />
54 Wie schnell ist schnell genug?<br />
56 Erdbeben: die unterschätzte Gefahr<br />
58 Impressum<br />
<strong>vsao</strong><br />
18 Neues aus den Sektionen<br />
25 <strong>vsao</strong>-Inside<br />
26 <strong>vsao</strong>-Rechtsberatung<br />
Fokus: Sprache<br />
28 «Es gibt keine Übersetzung<br />
ohne Eingriffe»<br />
31 Sprachlos in die Therapie<br />
34 Lost in Translation<br />
36 Im Jordan der Sprachen<br />
38 Was macht die Linguistin<br />
in der Klinik?<br />
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<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 3
Allgemeine<br />
Innere Medizin<br />
15. – 18.11.<strong>2023</strong> Zürich<br />
32 h<br />
Innere Medizin<br />
05. – 09.12.<strong>2023</strong> Zürich<br />
40 h<br />
Allergologie<br />
04. – 05.12.<strong>2023</strong> Zürich<br />
13 h<br />
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Diabetes<br />
09. – 11.11.<strong>2023</strong> Zürich<br />
21 SGAIM | 20 SGED<br />
EKG – Aufbaukurs<br />
23. – 24.10.<strong>2023</strong> Zürich<br />
14 SGAIM | 16 SSAPM<br />
Gynäkologie<br />
30.11. – 02.12.23 Zürich<br />
24 SGGG | 4 SGUM | 13 SGAIM<br />
Kardiologie<br />
10. – 11.11.<strong>2023</strong> Zürich<br />
Neurologie<br />
29. – 30.11.2024 Zürich<br />
16 h<br />
Pädiatrie<br />
23. – 25.10.<strong>2023</strong> Zürich<br />
21 SSP-SGP | 23 SGAIM<br />
Psychiatrie und<br />
Psychotherapie<br />
30.11. – 02.12.23 Zürich<br />
21 SGPP | 20 SAPPM |<br />
24 ASP | 21 FSP<br />
Psychologie<br />
07. – 09.12.<strong>2023</strong> Zürich<br />
21 h<br />
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Versicherten da.
Editorial<br />
Wortreich und<br />
sprachlos<br />
Regula Grünwald<br />
Chefredaktorin <strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong><br />
Ob beim Bestellen eines Kaffees, beim Lesen der Zeitung<br />
oder beim Ausfüllen eines Formulars: Sprache ist allgegenwärtig.<br />
Wir benutzen sie ständig und wahrscheinlich meist,<br />
ohne gross darüber nachzudenken. Dass Sprache prägend,<br />
vielfältig und bisweilen auch herausfordernd ist, zeigt unser Schwerpunkt:<br />
So etwa, wenn ein mehrdeutiger Ausgangstext in der Übersetzung<br />
eine eindeutige Zuordnung verlangt, weil die Zielsprache eine<br />
andere Struktur aufweist. Mehr dazu im Fokusteil. Auch im medizinischen<br />
Alltag ist Kommunikation ein bedeutendes Werkzeug. Wie sich<br />
Sprache und Medizin gegenseitig beeinflussen, erforscht das 2021<br />
gegründete Kompetenzzentrum Language & Medicine Zurich. Was es<br />
hingegen bedeutet, wenn in der psychiatrischen Behandlung die<br />
Sprache fehlt, zeigt ein weiterer Beitrag. Und schliesslich befassen wir<br />
uns mit der Entwicklung vom brabbelnden Baby zum sprechenden<br />
und schreibenden Individuum.<br />
Nicht (nur) mit sprachlichen Herausforderungen hat es der <strong>vsao</strong><br />
zu tun. Die Zulassungssteuerung sorgt nach wie vor für Diskussionen<br />
und bisweilen auch für etwas Verwirrung. Welche Kantone haben<br />
nun in welchen Bereichen Höchstzahlen definiert? Wo stockt es?<br />
Und wie geht es weiter? Ein Übersichtsartikel bringt etwas Licht ins<br />
Dunkel. Wie politische Entscheide zukünftig ausfallen werden,<br />
hängt auch davon ab, wer im Parlament sitzt. Wir stellen deshalb<br />
<strong>vsao</strong>-Mitglieder vor, die diesen Herbst bei den eidgenössischen<br />
Wahlen für den Na tionalrat kandidieren. Eher auf Ebene der Spitäler<br />
wird die 42+4-Stunden-Woche debattiert. Ist dieses Arbeitszeitmodell<br />
mit dem Alltag von Chirurginnen und Chirurgen vereinbar?<br />
Wir haben nachgefragt.<br />
<strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong>:<br />
neue Redaktionsmitglieder gesucht<br />
Sind Sie vielseitig interessiert und haben Lust, das <strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong><br />
mitzuprägen?<br />
Gewinnen Sie einen Einblick in unsere Arbeit, und nehmen Sie unverbindlich<br />
an einer Redaktionssitzung teil. Hauptaufgaben der Redaktion<br />
sind<br />
• die thematische Planung der Hefte,<br />
• die Suche nach Autorinnen und Autoren,<br />
• die regelmässige Teilnahme an den Sitzungen<br />
(sechs abendliche Sitzungen und eine Retraite).<br />
Interessiert? Dann melden Sie sich unter journal@<strong>vsao</strong>.ch.<br />
Wir freuen uns auf neue Gesichter.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 5
Politik<br />
Bürokratiemonster<br />
statt sinnvolles<br />
Steuerungsinstrument<br />
Mit der Zulassungsbeschränkung wollte die Politik<br />
die Gesundheitskosten in den Griff kriegen und die Versorgung sichern.<br />
Eine vorläufige Zwischenbilanz deutet darauf hin,<br />
dass mit dem geschaffenen Instrument weder das eine<br />
noch das andere erreicht werden kann.<br />
Philipp Thüler, Leiter Politik und Kommunikation / stv. Geschäftsführer <strong>vsao</strong><br />
Seit Mitte 2021 ist der Artikel 55a<br />
des Krankenversicherungsgesetzes<br />
(KVG) in Kraft. Er erlaubt den<br />
Kantonen, die Zahl der Ärztinnen<br />
und Ärzte, die ambulante Leistungen zu<br />
Lasten der Grundversicherung erbringen<br />
dürfen, zu begrenzen. Solche Beschränkungen<br />
sind in einem oder mehreren medizinischen<br />
Fachgebieten sowie in bestimmten<br />
Regionen möglich. Ist die vom<br />
Kanton festgelegte Höchstzahl erreicht,<br />
stellt dieser vorerst keine zusätzlichen Berufsausübungsbewilligungen<br />
mehr aus.<br />
Die Festlegung der Höchstzahlen geschieht<br />
aufgrund von drei Faktoren:<br />
– dem bestehenden Angebot an Ärztinnen<br />
und Ärzten, das von den Kantonen in<br />
Vollzeitäquivalenten bestimmt werden<br />
muss,<br />
– dem Versorgungsgrad, der vom Bund berechnet<br />
und in der Höchstzahlenverordnung<br />
publiziert wird,<br />
– dem Gewichtungsfaktor, den die Kantone<br />
selbst bestimmen.<br />
Diese Regelung, zu welcher der <strong>vsao</strong> gegenüber<br />
dem Bundesamt für Gesundheit<br />
in Vernehmlassungen und Umfragen bereits<br />
mehrmals Stellung genommen hat,<br />
ist extrem geprägt vom Bestreben, die<br />
Kosten im Gesundheitswesen zu senken<br />
bzw. das Kostenwachstum zu beschränken.<br />
Die Politik sah in diesem Zulassungsstopp<br />
während vieler Jahre das Allheilmittel<br />
für die steigenden Gesundheitskosten.<br />
Fachkräftemangel als zentrales<br />
Problem<br />
Heute aber sind wir mit einem Fachkräftemangel<br />
konfrontiert, im Gesundheitswesen<br />
wie auch in vielen anderen Branchen.<br />
Ausgerechnet in dieser Situation sind die<br />
Kantone nun verpflichtet, den Zulassungsstopp<br />
umzusetzen. Eine geradezu<br />
paradoxe Situation: Statt Massnahmen gegen<br />
den Fachkräftemangel ergreifen zu<br />
können, müssen die Kantone nun mit<br />
grossem bürokratischem Aufwand<br />
Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzte<br />
festlegen.<br />
Trotz der schwierigen Situation: Die<br />
Kantone sind verpflichtet, das Gesetz umzusetzen,<br />
und kommen dieser Pflicht auch<br />
nach. Wie die Erfahrungen der letzten Monate<br />
zeigen, ist dies aber gar nicht so einfach.<br />
Einerseits ist die Datenlage sehr unsicher.<br />
Dies macht es schwierig, zu bestimmen,<br />
in welchem Fachgebiet und<br />
welcher Region eine Beschränkung nun<br />
tatsächlich angebracht ist. Andererseits<br />
ist auch juristisch weiterhin vieles unklar,<br />
unter anderem die Frage, ob die Höchstzahlen<br />
auf Verordnungsstufe festgelegt<br />
werden können oder ob es dafür eine kantonale<br />
Gesetzesgrundlage braucht.<br />
Grosse Unterschiede zwischen<br />
den Kantonen<br />
Es präsentiert sich deshalb zurzeit ein föderalistischer<br />
Flickenteppich. Einzelne<br />
Kantone haben ihre Pflicht erfüllt, indem<br />
sie eine Höchstzahl in einem Fachgebiet<br />
festlegten, das für ihren Kanton nicht besonders<br />
relevant ist bzw. in dem es ohnehin<br />
ein genügendes Angebot gibt. Beispiele<br />
dafür sind Appenzell Innerrhoden oder<br />
Glarus, welche die Bereiche Handchirurgie<br />
(AI) bzw. Nuklearmedizin, Pathologie,<br />
Radio-Onkologie und Strahlentherapie<br />
sowie Radiologie (GL) beschränkt haben.<br />
Im Kanton Basel-Landschaft wurde<br />
der ursprüngliche Beschluss, in acht Fachrichtungen<br />
eine Beschränkung festzulegen,<br />
vom Kantonsgericht aufgehoben. Der<br />
Kanton muss nun zuerst eine gesetzliche<br />
Grundlage schaffen, um Höchstzahlen<br />
festlegen zu können. Diese unerwartete<br />
Intervention des Gerichts hat grosse Kantone<br />
wie Bern und Zürich dazu bewogen,<br />
ihre ebenfalls auf Verordnungsstufe geplante<br />
Regelung vorerst aufzuschieben.<br />
Wartelisten in Genf<br />
Am weitesten ging der Kanton Genf. Dort<br />
gilt seit dem 1. <strong>Oktober</strong> 2022 eine Beschränkung<br />
in allen 45 Fachrichtungen.<br />
Die Genfer Ärztegesellschaft legte Rekurs<br />
gegen die Regelung ein, dieser wurde aber<br />
vom Kantonsgericht abgewiesen. Der Entscheid<br />
wurde zwar ans Bundesgericht weitergezogen,<br />
die Entscheidung steht aber<br />
noch aus, und der Weiterzug hat keine aufschiebende<br />
Wirkung zur Folge. Die Liste<br />
von Ärztinnen und Ärzten, die auf eine<br />
Zulassung warten, ist dementsprechend<br />
lang. Sie umfasst unter anderem acht Per-<br />
6<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Politik<br />
Das lange Warten auf die Zulassung: Im Kanton Genf bestehen bereits Wartelisten für Ärztinnen und Ärzte, die eine ambulante Tätigkeit aufnehmen möchten.<br />
Bild: Adobe Stock<br />
sonen, die auf eine Zulassung im Bereich<br />
Psychiatrie warten, drei Personen im Bereich<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie<br />
vier Ärztinnen und Ärzte im Fachgebiet<br />
Allgemeine Innere Medizin.<br />
Besonders Letzteres sticht ins Auge,<br />
da es im Kanton Genf – wie auch an anderen<br />
Orten – nicht einfach ist, eine Hausärztin<br />
oder einen Hausarzt zu finden, wie<br />
Céline Dehavay, Oberärztin am Unispital<br />
Genf und Co-Präsidentin der AMIG<br />
(<strong>vsao</strong>-Sektion Genf), sagt. Sie hält fest:<br />
«Die Unsicherheit bezüglich Laufbahnfragen<br />
ist sehr gross, auch bei den Studierenden.<br />
Die Anzahl der Anfragen, die wir bei<br />
der Sektion zum Thema erhalten, ist in den<br />
letzten Monaten stark gestiegen.» Dehavay<br />
betont, dass die AMIG nicht grundsätzlich<br />
gegen eine Steuerung sei. «Aber einerseits<br />
sind die Daten, auf deren Grundlage nun<br />
reguliert wird, schlicht ungenügend. Und<br />
andererseits ist es problematisch, dass die<br />
Steuerung erst im Moment der Zulassung<br />
erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt sind die meisten<br />
Ärztinnen und Ärzte bereits an einen<br />
Ort gebunden und nicht mehr so mobil wie<br />
etwa direkt nach dem Studium.»<br />
Ausserdem gebe es zahlreiche andere<br />
Wege, um die Kostenfrage anzugehen, ist<br />
Céline Dehavay überzeugt. Sie erwähnt als<br />
Beispiel die Stärkung des Gatekeeper-Ansatzes<br />
und verweist auf die Niederlande,<br />
wo dies gut umgesetzt worden sei. Die<br />
AMIG setzt sich gegenüber dem Kanton<br />
dafür ein, dass wenigstens die Grundversorgung<br />
von der Beschränkung ausgenommen<br />
wird, also die Hausarztmedizin,<br />
die Kinder- und Jugendmedizin, die Psychiatrie<br />
inkl. Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
und die Gynäkologie.<br />
Fokus auf Versorgungssicherheit?<br />
Wie die Entwicklung weitergeht, bleibt offen,<br />
aber es gibt Anzeichen, dass eine neue<br />
Dynamik entstehen könnte. Vermehrt<br />
werden Stimmen laut, welche die Versorgungssicherheit<br />
ins Zentrum stellen<br />
möchten. Eine dieser Stimmen gehört<br />
Bernhard Pulver, Präsident der Inselgruppe<br />
und Ständeratskandidat der Berner<br />
Grünen, der im Gespräch mit der «NZZ am<br />
Sonntag» die Meinung vertrat, dass die<br />
Kostenfrage zu stark gewichtet werde.<br />
Deshalb «werden die wirklichen Probleme<br />
nicht angegangen. Der dramatische Fachkräftemangel<br />
bei den Ärzten und Pflegenden<br />
etwa, den wir mit Zugangsbeschränkungen<br />
für Ärztinnen und Ärzte noch verschlimmern.»<br />
Auch im Bundesparlament ist das<br />
Thema präsent. Der Walliser Ständerat<br />
Beat Rieder bezeichnet die Höchstzahlenverordnung<br />
in einer Interpellation vom<br />
14. Juni <strong>2023</strong> «juristisch und gesundheitspolitisch<br />
als Farce». Die Erhebungsmethodik<br />
sei «nicht bedarfsorientiert», und die<br />
Verordnung als Ganzes gefährde die medizinische<br />
Verordnung mehr, als dass sie diese<br />
sicherstelle. Seine Eingabe schliesst mit<br />
dem Satz: «Der Handlungsbedarf ist akut.»<br />
Klar ist, dass der Fachkräftemangel<br />
eine der grössten Herausforderungen für<br />
das Gesundheitswesen ist. Die Zulassungsbeschränkung<br />
wird dieses Problem<br />
nicht lösen. Stattdessen macht sie den<br />
Arztberuf unattraktiver und sorgt für zusätzlichen<br />
bürokratischen Aufwand bei<br />
den Behörden und den Spitälern. Nicht<br />
zuletzt gefährdet sie auch die ärztliche<br />
Weiterbildung, da der Weg in die freie Praxis<br />
versperrt wird und es so auch für Assistenzärztinnen<br />
und -ärzte schwieriger<br />
wird, nachzurücken und den gewünschten<br />
Weg in der vorgesehenen Zeit zu gehen.<br />
Auch diesen Aspekt gilt es zu beachten,<br />
wenn die Gesundheitsversorgung<br />
und die hohe Qualität des Schweizer Gesundheitswesens<br />
langfristig gesichert<br />
werden sollen.<br />
@<strong>vsao</strong>asmac<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 7
Politik<br />
Nationale Wahlen:<br />
die Vertretung der Ärzteschaft<br />
stärken<br />
Am 22. <strong>Oktober</strong> werden in der Schweiz National- und Ständerat gewählt.<br />
Über 5000 Kandidierende stellen sich für die Bundesversammlung zur Wahl,<br />
darunter auch einige <strong>vsao</strong>-Mitglieder.<br />
Damit der <strong>vsao</strong> Anliegen wie<br />
bessere Arbeitsbedingungen<br />
und eine gesicherte Weiterbildung<br />
vorwärtsbringen kann,<br />
braucht er politische Unterstützung. Und<br />
wer kann die Anliegen der Assistenz- und<br />
Oberärztinnen und -ärzte besser repräsentieren<br />
als die praktizierenden Ärztinnen<br />
und Ärzte selbst? Darum stellen wir hier<br />
<strong>vsao</strong>-Mitglieder, die für den Nationalrat<br />
kandidieren, in einem kurzen Porträt vor.<br />
Es ist möglich, dass noch weitere <strong>vsao</strong>-Mitglieder<br />
kandidieren. Die jeweiligen Angaben<br />
stammen von den Kandidierenden<br />
selbst und entsprechen nicht unbedingt der<br />
offiziellen Position des <strong>vsao</strong> oder dessen<br />
Sektionen.<br />
Bettina Balmer, Kanton Zürich<br />
Eckdaten: Nationalratskandidatin,<br />
Freisinnig-<br />
Demokratische Partei (FDP),<br />
Fachärztin für Kinderchirurgie<br />
am Kinderspital Zürich,<br />
1966, wohnhaft in Zürich<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Als Kantonsrätin habe<br />
ich unter anderem bei der<br />
Revision des Spitalplanungsund<br />
Finanzierungsgesetzes<br />
mit gewirkt, damit die Ärzteschaft weiterhin ausreichende<br />
Freiräume hat. Die Gesundheitspolitik braucht eine vernünftige<br />
Digitalisierungsstrategie sowie sinnvolle Rahmenbedingungen<br />
im Umgang mit künstlicher Intelligenz. Überbordende<br />
Regulierungen und Bürokratie sind mir aber ein Dorn im<br />
Auge, sie verteuern unser Gesundheitswesen und behindern<br />
die Arbeit der Ärzteschaft. Auch gute Arbeitsbedingungen<br />
sind wichtig, denn sie führen zu guter Medizin und damit zu<br />
zufriedenen Patientinnen und Patienten. Wichtig sind für<br />
mich ausserdem Vereinbarkeit von Beruf und Familie, insbesondere<br />
die Einführung der Individualbesteuerung sowie<br />
die Nachwuchsplanung der Ärzteschaft. Schliesslich braucht<br />
es auch eine anständige und zeitgemässe Tarifierung von<br />
medizinischen Leistungen.<br />
Fabian Kraxner, Kanton Zürich<br />
Eckdaten: Nationalratskandidat,<br />
Grünliberale Partei<br />
(GLP), Leitender Oberarzt,<br />
Spital Affoltern, 1992, wohnhaft<br />
in Hedingen<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Zentral für mich ist ein<br />
qualitativ hochstehendes,<br />
menschenzentriertes<br />
und digitales Gesundheitssystem.<br />
Hierin muss die<br />
Ärzteschaft direkt mitgestalten und entscheiden können.<br />
Es braucht eine konsequente Entbürokratisierung der ärztlichen<br />
Prozesse. Mit dem klaren Fokus auf die ärztliche<br />
Tätigkeit gewinnt der Beruf an Attraktivität, und es steigt die<br />
Qualität. Noch umfangreichere Qualitätsmanagementsysteme<br />
führen nur zu mehr Qualitätsbürokratie. Wir müssen den<br />
Arztberuf stärken: Um dem Fachkräftemangel zu begegnen,<br />
brauchen wir mehr eigenen Nachwuchs, weniger Auslandsabhängigkeit<br />
sowie attraktive berufliche Rahmenbedingungen.<br />
Weiter setze ich mich für ein intelligentes und praxistaugliches<br />
elektronisches Patientendossier ein. Das elektronische<br />
Patientendossier (EPD) muss Mehrwert bringen und darf keine<br />
zusätzliche Bürokratie generieren oder die Behandlungszeit<br />
verlängern.<br />
Bilder: Portraits zvg; Hintergrund: Adobe Stock<br />
8<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Politik<br />
David Garcia Nuñez, Kanton Zürich<br />
Eckdaten: Nationalratskandidat,<br />
Alternative Liste<br />
(AL), Facharzt für Psychiatrie<br />
und Psychotherapie am<br />
Universitätsspital Basel, 1975,<br />
wohnhaft in Zürich<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Die gesundheitspolitischen<br />
Entwicklungen der letzten<br />
Jahre haben uns schmerzhaft<br />
gezeigt, wie schlecht es um<br />
die Situation unseres Gesundheitswesens tatsächlich steht.<br />
Insbesondere die Coronapandemie und ihre Folgen haben<br />
längst bekannte Geheimnisse gelüftet: Mit der aktuellen<br />
Gesetzeslage können weder die chronifizierten Systemfinanzierungsprobleme<br />
noch die Unproduktivität von 26 kantonalen<br />
(Pseudo-)Wettbewerbssituationen gelöst werden. Aufgrund<br />
dieser Fakten braucht es eine neue Analyse und eine<br />
Massnahmenoffensive, um das Gesundheitswesen zu stabilisieren<br />
und zu verbessern. Insbesondere braucht es die Einführung<br />
einer Einheitskrankenkasse, mehr nationale Koordination,<br />
die Zurückbesinnung auf das bio-psycho-soziale Modell,<br />
bessere Arbeitsbedingungen für Assistenz- und Oberärztinnen<br />
und -ärzte sowie eine radikale Entbürokratisierung des<br />
Gesundheitswesens.<br />
Frank Rühli, Kanton Zürich<br />
Eckdaten: Nationalratskandidat,<br />
Freisinnig-<br />
Demokra tische Partei (FDP),<br />
Prof Dr. Dr. med, Direktor,<br />
Institut für Evolutionäre<br />
Medizin, Universität Zürich,<br />
1971, wohnhaft in Zürich<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Die Ärzteschaft braucht<br />
dringend eine vernünftige,<br />
starke Vertretung in Bern.<br />
Ein wesentliches Element eines qualitativ hochstehenden und<br />
bezahlbaren Gesundheitswesens sind wir Ärztinnen und Ärzte<br />
mit unserer Fach- und Sozialkompetenz. Mit vollem Elan setze<br />
ich mich für den Medizinstandort Schweiz ein. Die Schweiz<br />
kann klinisch, aber auch forschungsmässig und in der Ausund<br />
Weiterbildung noch besser werden! Digitalisierung, personalisierte<br />
Medizin, Interprofessionalität und gesellschaftliche<br />
Resilienz sind alles Themen, die in Zukunft noch bedeutender<br />
werden und die wir aktiv angehen sollten. Viele Prozesse und<br />
Strukturen sind verkrustet und nicht patientenorientiert.<br />
Mehr Qualitätstransparenz und ganzheitliches Systemdenken<br />
senken die Kosten und erhöhen die Qualität. Die Ärzteschaft<br />
ist nicht das Problem, sondern die Lösung der Herausforderungen<br />
des Gesundheitswesens!<br />
Celine Schneider, Kanton Zürich<br />
Eckdaten: Nationalratskandidatin,<br />
Die Mitte,<br />
Assistenzärztin Anästhesie,<br />
Kantonsspital Winterthur,<br />
1995, wohnhaft in Zürich<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Wir Ärztinnen und Ärzte<br />
kennen die Probleme und<br />
Bedürfnisse des Gesundheitswesens<br />
am besten – darum<br />
will ich mich aktiv an der<br />
Politik beteiligen. Um dem grossen Problem des Fachkräftemangels<br />
zu begegnen, müssen wir mehr Ärztinnen und Ärzte<br />
ausbilden und Arbeitsbedingungen schaffen, die verhindern,<br />
dass sie in andere Branchen wechseln. Dazu gehört die<br />
42+4-Stunden-Woche mit vermehrtem Fokus auf die Weiterbildung,<br />
die Flexibilisierung der Pensen und die angemessene<br />
Kompensation für Dienste oder Massnahmen, die es Eltern<br />
ermöglichen, weiterzuarbeiten. Die zunehmende Bürokratisierung<br />
der Medizin muss gestoppt werden. Dazu braucht es<br />
unter anderem endlich ein intuitives elektronisches Patientendossier<br />
sowie eine sinnvolle Nutzung von neuen Technologien.<br />
Zudem müssen wir die Grundversorgung, die für unser<br />
Gesundheitswesen unabdingbar ist, stärken.<br />
Irina Zürrer, Kanton Bern<br />
Eckdaten: Nationalratskandidatin,<br />
Grün-Liberale<br />
Partei (GLP), Assistenzärztin<br />
Orthopädie und Traumatologie,<br />
Tiefenauspital Bern,<br />
1991, wohnhaft in Herrenschwanden<br />
BE<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Mein politisches Herz schlägt<br />
vor allem für Nachhaltigkeit,<br />
dies insbesondere in Bezug<br />
auf Umwelt- und Energieanliegen. Ein schonender Umgang<br />
mit unseren Ressourcen muss mehr Priorität einnehmen.<br />
Mein Engagement gilt zudem einem fairen Gesundheitssystem.<br />
Dieses soll allen Menschen in der Schweiz bezahlbare<br />
und wenn nötig sofortige medizinische Versorgung ermöglichen.<br />
Die Qualität dieser Versorgung muss wie bis anhin von<br />
höchster Qualität sein. Weiter ist es zentral, dass jegliche<br />
medizinische, pflegerische und andere Mitarbeitende in<br />
unseren Spitälern und Praxen fair entlöhnt werden, dass ihre<br />
Anstellungen dem Arbeitsgesetz entsprechen und dass ihre<br />
Arbeitsbedingungen mit einem gesunden Lebensstil zu vereinbaren<br />
sind.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 9
Politik<br />
Orell Imahorn, Kanton St. Gallen<br />
Eckdaten: Nationalratskandidat,<br />
Die Mitte, Assistenzarzt<br />
Innere Medizin und<br />
Pädiatrie am Spital Wil, 1996,<br />
wohnhaft in Wil, St. Gallen<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Meine politischen Schwerpunkte<br />
sind die Gesundheitspolitik,<br />
die Klimapolitik,<br />
Gleichberechtigung und<br />
Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf. Im Gesundheitswesen braucht es weniger bürokratische<br />
Sisyphusarbeit aus Angst vor juristischen Konsequenzen<br />
– die ärztliche Tätigkeit soll im Zentrum stehen. Weiter<br />
gilt es, dem ausufernden Einsatz von temporären Pflegekräften<br />
Gegensteuer zu geben. Damit alle eine hochqualitative<br />
Gesundheitsversorgung wahrnehmen können, braucht es<br />
mehr Anreize für Grundversorger, insbesondere für ländliche<br />
Gebiete. Zuletzt braucht es unbedingt die Einführung eines<br />
elektronischen Patientendossiers.<br />
Yolanda Müller Chabloz,<br />
canton de Vaud<br />
Eckdaten: Nationalratskandidatin,<br />
Grüne, Gross rätin,<br />
Leitende Ärztin in der Abteilung<br />
für Hausarztmedizin<br />
bei Unisanté, 1976, wohnhaft<br />
in Le Mont-sur-Lausanne<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Ich bin seit dem Abschluss<br />
meines Medizinstudiums vor<br />
über 20 Jahren aktives<br />
Mitglied des <strong>vsao</strong>. Da ich als<br />
Ärztin im öffentlichen Gesundheitswesen nicht in einer privaten<br />
Praxis tätig bin, habe ich es vorgezogen, beim <strong>vsao</strong> zu<br />
bleiben und nicht der kantonalen Ärztegesellschaft beizutreten.<br />
Dies auch, um die Rechte der Ärztinnen und Ärzte in<br />
Weiterbildung zu verteidigen. Ich engagiere mich für eine<br />
gesundheitsfördernde Politik, sei es in den Bereichen Mobilität,<br />
Raumplanung oder Sozialpolitik. Ich kämpfe gegen<br />
Geschlechterungleichheiten, die im Gesundheitswesen weit<br />
verbreitet sind, gegen Sexismus und gegen jegliche Form von<br />
Belästigung. Zudem setze ich mich für eine bessere Vereinbarkeit<br />
von Privat- und Berufsleben für alle ein.<br />
Mathias Bürki, Kanton Zug<br />
Eckdaten: Nationalratskandidat,<br />
Evangelische<br />
Volkspartei (EVP), Oberarzt<br />
Allgemeine Innere Medizin<br />
am Zuger Kantonsspital,<br />
1990, wohnhaft in Oberrüti<br />
Dafür setze ich mich ein:<br />
Ich setze mich für ein starkes,<br />
qualitativ hochstehendes<br />
Gesundheitswesen mit weniger<br />
Bürokratie und fairen<br />
Arbeitsbedingungen sowie für eine Optimierung des Tarifsystems<br />
ein. Zudem liegen mir eine nachhaltige Klimapolitik,<br />
die Stärkung von Familien, soziale Gerechtigkeit, Jugendschutz<br />
und Suchtprävention sowie eine ethische Wirtschaft,<br />
die sich nicht auf reine Profitmaximierung fokussiert, besonders<br />
am Herzen. In meiner politischen Arbeit will ich zu einer<br />
konstruktiven Diskussionskultur beitragen und als Brückenbauer<br />
zwischen den politischen Polen mithelfen, tragfähige<br />
Kompromisse zu schmieden. Ich unterstütze auch das wichtige<br />
Engagement des <strong>vsao</strong> zur Verbesserung des Gesundheitswesens,<br />
welches das Wohl der Patientinnen und Patienten<br />
sowie der Ärztinnen und Ärzte ins Zentrum stellt.<br />
10<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Politik<br />
Dankbarkeit und<br />
standespolitischer Einsatz<br />
– ein Widerspruch?<br />
Seit etwa einem Jahr darf ich regelmässig für die<br />
«Schweizerische Ärztezeitung» eine Kolumne zum<br />
Thema Wellbeing und Work-Life-Balance verfassen.<br />
Im Januar habe ich meine Vorstellung von Dankbarkeit<br />
und meine täglichen Rituale vorgestellt. 1<br />
Kurz zusammengefasst zeigt die Glücksforschung, dass<br />
Dankbarkeit ein zentrales Element für Glück ist und damit auch<br />
einen wichtigen Einfluss auf Gesundheit und Heilung haben kann.<br />
Auch deshalb baue ich Dankbarkeitsrituale in meinen Alltag<br />
ein und empfehle sie meinen Patientinnen und Patienten in<br />
der Mind-Body-Medicine-Sprechstunde. Regelmässig<br />
mache ich mir die Dinge bewusst, die ich im<br />
Leben habe. Ich anerkenne, dass es zahlreichen<br />
Menschen schlechter geht als mir.<br />
Das hilft mir, die Realität so zu erkennen,<br />
wie sie ist, und verschafft mir<br />
Klarheit, um zu entscheiden, was ich<br />
noch erreichen kann und verbessern<br />
möchte.<br />
Letzthin wurde ich von einem<br />
ärztlichen Kollegen auf den Kolumnenartikel<br />
angesprochen. Dabei kam<br />
ein angeblicher Widerspruch zur<br />
Sprache, den ich hier gerne diskutiere.<br />
Er hat mir die Frage gestellt, inwiefern<br />
der Inhalt meiner Kolumne zum<br />
Thema Dankbarkeit mit meinem <strong>vsao</strong>-Präsidium<br />
und dem standespolitischen Einsatz<br />
für bessere Arbeitsbedingungen und Weiterbildung<br />
vereinbar ist. Sinngemäss verlangte er von mir,<br />
der <strong>vsao</strong> solle mit dem Erreichten zufrieden sein, anstatt so<br />
viel Energie in den Kampf für die Einhaltung des Arbeitsgesetzes,<br />
die Weiterbildung und die Arbeitsbedingungen zu investieren.<br />
Zu seiner Zeit habe er da auch durchmüssen, und heute sei<br />
es schon lange nicht mehr so schlimm wie früher. Naja – uns<br />
bestens bekannte Argumente wurden mal anders verpackt …<br />
Dieses Thema greife ich hier wieder auf, weil im Gespräch ein<br />
weitverbreiteter Irrtum zum Vorschein kam. Dankbarkeit für das,<br />
was wir haben, darf auf keinen Fall mit Gleichgültigkeit und<br />
Resignation verwechselt werden. Dankbar zu sein, hilft mir, die<br />
Perspektive zu wechseln: Das Glas ist halb voll, nicht mehr halb<br />
leer. Zwar ändert sich meine innere Einstellung, trotzdem bleiben<br />
die Ungerechtigkeiten bestehen: Eine Mehrheit der Spitalärztinnen<br />
und -ärzte kann das Arbeitsgesetz nicht einhalten, die vereinbarten<br />
Weiterbildungen finden nicht statt oder können aus<br />
Auf den<br />
Punkt<br />
gebracht<br />
Zeitgründen nicht besucht werden, immer mehr junge Ärztinnen<br />
und Ärzte steigen aus dem Beruf aus.<br />
Selbstverständlich anerkenne ich, dass sich die Arbeitsbedingungen<br />
in den Spitälern in den über 20 Jahren seit meinem<br />
Staatsexamen verbessert haben, Assistenz- und Oberärztinnen<br />
und -ärzte dem Arbeitsgesetz unterstellt wurden und auch das<br />
Anrecht auf Weiter- bzw. Fortbildung festgehalten wurde. Ich sehe<br />
in unserer Mitgliederumfrage aber auch, dass die gesetzlichen<br />
Vorgaben mehrheitlich nicht eingehalten werden und dass die<br />
Arbeitsbelastung und burn-out-typische Symptome mit jeder<br />
unserer Umfragen zunehmen. Zudem ist heute – zu<br />
Recht – die Vereinbarkeit von Privatleben und<br />
Beruf wichtiger als früher, als Ärztinnen<br />
und Ärzte sozusagen mit ihrer Arbeit im<br />
Spital verheiratet waren. Irgendetwas<br />
läuft doch falsch, wenn heute der<br />
ärztliche Beruf häufiger an den Nagel<br />
gehängt wird als früher. Daran<br />
ändert sich nichts, auch wenn ich<br />
voller Dankbarkeit das halb volle<br />
Glas betrachte!<br />
Es ist unsere Aufgabe, dafür<br />
zu sorgen, dass sich die Arbeitsbedingungen<br />
so verbessern, dass der<br />
ärztliche Beruf gerne ausgeübt wird<br />
und genug Energie und Kraft bleiben,<br />
um Arbeits- und Privatleben zu vereinbaren.<br />
Tue ich dies dankbar und motiviert,<br />
habe ich mehr Energie, um dafür zu kämpfen,<br />
dass das Glas auch noch ganz gefüllt wird ...<br />
Bild: zvg<br />
1<br />
https://saez.ch/article/doi/saez.<strong>2023</strong>.21414<br />
Angelo Barrile,<br />
Präsident <strong>vsao</strong><br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 11
Weiterbildung / Arbeitsbedingungen<br />
«Eine chirurgische<br />
Weiterbildung ist in einer<br />
42+4-Stunden-Woche<br />
möglich»<br />
Zur 42+4-Stunden-Woche gibt es kritische Stimmen,<br />
gerade von Chirurginnen und Chirurgen. Wie eine Umsetzung<br />
dieses Arbeitszeitmodells auch in der Chirurgie möglich ist,<br />
erklärt Pascal Probst, Leitender Arzt Chirurgie in der Spital Thurgau AG,<br />
im Interview.<br />
Oliviero Reusser, Mitarbeiter Politik und Kommunikation <strong>vsao</strong><br />
Sind viele Assistenzärztinnen und -ärzte in einem Team, können die einzelnen Personen weniger Erfahrung im Operationssaal sammeln.<br />
12<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Weiterbildung / Arbeitsbedingungen<br />
Bilder: Adobe Stock; zvg<br />
Wie sieht die durchschnittliche<br />
Arbeitszeit bei chirurgischen Fachpersonen<br />
in Ihrer Abteilung aus?<br />
Das wollte ich auch wissen, deshalb haben<br />
wir dies im letzten Jahr gemessen [2]. Unsere<br />
Chirurginnen und Chirurgen in Weiterbildung<br />
haben gemäss Vertrag eine<br />
48-Stunden-Woche und halten diese während<br />
des Tagdienstes auf der Station und<br />
auf der Notfallstation im Durchschnitt<br />
auch ein. Die Frage nach der Arbeitszeit<br />
greift aber zu kurz. In den für meine Masterarbeit<br />
geführten Interviews [1] hat sich<br />
herausgestellt, dass es in der gegenwärtigen<br />
Diskussion nicht so sehr um Arbeitszeit,<br />
sondern vielmehr um Weiterbildung<br />
geht. Die Weiterbildungszeit haben wir<br />
ebenfalls gemessen, und es hat sich gezeigt,<br />
dass unsere Assistenzärztinnen<br />
und -ärzte innerhalb der 48 Stunden Arbeitszeit<br />
eine strukturierte Weiterbildung<br />
von durchschnittlich acht Stunden erhalten<br />
[2]. Dies ist sicher einer der Gründe dafür,<br />
weshalb sie zu den Zufriedensten im<br />
Land gehören [3].<br />
Gesamtschweizerisch sieht es aber<br />
anders aus. Im Durchschnitt arbeiten<br />
Assistenz- und Oberärztinnen und<br />
-ärzte 56 Stunden pro Woche, und bei<br />
Ersteren erhält nur rund ein Fünftel<br />
vier Stunden strukturierte Weiterbildung<br />
pro Woche. Zudem zeigt die<br />
<strong>vsao</strong>-Umfrage, dass viele ein Teilzeitpensum<br />
anstreben und fast niemand<br />
mehr als 50 Stunden pro Woche<br />
arbeiten möchte. Ist das umsetzbar?<br />
Dass eine 48-Stunden-Woche inklusive<br />
strukturierter Weiterbildung machbar ist,<br />
zeigen wir in unserer Abteilung. Es sollte<br />
also möglich sein, dies auch an anderen<br />
Spitälern umzusetzen. Dass ein grosser<br />
Teil der zukünftigen Generation nicht<br />
mehr im Vollpensum arbeiten will, ist eine<br />
Realität – auch in der Chirurgie [4]. Die<br />
Umsetzbarkeit wird sich am Arbeitsmarkt<br />
zeigen. Wollen Chirurginnen und Chirurgen<br />
reduziert arbeiten, erhöht dies den<br />
Bedarf an Fachkräften. Dies wiederum<br />
steigert die Arbeitsbelastung der anderen,<br />
solange es zu wenig Bewerbende auf dem<br />
Markt hat. Ein Teufelskreis, der nur durchbrochen<br />
werden kann, wenn wir gesamtheitliche<br />
Lösungen schaffen, unter anderem<br />
in der Weiterbildung. Wichtig ist in<br />
diesem Zusammenhang auch die konsequente<br />
Fokussierung auf das Wesentliche<br />
und die Reduktion von administrativen<br />
Arbeiten.<br />
Ist die 42+4-Stunden-Woche in der<br />
Chirurgie möglich? Und wenn ja, wie?<br />
Ja, eine chirurgische Weiterbildung ist in<br />
einer 42+4-Stunden-Woche möglich. Wie<br />
bereits erwähnt, arbeiten wir in unserer<br />
Abteilung faktisch mit einer 40+8-Stunden-Woche.<br />
Auch der Blick über die Landesgrenzen<br />
hinaus zeigt, dass es möglich<br />
ist. In den meisten Ländern der EU haben<br />
Assistenzärztinnen und -ärzte eine<br />
42-Stunden-Woche. Wichtiger als die Arbeitszeit<br />
ist für die chirurgische Weiterbildung<br />
aber der Caseload. Dieser wird aktuell<br />
auf zu viele Assistenzärztinnen und<br />
-ärzte verteilt.<br />
Was braucht es, damit genügend<br />
Weiterbildung und OP-Erfahrung<br />
möglich sind, ohne das Arbeitsgesetz<br />
zu verletzen?<br />
Es braucht drei Dinge: klare Strukturen<br />
und optimierte Prozesse in der Klinik, damit<br />
die angehenden Chirurginnen und<br />
Chirurgen für den OP freigespielt werden<br />
können, den expliziten Willen vom Kader,<br />
die nächste Generation gut auszubilden,<br />
sowie motivierte und leistungsbereite Assistenzärztinnen<br />
und -ärzte. Grundsätzlich<br />
muss das Arbeitsgesetz eingehalten<br />
werden – zum Schutz des ärztlichen Personals.<br />
Aber es gibt Ausnahmesituationen,<br />
in denen es vorübergehend und<br />
punktuell mehr zu leisten gilt. Zudem ist<br />
für mich klar: In sechs Jahren und in einer<br />
42+4-Stunden-Woche kann «nur» die Basischirurgie<br />
erlernt werden. Wer Spitzenchirurgie<br />
betreiben will, wird an irgendeinem<br />
Punkt in der Karriere mehr Zeit investieren<br />
müssen. Das ist eine Realität,<br />
wie sie in jedem akademisch-kompetitiven<br />
Beruf und zum Beispiel auch in künstlerischen<br />
Berufen oder im Spitzensport<br />
vorkommt.<br />
Wie wird die Weiterbildung in Ihrem<br />
Spital gehandhabt?<br />
Wir nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung,<br />
um die administrative Belastung<br />
zu reduzieren. Zudem setzen wir auf der<br />
Station klinische Fachspezialistinnen und<br />
-spezialisten ein. Dies führt dazu, dass wir<br />
weniger Assistenzärztinnen und -ärzte im<br />
Team haben und sie mehr im OP arbeiten<br />
können, da sich der operative Caseload auf<br />
weniger Personen verteilt. Schliesslich haben<br />
wir innerhalb des Wochenprogramms<br />
fixe Veranstaltungen, die explizit der<br />
strukturierten Weiterbildung dienen, so<br />
etwa Weiterbildungsvorträge, Morbidity-<br />
Konferenzen, den <strong>Journal</strong> Club und Weiteres.<br />
Wenn Kaderärztinnen und -ärzte dann<br />
Zur Person<br />
Prof. Dr. med. Pascal Probst ist<br />
Leitender Arzt Chirurgie in der Spital<br />
Thurgau AG. Nach dem Staatsexamen<br />
in Zürich im Jahr 2009 habilitierte<br />
er 2017 an der Universität Heidelberg.<br />
Im Rahmen eines Executive MBA<br />
verfasste er eine Masterarbeit mit dem<br />
Titel «Die 42-Stunden-Woche in der<br />
chirurgischen Ausbildung in der<br />
Schweiz – eine Stakeholder-Analyse»<br />
[1]. Der 43-Jährige ist verheiratet<br />
mit einer Ärztin und hat zwei Kinder<br />
im Vorschul- und Schulalter.<br />
noch während mindestens zweier Standardoperationen<br />
pro Woche Assistenzärztinnen<br />
und -ärzte aktiv instruieren,<br />
kommen diese ohne Mühe auf mindestens<br />
vier Stunden strukturierte Weiterbildung.<br />
Wieso gibt es so erbitterten Widerstand<br />
gegen die 42+4-Stunden-Woche<br />
aus gewissen Kreisen?<br />
Weil viele in der 42+4-Stunden-Woche den<br />
Versuch sehen, aus der freien ärztlichen<br />
Berufung einen Standardjob zu machen.<br />
Da wird es emotional. Durch gewisse Medienberichte<br />
konnte der Eindruck entstehen,<br />
dass Kaderärztinnen und -ärzte, die<br />
eigentlich sehr gerne in der Weiterbildung<br />
tätig sind, Teil des Problems sind. Das<br />
hat ihren Widerstand gefördert. Was es<br />
braucht, sind weniger Emotionen und<br />
mehr Fakten. Es ist klar, dass es ein Bedürfnis<br />
der jüngeren Generation ist, weniger<br />
zu arbeiten. Das ist ein Fakt, das<br />
kann man gut finden oder nicht, es bleibt<br />
ein Fakt. Wenn man sich dem nicht stellt<br />
und proaktiv Massnahmen ergreift, wird<br />
man langfristig als Arbeitgeber auf dem<br />
Arbeitsmarkt verlieren. Es ist aber genauso<br />
ein Fakt, dass Assistenzärztinnen<br />
und -ärzte punktuell mehr als zehn Stunden<br />
am Stück arbeiten können, ohne dass<br />
die Patientensicherheit gefährdet wird.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 13
Weiterbildung / Arbeitsbedingungen<br />
Zudem gibt es berechtigte Sorgen um<br />
die langfristigen Konsequenzen einer<br />
42+4-Stunden-Woche, die man seitens<br />
des <strong>vsao</strong> nicht ignorieren darf. Beispielsweise,<br />
dass sich so die Weiter- und Fortbildungszeit<br />
bis zur Spezialisierung verlängert,<br />
wodurch Oberärztinnen und -ärzte<br />
erst später selbstständig werden, was wiederum<br />
die Arbeitslast des Kaders erhöht.<br />
Zudem gibt es immer mehr Chirurginnen.<br />
Viele davon haben mir in den Interviews<br />
im Rahmen meiner Masterarbeit erzählt,<br />
dass sie darauf angewiesen sind, früh in<br />
ihrer Karriere viel Kompetenz zu erwerben,<br />
um danach ihre Familienplanung<br />
umzusetzen.<br />
Um allen gerecht zu werden, braucht<br />
es deshalb flexiblere Arbeitsmodelle. Hier<br />
ist es die Aufgabe der Kliniken und des<br />
<strong>vsao</strong>, die Bedürfnisse aller Beteiligten, also<br />
auch der Weiterbildenden, ernst zu<br />
nehmen und sich für die langfristigen Interessen<br />
des Berufsstandes einzusetzen.<br />
Denn die Assistenzärztinnen und -ärzte<br />
von heute sind das Kader von morgen!<br />
Literatur<br />
[1] Probst P. Die 42-Stunden-Woche<br />
in der chirurgischen Ausbildung in der<br />
Schweiz – eine Stakeholder-Analyse. 2022.<br />
SRH, Riedlingen.<br />
[2] Kovacevic D et al. Quality and<br />
Quantity of Structured Education for<br />
Surgical Residents at a Swiss Hospital.<br />
swiss knife. <strong>2023</strong>; 20: special edition, 21.<br />
[3] SIWF. Umfrage 2022 «Weiterbildung<br />
Beurteilung durch die Ärztinnen und<br />
Ärzte in Weiterbildung». <strong>2023</strong>.<br />
[4] Fenner D et al. Career Goals of<br />
Surgeons in Switzerland. Langenbeck’s<br />
Archives of Surgery. <strong>2023</strong>. Accepted.<br />
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5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
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Weiterbildung / Arbeitsbedingungen<br />
Im AA-Universum<br />
OP das überhaupt<br />
was wird?<br />
Kaum ist der erste Schock<br />
des Berufseinstiegs überlebt,<br />
steht auch schon die nächste<br />
Challenge an: die Rotation<br />
auf der Operationsabteilung.<br />
Glücklicherweise ist man als ehemalige<br />
Anästhesie-UHUline bereits<br />
im Stande, geübt ins schicke OP-Outfit<br />
zu schlüpfen. Dazu gehören – zur Information<br />
für Psychiater, Internisten und<br />
andere operationsabteilungsvermeidende<br />
Fachpersonen – ein grüner, zweiteiliger<br />
Spitaldress, modische, gartenschuhähnliche<br />
Plastikpantoffeln (in anderen Lebenssituationen<br />
ein Style-No-Go, möchte<br />
ich an dieser Stelle noch anmerken),<br />
eine Kopfhaube, wie sie auch Fabrikarbeiterinnen<br />
und -arbeiter tragen, und<br />
natürlich ein hübscher Mundschutz.<br />
Wenn das alles sitzt, betritt man die sterile<br />
und fensterlose Abteilung und bahnt sich<br />
einen Weg zum Vorraum des zugeteilten<br />
Operationssaals. Spätestens beim heiligen<br />
anderthalbminütigen Händedesinfizierungsritual<br />
könnte jedoch der erste Flop<br />
stattfinden. Die TOA-Polizei (technische<br />
Operationsassistentinnen oder – selten –<br />
-assistenten) lauert nämlich an jeder<br />
Ecke, zückt, wenn immer es sein muss,<br />
die Rote Karte und weist einen bei<br />
falschem Benehmen gekonnt zurecht.<br />
Wenn diese Etappe überstanden ist,<br />
steht der Übertritt in den eigentlichen<br />
Operationssaal an, wo man mit einem<br />
dreistimmigen «Achtung, das ist steril!»<br />
oder «Achtung, nicht da stehen!» begrüsst<br />
wird. Anschliessend hat man mit senkrecht<br />
hinaufgehaltenen Armen soldatenhaft<br />
in Bereitschaft zu stehen, bis man<br />
die Operationsschürze und die sterilen<br />
Handschuhe übergestülpt bekommt.<br />
«Jetzt kommt mein Einsatz», dachte<br />
ich mir erst. «Jetzt kann ich wenigstens<br />
einmal meine feinmotorischen Fähigkeiten<br />
unter Beweis stellen und der anwesenden<br />
Kaderärzteschaft zeigen, dass<br />
ich doch schon etwas draufhabe.» Einsatzmoment:<br />
Blasenkatheter einlegen.<br />
Mit grösstem Selbstvertrauen (gleichzeitig<br />
aber auch grösster Nervosität) schnappte<br />
ich mir das Katheterrohr und schob<br />
es in die Öffnung zwischen den Labien<br />
der bereits schlafenden Patientin.<br />
Schon rasch warf sich jedoch ein<br />
Schatten über den erhofften heldenhaften<br />
Moment – denn leider floss kein<br />
Urin in den Urinsack. Mit grösstem<br />
Widerwillen musste ich zugeben, dass<br />
ich den Katheter vor lauter Aufregung<br />
höchstwahrscheinlich nicht richtig platziert<br />
hatte. Auch weiteres Hineinschieben<br />
rettete mich nicht aus der peinlichen<br />
Situation. Nach einer Weile warf der<br />
Kaderarzt einen gelangweilten Blick<br />
hinüber und meinte nur: «Das ist die<br />
Klitoris, meine Liebe.»<br />
Zum Glück fand sich dann doch<br />
noch die richtige Öffnung, und die Blase<br />
der Patientin konnte sich während der<br />
Operation munter entleeren. Nach diesem<br />
Erlebnis musste ich jedoch zugeben:<br />
Ein männliches Geschlechtsteil hätte die<br />
Situation definitiv einfacher gemacht.<br />
Camille Bertossa,<br />
Assistenzärztin im<br />
1. Weiterbildungsjahr<br />
Bild: zvg<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 17
<strong>vsao</strong><br />
Neues aus<br />
den Sektionen<br />
Bern<br />
Informationsanlass<br />
zur kompetenzbasierten<br />
Weiterbildung<br />
Die ärztliche Weiterbildung wird in Zukunft<br />
kompetenzbasiert erfolgen. Diese<br />
Umstellung ist spannend und herausfordernd<br />
zugleich. Wir haben die Präsidentin<br />
des Schweizerischen Instituts für ärztliche<br />
Weiter- und Fortbildung (SIWF), PD<br />
Dr. med. Monika Brodmann, eingeladen,<br />
um uns über die Umsetzung zu informieren<br />
und Fragen zu klären. Wir freuen uns<br />
sehr auf diesen spannenden Austausch<br />
und laden alle dazu ein!<br />
Umsetzung der kompetenz basierten<br />
Weiterbildung<br />
Referat und Diskussion mit PD Dr. med.<br />
Monika Brodmann, Präsidentin SIWF<br />
19. <strong>Oktober</strong> <strong>2023</strong><br />
19.00 bis 19.45 Uhr: Input-Referat<br />
Anschliessend: Diskussion und<br />
Apéro riche<br />
Berner Generationenhaus, Bahnhofplatz 2,<br />
3011 Bern<br />
Eine Anmeldung ist nicht notwendig. Wir<br />
freuen uns auf zahlreiche Teilnehmende!<br />
Waadt<br />
Die ASMAV setzt sich für die<br />
Einhaltung der Arbeits- und<br />
Weiterbildungsbedingungen<br />
ein<br />
Auch dieses Jahr hat sich der Vorstand der<br />
ASMAV (<strong>vsao</strong>-Sektion Waadt) bei den<br />
regelmässigen Sitzungen mit den Spitaldirektionen<br />
und Kliniken sehr aktiv eingebracht.<br />
Dabei wurden auch spezifische<br />
Probleme gelöst, die uns von Assistenzärztinnen<br />
und -ärzten in Zusammenhang<br />
mit der Einhaltung der Arbeitsbedingungen<br />
sowie der Weiterbildungszeit und<br />
-qualität gemeldet wurden. Weiter wurden<br />
auch Fälle von Mobbing und Persönlichkeitsverletzungen<br />
angegangen.<br />
Wir nehmen diese Themen sehr ernst<br />
und ermutigen alle Assistenz- und Oberärztinnen<br />
und -ärzte, uns bei Problemen<br />
in den Kliniken zu kontaktieren. Wir bieten<br />
konkrete Unterstützung in Form einer<br />
persönlichen Beratung und Begleitung bei<br />
psychischen sowie physischen Problemen<br />
und einer Rechtsberatung durch unsere<br />
Vorstandsmitglieder und/oder den Anwalt<br />
der Sektion, Fürsprecher Patrick Mangold.<br />
Sie finden unsere Kontaktangaben<br />
unter www.asmav.ch/contact.<br />
Übernahme der Kosten des<br />
CEPUSPP durch die Weiterbildungsstätten<br />
In der Westschweiz (ausgenommen in<br />
Genf) ist die Weiterbildung für den<br />
FMH-Titel in Psychiatrie und Psychotherapie<br />
im CEPUSPP (Centre d’enseignement<br />
post-universitaire pour la spécialisation<br />
en psychiatrie et psychothérapie) organisiert.<br />
2017 haben die Weiterbildungsstätten<br />
entschieden, nur noch 50 Prozent<br />
der Weiterbildungskosten im CEPUSPP zu<br />
übernehmen, was für die Assistenzärztinnen<br />
und -ärzte zu jährlichen Mehrkosten<br />
von ca. CHF 1500.– geführt hat!<br />
Die ALPPF (Association latine des psychiatres-psychothérapeutes<br />
en formation)<br />
hat sich erfolgreich gegen diesen Entscheid<br />
gewehrt. Sie hat mit Unterstützung<br />
der ASMAV ein Rechtsgutachten vorlegen<br />
können, das bestätigt, dass die Spitäler von<br />
den Assistenzärztinnen und -ärzten keine<br />
Beteiligung an ihren Weiterbildungskosten<br />
verlangen dürfen, da dies eine obligatorische<br />
Leistung ist, für welche die Spitäler<br />
Beiträge vom Kanton erhalten.<br />
Bis zur Umsetzung hat es noch weitere<br />
drei Jahre gedauert. Seit November<br />
2022 werden die Kosten des CEPUSPP<br />
vollumfänglich von den Weiterbildungsstätten<br />
im Kanton Waadt übernommen.<br />
Janine Junker, Geschäftsführerin VSAO Bern<br />
Bild: zvg<br />
18<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
<strong>vsao</strong><br />
Bilder: zvg<br />
Machen Sie Werbung für den <strong>vsao</strong><br />
Sie sind bereits Mitglied beim <strong>vsao</strong>? Schön – und gut zu wissen, denn je mehr Mitglieder wir<br />
sind, desto mehr Gewicht hat unsere Stimme. Wir belohnen Mitglieder, die aktiv Werbung<br />
für den <strong>vsao</strong> machen. Schliesslich gibt es keine bessere Werbung, als wenn jemand aus<br />
eigener Überzeugung andere Ärztinnen und Ärzte zu uns bringt. Für jedes neu angeworbene<br />
Mitglied erhalten Sie ein kleines Dankeschön, z. B. eine Lunchbox, einen Büchergutschein<br />
oder einen SBB-Gutschein im Wert von jeweils CHF 50.–. Ebenfalls zur Auswahl steht eine<br />
Spende an eine gemeinnützige Organisation. Alles Weitere finden Sie auf unserer Website<br />
unter www.<strong>vsao</strong>.ch/mitgliederkampagne.<br />
Die ALPPF wird auf ihren Kanälen<br />
(Website: www.alppf.ch, Instagram: @asso.<br />
alppf) über die Rückerstattungsmodalitäten<br />
informieren. Sie steht für Fragen zu<br />
diesem Thema gerne zur Verfügung.<br />
Höchstzahlen/Zulassungsstopp<br />
Der Waadtländer Kantonsarzt hat diverse<br />
Arbeitstreffen zum Thema Höchstzahlen<br />
veranstaltet. Wir wurden glücklicherweise<br />
auch eingeladen. Auch unsere Kolleginnen<br />
und Kollegen der SVM (Société vaudoise de<br />
médecine), die Spitalärztinnen und -ärzte<br />
sowie die frei praktizierenden Ärztinnen<br />
und Ärzte in den betroffenen Fachrichtungen<br />
haben daran teilgenommen.<br />
Wir sind froh, dass wir als vollwertige<br />
Partner an diesen Gesprächen teilnehmen<br />
konnten. Dies mit dem Ergebnis, dass nun<br />
ein einziges Fachgebiet im Kanton Waadt<br />
mit Höchstzahlen belegt wird: die Neurochirurgie.<br />
Diese Einschränkung ist am<br />
1. Juli <strong>2023</strong> in Kraft getreten.<br />
Eine Vertreterin bzw. ein Vertreter der<br />
ASMAV wird in der neu gebildeten kantonalen<br />
Kommission für die Planung des<br />
ärztlichen Angebotes Einsitz nehmen.<br />
Indexierung der Löhne – Zusammenarbeit<br />
mit der ASMAVal und<br />
dem HRC für <strong>2023</strong><br />
Die Indexierung der Löhne der Assistenzärztinnen<br />
und -ärzte des Spitals Rennaz<br />
(HRC) für das Jahr <strong>2023</strong> wurde nach Gesprächen<br />
zwischen der ASMAV, der ASMA-<br />
Val und dem HRC festgelegt. Im Kanton<br />
Waadt sind die Löhne mit 1,4 Prozent indexiert,<br />
im Wallis mit 2,8 Prozent. Das Spital<br />
Rennaz wird zu zwei Dritteln vom Kanton<br />
Waadt und zu einem Drittel vom Kanton<br />
Wallis finanziert. Wir haben eine Indexierung<br />
von 1,8 Prozent erreicht, die<br />
damit diesem Verhältnis Rechnung trägt.<br />
Dieser Entscheid wurde Anfang Jahr gefällt<br />
und gilt rückwirkend ab 1. Januar<br />
<strong>2023</strong>.<br />
Apéro und soziale Aktivitäten<br />
Der Sommerapéro der ASMAV im 20. Stock<br />
des CHUV (Centre hospitalier universitaire<br />
vaudois) war ein voller Erfolg, der mit<br />
einem wunderschönen, dem Sturm geschuldeten<br />
Regenbogen belohnt wurde.<br />
Wir danken allen Personen, die daran<br />
teilgenommen haben, und freuen uns bereits<br />
jetzt auf die nächste Ausgabe!<br />
Nächste Mitgliederversammlung<br />
16. November <strong>2023</strong><br />
Sandrine Devillers, Generalsekretärin ASMAV<br />
Zürich /<br />
Schaffhausen<br />
Neue Weiterbildungsbroschüre<br />
für Ärztinnen<br />
und Ärzte sowie Leitende<br />
von Weiterbildungsstätten<br />
Alle weiterzubildenden Ärztinnen und<br />
Ärzte haben Anspruch auf vier Stunden<br />
strukturierte Weiterbildung pro Woche.<br />
Diese dient der Sicherstellung der Versorgungsqualität<br />
und leistet einen wichtigen<br />
Beitrag zum Kompetenzzuwachs der Ärztinnen<br />
und Ärzte der nächsten Generation.<br />
Im Berufsalltag ist es oft eine Herausforderung,<br />
die vier Stunden strukturierte<br />
Weiterbildung für alle Beteiligten zufriedenstellend<br />
umzusetzen. Sei es aufgrund<br />
der fehlenden Priorisierung, der fehlenden<br />
Zeit seitens Ärztinnen und Ärzte oder der<br />
Qualität des Angebotes in den Kliniken.<br />
Das Ressort Weiterbildung des VSAO<br />
Zürich hat deshalb eine Weiterbildungsbroschüre<br />
erstellt, die in kompakter und<br />
übersichtlicher Form aufzeigt, was struktu-<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 19
<strong>vsao</strong><br />
rierte Weiterbildung konkret bedeutet, wie<br />
die vier Stunden pro Woche eingehalten<br />
werden können und wie Leitende von Weiterbildungsstätten<br />
sie noch attraktiver und<br />
zugänglicher gestalten können.<br />
Die Broschüre findet ihr auf<br />
www.<strong>vsao</strong>-zh.ch/was-wir-tun/<br />
weiterbildung.<br />
Gedruckte Exemplare könnt ihr via<br />
info@<strong>vsao</strong>-zh.ch bestellen.<br />
Leitfaden «Planetary Health» für<br />
VSAO-Mitglieder<br />
Die Auswirkungen der Klimakrise sind in<br />
der Schweiz bereits spürbar. Die steigenden<br />
Temperaturen, die zunehmenden Extremwetterereignisse<br />
und die Veränderung<br />
von Ökosystemen beeinflussen nicht<br />
nur die Umwelt, sondern haben auch direkte<br />
Auswirkungen auf unsere Gesundheit.<br />
Deshalb haben wir als Ärztinnen,<br />
Ärzte und Health Advocates eine besondere<br />
Verantwortung, uns aktiv mit diesem<br />
Thema auseinanderzusetzen und unsere<br />
Stimme zu erheben.<br />
Der neue Leitfaden des VSAO Zürich<br />
soll euch bei der Vertretung und Förderung<br />
von Planetary Health unterstützen. Indem<br />
wir uns auf allen Ebenen dafür einsetzen,<br />
können wir einen bedeutenden Einfluss auf<br />
die Gesundheit der Bevölkerung nehmen.<br />
Im neuen Leitfaden «Planetary Health»<br />
findet ihr beispielsweise konkrete Handlungsmöglichkeiten,<br />
die helfen, unserer<br />
ärztlichen Rolle gerecht zu werden, sowie<br />
die wirksamsten Massnahmen, um Veränderungen<br />
herbeizuführen. Darüber hinaus<br />
haben wir einfache Tipps zusammengetragen,<br />
beispielsweise wie ihr eure Meetings<br />
nachhaltiger gestalten könnt.<br />
Ihr findet den Leitfaden «Planetary<br />
Health» auf www.<strong>vsao</strong>-zh.ch/nuetzliches.<br />
Dominique Iseppi, Kommunikationsassistentin,<br />
VSAO Zürich / Schaffhausen<br />
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5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
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<strong>2023</strong><br />
Der jährliche Laufbahnkongress<br />
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Organisation:<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 21
Kongressprogramm<br />
Programme du congrès<br />
08.45–9.15 Networking – Kaffee Networking – Café<br />
09.20–09.40<br />
Swissmedtalk – Ärztinnen-Karriere<br />
und Verbandstätigkeiten<br />
– Afreed Ashraf & Willi Balandies<br />
Angehende Ärzte<br />
– Dr. med. Jana Siroka<br />
Leitende Ärztin Notfall / IMC in der Klinik Arlesheim<br />
und Mitglied ZV FMH<br />
Swissmedtalk – carrière médicale<br />
féminine et activités de l’association<br />
– Afreed Ashraf & Willi Balandies<br />
Futurs médecins<br />
– Dr méd. Jana Siroka<br />
Médecin adjointe Service des urgences / soins intermédiaires<br />
(IMC), clinique Arlesheim et membre<br />
CC FMH<br />
DE<br />
FR<br />
09.40–10.00<br />
Auf dem Weg zum Facharzttitel:<br />
Topics, Tipps und e-Tools<br />
– Christoph Hänggeli<br />
Geschäftsführer SIWF/FMH,<br />
Rechtsanwalt, MPA unibe<br />
En route vers le titre de médecin<br />
spécialiste: sujets, conseils et outils<br />
électroniques<br />
– Christoph Hänggeli<br />
Directeur ISFM / FMH , avocat, MPA unibe<br />
DE<br />
FR<br />
10.00–10.10 Fragerunde / Disskusion Questions / discussion<br />
10.10–10.40<br />
Podiumsdiskussion Fachgesellschaften<br />
– SGAIM – Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine<br />
Innere Medizin<br />
Dr. med. Stefanie Mosimann<br />
– SSAPM – Swiss Society for Anaesthesiology and<br />
Perioperative Medicine<br />
Tatjana Dill<br />
– SHOOT – Swiss Hematologists and Oncologists<br />
of tomorrow<br />
Dr. med. Yvette von Aarburg<br />
Dr. med. Astrid Beerlage<br />
– Junges Forum Gynäkologie Suisse<br />
Dr. med. Claudia Becker<br />
Sociétés de discipline<br />
– SSMIG – Société Suisse de Médecine<br />
Interne Générale<br />
Dr méd. Stefanie Mosimann<br />
– SSAPM – Swiss Society for Anaesthesiology<br />
and Perioperative Medicine<br />
Tatjana Dill<br />
– SHOOT – Swiss Hematologists and Oncologists<br />
of tomorrow<br />
Dr méd. Yvette von Aarburg<br />
Dr méd. Astrid Beerlage<br />
– Jeune forum gynécologie suisse<br />
Dr méd. Claudia Becker<br />
DE<br />
FR<br />
10.40–11.25 Kaffeepause Pause-café<br />
11.25–11.45<br />
DE<br />
Arbeiten in der Notfallmedizin:<br />
Chancen und Herausforderungen<br />
– Dr. med. Brigitte Nyfeler<br />
Chefärztin Notfallzentrum Lindenhofspital Bern<br />
La carrière en médecine interne<br />
générale hospitalière<br />
– Prof. Julien Vaucher<br />
Professeur ordinaire de médecine interne générale<br />
à l’Université de Fribourg.<br />
FR<br />
11.45–12.05<br />
Arbeitsplatz Praxis / Belegarzt<br />
– Dr. med. Lars Frauchiger<br />
Belegarzt, Praxis Orthopädische Chirurgie<br />
und Traumatologie des Bewegungsapparates<br />
DE<br />
Le cabinet du généraliste: un espace de<br />
liberté urbi et orbi<br />
– PD Dr. Patrick Ruedin<br />
Médecine interne-Néphrologie FMH, Directeur<br />
de cours Société Suisse d’Echographie, Hypnose<br />
médicale FMH<br />
FR
12.05–12.15 Fragerunde / Disskusion Questions / discussion<br />
12.15–14.00<br />
Mittagspause (Stehlunch)<br />
Pause de midi (apéro dînatoire)<br />
13.25–13.45<br />
Lunchreferat<br />
– Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ)<br />
Exposés dînatoires<br />
– Centre suisse des paraplégiques (CSP)<br />
DE<br />
FR<br />
14.00–14.20<br />
Medizin im ländlichen Tanzania<br />
– PD Dr. med. Martin Rohacek<br />
Internist und Notfallmediziner<br />
La médecine dans la Tanzanie rurale<br />
– PD Dr méd. Martin Rohacek<br />
Médecin interniste et urgentiste<br />
DE<br />
FR<br />
14.20–14.40<br />
Verschiedene Gesichter einer Hausarztpraxis<br />
- Lager- und Festivalmedizin<br />
– Dr. med. Raphael Stolz<br />
Hausarzt, ärztlicher Leiter der Sanität am am Open OpenAir<br />
St. St. Gallen, Vizepräsident im im SIWF SIWF<br />
Les différents visages d’un cabinet<br />
de médecine de famille – médecine<br />
festivalière<br />
– Dr méd. Raphael Stolz<br />
Médecin de famille, responsable médical de de l’Open- l’OpenAir<br />
St-Gall, vice-président de de l’ISFM<br />
DE<br />
FR<br />
14.40–15.00<br />
10 Top Fragen zur chirurgischen<br />
Weiterbildung, an das Swiss College<br />
of Surgeons<br />
– Prof. Dr. med. Dieter Hahnloser<br />
Präsident Swiss College of Surgeons, Leiter der<br />
koloproktologischen Chirurgie am Universitätsspital<br />
in Lausanne<br />
– Dr. med. Anna Wang<br />
Oberärztin, Plastische Chirurgie und Handchirurgie<br />
– Kantonsspital Aarau / Co Präsidentin<br />
<strong>vsao</strong> Zürich<br />
10 questions clés sur la formation<br />
postgraduée en chirurgie, adressées au<br />
Swiss College of Surgeons<br />
– Prof. Dr méd. Dieter Hahnloser<br />
Président du Swiss College of Surgeons, responsable<br />
du team colon, rectum et proctologie à<br />
l’Hôpital universitaire de Lausanne (CHUV).<br />
– Dr med. Anna Wang<br />
Cheffe de clinique, chirurgie plastique<br />
et chirurgie de la main – Hôpital cantonal<br />
d‘Aarau / Co – Présidente <strong>vsao</strong> Zurich<br />
DE<br />
FR<br />
15.00–15.10 Fragerunde / Disskusion Questions / discussion<br />
15.10–15.20 Wettbewerb Verlosung Concours tirage<br />
15.20–16.00<br />
Networking – Apéro<br />
Die Ausstellung ist noch offen<br />
Networking – Apéro<br />
L’exposition est encore ouverte
Der Kongress bietet dir die perfekte Möglichkeit, dich über<br />
die Themen Karriereplanung und Karrieremöglichkeiten zu<br />
informieren. Das Ziel von medifuture ist es, den Teilnehmenden<br />
aufzuzeigen, welche verschiedenen Facetten der Arztberuf mit<br />
sich bringt, und die unterschiedlichen Wege zum anvisierten<br />
Karriereziel darzulegen.<br />
Neben praxisnahen Referaten von Fachleuten aus verschiedensten<br />
Bereichen des Gesundheitswesens präsentieren<br />
dir die Aussteller ihre vielfältigen Angebote. In den Pausen<br />
hast du genügend Zeit, die Ausstellung mit über 50 Ständen<br />
(Universitätsspitäler der Schweiz sowie zahlreiche weitere<br />
grosse Spitäler und Fachgesellschaften) zu besuchen, Kontakte<br />
zu knüpfen, Informationen auszutauschen und dich an<br />
den Buffets zu bedienen.<br />
Le congrès te donne la possibilité de t’informer sur les thèmes<br />
de la planification de carrière et les options de carrière. Le but<br />
de medifuture est de montrer aux participant(e)s les nombreuses<br />
facettes de la profession de médecin et les différentes<br />
voies qui peuvent les mener à leur objectif de carrière.<br />
Outre des exposés proches de la pratique de spécialistes de<br />
différents domaines de la santé, environ 40 exposants t’attendent<br />
avec leurs stands. Pendant les pauses, tu as suffisamment<br />
de temps pour visiter l’exposition qui compte plus de<br />
50 stands (hôpitaux universitaires de la Suisse, ainsi que de<br />
nombreux autres grands hôpitaux et sociétés de discipline),<br />
nouer des contacts et échanger avec tes collègues, sans oublier<br />
de profiter du buffet.<br />
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<strong>vsao</strong><br />
<strong>vsao</strong>-Inside<br />
Oliviero Reusser<br />
Wohnort: Zürich<br />
Beim <strong>vsao</strong> seit: Februar <strong>2023</strong><br />
Der <strong>vsao</strong> für Dich in drei Worten:<br />
Pragmatisch, praxisnah, modern<br />
In der Freizeit lässt er sich<br />
manchmal einfach treiben,<br />
macht dieses oder jenes,<br />
je nachdem, wie das Wetter<br />
aussieht oder was seine Freundinnen<br />
und Freunde vorhaben. Bei der<br />
Arbeit hingegen läuft dies bei<br />
Oliviero Reusser anders.<br />
Als Mitarbeiter Politik und Kommunikation<br />
achtet Oliviero Reusser aufmerksam<br />
auf aktuelle Entwicklungen und<br />
Trends, arbeitet sehr strukturiert und hat<br />
die Deadlines von <strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong> und<br />
Newsletter im Griff.<br />
Auch die Website und die Social-<br />
Media-Kanäle des Verbands betreut<br />
Oliviero Reusser, der in Zürich Politikund<br />
Islamwissenschaft und in London<br />
Konfliktwissenschaft studiert hat.<br />
Besonders wichtig ist ihm die politische<br />
Dimension seiner Arbeit. Er denkt deshalb<br />
gerne laut mit, stellt wichtige Fragen<br />
und bringt immer wieder neue Vorschläge<br />
für mehr oder weniger konventionelles<br />
Vorgehen ein. Dabei achtet er sehr darauf,<br />
dass bei der politischen Arbeit des <strong>vsao</strong><br />
konkrete Probleme und Erfahrungen aus<br />
der Praxis im Mittelpunkt stehen und dass<br />
die Zusammenarbeit mit den zahlreichen<br />
Partnerorganisationen gut funktioniert.<br />
Die Arbeit beim <strong>vsao</strong> macht ihn glücklich,<br />
weil sie für ihn sinnstiftend ist und er<br />
seine Fähigkeiten optimal einsetzen kann.<br />
Als Halbtessiner ist ihm der gute Draht zur<br />
Tessiner Sektion ein besonderes Anliegen,<br />
und er möchte dazu beitragen, dieser<br />
Sprachminderheit einen gebührenden<br />
Platz im Dachverband zu geben.<br />
Oliviero schätzt an seiner Arbeit<br />
speziell den Dialog und die Interaktion<br />
mit Ärztinnen und Ärzten und Medizinstudierenden.<br />
Es gefällt ihm, am Puls<br />
der Aktualitäten und Entwicklungen im<br />
Gesundheitswesen zu sein, und das<br />
Erarbeiten von öffentlichen Reaktionen<br />
oder Stellungnahmen gemeinsam<br />
mit dem Team zählt er zu seinen spannendsten<br />
Aufgaben. Die dafür nötigen<br />
Diskussionen, in denen verschiedene<br />
Perspektiven aufkommen, mag er sehr.<br />
Dabei kommen ihm auch seine vielfältigen<br />
Erfahrungen zugute, die er bei<br />
der Arbeit für kleinere Verbände und<br />
seinen diversen ehrenamtlichen politischen<br />
Tätigkeiten gesammelt hat.<br />
Nebst diesen ehrenamtlichen Tätigkeiten<br />
pflegt Oliviero weitere Hobbys:<br />
So spielt er regelmässig Volleyball und ist<br />
oft im Gym anzutreffen. Er ist gerne in<br />
der Natur unterwegs, sei es beim Wandern<br />
in den Bergen, am See oder beim «Böötle»<br />
auf der Limmat. Er mag aber auch sehr<br />
gerne Brett- und Kartenspiele, vor allem<br />
Jass. Und nicht zuletzt investiert er seine<br />
Zeit in gutes Essen und ist leidenschaftlicher<br />
Pizzabäcker und Pastakoch.<br />
Bild: zvg<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 25
<strong>vsao</strong><br />
<strong>vsao</strong>-Rechtsberatung<br />
Wann läuft die Frist ab?<br />
Ich bin ausgebildete Assistenzärztin<br />
und mit einem 100-Prozent-Pensum<br />
in einem Spital<br />
angestellt. Mein Arbeitsvertrag<br />
ist zwar befristet, sieht aber trotzdem<br />
eine Kündigungsfrist vor. Nach meinem<br />
Wissensstand endet ein befristeter<br />
Arbeitsvertrag jedoch ohne<br />
Kündigungsmöglichkeit zum vereinbarten<br />
Zeitpunkt.<br />
Was bedeutet diese Kündigungsfrist<br />
in meinem Vertrag? Gelten nun spezielle<br />
Regeln und endet mein Vertrag<br />
trotzdem zum vereinbarten Zeitpunkt<br />
automatisch oder muss ich (auf diesen<br />
Zeitpunkt hin) kündigen? Was gilt bei<br />
Krankheit und/oder Schwangerschaft?<br />
Grundsätzlich ist es richtig, dass ein<br />
befristeter Arbeitsvertrag ohne Kündigungsmöglichkeit<br />
zum vereinbarten<br />
Zeitpunkt automatisch endet (Art. 334<br />
Abs. 1 OR). In diesem Fall spricht man<br />
von einem sogenannten echten befristeten<br />
Arbeitsvertrag. Der Vertrag kann<br />
dabei entweder auf einen bestimmten<br />
Zeitpunkt begrenzt («bis am 30. August»)<br />
oder für eine bestimmte Dauer abgeschlossen<br />
werden («für vier Monate»)<br />
und muss von beiden Parteien bis zum<br />
Beendigungstermin erfüllt werden.<br />
In der Konsequenz bedeutet dies, dass<br />
der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis<br />
nicht vorzeitig kündigen kann und Sie<br />
als Arbeitnehmerin auch nicht kündigen<br />
müssen, um das Arbeitsverhältnis zu<br />
beenden.<br />
Allerdings gibt es – wie so oft – Ausnahmen<br />
von dieser Regel. So kann auch<br />
bei einem befristeten Arbeitsvertrag<br />
eine Kündigungsfrist vereinbart werden.<br />
In diesem Fall spricht man von einem<br />
Arbeitsvertrag mit Maximaldauer. Dabei<br />
ist es wichtig, zu beachten, dass die<br />
Kündigungsfrist für beide Parteien gleich<br />
lang sein muss und somit keine unterschiedlichen<br />
Kündigungsfristen vereinbart<br />
werden dürfen, die eine Partei<br />
benachteiligen. Im Ergebnis bedeutet<br />
dies, dass sowohl Arbeitgeber als auch<br />
Arbeitnehmende das Arbeitsverhältnis<br />
vorzeitig kündigen können, sofern<br />
die vereinbarte Kündigungsfrist eingehalten<br />
wird.<br />
Muss nun aber auch gekündigt<br />
werden, wenn das Arbeitsverhältnis<br />
beendet werden soll? Nein. Wird der<br />
Vertrag nicht vor Ablauf der vereinbarten<br />
Maximaldauer gekündigt, endet er<br />
nach Ablauf der vereinbarten Dauer<br />
automatisch und ohne Kündigung.<br />
Die vereinbarte Kündigungsfrist räumt<br />
den Vertragsparteien somit lediglich<br />
eine Möglichkeit (aber keine Pflicht) ein,<br />
den Vertrag früher als zum vereinbarten<br />
Zeitpunkt zu kündigen.<br />
Wissenswert ist auch die folgende<br />
Tatsache: Wird ein befristetes Arbeitsverhältnis<br />
von beiden Parteien stillschweigend<br />
fortgesetzt, gilt dieses als<br />
unbefristetes Arbeitsverhältnis, bei dem<br />
ordentlich innert Frist gekündigt werden<br />
kann und auch muss, um das Arbeitsverhältnis<br />
zu beenden.<br />
Die Lohnfortzahlung bei Krankheit<br />
ist grundsätzlich in Art. 324a OR geregelt.<br />
Im Falle von Krankheit oder Komplikationen<br />
bei der Schwangerschaft besteht<br />
die Lohnfortzahlung jedoch nur, sofern<br />
das befristete Arbeitsverhältnis auf mehr<br />
als drei Monate festgelegt wurde. Durch<br />
besondere Vorschriften in einem Gesamtarbeitsvertrag<br />
kann hiervon allerdings<br />
abgewichen werden.<br />
Eine weitere Besonderheit eines<br />
befristeten Arbeitsvertrags, bei dem eine<br />
Kündigungsfrist vereinbart wurde, ist,<br />
dass im Falle der Kündigung der sogenannte<br />
sachliche und zeitliche Kündigungsschutz<br />
des Art. 336c Abs. 1 OR<br />
greift. Somit kann der Vertrag während<br />
einer gewissen Zeit unter anderem nicht<br />
aufgrund von Krankheit, Schwangerschaft<br />
oder Unfall gekündigt werden.<br />
Bei echten befristeten Arbeitsverträgen<br />
ohne Kündigungsfrist gilt dieser Kündigungsschutz<br />
jedoch nicht. Auch in dieser<br />
Konstellation kann durch besondere<br />
Vorschriften in einem Gesamtarbeitsvertrag<br />
hiervon abgewichen werden.<br />
Diese Ausführungen zeigen, dass<br />
bei befristeten Arbeitsverhältnissen<br />
durchaus Vorsicht geboten ist. Bei Fragen<br />
stehen Ihnen die Sektionsjuristinnen<br />
und -juristen des <strong>vsao</strong> gerne zur Verfügung.<br />
Samuel Nadig,<br />
Geschäftsführer und Jurist<br />
der Sektion Graubünden<br />
Bild: zvg<br />
26<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
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Visitationen<br />
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durch die Fachstelle UND.<br />
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Fokus: Sprache<br />
Island ist bekannt für seine Geysire. Seit dem 19. Jahrhundert wird das isländische Wort Geysir auch in anderen Sprachen für heisse Springquellen verwendet.<br />
«Es gibt keine<br />
Übersetzung ohne<br />
Eingriffe»<br />
Wörter, Strukturen, soziokulturelle Hintergründe:<br />
Sprachen unterscheiden sich auf mehreren Ebenen. Literarische<br />
Übersetzungen bedürfen deshalb immer auch der Interpretation.<br />
Der preisgekrönte Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig über Geysire,<br />
isländische Verwandte und Krimis aus dem Norden.<br />
Regula Grünwald, Chefredaktorin <strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong><br />
Bild: Adobe Stock<br />
28<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Fokus: Sprache<br />
Bild: © Karl-Ludwig Wetzig, zvg<br />
Sie sind Spezialist für skandinavische<br />
Sprachen und übersetzen vor allem<br />
aus dem Isländischen ins Deutsche.<br />
Was tun Sie mit Wörtern, die sich nicht<br />
übersetzen lassen?<br />
Manche Wörter erscheinen als unübersetzbar,<br />
weil mit ihnen Dinge bezeichnet<br />
werden, die in der Zielkultur nicht vorhanden<br />
sind. Solche Wörter kann ich umschreiben,<br />
erklären, ihre Wortbestandteile<br />
übersetzen und so ein neues deutsches<br />
Wort kreieren oder sie als Fremdwörter<br />
übernehmen, um die Fremdartigkeit hervorzuheben.<br />
Und manchmal integrieren<br />
wir solche Wörter in unsere eigene Sprache:<br />
Nehmen Sie nur Geysir, ein isländisches<br />
Wort, das heute überall auf der Welt<br />
für heisse Springquellen verwendet wird.<br />
Und vor zehn Jahren hätte ich noch überlegt,<br />
den isländischen Skyr vielleicht mit<br />
«Sauerquark» zu übersetzen; heute steht<br />
er bei uns im Supermarkt. Probleme mit<br />
vermeintlicher Unübersetzbarkeit sehe<br />
ich daher weniger auf der Wortebene, sondern<br />
mehr auf den übergeordneten und<br />
umfassenderen Ebenen von Satz, Text,<br />
Konnotationen und soziokulturellem<br />
Hintergrund.<br />
Haben Sie Beispiele für solche<br />
Herausforderungen?<br />
Zwei verschiedene Sprachen sind niemals<br />
völlig gleich strukturiert. Das Isländische<br />
ist nicht so auf Präzision und Eindeutigkeit<br />
der Bezüge versessen wie das Deutsche.<br />
Zwei Beispiele: Das Isländische kann<br />
Verwandtschaftsgrade begrifflich bis in<br />
den fünften Grad differenzieren. Im Alltag<br />
bezeichnet man Verwandte, die nicht Eltern<br />
oder Geschwister sind, allerdings<br />
meist lediglich als frændi beziehungsweise<br />
frænka. In der Übersetzung muss ich<br />
differenzieren, ob es sich dabei um Onkel<br />
oder Cousins respektive Tanten oder<br />
Cousinen handelt, obwohl der Ausgangstext<br />
da unbestimmt bleibt. Und wenn ein<br />
isländisches Personalpronomen im Singular<br />
und Plural dieselbe Form aufweist, darf<br />
durchaus offenbleiben, ob es für eine oder<br />
mehrere Personen steht. Nicht so in der<br />
Übersetzung. Eindeutigkeit herzustellen,<br />
wo die Ausgangssprache mehrere Deutungsmöglichkeiten<br />
zulässt, stellt für<br />
mich eine Einschränkung und letztlich<br />
Verarmung des literarischen Potenzials<br />
dar, gegen die ich mich sträube. Denn<br />
Mehrdeutigkeit ist doch eine der produktivsten<br />
Qualitäten von Literatur. Weiter<br />
sollte ich als Übersetzer nicht bloss die<br />
Zielsprache gut kennen, sondern auch die<br />
Kultur und Gesellschaft, in die sie eingebettet<br />
ist. Nehmen Sie nur die schlichte<br />
Aussage aus der Bibel: «Siehe, ich stehe<br />
vor der Tür und klopfe an.» Und dann malen<br />
Sie sich die Wirkung aus, wenn ein<br />
Missionar diesen Vers wörtlich in eine<br />
Sprache Afrikas übersetzt hätte, wo niemand<br />
anklopft ausser Einbrecher, die testen<br />
wollen, ob jemand im Haus ist … Wortwörtliche<br />
Übersetzungen können fatale<br />
Folgen haben.<br />
Wie gehen Sie bei einer Übersetzung<br />
konkret vor?<br />
Selbstverständlich lese ich den Ausgangstext<br />
zuerst einmal möglichst gründlich<br />
und analytisch durch. Wenn Handlung<br />
oder Personenkonstellationen besonders<br />
kompliziert sind, erstelle ich Stammbäume<br />
oder Soziogramme der handelnden<br />
Personen, um den Überblick zu behalten.<br />
Bei anspruchsvollen Texten wie etwa den<br />
Isländersagas führe ich eine Art Arbeitsjournal,<br />
in dem ich beispielsweise einzelne<br />
Übersetzungslösungen notiere und<br />
begründe für den Fall, dass die gleiche<br />
Vokabel später noch einmal auftauchen<br />
sollte. Seit es das Internet gibt, recherchiere<br />
ich Dinge immer gleich dann, wenn<br />
eine Schwierigkeit im Text auftaucht,<br />
denn ich möchte am liebsten gleich eine<br />
gültige Übersetzungslösung finden und<br />
nicht im Nachgang vor einem Wust ungeklärter<br />
Textstellen stehen. Den Vorgang<br />
des Übersetzens selbst können Sie sich bei<br />
mir als eine Kette zahlloser Re-Lektüren<br />
vorstellen: Jeder Arbeitstag beginnt damit,<br />
dass ich mir das am Vortag Übersetzte<br />
noch einmal genau ansehe, bevor ich das<br />
nächste Kapitel in Angriff nehme. Nach<br />
dem Feinschliff lektoriert der Verlag die<br />
Übersetzung und ich überlege an jeder<br />
einzelnen Stelle, ob ich den Änderungsvorschlag<br />
des Lektorats übernehme, meine<br />
ursprüngliche Übersetzung doch passender<br />
finde oder nach einer dritten Möglichkeit<br />
suche. Nach einer letzten Prüfung<br />
der Druckfahnen erteile ich dem scheinbar<br />
fertigen Text das Imprimatur. Ich sage<br />
«scheinbar fertig», weil ich zu der Ansicht<br />
gekommen bin, dass eine literarische<br />
Übersetzung niemals endgültig fertig ist.<br />
Wenn ich nach zehn oder zwanzig Jahren<br />
eine meiner Übersetzungen erneut ansehe,<br />
finde ich immer Stellen, die ich heute<br />
anders übersetzen würde als damals.<br />
Zur Person<br />
Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956<br />
in Düsseldorf, lehrte Skandinavistik<br />
an den Universitäten Göttingen und<br />
Reykjavík und übersetzt seit 20 Jahren<br />
Literatur aus nordischen Sprachen,<br />
darunter Werke von Autoren wie<br />
Jón Kalman Stefánsson, Gunnar<br />
Gun narsson und Hallgrímur Helgason<br />
sowie mittelalterliche Isländersagas.<br />
Daneben veröffentlicht er eigene<br />
Bücher. Für seine Übersetzung von<br />
«Dein Fortsein ist Finsternis» erhielt<br />
er <strong>2023</strong> den Christoph-Martin-<br />
Wieland- Übersetzerpreis.<br />
Inwiefern sind Sie in den übersetzten<br />
Werken spürbar?<br />
Der ideale Übersetzer ist in den Augen vieler<br />
der unsichtbare Übersetzer; eine gläserne<br />
Instanz, die den Lesenden das Original<br />
auf allen Ebenen möglichst ohne eigenes<br />
Zutun oder Weglassen nahebringt. Die<br />
vorhin erwähnten Beispiele zeigen, dass<br />
das eine Illusion ist. Es gibt keine Übersetzung<br />
ohne Eingriffe. Dennoch habe ich<br />
mich anfangs gewundert, als ein Kollege<br />
einmal behauptete, er würde selbstverständlich<br />
jedes von mir übersetzte Buch<br />
auch ohne Nennung meines Namens erkennen.<br />
Ja, es ist wohl so: Übersetzerinnen<br />
und Übersetzer entwickeln im Lauf<br />
der Zeit ihre eigene, wiedererkennbare<br />
Sprache – auch wenn sie ganz unterschiedliche<br />
Werke übersetzen.<br />
Wie stark tauschen Sie sich jeweils mit<br />
den Autorinnen und Autoren aus?<br />
Ich selbst nehme vor Beginn einer Übersetzung<br />
fast immer Verbindung zur Autorin<br />
oder zum Autor auf, besonders wenn es<br />
um komplexe, schwierigere Werke geht.<br />
Da finde ich es enorm hilfreich, wenn ich<br />
mich rückversichern kann, ob ich die eine<br />
oder andere Textstelle auch wirklich im<br />
Sinn der Textintention verstanden habe.<br />
Der Austausch kann sehr fruchtbar und<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 29
Fokus: Sprache<br />
bereichernd sein; in manchen Fällen haben<br />
sich aus solchen Gesprächen persönliche<br />
Freundschaften entwickelt.<br />
Haben Sie ein Lieblingsgenre für<br />
Übersetzungen?<br />
Ich mag Bücher, die mein Denken anregen<br />
und herausfordern. In seinem lesenswerten<br />
Essay «Die Lust am Text» bezeichnet<br />
Roland Barthes den literarischen Text als<br />
eine Insel, ein Refugium also, und die<br />
Lust, Literatur zu geniessen, als Liebhaberei<br />
von wenigen. Dem kann ich nur zustimmen.<br />
Leider sind literarische, anspruchsvollere<br />
Titel für die Verleger oft zu<br />
wenig lukrativ und mittlerweile zu einer<br />
Minorität auf dem Buchmarkt geworden.<br />
Island boomt seit einigen Jahren,<br />
sei es als Reiseziel, aber auch wegen der<br />
Literatur, insbesondere der Krimis.<br />
Spüren Sie das bei Ihrer Arbeit?<br />
Ja, aber nicht nur im positiven Sinn. Verlage<br />
haben für Übersetzungen aus bestimmten<br />
Sprachen oft vorgegebene Kontingente.<br />
Seit es eine anscheinend unauflösliche<br />
Verbindung zwischen «Norden» und «Krimi»<br />
gibt – Morden im Norden! –, kann ich<br />
beobachten, dass immer weniger literarische<br />
Werke aus nordischen Ländern die<br />
wenigen für ihre Herkunftsregion vorgesehenen<br />
Programmplätze bekommen und<br />
stattdessen lieber noch ein Krimi auf den<br />
Markt geworfen wird. Lesen ist eben für<br />
die meisten Zerstreuung.<br />
Inwiefern hat sich Ihre Arbeit mit dem<br />
Aufkommen von Übersetzungstools<br />
und KI verändert?<br />
In meiner eigenen Arbeit spielen KI und<br />
Übersetzungstools bislang keine Rolle.<br />
Aber sie werden in unserer Zunft derzeit<br />
stark beobachtet und diskutiert: Können<br />
sie auch für literarische Übersetzer hilfreiche<br />
Werkzeuge sein? Falls ja: Wie werden<br />
sie mit intendierten Mehrdeutigkeiten<br />
und versteckten Anspielungen fertig?<br />
Werden sie bald Instrumente, mit denen<br />
Verleger Übersetzungshonorare noch tiefer<br />
drücken wollen? Erste Vorstösse in<br />
diese Richtung sind bereits bekannt geworden.<br />
Werden Sprachtools einmal das<br />
Lektorieren automatisieren? Aber was<br />
soll’s, wenn bis dahin die Schriftsteller ihre<br />
Werke ebenfalls von KI erstellen lassen?<br />
Die Menschen werden sich auch daran gewöhnen<br />
und es ebenso als gegeben hinnehmen<br />
wie permanente Videobeobachtung<br />
und Datenüberwachung.<br />
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<strong>Journal</strong><br />
<strong>Nr</strong>. 4, August <strong>2023</strong><br />
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Seite 26<br />
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5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Fokus: Sprache<br />
Sprachlos in die<br />
Therapie<br />
Ein Hauptwerkzeug der Psychiatrie ist die Kommunikation.<br />
Doch was, wenn die Sprache fehlt? Als Vorstandsmitglied des Vereins<br />
delta und Oberärztin an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie<br />
und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich hat Justina<br />
Račkauskaitė mit Sprachlosigkeit verschiedener Art zu tun.<br />
Regula Grünwald, Chefredaktorin <strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong><br />
Bild: Adobe Stock<br />
Psychische Erkrankungen, sprachliche Barrieren und kulturelle Hürden können zu Sprachlosigkeit unterschiedlicher Art führen.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 31
Fokus: Sprache<br />
Zur Person<br />
Justina Račkauskaitė ist Oberärztin<br />
an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie<br />
und Psychosomatik des Universitätsspitals<br />
Zürich. Ihre Tätigkeit umfasst<br />
die Arbeit mit verschiedenen Krankheitsbildern<br />
vor allem bei Personen<br />
mit Migrationshintergrund. Ergänzend<br />
und nicht weniger bedeutsam ist<br />
ihre Arbeit als Vorstandsmitglied der<br />
NGO delta (Develop Life through<br />
Action), wo sie Projekte für die psychische<br />
Gesundheit in ressourcenarmen<br />
Gebieten in Indien mitentwickelt.<br />
Welchen Formen von Sprachlosigkeit<br />
begegnen Sie?<br />
Verschiedene psychische Erkrankungen<br />
können dazu führen, dass Betroffene trotz<br />
vollständig entwickeltem Hör- und<br />
Sprechvermögen nicht mehr reden können.<br />
Dann sprechen wir von totalem Mutismus.<br />
Eine andere Art von Sprachlosigkeit<br />
entsteht, wenn Migrantinnen und<br />
Migranten sich aufgrund fehlender<br />
Sprachkenntnisse oder kultureller Unterschiede<br />
hier nicht verständlich machen<br />
können. Und schliesslich treffe ich auch<br />
bei meiner Tätigkeit für den Verein delta<br />
(siehe Box, Anm. d. Red.) immer wieder<br />
auf kommunikative Herausforderungen.<br />
Bleiben wir zunächst beim totalen<br />
Mutismus. Wie gehen Sie bei der<br />
Anamnese vor, wenn eine Person nicht<br />
sprechen kann?<br />
Ich sammle Hinweise auf verschiedenen<br />
Ebenen. So arbeite ich eng mit Kolleginnen<br />
und Kollegen aus anderen Disziplinen<br />
zusammen. Durch körperliche Untersuchungen<br />
können sie organische Ursachen<br />
ausschliessen und weitere wichtige Informationen<br />
beisteuern. Zudem benutze ich<br />
alle meine Sinne: Wie betritt die Person<br />
den Raum? Ist sie gepflegt? Wie gut ist sie<br />
ernährt? Und schliesslich fliessen auch die<br />
Aussagen und Beobachtungen von Angehörigen,<br />
vom Rettungsdienst oder von<br />
Passanten in die Anamnese ein.<br />
Wie gelingt es Ihnen, für die Therapie<br />
mit den Betroffenen in einen Dialog zu<br />
treten?<br />
Manche Patientinnen und Patienten reagieren<br />
auf Ja-/Nein-Fragen, und ich sehe,<br />
dass sie verstehen, was ich ihnen sage. Andere<br />
hingegen sind in diesem Moment<br />
komplett erstarrt und nicht zugänglich. In<br />
solchen Fällen helfen häufig eine ruhige<br />
Umgebung und Geduld in Kombination<br />
mit Medikamenten. In der Regel löst sich<br />
dieser Zustand nach einigen Minuten,<br />
Stunden oder Tagen.<br />
Wie wichtig ist Sprache bei Ihrer<br />
Arbeit?<br />
Sie ist unser Hauptwerkzeug. Mit etwas<br />
Kreativität lassen sich jedoch auch andere<br />
Wege finden, um die Therapie zu gestalten.<br />
Oft hilft es, mehrere Sinne anzusprechen:<br />
Ein Bild kann positive Emotionen<br />
erzeugen, Musik ein angenehmes Gefühl<br />
hervorrufen und ein besonderer Duft<br />
schöne Kindheitserinnerungen wecken.<br />
Dies gibt Betroffenen Kraft – und ist in diesem<br />
Moment wichtiger als Sprache.<br />
Der Verein delta fördert professionelle Betreuung<br />
Psychische Erkrankungen in ressourcenarmen Ländern nehmen zu, die medizinische<br />
Versorgung ist jedoch ungenügend. Mit Projekten wie einem Rehabilitationszentrum,<br />
einem sozialpsychiatrischen Zentrum, einer alterspsychiatrischen Tagesklinik und<br />
einem betreuten Wohnen in drei Regionen in Südindien fördert der gemeinnützige<br />
Verein delta eine fachgerechte Behandlung und Betreuung von Menschen mit psychischen<br />
Erkrankungen in unterversorgten Ländern.<br />
www.delta-ngo.ch<br />
Welche Bedeutung haben solche<br />
Elemente bei der Arbeit mit Menschen,<br />
die eine andere Sprache sprechen und<br />
aus einer anderen Kultur kommen?<br />
Sinneserfahrungen sind ein Weg, um trotz<br />
sprachlichen und kulturellen Barrieren<br />
Zugang zu diesen Personen zu finden.<br />
Glücklicherweise müssen wir aber auch da<br />
nicht auf die Sprache verzichten, da wir<br />
transkulturelle Übersetzende anfordern<br />
können. Die daraus entstehende triadische<br />
Beziehung ist oft eine Bereicherung,<br />
kann jedoch auch zu Schwierigkeiten führen.<br />
Welche Probleme können auftreten?<br />
Die übersetzende Person muss neutral<br />
bleiben, darf nicht eine beratende oder gar<br />
freundschaftliche Rolle einnehmen. So ist<br />
es beispielsweise wichtig, dass die Betroffenen<br />
mich im Gespräch anschauen und<br />
mit mir kommunizieren. Ebenfalls müssen<br />
wir auf absolute Vertraulichkeit zählen<br />
können. Denn häufig haben Betroffene<br />
und Übersetzende gemeinsame Bekannte.<br />
Gerade wenn jemand aus einem Kulturkreis<br />
kommt, in dem psychische Erkrankungen<br />
stark stigmatisiert werden, ist dies<br />
heikel. Und schliesslich haben auch Übersetzende<br />
häufig einen Migrationshintergrund,<br />
teils mit ähnlichen Erfahrungen<br />
wie unsere Patientinnen und Patienten.<br />
Bei manchen Themen müssen wir vorab<br />
klären, ob sie diese Dinge übersetzen können,<br />
ohne eine übermässige Belastung zu<br />
erleiden.<br />
Solche Schwierigkeiten liessen sich<br />
durch KI-Übersetzungen vermeiden.<br />
Denken Sie, dass Übersetzungstools<br />
Dolmetschende ersetzen können?<br />
Nein, denn da geht es um viel mehr als reine<br />
Übersetzungen. Sprache ist Ausdruck<br />
der Kultur, in der wir leben. Es kommt immer<br />
wieder vor, dass mein Gegenüber oder<br />
ich manche Fragen und Antworten nicht<br />
verstehen, auch wenn sie korrekt übersetzt<br />
sind. In diesen Fällen braucht es<br />
auch eine kulturelle Übersetzung. Und ich<br />
muss mich auf den kulturellen Hintergrund<br />
der Person einlassen, um ihr helfen<br />
zu können.<br />
Haben Sie ein Beispiel dafür?<br />
Wenn etwa eine Frau denkt, der Grund für<br />
ihre Depression sei ein böser Geist, der in<br />
ihr wohne, nehme ich zunächst ihr Erklärungsmodell<br />
auf und stelle ihr Fragen zu<br />
diesem Geist. Nach und nach versuche<br />
ich, ihre Terminologie umzuwandeln bzw.<br />
das Erklärungsmodell zu erweitern, in-<br />
Bild: zvg<br />
32<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Anzeige<br />
dem ich ihr wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
vermittle. Idealerweise ist ihr soziales<br />
Umfeld in diesen Prozess der Psychoedukation<br />
integriert. Und auch hier spielt die<br />
Sprache eine zentrale Rolle: Nur wenn ich<br />
die wissenschaftlichen Inhalte einfach<br />
und verständlich erklären kann und nur<br />
wenn die übersetzende Person die richtigen<br />
Worte findet, kann die Therapie ihre<br />
volle Wirkung entfalten.<br />
Inwiefern verändert es Ihre Arbeit,<br />
wenn Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit<br />
beim Verein delta diejenige Person<br />
sind, welche die lokale Sprache nicht<br />
spricht?<br />
Lassen Sie mich etwas ausholen. Beispielsweise<br />
in Südindien haben wir zusammen<br />
mit einer lokalen Gynäkologin und Allgemeinmedizinerin<br />
ein Rehabilitationszentrum<br />
für Suchterkrankungen gegründet.<br />
In dieser Region werden die Familiensysteme<br />
von Männern getragen. Fallen diese<br />
aufgrund ihres zu hohen Alkoholkonsums<br />
aus, hat dies verheerende Auswirkungen<br />
auf die ganze Familie, deshalb ist unser<br />
Engagement dort dringend nötig. Jedoch<br />
mussten wir lernen, dass wir die therapeutischen<br />
Interventionen nicht selbst durchführen<br />
können. Zu gross sind die sprachlichen<br />
Hürden – in ländlichen Gebieten<br />
sprechen viele Menschen kein Englisch –,<br />
zu viele kulturelle und religiöse Aspekte<br />
spielen hinein. Deshalb arbeiten wir mit<br />
lokalen Fachpersonen zusammen und<br />
konzentrieren uns nicht nur auf die finanzielle<br />
Unterstützung, sondern auch auf<br />
Weiterbildung und Supervision. Auch so<br />
kommt es immer mal wieder zu Missverständnissen,<br />
denn auch wenn wir alle<br />
Englisch sprechen, haben wir eine andere<br />
Art, uns auszudrücken. Grundsätzlich<br />
funktioniert die Zusammenarbeit so aber<br />
sehr gut und lohnt sich auf jeden Fall,<br />
da wir bereits letztes Jahr über 150 Männern<br />
mit Alkoholabhängigkeit eine Chance<br />
gegeben haben, ein neues Leben aufzubauen.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 33
Fokus: Sprache<br />
Lost in<br />
Translation<br />
Manche Wörter machen es einem schwer:<br />
Statt eines einzelnen Begriffs braucht es einen ganzen Satz, um sie auf<br />
Deutsch zu übersetzen. Einige Beispiele aus der ganzen Welt.<br />
Sanders, Ella Frances: «Lost in Translation. Unübersetzbare Wörter<br />
aus der ganzen Welt». DuMont Buchverlag, 2017.<br />
Bilder: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG<br />
34<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Fokus: Sprache<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 35
Fokus: Sprache<br />
Im Jordan der<br />
Sprachen<br />
Kleine Krallenaffen und Menschenkinder brabbeln.<br />
Doch schon bald lassen die kleinen Menschen<br />
die Affen weit hinter sich und beherrschen eine komplexe<br />
Sprache – wie das geht, erforscht Sabine Stoll.<br />
Thomas Gull, Redaktor UZH Magazin<br />
Beide tun es: Die kleinen Krallenaffen<br />
im brasilianischen Urwald<br />
und die Menschen – sie<br />
brabbeln. Wenn wir brabbeln,<br />
versuchen wir mitzureden. Gut, im Moment<br />
versteht uns noch niemand, und wir<br />
sehen Gesichter, die uns zwar begeistert,<br />
aber auch verständnislos anschauen. Daraus<br />
lernen wir zweierlei: Brabbeln ist<br />
noch nicht gut genug, um wirklich verstanden<br />
zu werden. Und: Ich kommuniziere,<br />
also bin ich. Denn wer brabbelt,<br />
wird wahrgenommen.<br />
Wahrgenommen zu werden, dürfte eine<br />
evolutionsbiologische Funktion des<br />
Brabbelns sein, weil Babys und junge Krallenaffen<br />
darauf angewiesen sind, nicht<br />
vergessen zu werden. Im Spracherwerb<br />
dient Brabbeln in erster Linie dazu, das<br />
Artikulieren zu üben und zu imitieren,<br />
was wir gehört haben. «Was das bedeutet,<br />
verstehen Babys aber erst etwa ab dem<br />
neunten Monat», sagt Sprachwissenschaftlerin<br />
Sabine Stoll, die erforscht, wie<br />
Kinder ihre erste Sprache lernen.<br />
Die Professorin für Vergleichende<br />
Sprachwissenschaft an der UZH untersucht<br />
im NFS «Evolving Language» zusammen<br />
mit dem Verhaltensbiologen Simon<br />
Townsend, wie die Umgebung den<br />
Spracherwerb von Menschen und Affenkindern<br />
beeinflusst. Dabei geht es um Fragen<br />
wie: Wie prägen Interaktionen mit der<br />
Umwelt die Sprachentwicklung? Oder:<br />
Wie lernen Säuglinge, Signale wie Mimik<br />
und Gestik zu interpretieren, und welche<br />
Rolle spielt der Kontext für das Lernen?<br />
Zu kommunizieren ist existenziell für<br />
uns Menschen und für viele der höher entwickelten<br />
Tiere. Deshalb haben auch sie<br />
einfachere Formen von Sprache entwickelt.<br />
Entsprechend haben wir und andere<br />
Tiere die angeborene Fähigkeit, Sprache<br />
zu lernen oder zumindest ein angeborenes<br />
Repertoire von Lauten gezielt einzusetzen.<br />
Das menschliche Gehirn muss allerdings<br />
ganz andere Mengen von Informationen<br />
verarbeiten können, um die drei<br />
grundlegenden Elemente der Sprache zu<br />
lernen – ihre Struktur, die Laute und den<br />
Inhalt.<br />
Der Mensch hat im Verlauf seiner Geschichte<br />
Tausende von Sprachen hervorgebracht,<br />
viele sind wieder verloren gegangen,<br />
doch heute gibt es immer noch<br />
rund 7000. Wir haben die kognitiven<br />
Fähigkeiten, sie uns anzueignen. Selbst<br />
solche, die ungeheuer komplex sind, wie<br />
etwa das Chintang in Nepal mit seinen<br />
4800 Verbformen oder das Archi im<br />
Kaukasus mit 1,5 Millionen. Sie alle können<br />
wir lernen, zumindest als Erstsprachen,<br />
das heisst, wenn wir in sie hineingeboren<br />
werden oder als Kinder in sie<br />
eintauchen – dank unserem Gehirn, das<br />
am Anfang noch unglaublich flexibel ist,<br />
und unserem formidablen Gedächtnis.<br />
Doch wie lernen wir die Sprache? Unser<br />
Spracherwerb orientiert sich entlang<br />
der vier grossen I: Immersion, Interpretation,<br />
Interaktion und Imitation. Ihr Zusammenspiel<br />
ermöglicht uns, selbst grammatisch<br />
sehr komplexe Sprachen zu lernen.<br />
Muster im Sprachbrei<br />
Die Immersion beginnt schon in der Wiege:<br />
«Wir werden in die Sprache eingetaucht<br />
wie die Täuflinge in den Jordan»,<br />
sagt Sabine Stoll. Als Babys und Kleinkinder<br />
sind wir umgeben von Sprache. «Ein<br />
Kind hört in den ersten drei bis vier Lebensjahren<br />
Millionen von Wörtern.» Das<br />
kognitive Kunststück besteht nun darin,<br />
aus diesem Strom von Lauten Bestandteile<br />
wie Wörter oder Sätze zu filtern und ihren<br />
Sinn zu verstehen, das heisst, zu interpretieren,<br />
was uns da entgegenschlägt<br />
und zuerst mal so klingt wie das, was uns<br />
zum Essen vorgesetzt wird: wie Brei.<br />
In diesem Sprachbrei gibt es Muster.<br />
Und wir können diese erkennen. Eine Fähigkeit,<br />
die uns angeboren ist. Sie ist das<br />
Fundament unseres stupenden Talents,<br />
Sprachen zu lernen. Kleinkinder analysieren<br />
ständig – unbewusst – den sprachlichen<br />
Input ihrer Umwelt und machen sich<br />
darauf einen Reim. «Indem es Millionen<br />
von Äusserungen verarbeitet, erfährt das<br />
Kind viel über die Regularität der Sprache»,<br />
sagt Sabine Stoll, «mit ihren Mustern<br />
wird es im ersten Lebensjahr schon unzählige<br />
Male konfrontiert.»<br />
Klar ist: Je grösser, je vielfältiger der<br />
Input ist, desto mehr Material hat das<br />
Kleinkind, mit dem es arbeiten kann.<br />
Wichtig ist aber auch die Qualität, betont<br />
Sabine Stoll. Damit meint sie, wie das Kind<br />
Sprache erlebt: «Es macht wenig Sinn, ein<br />
Kleinkind vor den Fernseher zu setzen<br />
und zu hoffen, so lerne es beispielsweise<br />
Hindi», sagt die Sprachwissenschaftlerin,<br />
«es braucht das Zwischenmenschliche,<br />
die Interaktion mit den Eltern oder Geschwistern.»<br />
Wenn wir Sprache(n) lernen,<br />
beziehen wir die Umgebung ein und interpretieren<br />
sie. Dazu gehören etwa Körpersprache<br />
und Mimik der Bezugspersonen.<br />
Diese Interaktion, womit wir bereits beim<br />
dritten grossen I wären, sorgt dafür, dass<br />
36<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Fokus: Sprache<br />
Damit ein Kind eine Sprache lernen kann, braucht es die Interaktion mit den Bezugspersonen.<br />
Bild: Adobe Stock<br />
wir die Interpretation des Gesprochenen<br />
ständig präzisieren und anpassen können.<br />
Eine Voraussetzung, um verstehen zu<br />
können, was das Gegenüber sagt und damit<br />
auch meint, ist die «Theory of Mind».<br />
Sie beschreibt die Fähigkeit, sich in die Gedanken<br />
anderer hineinzuversetzen. Das<br />
können vor allem wir Menschen. Menschenaffen,<br />
davon geht man heute aus,<br />
verfügen allenfalls über einfache Formen<br />
der Theory of Mind.<br />
Baum, puu, zuhaitz<br />
Zum grossen I der Interpretation gehört,<br />
Symbole zu erkennen und mit Bedeutung<br />
zu verbinden. So können wir das geschriebene<br />
Wort «Baum» mit dem Baum verknüpfen,<br />
den wir draussen im Wald sehen.<br />
Das ist essenziell, weil unsere Sprache<br />
arbiträr ist, das heisst Bedeutungen und<br />
Wörter willkürlich zuordnet. In verschiedenen<br />
Sprachen wird dasselbe mit verschiedenen<br />
Wörtern bezeichnet – der<br />
Baum etwa als arbre, tree, puu oder zuhaitz,<br />
um ein paar Beispiele aus dem europäischen<br />
Sprachraum zu nennen. Tiere<br />
können Laute ebenfalls mit Bedeutungen<br />
verbinden. So haben Erdmännchen verschiedene<br />
Rufe für Feinde in der Luft und<br />
auf dem Boden. Affen oder Vögel kennen<br />
vergleichbare Alarmrufe. Allerdings ist<br />
das sprachliche Repertoire von Tieren<br />
meist beschränkt. So verfügen Affen oder<br />
Erdmännchen über drei Ruftypen: Alarmrufe,<br />
Futterrufe und Rufe, um in Kontakt<br />
zu bleiben. Diese könnten der Situation<br />
angepasst werden. Anders als wir Menschen<br />
können Tiere jedoch nicht neue<br />
Wörter schöpfen. «Unsere Sprache ist viel<br />
produktiver und kreativer», sagt UZH-<br />
Verhaltensbiologe Simon Townsend, «im<br />
Englischen beispielsweise gibt es 40 Phoneme,<br />
also Laute, und wir können diese zu<br />
mehr als 200 000 Wörtern kombinieren.»<br />
Von älteren Tieren lernen<br />
Schliesslich lernen wir Sprache, indem wir<br />
imitieren, was wir hören, womit wir beim<br />
vierten grossen I wären. Später, wenn wir<br />
lesen und schreiben lernen, auch was wir<br />
sehen. Damit sind wir auf der «anderen<br />
Seite» des Spracherwerbs angelangt, der<br />
Produktion von Sprache. Sprechen und<br />
schreiben lernen wir nach dem Trial- and-<br />
Error-Prinzip, indem wir imitieren, was<br />
wir gehört haben, und unsere Äusserungen<br />
falls nötig korrigieren.<br />
Wie die Sprachforschung bei Tieren<br />
zeigt, lernen beispielsweise auch Affen<br />
oder Erdmännchen dank der Rückmeldung<br />
älterer Tiere, wann welche Rufe verwendet<br />
werden. Wichtig ist: Dieses Lautrepertoire<br />
ist angeboren. Affen und Erdmännchen<br />
sind keine «vocal learners».<br />
Das bedeutet, sie können keine Laute lernen,<br />
die nicht bereits zum Sprachrepertoire<br />
ihrer Art gehören. Das können ausser<br />
dem Menschen noch einige andere Tiere.<br />
Dazu gehören Wale, Seehunde, Seelöwen,<br />
Elefanten und bestimmte Vögel. Sie stehen<br />
uns in dieser Hinsicht näher als unsere<br />
nächsten Verwandten.<br />
Unsere Sprache ist in allen drei Dimensionen<br />
– Struktur, Laute und Inhalt –<br />
viel komplexer als die Tiersprachen, die<br />
jeweils Elemente menschlicher Sprache<br />
hervorgebracht haben. Entsprechend<br />
komplexer und aufwendiger ist es für uns,<br />
die Sprache(n) zu lernen. Das Erstaunliche<br />
dabei ist: Wir können es. Es wird uns in die<br />
Wiege gelegt.<br />
Dieser Text erschien erstmals im UZH Magazin 2021/2.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 37
Fokus: Sprache<br />
Was macht<br />
die Linguistin<br />
in der Klinik?<br />
Kommunikation ist wesentlich in der medizinischen Behandlung.<br />
Ebenso kann eine Erkrankung die Sprache verändern.<br />
Diese und weitere Wechselwirkungen zwischen Sprache und Medizin<br />
erforscht das Kompetenzzentrum Language & Medicine Zurich.<br />
Dr. med. Anke Maatz, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich,<br />
und lic. phil. Yvonne Ilg, Deutsches Seminar UZH<br />
«Wie geht es Ihnen denn heute?» Sprache ist ein wesentliches Element in der medizinischen Behandlung.<br />
Sprache und Medizin haben viele<br />
Schnittstellen [1, 2]: Unsere Sprache<br />
– konkret unser Sprechen,<br />
Hören und Verstehen – ist ein<br />
Medium, in dem sich beispielsweise Pathologien<br />
manifestieren. Sie kann daher<br />
auch als Diagnostikum dienen. Gleichzeitig<br />
gehört es zu den ärztlichen Aufgaben,<br />
die Fähigkeit zu sprechen, zu hören und<br />
zu verstehen zu erhalten oder wiederherzustellen.<br />
Als zentrale Form sozialer Interaktion<br />
ist Sprache zudem Behandlungsmedium<br />
und das ärztliche Gespräch<br />
ein wesentliches Heilmittel. Schliesslich<br />
ist sie sowohl als Fach- als auch als Alltagssprache<br />
unser zentrales Diskursmedium,<br />
das Wissen erschliesst, transportiert<br />
und unsere Wahrnehmung von Gesundheit<br />
und Krankheit sowie des Gesundheitssystems<br />
prägt. Sprache ist in der<br />
Medizin also auf ganz unterschiedliche<br />
Weise relevant. Um sie diagnostisch und<br />
therapeutisch gezielter nutzen zu können,<br />
sind linguistisches Wissen sowie<br />
Methoden zu ihrer Erforschung unerlässlich.<br />
Andersherum kann pathologisch<br />
verändertes oder therapeutisch genutztes<br />
Bild: Adobe Stock<br />
38<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Fokus: Sprache<br />
Sprechen, Hören und Verstehen das Verständnis<br />
der allgemeinen Strukturen und<br />
Funktionsweisen von Sprache vertiefen.<br />
Kommunikation bei Kopfschmerzen<br />
Vor dem Hintergrund dieses Potentials<br />
wurde 2021 an der Universität Zürich das<br />
Kompetenzzentrum Language & Medicine<br />
Zurich gegründet [3] (siehe Box).<br />
Zwei Beispiele für Projekte:<br />
Während Kommunikation im klinischen<br />
Handeln allgemein als wichtig<br />
erachtet wird, wie etwa die häufigen Praxistipps<br />
zu diesem Thema in der Schweizer<br />
Ärztezeitung zeigen [4], ist klinische<br />
Kommunikation in der medizinischen<br />
Forschung und Lehre unterrepräsentiert.<br />
Das Projekt «ComPain – Communication<br />
of Pain in Patients with Headache» [5]<br />
steht an der Schnittstelle von Neurologie,<br />
Psychiatrie und Linguistik. Auf Video<br />
aufgezeichnete Konsultationen in der<br />
Kopfschmerzsprechstunde am Universitätsspital<br />
Zürich werden gemeinsam mit<br />
klinischen Daten analysiert, um diagnostisch<br />
relevante sprachliche Muster sowie<br />
Zusammenhänge von Kommunikation und<br />
Behandlungszufriedenheit zu erkennen.<br />
Sprechen über psychische<br />
Erkrankungen<br />
Im Projekt «Drüber reden! Aber wie?»<br />
(www.drueberreden.ch) sind Betroffene<br />
und Angehörige eingeladen, von ihren<br />
Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen<br />
zu erzählen. Fachpersonen und<br />
Betroffene analysieren anschliessend gemeinsam<br />
die auf Video aufgezeichneten<br />
Gespräche. Der Fokus liegt dabei auf<br />
den kommunikativen Ressourcen der<br />
Teil nehmenden zur Überwindung der<br />
Schwierigkeit, die das Sprechen über psychische<br />
Erkrankungen gerade ausserhalb<br />
des klinischen Kontexts häufig darstellt<br />
[6]. Zudem wird auf Basis dieser Daten<br />
ein Modul zur psychischen Gesundheit<br />
für die Schweizer Datenbank für Gesundheits-<br />
und Krankheitserfahrungen (DIPEx,<br />
www.dipex.ch) erarbeitet.<br />
Ein Kompetenzzentrum für Sprache und Medizin<br />
Das Kompetenzzentrum Language & Medicine Zurich wird von Prof. Dr. Johannnes<br />
Kabatek, Romanisches Seminar, und Prof. Dr. Nathalie Giroud, Arbeitsgruppe «Neurowissenschaften<br />
der Sprache und des Hörens», geleitet. Es dient als Ideenschmiede und<br />
Ort des inter- bzw. transdisziplinären Lernens und vernetzt Klinikerinnen und Kliniker<br />
mit Forschenden insbesondere aus der (Computer-)Linguistik und der Neurowissenschaft.<br />
Forschungskolloquien und Events wie etwa der Language&Medicine-Market<br />
bieten die Möglichkeit, Forschungsprojekte vorzustellen und Kontakte zu knüpfen.<br />
Weiter soll das Zentrum den Austausch zu unterschiedlichen Methoden und Herangehensweisen<br />
fördern und bestehende Ressourcen bündeln und koordinieren.<br />
Markenzeichen ist dabei die konsequent gelebte Interdisziplinarität, also die Kollaboration<br />
zwischen Medizin und Linguistik und den jeweils verwandten Wissenschaften.<br />
Mit der Vergabe von Seed-Grants konnten jüngst mehrere Vorhaben interdisziplinärer<br />
Zusammenarbeit gefördert werden. Thematisch haben sich bisher die folgenden<br />
Bereiche herauskristallisiert:<br />
– Stimm-, Sprech- und Sprachplastizität,<br />
– sprachliche Marker zur Prädiktion von Krankheits- und Therapieverlauf<br />
bei (neuro)psychiatrischen Erkrankungen,<br />
– klinische Kommunikation, einschliesslich der Frage der Mehrsprachigkeit<br />
und der Mundartkommunikation.<br />
Weitere Informationen unter www.language-and-medicine.uzh.ch<br />
Diskussion und Ausblick – oder:<br />
Was bringt’s?<br />
Das «Alltagsgeschäft der Interdisziplinarität»<br />
[7] bedeutet immer auch einen Mehraufwand,<br />
zeitlich und personell. Was also<br />
ist der Nutzen?<br />
Im klinischen Alltag führt der Einbezug<br />
der Sprachwissenschaft zu einer höheren<br />
Achtsamkeit für die verbale und nonverbale<br />
Kommunikation: Wie spreche ich?<br />
Wie spricht mein Gegenüber? Wie sprechen<br />
wir miteinander? Wie benutze ich<br />
Fachsprache? Wie setze ich technische und<br />
digitale Hilfsmittel in der Kommunikation<br />
ein? Die Sprachwissenschaft ermöglicht es,<br />
entsprechende Beobachtungen systematisch<br />
zu erfassen, kommunikative Ressourcen<br />
sichtbar zu machen sowie diese<br />
hinsichtlich ihrer klinischen Wirkung zu<br />
untersuchen und zu verbessern.<br />
Aus Sicht der Sprachwissenschaft bietet<br />
die Zusammenarbeit mit der Medizin<br />
für die Forschung im klinischen Kontext<br />
erst die Möglichkeit, verschiedene Kommunikationsformen,<br />
ihren Kontext sowie<br />
relevante pathologische Phänomene adäquat<br />
zu untersuchen, zu verstehen und<br />
Ergebnisse in die Praxis zurückzuspielen.<br />
Nicht selten führt der medizinische Blickwinkel<br />
dabei zu neuen Fragen und Erkenntnissen,<br />
die für die Erforschung der<br />
menschlichen Kommunikation – auch unabhängig<br />
vom klinischen Kontext – relevant<br />
sind.<br />
Zwar ist die Linguistin in der Klinik –<br />
ausser zum Zweck der Erhebung von Forschungsdaten<br />
– noch nicht Realität, jedoch<br />
will das Kompetenzzentrum die Interdisziplinarität<br />
künftig besonders in der<br />
klinischen Kommunikation nutzen. Es<br />
soll eine Brücke schlagen zwischen Medizin<br />
und Geisteswissenschaft, zwischen<br />
Grundlagenforschung und klinischer Anwendung,<br />
um Diagnostik und Therapie<br />
durch die Erforschung sprachbezogener<br />
Phänomene im medizinischen Kontext zu<br />
verbessern.<br />
Literatur<br />
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Handbuch Sprache und Wissen. Berlin,<br />
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Einleitung. In: Linguistik und Medizin.<br />
Sprachwissenschaftliche Zugänge und<br />
interdisziplinäre Perspektiven, hrsg. v.<br />
dens. Berlin, Boston: De Gruyter. S. 1–10.<br />
https://doi.org/10.1515/9783110688696.<br />
[3] Ilg Y, Maatz A (2022):<br />
Leichter gesagt als getan? Ein Bericht aus<br />
der interdisziplinären Praxis zwischen<br />
Linguistik und Medizin. Scientia Poetica<br />
26(1): S. 245–262.<br />
[4] Langewitz W (<strong>2023</strong>):<br />
Ich sage Katze, aber Du verstehst Schwein.<br />
Schweizer Ärztezeitung <strong>2023</strong>;104(22):<br />
S. 80–81.<br />
[5] Eicher E, Räz S, Stucki P, Röthlin<br />
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Communication of Pain in Patients with<br />
Headache. Clin. Transl. Neurosci. 7, 14.<br />
https://doi.org/10.3390/ctn7020014.<br />
[6] Maatz A, Ilg Y, Wiemer H (2022):<br />
Einfach drüber reden? Eine interdisziplinäre<br />
Untersuchung zu Schwierigkeiten und<br />
Ressourcen beim Reden über Erfahrungen<br />
psychischer Erkrankung. Sozialpsychiatrische<br />
Informationen 3: S. 6–12.<br />
[7] Gülich, E (2006): Das Alltagsgeschäft<br />
der Interdisziplinarität. Deutsche<br />
Sprache 34(1-2): S. 6–17.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 39
Perspektiven<br />
Aktuelles zur Adipositas:<br />
Aufbruchsstimmung!? – Die schöne neue Pharmakotherapie<br />
Therapie statt<br />
Chirurgie?<br />
Neue Medikamente versprechen bei Menschen mit Adipositas eine<br />
Gewichtsabnahme, die den Erfolgen chirurgischer Eingriffe nahekommt.<br />
Eine schöne Nachricht – gäbe es da nicht zwei Haken.<br />
Dr. med. Susanne Maurer, Adimed – Zentrum für Adipositas- und Stoffwechselmedizin Winterthur GmbH<br />
Es herrscht Aufbruchsstimmung<br />
bei uns Adiposiologen. Und<br />
nein: Wir sind keine «Dickenärzte»!<br />
Wir haben in den letzten<br />
zehn Jahren viel gelernt über die<br />
Ursachen und die Pathophysiologie der<br />
Erkrankung Adipositas. Dies erzeugt peu<br />
à peu nicht nur bei unseren Patientinnen<br />
und Patienten, sondern auch bei uns Spezialisten<br />
eine Entdiskriminierung unserer<br />
eigenen Arbeit und Selbstwert für unsere<br />
Daseinsberechtigung.<br />
Und ja: Endlich könnten wir Adipositas<br />
auch pharmakologisch und nicht nur<br />
chirurgisch behandeln, wenn da nicht –<br />
aber eins nach dem anderen …<br />
Gewicht ist nur ein Symptom<br />
In den letzten zwei Jahren hat sich in<br />
meinem Kopf eine andere Definition<br />
des Begriffes Adipositas als Erkrankung<br />
ge bildet: Adipositas ist eine multifaktoriell<br />
bedingte, polygenetisch-umweltgetriggerte<br />
Störung der Energiebilanzregulation<br />
mit dem Hauptsymptom eines<br />
Bilder: Adobe Stock<br />
40<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Perspektiven<br />
erhöhten und/oder fehlverteilten Fettgewebes,<br />
welche zu Lebensqualitäts- und<br />
Lebenszeitreduktion infolge schwerwiegender<br />
metabolischer, mechanischer,<br />
mentaler und sozial monetärer Begleiterkrankungen<br />
führt.<br />
Gewicht ist dabei nur ein Symptom,<br />
wie beispielsweise Fieber ein Symptom<br />
eines Infektes, aber auch eines Schädelhirntraumas<br />
sein kann. Gewicht sollte<br />
ausschliesslich als Screening- und nicht<br />
als Behandlungsindikationskriterium genutzt<br />
werden.<br />
Vielfältige Ursachen<br />
Biologische Faktoren, wie z. B. die Genetik,<br />
sind bedeutend für die Entstehung<br />
von Adipositas: So korreliert der BMI von<br />
Menschen, die im ersten Lebensjahr adoptiert<br />
wurden, am ehesten mit dem BMI der<br />
leiblichen Mutter. Eine Insulinresistenz<br />
und hormonelle Aspekte der Hunger-Sättigungs-Regulation<br />
können sehr wohl genetisch<br />
disponiert sein, aber Gene benötigen<br />
die Anschaltung/Abschaltung durch<br />
die Umwelt, um Effekte auf Proteinebene<br />
zu erzeugen.<br />
Dabei kann z. B. Mikroplastik in der<br />
Nahrungskette im Fettgewebe eingelagert<br />
werden und den Fettabbau infolge von<br />
Entzündung erschweren. Persistant Organic<br />
Pollutants (z. B. Pestizide oder Pflanzenschutzmittel)<br />
können endokrine Disruptoren<br />
sein und in die Regulation des<br />
Stoffwechsels eingreifen. Auch eine verminderte<br />
Thermoregulation infolge gut<br />
geheizter Räume kann zur Adipositasgenese<br />
beitragen.<br />
Menschen mit niedrigerem Einkommen<br />
sind schwerer; möglicherweise nicht<br />
nur, weil auch ein niedrigerer Bildungsgrad<br />
mit Adipositas korreliert, sondern –<br />
wie eine aktuelle Studie aus Deutschland<br />
zeigt – auch, weil eine höhere Dichte von<br />
Fastfood-Restaurants in diesen Wohngegenden<br />
eruiert werden konnte.<br />
Menschen, die im Schichtsystem arbeiten<br />
und Disruptionen ihres Schlafes<br />
ertragen müssen, haben mehr Gewicht.<br />
Stress ist eine mittlerweile klar erkannte<br />
Ursache für Adipositas. Und all diese Aspekte<br />
interagieren miteinander.<br />
VERHALTEN<br />
Essen<br />
Trinken<br />
Sport<br />
GESUND-<br />
HEITSFAKTOR<br />
Schlaf<br />
Stress<br />
Hygiene<br />
SOZIO-<br />
DEMO-<br />
GRAPHIE<br />
Ethnie<br />
Migration<br />
LEBENSVER-<br />
HÄLTNIS<br />
Supermarkt<br />
Freizeit<br />
Pharmakotherapie wirkt auf<br />
verschiedenen Ebenen<br />
Seit dem Jahr 2017 sind in der Schweiz<br />
GLP-1-Rezeptor-Agonisten zur Behandlung<br />
der Adipositas zugelassen. GLP-1 ist<br />
ein körpereigenes Hormon, welches von<br />
spezialisierten Darmzellen insbesondere<br />
nach kohlenhydratreicher Nahrung ausgeschüttet<br />
wird. Nach wenigen Minuten<br />
wird das Peptid durch die Dipeptidylpeptidase<br />
(DDP) 4 im Blut deaktiviert.<br />
GLP-1-Rezeptor-Agonisten (RA) sind Analoga<br />
dieses Polypeptides, welche nicht<br />
durch DPP 4 deaktiviert werden können<br />
und durch die Albuminbindung lange in<br />
der Blutbahn zirkulieren. Die Therapie erfolgt<br />
durch eine tägliche/wöchentliche<br />
BIOLOGIE<br />
Genetik<br />
Stoffwechsel<br />
Hormone<br />
GRÜNDE<br />
FÜR<br />
ADIPOSITAS<br />
UMWELT<br />
Raumklimatisierung<br />
Mikroplastik<br />
ÖKONOMIE<br />
Einkommen<br />
Bildung<br />
SOZIALER<br />
FAKTOR<br />
Partnerschaft<br />
Beziehung<br />
PSYCHE<br />
Depressionen<br />
ADHS, Emotionsregulation<br />
Resilienz<br />
subkutane Injektion, an oral einsetzbaren<br />
Molekülderivaten wird geforscht.<br />
In der Schweiz sind aktuell Saxenda®<br />
(Liraglutid) und Wegovy® (Semaglutid) zugelassen,<br />
wobei Wegovy® hier momentan<br />
noch nicht verfügbar ist. Eine dritte Substanz<br />
mit der Bezeichnung Tirzepatid befindet<br />
sich in einer grossen Phase-3-Studie.<br />
Tirzepatid wirkt sowohl agonistisch am<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 41
Perspektiven<br />
GLP-1-Rezeptor als auch am Rezeptor des<br />
glukoseabhängigen insulinotropen Polypeptids<br />
(GIP) und ist somit ein Bi-Agonist.<br />
Unter dem Namen Mounjaro® wurde die<br />
Substanz von Swissmedic bereits für die<br />
Therapie des DmT2 zugelassen und wird<br />
dafür wohl Anfang 2024 verfügbar sein.<br />
Diese Medikamente erzeugen ihre<br />
Wirkung am GLP-1-Rezeptor: Im ZNS<br />
kommt es zur Sättigungssteigerung, zur<br />
Reduktion der Nahrungsaufnahme und<br />
des Körpergewichtes sowie zur Vermehrung<br />
der Übelkeit. An der Bauchspeicheldrüse<br />
resultieren eine Erhöhung der nahrungsabhängigen<br />
Insulinwirkung, eine<br />
Modifikation der Insulinaktion und eine<br />
Verminderung der Glucagonausschüttung.<br />
Am Magen-Darm-Trakt wird die Propulsion<br />
der Magen-Darm-Passage reduziert.<br />
Zudem werden am GIP-Rezeptor im<br />
ZNS Nahrungsaufnahme und Körpergewicht,<br />
aber auch Übelkeit reduziert sowie<br />
der Energieverbrauch erhöht. Am Pankreas<br />
werden die Insulinsekretion und die glukoseabhängige<br />
Glucagonsekretion gesteigert.<br />
Am subkutanen Fettgewebe erfolgen<br />
eine Verbesserung von Insulinsensitivität,<br />
Lipidpufferkapazität, Blutfluss und Fettspeicherkapazität<br />
sowie eine Reduktion<br />
von proinflammatorischen Prozessen.<br />
Wirkung indirekter Effekte<br />
Zusätzlich kommen auch indirekte Effekte<br />
zum Tragen: Beim GLP-1-Rezeptor erfolgt<br />
systemisch eine Verminderung der<br />
Hyperglykämie, an der Leber eine Steigerung<br />
der Insulinsensitivität sowie eine<br />
Reduktion der Glukoseproduktion und<br />
der ektopischen Lipidakkumulation.<br />
Beim GIP-Rezeptor erfolgen systemisch<br />
eine Verminderung der Hyperglykämie<br />
und eine Verbesserung der<br />
nahrungs abhängigen Thermogenese. Am<br />
Skelettmuskel hat die Therapie eine<br />
Verbes serung der Insulinsensitivität und<br />
der metabolischen Flexibilität sowie eine<br />
Verminderung der ektopischen Lipidakkumulation<br />
zur Folge.<br />
Noch effizientere Substanzen<br />
in der Pipeline<br />
Die durchschnittliche Gewichtsabnahme<br />
unter Liraglutid beträgt nach einem Jahr<br />
ca. zehn Prozent. Allerdings schwächt sich<br />
die Wirkung bei fortgesetzter Therapie etwas<br />
ab. Bitte nicht vergessen: Es handelt<br />
sich um eine polygenetische, sehr komplexe<br />
Erkrankung, und wir setzen mit dieser<br />
Therapie an einem einzigen Rezeptor<br />
im System an. Nach drei Jahren resultiert<br />
bei fortgesetzter Therapie eine Gewichtsabnahme<br />
von 7,5 Prozent. Diese Gewichtsabnahme<br />
reicht aus medizinischer Sicht<br />
bei 80 Prozent unserer Patientinnen und<br />
Patienten, um Gesundheit und Lebensqualität<br />
zu verbessern.<br />
Semaglutid ist dabei effizienter mit<br />
einem mittleren Gewichtsverlust von<br />
15 Prozent nach zwei Jahren. Tirzepatid<br />
wird an der 20-Prozent-Marke kratzen, damit<br />
kommen wir langsam in die Regionen<br />
der Wirkung einer chirurgischen Therapie<br />
der Adipositas.<br />
Und so unglaublich es klingt: Derzeit<br />
befinden sich mindestens noch 20 weitere<br />
Substanzen in der Pipeline, die eine Multirezeptor-Wirkung<br />
entfalten können. Diese<br />
neuen Medikamente werden uns in den<br />
nächsten zehn bis fünfzehn Jahren tatsächlich<br />
auf Augenhöhe mit der Chirurgie<br />
bringen.<br />
Zwei grosse Fragezeichen<br />
Bei aller Euphorie gibt es jedoch zwei<br />
grosse medizinische Fragezeichen: Welche<br />
Substanz soll bei welchen Patientinnen<br />
und Patienten zum Einsatz kommen?<br />
Und wie soll das bezahlt werden? Die<br />
42<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Perspektiven<br />
Therapie mit Liraglutid wird von den<br />
Kran ken kassen unter bestimmten Bedingungen<br />
während dreier Jahre bezahlt.<br />
Die Limi tation ist alles andere als befriedigend<br />
geregelt. 15 Prozent der erwachsenen<br />
Schweizerinnen und Schweizer haben<br />
eine Adipositas, aber nicht alle benötigen<br />
eine Behandlung. Viele Betroffene fordern<br />
diese jedoch ein. Wen genau sollen wir also<br />
behandeln? Wir wissen schon jetzt, dass<br />
wir chronisch behandeln müssen. Denn<br />
wenn wir die Therapie beenden, nehmen<br />
Betroffene nicht selten – wie dies auch bei<br />
anderen Gewichtsreduktionsstrategien oft<br />
der Fall ist – über das Startniveau hinaus<br />
an Gewicht zu.<br />
Lifestyle vs. Krankheit<br />
Wahrscheinlich haben auch Sie den unglaublichen<br />
Hype nach der Twitter-Aktion<br />
zum Semaglutid von Elon Musk mitbekommen.<br />
Das Resultat sehe ich täglich:<br />
Wartezeiten von sechs bis acht Monaten<br />
für neue Patientinnen und Patienten in<br />
unserem Zentrum; aktuelle Therapieunterbrüche<br />
bei der Hälfte meiner Patienten,<br />
da Saxenda® nicht lieferbar ist;<br />
der Ausverkauf von Ozempic®, was nicht<br />
lustig ist für unsere DmT2-Patienten;<br />
übergriffige Aktivitäten von notleidenden<br />
Patienten, die mich über Sicherheitsmassnahmen<br />
für meine Mitarbeitenden nachdenken<br />
lassen – dies alles ist dabei. Soll es<br />
wirklich Ziel sein, dass reiche Menschen<br />
eine hervorragende personalisierte Ernährungs-<br />
und Bewegungsbegleitung sowie<br />
Pharmakotherapie erhalten und arme<br />
Menschen operiert werden?<br />
Wir müssen uns als Ärztinnen und<br />
Ärzte, Betroffene sowie als Gesellschaft<br />
grundsätzlich Gedanken über diese bulimische<br />
Ökonomie machen: Wir erzeugen<br />
durch den Konsum von Produkten Probleme,<br />
welche wir durch die Produktion anderer<br />
Produkte und deren Konsum zu<br />
mindern wünschen.<br />
Literatur<br />
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<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 43
Perspektiven<br />
Aus der «Therapeutischen Umschau»* – Übersichtsarbeit<br />
Tipps und Tricks<br />
in der Behandlung offener<br />
Handverletzungen in<br />
der Notfallpraxis<br />
Reto Fuhrer, Bettina Juon Personeni und Esther Vögelin,<br />
Universitätsklinik für Plastische- und Handchirurgie, Inselspital Bern<br />
Zu den behandelten Themen gehören<br />
einerseits die vorbereitenden<br />
Massnahmen wie Lokalanästhesie,<br />
die Möglichkeit der<br />
zusätzlichen Fingerblutleere, -sperre oder<br />
der medikamentösen Vasokonstriktion<br />
mit Adrenalin, andererseits dann die Diagnostik<br />
und Behandlung von subungualen<br />
Hämatomen, Luxationen der Nagelplatte<br />
sowie Verletzungen des Nagelbettes.<br />
Aufgezeigt werden sollen zudem die<br />
Anwendungsbereiche und insbesondere<br />
auch die Grenzen des Semiokklusivverbandes<br />
in der Behandlung der Fin ger kuppenamputationen.<br />
Als letztes folgen dann<br />
noch ein paar Ratschläge zur Behandlung<br />
von Infekten, Bisswunden und Verbrennungen.<br />
lediglich als subkutanes Depot möglich.<br />
Falls proximal des A1-Ringbandes infiltriert,<br />
reichen im Gegensatz zur klassischen<br />
Infiltration von dorsal 1 – 2 ml des<br />
Anästhetikums, um sowohl die palmaren,<br />
als auch die dorsalen Anteile des Fingers<br />
suffizient zu betäuben. Zudem sind<br />
Nachinjek tionen signifikant weniger häufig<br />
notwendig und der dorsale venöse Abfluss<br />
wird nicht behindert [2].<br />
Vor Durchführung der Lokalanästhesie<br />
erfolgt zwingend die Prüfung und Dokumentation<br />
der Oberflächensensibi lität<br />
mittels Erhebung der Zweipunktediskrimination.<br />
Die Wahl des Lokalanästhetikums<br />
hängt von der erwünschten Wirkdauer ab.<br />
Lidocain wird bereits nach ca. zwei Stunden<br />
seine Wirkung verlieren, wohingegen<br />
die Anästhesie mit Mepivacain bis vier,<br />
Bupivacain bis zu acht und Ropivacain sogar<br />
bis zu zwölf Stunden dauern kann.<br />
Durch Pufferung des pH-Wertes mittels<br />
Beimengung von Natrium-Bicarbonat<br />
8.4 % (Verhältnis 1:10) kann das Brennen<br />
beim Injizieren des Lokalanästhetikums<br />
Lokalanästhesie<br />
Viele Eingriffe aus dem Gebiet der Handchirurgie<br />
wie ein fache Wundversorgungen,<br />
Sehnennähte, Knochenbrüche aber<br />
auch komplexere Rekonstruktionen können<br />
in örtlicher Betäubung und im ambulanten<br />
Setting durchgeführt werden.<br />
Die Leitungsanästhesie am Finger erfolgt<br />
klassischerweise von dorsal gemäss<br />
Oberst durch zwei Punktionsstellen [1].<br />
Alternativ ist die Injektion des Lokalanästhetikums<br />
über einen singulären Einstich<br />
palmar als sogenannte intrathekale Anästhesie<br />
in die Beugesehnenscheide oder<br />
* Der Artikel erschien ursprünglich in der<br />
«Therapeutischen Umschau» (2020), 77(5),<br />
199–206.<br />
Abbildung 1. Die singuläre subkutane Injektion zur Fingerleitungsanästhesie erfolgt proximal des<br />
A1-Ringbandes mit ca. 1 – 2 ml des Anästhetikums.<br />
44<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Perspektiven<br />
vermindert werden. Ausnahme: Die Alkanisierung<br />
von Ropivacain wird im klinischen<br />
Alltag nicht empfohlen.<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Die Leitungsanästhesie erfolgt<br />
klassisch nach Oberst oder mittels<br />
singulärer palmarer Injektion.<br />
– Mögliche kurzwirksame Anästhetika<br />
sind Lidocain und<br />
Mepivacain; Bupivacain und<br />
Ropivacain sind langwirksam.<br />
– Durch Pufferung des pH-Wertes<br />
mittels Beimengung von<br />
Natrium Bicarbonat 8,4 %<br />
(Verhältnis 1:10) kann das<br />
Brennen beim Injizieren<br />
des Lokalanästhetikums<br />
vermindert werden.<br />
Fingerblutleere, Fingerblutsperre<br />
oder medikamentöse<br />
Vasokon striktion?<br />
Zur korrekten Reinigung, Beurteilung und<br />
chirurgischen Versorgung einer frischen<br />
Fingerverletzung ist nebst der suffizienten<br />
Anästhesie eine Blutsperre oder -leere<br />
(entspricht der Blutsperre inklusive venöser<br />
Auswickelung des Operationsgebietes)<br />
hilfreich. Zum Erreichen der Blutleere<br />
kann der Kleinfinger eines sterilen Handschuhs<br />
von distal nach proximal über den<br />
verletzten Finger gewickelt werden. Die<br />
Dauer der Blutsperre wird so kurz wie<br />
möglich gewählt und überschreitet im<br />
Praxisalltag 60 Minuten nicht zur Vermeidung<br />
von Kompressionsschäden an den<br />
peripheren Nerven. Die venöse Auswickelung<br />
vor Anlage der Fingerblutsperre ist<br />
bei Infekten zur Vermeidung von Keimverschleppung<br />
kontraindiziert. Dann soll<br />
lediglich ein kräftiger Gummischlauch<br />
um die Grundphalanx angelegt und mittels<br />
Klemme fixiert werden.<br />
Auch mittels medikamentöser Vasokonstriktion<br />
kann eine gute lokale Blutstillung<br />
und damit eine gute Übersicht<br />
erreicht werden. Diese Methode wird als<br />
WALANT-Anästhesie bezeichnet. Das englische<br />
Akronym steht für «wide-awake<br />
local anesthesia no tourniquet». Im Rahmen<br />
dieser von Donald Lalonde 2003<br />
eingeführten Methode wird nebst dem<br />
Lokal anästhetikum Epinephrin appliziert,<br />
um eine Vasokonstriktion zur Blutstillung<br />
ohne Blutsperre zu erreichen [3].<br />
Trotz Fallberichten über Fingernekrosen<br />
Abbildung 2. Fingerblutleere mit Fingerling eines Handschuhes.<br />
Abbildung 3. CAVE Falls immer möglich wird<br />
der zur Blutsperre verwendete Gummischlauch<br />
mittels Klemme oder Ähnlichem markiert, um<br />
ein akzidentelles Belassen der Sperre und damit<br />
eine Fingernekrose zu vermeiden.<br />
aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />
konnten mehrere aktuelle Studien<br />
aufzeigen, dass die Verwendung von<br />
Epinephrin zur Vasokonstriktion in der<br />
Handchirurgie auch an Fingern sicher<br />
eingesetzt werden kann [3].<br />
Abbildung 4. Anlage einer Fingerblutsperre<br />
mittels Gummischlauches und Markierung<br />
mittels Klemme.<br />
Abbildung 5. Blutleeres Operationsfeld nach<br />
Infiltrationsanästhesie nach WALANT. Die<br />
Zeitspanne bis zum Erreichen eines blutungsfreien<br />
Operationsfeldes beträgt ca. 30 Minuten.<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Fingerblutsperre mittels eines<br />
Gummischlauches, Fingerblutleere<br />
mittels eines Fingerlings<br />
von einem sterilen Handschuh.<br />
– Keine venöse Auswickelung bei<br />
Infekten.<br />
– Dauer der Fingerblutleere so<br />
kurz wie möglich, jedoch nicht<br />
über 60 Minuten.<br />
– Die medikamentöse Vasokonstriktion<br />
mittels Epinephrin ist<br />
auch an den Fingern möglich. Bei<br />
Hand- oder Fingerverletzungen<br />
mit potenziell bereits Trauma<br />
bedingter Ischämie soll aber<br />
weiterhin keine zusätzliche medikamentöse<br />
Vasokonstriktion<br />
verwendet werden.<br />
Hierzu wird dem Lokalanästhetikum<br />
Adrenalin der Konzentration 1 mg / ml im<br />
Verhältnis von maximal 1:100 000 beigemengt.<br />
Als absolute Kontraindikation<br />
gelten: bekannte Allergie gegen den Wirkstoff,<br />
Engwin kelglaukom, Myasthenia<br />
gravis, Phäochromozytom. Als relative<br />
Kontraindi kationen müssen Leberfunktionsstörungen,<br />
Herzrhythmusstörungen,<br />
Infekte im Fingerbereich beachtet werden.<br />
Bei Hand- oder Fingerverletzungen<br />
mit potenziell bereits Trauma bedingter<br />
Minderdurchblutung verwenden wir vorsichtshalber<br />
keine zusätzliche medikamentöse<br />
Vasokonstriktion. Wichtig ist,<br />
dass es sich bei dieser Methode um eine<br />
Infiltrationsanästhesie und nicht um eine<br />
Nervenblock anästhesie handelt.<br />
Frische Verletzungen am<br />
Fingerendglied<br />
Das subunguale Hämatom<br />
Subunguale Hämatome entstehen meist<br />
durch Quetschung der Endphalanx. Zum<br />
Ausschluss einer ossären Läsion erfolgt<br />
eine konventionelle Röntgenaufnahme in<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 45
Perspektiven<br />
Abbildung 6. Subunguales Hämatom ohne<br />
Ablösung der Nagelplatte mit Suffusion des<br />
proximalen Nagelwalles.<br />
zwei Ebenen. Durch Trepanation der Nagelplatte<br />
zum Beispiel mittels Kanüle,<br />
Elektrokauter oder erhitzter Büroklammer<br />
kann das Hämatom zur Schmerzbehandlung<br />
entlastet werden. Die Perforation<br />
darf dabei nur durch die Nagelplatte<br />
erfolgen und nicht im Bereich der Lunula,<br />
um die germinative Nagelmatrix nicht zu<br />
verletzen.<br />
Bei grossen Hämatomen kann jeweils<br />
auch eine vollständige Ablösung der Nagelplatte<br />
resultieren. Dann soll die Nagelmatrix<br />
inspiziert, Läsionen gegebenenfalls<br />
adaptiv versorgt und – falls vorhanden –<br />
der originäre Nagel oder ein Kunstnagel<br />
nach Trepanation wieder angebracht und<br />
mittels Matratzennaht fixiert werden.<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Röntgenbildgebung in zwei<br />
Ebenen zum Ausschluss einer<br />
Fraktur.<br />
– Trepanation distal der Lunula<br />
mittels Kanüle, Elektrokauter<br />
oder erhitzter Büroklammer.<br />
Abbildung 7. Aus 10er Einmalspritze zugeschnittene<br />
Nagelplatte.<br />
Luxation der Nagelplatte sowie<br />
Läsion des Nagelbettes<br />
Bei luxierten Nägeln muss zwingend radiologisch<br />
eine Fraktur, welche in 50 % der Fälle<br />
vorliegt, ausgeschlossen werden [4]. Bei<br />
Kindern erfolgt dadurch zudem der Ausschluss<br />
einer dislozierten Epiphysenfraktur<br />
mit assoziierter Nagelbettläsion. Die<br />
Behandlung dieser als Seymour-Fraktur<br />
bezeichneten Entität ist immer operativ,<br />
um interponiertes Gewebe zu entfernen,<br />
die Fraktur anatomisch zu reponieren und<br />
die Läsion des Nagelbettes zu versorgen.<br />
Bei intaktem Nagelbett wird die Nagelplatte<br />
gereinigt, in die Nageltasche reponiert<br />
und mittels Annaht mit nicht resorbierbarem<br />
Faden der Stärke 4 – 0 fixiert.<br />
Diese Haltenaht wird dann nach ca. vier<br />
Wochen entfernt, normalerweise bleibt<br />
der Nagel noch einige Zeit adhärent. Das<br />
komplette Nachwachsen eines Fingernagels<br />
benötigt beim Erwachsenen jedoch<br />
ein Jahr, bis dahin können temporäre<br />
Nageldeformitäten verbleiben. Kann der<br />
Eigennagel nicht mehr verwendet werden,<br />
stehen kommerziell erhältliche Kunstnägel<br />
zur Verfügung. Alternativ kann aus<br />
der Hülle einer 10 ml Einmalspritze ein<br />
passender Nagel zugeschnitten werden.<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Radiologische Bildgebung<br />
zum Ausschluss einer Fraktur –<br />
beim Kind insbesondere der<br />
Seymour-Fraktur – empfohlen.<br />
– Reposition des Nagels zum<br />
Schutz des Nagelbettes notwendig.<br />
– Nagelbettläsionen sollten unter<br />
Zuhilfenahme einer Lupenbrillenvergrösserung<br />
mit feinem<br />
resorbierbarem Nahtmaterial<br />
adaptiert werden.<br />
– Gewebsdefekte können durch<br />
Verkürzung oder Verschmälerung,<br />
alternativ durch autologes<br />
Nagelbettgewebe beispielsweise<br />
einer Zehe ersetzt werden.<br />
Bei Schädigung oder Defekten des<br />
Nagelbettes – sowohl der germinativen<br />
(proximaler Anteil), als auch der sterilen<br />
(distaler Anteil) Nagelmatrix – muss dieses<br />
anatomisch adaptiert oder rekonstruiert<br />
werden. Dies erfolgt unter Zuhilfenahme<br />
einer Lupenvergrösserung sowie<br />
in Fingerblutleere (mechanisch oder als<br />
medikamentöse Vasokon striktion) mittels<br />
eines resorbierbaren Fadens der Stärke<br />
6 – 0. Wenn die Läsion des Nagelbettes in<br />
der proximalen Nageltasche ausläuft, sollte<br />
der proximale Nagelwall einseitig radiär<br />
Abbildung 8. Endphalanxfraktur mit Fingernagelluxation und Nagelbettverletzung. 1) Nicht<br />
reponierte Nagelplatte. 2) Beurteilung der Nagelbettverletzung in Lokalanästhesie und Fingerblutleere,<br />
nach Entfernung der Nagelplatte. 3) Frakturfixation mit Kirschner-Draht, Nagelbettnaht mit<br />
Faden 6 – 0. 4) Korrekte Nagelplattenreposition und Fixation der Nagelplatte.<br />
46<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Perspektiven<br />
Abbildung 9. Fingerkuppendefekt mit freiliegendem Knochen, therapiert mittels Semiokklusivverband<br />
über 9 Wochen. Im Endergebnis funktionell zufriedenstellend bei leicht verkürztem Nagelbett.<br />
inzidiert, angehoben und so dann die Läsion<br />
der germinativen Nagelmatrix korrekt<br />
versorgt werden können.<br />
Fingerkuppendefekte – der<br />
Semiokklusivverband<br />
In der Therapie der Fingerkuppendefekte<br />
gewinnt die Behandlung mittels Semiokklusivverband<br />
zunehmende Beliebtheit<br />
und ersetzt in vielen Bereichen die chirurgische<br />
Lappenplastik [5, 6]. Jedoch gilt es,<br />
einige Grenzen der Methode zu beachten.<br />
Rein subkutan verlaufende Kuppendefekte<br />
im Pulpa bereich ohne Beteiligung<br />
von Hyponychialgewebe eignen sich sehr<br />
gut für die Semiokklusivverbandtherapie.<br />
Auch freiliegender Knochen ist keine Kontraindikation.<br />
Einzelne lose und potenziell<br />
irritierende Knochensplitter können<br />
noch entfernt, spitze distale Enden und<br />
deutliche Überstände der Endphalanx<br />
über das Weichteilniveau mit dem Luer<br />
abgeflacht werden.<br />
Sind entweder die Endphalanx<br />
langstreckig ossär oder Sehnen und<br />
Nerven freiliegend, ist die lokale Lappenplastik<br />
indiziert. Im Falle, dass eine Verletzung<br />
des Hyponychialgewebes oder<br />
ein grosser Knochendefekt vorliegt, kann<br />
durch die relative Überlänge des Nagelbettes<br />
eine Krallennagelfehlbildung (Onychogrypose)<br />
resultieren. Bei dieser Verletzung<br />
empfiehlt sich deshalb entweder<br />
die Kürzung des Nagelbettes vor Beginn<br />
der Semiokklusivverbandtherapie oder<br />
aber erneut die Lappenplastik mit Pulpaaufbau.<br />
Verlaufen Amputationen durch die<br />
Lunula, muss ent weder eine Rekonstruktion<br />
der germinativen Matrix oder aber<br />
dann eine komplette Entfernung der Nagelwachstumszone<br />
operativ erfolgen. Bei<br />
gelenksnahen Amputa tionen mit oder<br />
ohne Desinsertion des Streck- und Beugesehnenapparates<br />
ist eine mikrochirurgische<br />
Replantation technisch möglich.<br />
Als Folie eignet sich insbesondere<br />
OpSite ® -Folie. Die Verbandswechsel werden<br />
einmal wöchentlich terminiert, ohne<br />
dass dabei eine Desinfektion oder ein<br />
Débridement an der Amputationsstelle<br />
durchgeführt werden soll. Die Haut proximal<br />
der Amputationshöhe wird gereinigt,<br />
bei Mazeration getrocknet und mit Wundbenzin<br />
oder Cavilon ® zur erneuten Anlage<br />
der Folie vorbereitet. Über die Folie kann<br />
ein Fingerverband zum Schutz sowie eine<br />
Schicht Aktivkohle gegen die üble Geruchsentwicklung<br />
angebracht werden.<br />
Die Folie soll möglichst kurz geklebt werden,<br />
um die Beweglichkeit im PIP-Gelenk<br />
erhalten zu können. Am distalen freien<br />
Ende muss ein Reservoir verbleiben, damit<br />
sich dort das Sekret ansammeln kann<br />
und sich durch zu enges Kleben der Folie<br />
nicht eine Deforma tion der Weichteile<br />
entwickelt.<br />
Infekte werden selbst bei freiliegendem<br />
Knochen nicht beobachtet. Auch das<br />
Vorliegen eines Diabetes mellitus ist kein<br />
Risikofaktor für eine Infektion und damit<br />
keine Kontraindikation für diese Behandlungsform.<br />
Bei lokaler Ischämie, bei Sklerodermie<br />
oder peripherer arterieller Verschlusskrankheit<br />
ist eine langsamer fortschreitende<br />
Regeneration zu erwarten.<br />
Das Ende der Semiokklusivverbandstherapie<br />
ist dann erreicht, wenn durch<br />
ausreichende Epithelialisierung die Sekretion<br />
sistiert, die Folie somit allseits haften<br />
bleibt und das Niveau des Regenerates<br />
erneut eine kongruente Pulpakontur bildet.<br />
Üblicherweise sprechen wir hier von<br />
vier bis neun Wochen.<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Bei palmarbetonten Kuppendefekten<br />
mit exponiertem Sehnen-,<br />
Nerven- und grossflächigem<br />
Knochengewebe erfolgt eine<br />
Defektdeckung mittels Lappenplastik.<br />
– Läsionen des Hyponychialgewebes<br />
benötigen entweder eine<br />
Rückkürzung des Nagelbettes<br />
oder aber eine Lappenplastik,<br />
ebenso sollten Amputationen mit<br />
Läsion der germinativen Nagelmatrix<br />
dem Spezialisten zur<br />
Rekonstruktion überwiesen<br />
werden.<br />
– Die meisten anderen Fingerkuppendefekte<br />
können mittels<br />
einmal wöchentlich neu angelegtem<br />
Semiokklusivverband<br />
(OpSite®-Folie) innerhalb von<br />
ca. vier bis neun Wochen zur<br />
ästhetisch und funktionell<br />
zufriedenstellenden Regeneration<br />
gebracht werden.<br />
Infekte im Nagelbereich<br />
Akute Weichteilinfekte entlang des Nagelkomplexes<br />
werden als Paronychie bezeichnet<br />
und sind auf Grund der exponierten<br />
Lage sehr häufig [7]. Die Keimflora<br />
setzt sich meist aus Staphylokokken,<br />
Streptokokken oder der menschlichen<br />
Mundflora zusammen. Bei chronischen<br />
Paronychien muss immer an eine Pilzinfektion<br />
oder eine Infektion mit Mykobakterien<br />
gedacht und eine konventionelle<br />
Bildgebung zum Ausschluss einer<br />
Osteomyelitis oder eines verbliebenen<br />
Fremdkörpers durchgeführt werden.<br />
Auch ein Tumor kann eine Rötung und<br />
Schwellung verursachen und ist bei chronischen<br />
Verläufen mittels Biopsie auszuschliessen.<br />
Zusätzlich zur klinischen Untersuchung<br />
und Röntgenbildgebung kann ein<br />
Ultraschall die Ausbreitung nach proximal<br />
widerspiegeln, wohingegen laborchemische<br />
Parameter wie CRP und Leukozyten<br />
mit dem Ausmass des Infektes nicht<br />
korrelieren.<br />
Erste Symptome sind pochender<br />
Schmerz, ausgeprägte Berührungsempfindlichkeit<br />
sowie lokale Rötung. In diesem<br />
Stadium kann eine konservative<br />
Therapie erfolgen. Zur Verhinderung einer<br />
Abszessbildung wird das Eponychium vorsichtig<br />
mittels Elevatorium oder Skalpell<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 47
Perspektiven<br />
Abbildung 10. Inzision bei chronischer<br />
Paronychie senkrecht zur Eponychial- oder<br />
Paronychialfalte wie in 1) – nicht wie in 2) –<br />
dargestellt.<br />
von der Nagelplatte gelöst und der seitliche<br />
Nagel angehoben. Die anschliessenden<br />
täglichen Fingerbäder in farb loser,<br />
wenig toxischer Flüssigkeit, z. B. in Prontosan<br />
® , verhindern eine erneute Adhäsion<br />
des Eponychiums mit der Nagelplatte und<br />
erhalten damit den Abfluss von Sekret.<br />
Farblose Flüssigkeiten haben den Vorteil<br />
der besseren Beurteilung der Rötung im<br />
Verlauf. Grundsätzlich ist keine antibiotische<br />
Therapie notwendig.<br />
Bei weiterer Progression entsteht eine<br />
lokale Abszedierung. Diese soll inzidiert,<br />
respektive die darüber liegende Epidermis<br />
abgetragen, der Wundgrund gereinigt und<br />
nekrotisches Gewebe exzidiert werden.<br />
Kosmetisch und funktionell ungünstige<br />
Ergebnisse durch falsche Schnittführung<br />
gilt es zu vermeiden. Die Orientierung<br />
der Schnittführung basiert auf der Anatomie<br />
des Blutflusses im Bereich der Nagelanlage.<br />
Nebst der allgemeinen 1:1-Regel<br />
bezüglich der Länge der Schnittführung<br />
sowie der Lappenbasis gilt deshalb, dass<br />
am proximalen Nagelwall die Inzision radiär<br />
– am besten lediglich einseitig – und am<br />
lateralen Nagelwall längs zum Nagelwachstum<br />
mit genügendem Abstand zum Nagelfalz<br />
gewählt werden sollte.<br />
Bei einem lokalisierten Infekt in der<br />
proximalen Nageltasche soll einseitig radiär<br />
inzidiert, der Nagelwall angehoben<br />
und die Nageltasche gespült werden. Gelangen<br />
Fremdkörper unter die Nagelplatte,<br />
so kann sich rasch ein subungualer<br />
Abszess bilden. Durch partielle Exzision<br />
der Nagelplatte von distal her kann<br />
dieser entlastet und suffi zient behandelt<br />
werden.<br />
Zusätzlich zum chirurgischen Débridement<br />
erfolgt dann die perorale antibiotische<br />
Therapie. Vor Beginn der empirischen<br />
Therapie ist jedoch die Asservierung<br />
von Gewebeproben zur mikrobiologischen<br />
Aufarbeitung zwingend notwendig. Ein<br />
«Abstrich» wird das Ergebnis auf Grund<br />
der Beimischung der Hautflora verfälschen,<br />
ebenso kann im reinen Pus als Abbauprodukt<br />
der Infektionsreaktion meist<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Meistens sind Staphylokokken,<br />
weniger häufig Streptokokken<br />
und menschliche Mundflora für<br />
die Infektion verantwortlich.<br />
– Bei chronischen Verläufen soll<br />
immer an eine Pilzinfektion oder<br />
eine Infektion mit Mykobakterien<br />
gedacht werden. Als seltene<br />
Entität ist ein Tumor mittels<br />
Biopsie auszuschliessen.<br />
– Der Keimnachweis ist anzustreben<br />
bevor eine empirische<br />
antibiotische Therapie gestartet<br />
wird.<br />
– Gegenüber der alleinigen<br />
Inzision führt die Exzision des<br />
infizierten Gewebes zur rascheren<br />
Abheilung des Infektes.<br />
Gegeninzisionen sind nicht<br />
notwendig.<br />
– Für gute ästhetische und funktionelle<br />
Ergebnisse erfolgt<br />
die Schnittführung radiär am<br />
proximalen Nagelwall und<br />
längs am lateralen Nagelwall.<br />
kein Keimnachweis erfolgen. Die Dauer<br />
der antibiotischen Therapie sollte sieben<br />
bis zehn Tage nicht überschreiten und<br />
richtet sich nach der Klinik.<br />
Als weitere Progression kann das<br />
Panaritium ossale, articulare oder tenonale<br />
entlang der entsprechenden Strukturen<br />
entstehen. Die schonende, aber doch radikale<br />
Ex zision von infiziertem Gewebe bis<br />
hin zur Finger(teil)amputation als Therapie<br />
bei diesen Maximalstadien gehört sicherlich<br />
in die Hand des Spezialisten.<br />
Bisswunden<br />
Bisswunden werden unterschieden in<br />
oberflächliche Gewebsabrationen, tiefere<br />
Wunden mit von aussen nicht sichtbaren<br />
Verletzungen von Sehnen, Muskeln, Nerven<br />
oder Gelenken und Wunden mit Gewebsnekrosen<br />
und Substanzdefekten.<br />
Häufig sind Katzen und Hunde, seltener<br />
Menschen und andere Beisser für die Verletzungen<br />
verantwortlich. Beim Hundebiss<br />
entstehen meist grössere Gewebedefekte,<br />
zudem ist die Übertragung der Tollwut<br />
möglich.<br />
Katzenbissverletzungen sind zwar initial<br />
unspektakulär, auf Grund ihrer hohen<br />
Infektionsrate von bis zu 50 % jedoch stets<br />
ein medizinischer Notfall. Grund dafür ist<br />
die hohe Keimzahl (meist Pasteurella<br />
multocida) bei gleichzeitig kleiner und<br />
rasch spontan verschlossener Punktionsstelle<br />
[8].<br />
Bei klinischen Hinweisen auf eine Verletzung<br />
tiefer liegender Strukturen (Sehnen,<br />
Muskeln, Nerven, Gelenke) erfolgt die<br />
Zuweisung zum Spezialisten. Cave: Auch<br />
eine intakte Zweipunktediskrimination<br />
schliesst eine behandlungsbedürftige Nervenläsion<br />
nicht aus. Deshalb muss bei<br />
Weichteilläsion in anatomischer Region<br />
eines Nervs die chirurgische Wundexploration<br />
eine Nervenverletzung ausschliessen.<br />
Gelenk- oder Knochenverletzungen durch<br />
Zähne sowie verbliebene Zahnreste werden<br />
mittels Röntgen nachgewiesen.<br />
Trotz Antibiotikagabe (Amoxicillin<br />
/ Clavulansäure 875 / 125 mg 3 × tgl. per<br />
os, alternativ bei Penicillinallergie Ciprofloxacin<br />
500 mg 2 × tgl. + Clindamycin<br />
600 mg 3 × tgl. bei Katzen-, Hunden- und<br />
Menschenbissen) und Ruhigstellung wird<br />
jede Bissstelle primär chirurgisch exzidiert.<br />
Grundsätzlich wird eine Gewebebiopsie<br />
entnommen und bakteriologisch<br />
untersucht. Sodann erfolgt die sorgfältige,<br />
drucklose Wundspülung mittels<br />
steriler Flüssigkeit. Auf keinen Fall darf<br />
diese mittels Octenisept ® erfolgen, um<br />
weitere Gewebenekrosen zu vermeiden<br />
[9]. Nach Einlage von Drainagen kann der<br />
adaptierende Wundverschluss durchgeführt<br />
werden.<br />
Abbildung 11. Katzenbiss mit Entzündung über dem PIP-Gelenk, möglicherweise mit Gelenkspenetration.<br />
48<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Perspektiven<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Bisswunden durch Tiere müssen<br />
dem kantonalen Veterinärdienst<br />
gemeldet werden.<br />
– Nebst der antibiotischen<br />
prä emptiven Therapie ist das<br />
chirurgische Débridement<br />
notwendig.<br />
– Keine Wundspülung mit<br />
Octenisept®.<br />
– Entwickeln sich trotz Débridement,<br />
antibiotischer Therapie<br />
und Ruhigstellung klinische<br />
Zeichen einer Infektion, sollte die<br />
Zuweisung zum Spezialisten<br />
evaluiert werden.<br />
Zusammenfassung<br />
Die Beurteilung und Erstbehandlung von frischen offenen Handverletzungen gehört<br />
zum Spektrum einer Notfallpraxis oder Notfallstation. In vielen Fällen kann durch dieses<br />
Team bereits die fachgerechte definitive Versorgung erfolgen. Mit dem vorliegenden<br />
Artikel möchten wir einige Tipps und Tricks für die Planung und Durchführung, aber<br />
auch die Nachbehandlung der häufigsten Verletzungen geben und Literaturverweise<br />
auf weitere Übersichtsarbeiten liefern.<br />
Abstract: Treatment of acute injuries of the hand<br />
Injuries to the hand are a common presentation in primary care units. When accurately<br />
assessed, many open injuries may be handled in the emergency department without<br />
referral to a hand surgery specialist. We would like to give some recommendations on<br />
how to treat the most frequent injuries like lesions to the nail and nailbed, fingertip<br />
amputation as well as burns, infections and bites. But first, we highlight the different<br />
methods of local anesthesia and discuss the use of a tourniquet or vasoconstriction<br />
with adrenalin – WALANT – instead.<br />
Die Dauer der antibiotischen Therapie<br />
richtet sich nach der Klinik, beträgt<br />
jedoch ohne Auftreten von Infektionszeichen<br />
fünf Tage. Zudem werden die benachbarten<br />
Gelenke während ein paar<br />
weniger Tage in funktioneller Position<br />
ruhiggestellt und dann mittels gezielter<br />
Bewegungsübungen mobilisiert.<br />
Entwickeln sich trotz dieser Therapie<br />
progrediente klinische Zeichen einer Infektion,<br />
sollte die Zuweisung zum Spezialisten<br />
zum erneuten chirurgischen<br />
Débridement, ggfs. auch zur stationären<br />
Aufnahme zur intravenösen antibiotischen<br />
Therapie erfolgen.<br />
Verbrennungen<br />
Oberflächliche Verbrennungen durch<br />
thermische Einflüsse an den oberen Extremitäten<br />
von bis zu ca. 10 % der Körperoberfläche<br />
können ambulant in der Praxis behandelt<br />
werden. Ziel der Behandlung ist<br />
eine Reduktion der Narbenbildung sowie<br />
die rasche Wiedererlangung der vollständigen<br />
Funktion [10, 11].<br />
Erstgradige sowie Verbrennungen<br />
Grad IIa können mittels konservativer Therapie<br />
zu einer vollständigen Erholung führen,<br />
wohingegen tiefergehende Verbrennungen<br />
zur Verminderung der Narbenbildung<br />
und damit Funk tions ein schränkung<br />
chirurgische Eingriffe brauchen und einem<br />
Spezialisten zugewiesen werden sollten.<br />
Beim Erwachsenen entspricht eine<br />
Handfläche ca. 1 % der Körperoberfläche<br />
(KOF), eine gesamte obere Extremität<br />
ca. 9 % (Neunerregel nach Wallace).<br />
Bei kleinflächigen Verbrennungen<br />
unter 5 % KOF erfolgen nach der initialen<br />
Kühlung für ca. 20 Minuten unter lauwarmem<br />
Leitungswasser die Reinigung sowie<br />
das Abtragen grösserer Blasen unter suffizienter<br />
Analgesie sowie sterilen Bedingungen.<br />
Erst dann kann die Ausdehnung<br />
und Tiefe der Verbrennung beurteilt werden.<br />
Zudem ist die Fotodokumentation<br />
der Befunde zur Verlaufskontrolle sinnvoll<br />
und die Erfragung und gegebenenfalls<br />
Auffrischung des Tetanusimpfstatus<br />
angezeigt.<br />
Erstgradige Verbrennungen betreffen<br />
lediglich die Epidermis, zeigen sich klinisch<br />
in einer Hautrötung. Beispiel dafür<br />
ist bereits der gewöhnliche Sonnenbrand.<br />
Initial können Pflegelotionen schmerzlindernd<br />
wirken, später sind rückfettende<br />
Salben anzuwenden.<br />
Zweitgradige Verbrennungen schädigen<br />
die Epidermis sowie die Dermis. Sie<br />
zeigen klinisch zusätzlich zur Rötung eine<br />
Blasenbildung. Wenn nur oberflächliche<br />
Schichten der Dermis betroffen sind, bleiben<br />
die Haare haften. Diese Verletzung ist<br />
äusserst schmerzhaft, da die Nervenendigungen<br />
frei liegen. Es empfiehlt sich die<br />
Anwendung einer nicht haftenden flüssigkeitsableitenden<br />
Wundauflage (z. B. Mepitel<br />
® oder Bactigras ® ), bedeckt von einem<br />
absorbierenden Kompressenverband. Der<br />
Verband sollte täglich unter suffizienter<br />
Analgesie gewechselt werden. Erst bei<br />
Auftreten einer Superinfektion wird antibiotisch<br />
behandelt. Lagerungsschienen in<br />
funktioneller Position der Gelenke sowie<br />
die frühzeitige aktive und passive Mobilisation<br />
verhindern Gelenkskontrakturen.<br />
In der Nachbehandlung sind primär die<br />
rasche Mobilisierung aller involvierter Gelenke,<br />
die Narben- und Kompressionsbehandlung<br />
sowie der konsequente Lichtschutz<br />
wichtig.<br />
Sind auch die tiefen Anteile betroffen,<br />
wo sich zum einen Haarfolikel, Schweissund<br />
Talgdrüsen, aber auch die Regenerationszone<br />
befinden, so zeigen sich klinisch<br />
nebst der Rötung und Blasenbildung teils<br />
auch weissliche Areale sowie lose Haare<br />
und es kann keine Spontanheilung ohne<br />
Narbenbildung stattfinden. Verbrennungen<br />
dieser Tiefe sollten an der Hand egal<br />
welcher Ausdehnung primär operativ vom<br />
Spezialisten versorgt werden. Ein konservativer<br />
Therapieversuch ist meist auch bei<br />
Das Wichtigste für die Praxis<br />
– Kleinflächige (bis 5 % der Körperoberfläche)<br />
Verbrennungen an<br />
der Hand sollen initial gekühlt<br />
werden.<br />
– Beim Erwachsenen entspricht<br />
eine Handfläche ca. 1 % der<br />
Körperoberfläche, eine gesamte<br />
obere Extremität ca. 9 %.<br />
– Oberflächliche Verbrennungen<br />
(bis Grad IIa) können konservativ<br />
durch Auflage nicht adhärenter<br />
Wundauflagen (z. B. Bactigras®)<br />
behandelt werden. Die frühzeitige<br />
Mobilisation verhindert<br />
Kontrakturen.<br />
– Verbrennungen an der Hand ab<br />
Grad III sollen einem Verbrennungszentrum<br />
überwiesen<br />
werden, egal welchen Ausmasses.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 49
Perspektiven<br />
kleinflächigen Verbrennungen nicht sinnvoll,<br />
bleibt eine vollständige Wundheilung<br />
hierunter nach zehn Tagen aus, wird erneut<br />
eine operative Therapie evaluiert.<br />
Drittgradige Verbrennungen überschreiten<br />
auch die Grenze zur Subkutis<br />
und deren Behandlung gehört grundsätzlich<br />
in ein Verbrennungszentrum. In der<br />
Notfallversorgung sollen freiliegende verbrannte<br />
Areale mit sterilem, nicht haftendem<br />
Verband geschützt, die Auskühlung<br />
des Patienten verhindert und bereits am<br />
Unfallort ein intravenöser Zugang angelegt<br />
werden. An der Hand erfolgt gegebenenfalls<br />
die notfallmässige Escharotomie,<br />
um ein Logen syndrom der kleinen Handmuskeln<br />
oder der Finger zu vermeiden.<br />
Um eine Zunahme der Ausdehnung<br />
und der Tiefe der Verbrennung – insbesondere<br />
auch bei Verbrühungen – erkennen<br />
zu können, erfolgt eine klinische Reevaluation<br />
nach 24 Stunden.<br />
Frau Prof Dr. med. Esther Vögelin<br />
Universitätsklinik für Plastische- und<br />
Handchirurgie<br />
Inselspital Bern<br />
Freiburgstrasse 10<br />
3010 Bern<br />
esther.voegelin@insel.ch<br />
Literatur<br />
[1] Saul D, Roch J, Lehmann<br />
W, Dresing K. Leitungsanästhesie<br />
nach Oberst. Oper Orthop<br />
Traumatol. 2020; 32: 18 – 22.<br />
[2] Schelhorn N, Lamm S,<br />
Fricker R. Vergleich zweier Fingerleitungsanästhesie-Techniken.<br />
Randomisierte, prospektive Studie<br />
bezüglich Applikationsschmerz<br />
und Wirksamkeit zwischen dem<br />
singulären subkutanen Digitalblock<br />
und der Oberst-Leitungsanästhesie.<br />
Handchir Mikrochir<br />
Plast Chir. 2016; 48: 296 – 9.<br />
[3] Lalonde D. Minimally<br />
Invasive Anesthesia in Wide Awake<br />
Hand Surgery. Hand Clin. 2014;<br />
30: 1 – 6.<br />
[4] Schnabl SMK, Polykandriotis<br />
E, Dragu A, Kneser U,<br />
Horch RE. Verletzungen des<br />
Fingernagels und des Nagelbetts.<br />
CHAZ. 2008; 9(4): 174 – 183.<br />
[5] Hoigné D, Hug U.<br />
Amputationsverletzungen am<br />
Fingerendglied: Regeneration<br />
mittels Folienverband. Schweiz<br />
Med Forum. 2014; 14: 356 – 360.<br />
[6] Damert HG, Altmann S.<br />
Behandlung von Fingerkuppen <br />
amputationen mittels Semiokklusivverband.<br />
Unfallchirurg. 2012;<br />
115: 798 – 801.<br />
[7] Langer MF, Wieskötter<br />
B, Oeckenpöhler S, Breiter S. Akute<br />
Infektionen im Bereich des Fingernagels<br />
– die akuten Paronychien.<br />
Handchirurgie Scan. 2014; 3:<br />
69 – 85.<br />
[8] Vogt M. Diagnostik<br />
und Therapie von Bissverletzungen<br />
durch Hunde, Katzen und<br />
Menschen. Dtsch Med Wochenschr.<br />
2003;128:1059 – 1063.<br />
[9] Franz T, Vögelin E.<br />
Aseptic tissue necrosis and<br />
chronic inflammation after irrigation<br />
of penetrating hand wounds<br />
using Octenisept ® . J Hand Surg<br />
Eur Vol. 2012 Jan; 37: 61 – 64.<br />
[10] Künzli W, Wedler V.<br />
Wegweiser Verbrennungen.<br />
Beurteilung und Behandlung von<br />
Verbrennungen bei Erwachsenen.<br />
Pambio-Noranco: IBSA, Institut<br />
Biochimique SA; 2003.<br />
[11] Schneider M, Plock J.<br />
Verbrennungen. Swiss Med Forum.<br />
2016; 16: 910 – 915.<br />
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50<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Perspektiven<br />
Der besondere Ort<br />
Hohe Berge und<br />
herzliche Menschen<br />
Maya Cosentino, Redaktionsmitglied <strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong><br />
Bilder: Adobe Stock; zvg<br />
Nach einigen Tagen in Kathmandu,<br />
der dynamischen<br />
Hauptstadt Nepals, fuhr ich<br />
mit dem Bus zwei Stunden<br />
Richtung Südosten nach Dhulikhel;<br />
einem Ort, der für sein Krankenhaus und<br />
die Aussicht auf die Berge bekannt ist und<br />
an dem ich die folgenden zwei Monate<br />
verbringen sollte. Nachdem ich übers<br />
Wochenende den Ort kennengelernt und<br />
eine Wanderung zu einem tibetischen<br />
Kloster in Namo Buddha unternommen<br />
hatte, war ich bereit, meine Arbeit im<br />
Dhulikhel Hospital aufzunehmen.<br />
Meine Tage begannen mit einer<br />
Schüssel Reis, einer aufgeschnittenen<br />
Banane und Büffelmilch. Während des<br />
Frühstücks leistete mir «Opa», Herz und<br />
Seele des familiengeführten Gästehauses,<br />
in dem ich wohnte, Gesellschaft. Gemeinsam<br />
lasen wir die Morgenzeitung und<br />
diskutierten über die nepalesische Politik.<br />
Auf dem Weg zur Arbeit machte ich<br />
jeweils einen kurzen Spaziergang durch<br />
die engen Strassen von Dhulikhels älteren<br />
Vierteln. Vom Teetrinken und geselligen<br />
Beisammensein bis hin zum Wäschewaschen<br />
und Baden fand alles in diesen Strassen<br />
statt. Die Einheimischen bereiteten dort<br />
sogar Büffelfleisch zu und verkauften es.<br />
Bis ich mich an diesen Anblick und die<br />
Gerüche gewöhnt hatte, dauerte es einige<br />
Tage. Ich beobachtete immer wieder, wie<br />
viele Einheimische die billigeren, aber<br />
offenbar schmackhaften Innereien wie<br />
Magen und Leber kauften. Eines Morgens<br />
sprach mich ein Metzger an und lud mich<br />
ein, ihm am nächsten Morgen um drei<br />
Uhr beim Schlachten eines Büffels<br />
zuzusehen. Ich lehnte höflich ab und liess<br />
mich stattdessen durch den kleinen<br />
Schlachthof führen, direkt hinter dem<br />
Ort, an dem bereits ein anderer Büffel in<br />
Stücken auf einer Plane lag.<br />
Kurz vor acht Uhr kam ich jeweils<br />
im Krankenhaus an. An der Morgenkonferenz<br />
berichteten wir über Neuauf-<br />
Nahe des buddhistischen Klosters in Namo Buddha wehen nepalesische Gebetsfahnen im Wind.<br />
nahmen, komplizierte Fälle und Todesfälle.<br />
Anschliessend gab es oftmals einen<br />
Vortrag von Assistenzärzten oder Gästen<br />
des Krankenhauses, dann ging es bis<br />
neun Uhr zum Frühstück und Tee in<br />
die Kantine.<br />
Ich arbeitete mit drei Dermatologen,<br />
einem Assistenzarzt und vier Pflegefachfrauen<br />
zusammen, die in der kleinen,<br />
aber aktiven dermatologischen Abteilung<br />
tätig waren. An meinem ersten Tag kam<br />
eine Mutter mit ihren drei Kindern ins<br />
Krankenhaus, um sich wegen angeborener<br />
Hypertrichose behandeln zu lassen;<br />
einer sehr seltenen Krankheit, bei der<br />
die Haare am Körper – einschliesslich<br />
Gesicht – deutlich länger und dicker<br />
wachsen. Die Familie war gekommen,<br />
um eine der sechs kostenlosen Laserbehandlungen<br />
zu erhalten, die das<br />
Krankenhaus für sie anbietet. Die Woche<br />
darauf sah ich einen Patienten mit<br />
Lepra – einer vernachlässigten tropischen<br />
Krankheit, die in Nepal immer noch<br />
vorkommt.<br />
Das Dhulikhel-Krankenhaus bietet<br />
auch Gesundheitsversorgung und Bildung<br />
in abgelegenen nepalesischen Dörfern<br />
an und baut manchmal für ein paar Tage<br />
ein Lager an weiter entfernten Orten auf.<br />
Ich hatte das Glück, mit zwei Ärzten<br />
und einer Pflegefachfrau an einer solchen<br />
Reise teilnehmen zu können. Es war<br />
besonders, ein abgelegenes Dorf zu<br />
besuchen und zu erleben, wie sinnvoll das<br />
Bereitstellen einer sehr grundlegenden<br />
medizinischen Versorgung für die<br />
Menschen sein kann.<br />
Der phänomenale Blick auf die Berge<br />
und die schöne Altstadt von Dhulikhel,<br />
aber vielmehr noch die Warmherzigkeit<br />
und Freundlichkeit der Menschen dort<br />
lassen in mir den Wunsch aufkommen,<br />
irgendwann wieder zurückzukehren.<br />
Maya Cosentino<br />
ist seit <strong>2023</strong> Redaktionsmitglied<br />
des <strong>vsao</strong><br />
<strong>Journal</strong>s. Sie arbeitet<br />
als stv. Oberärztin in<br />
der Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
der<br />
Universitären Psychiatrischen<br />
Dienste (UPD) Bern. Aktuell<br />
absolviert sie ein Fernstudium in Global<br />
Health Policy an der London School<br />
of Hygiene and Tropical Medicine<br />
(LSHTM) der Universität London.<br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 51
mediservice<br />
Briefkasten<br />
Wer zahlt, wenn’s klirrt?<br />
Bei einem Umzug geht nicht<br />
selten etwas zu Bruch.<br />
Wer haftet, wenn durch<br />
schlecht gesicherte Möbel,<br />
unsorgfältige Behandlung oder<br />
durch ein Missgeschick Schäden<br />
entstehen?<br />
Umzugsfirmen können ganz legal<br />
bestimmte Haftungsausschlüsse im<br />
Vertrag festhalten und dabei die Verantwortung<br />
für beschädigte Waren in<br />
gewissen Situationen von sich weisen.<br />
Worauf Sie achten müssen, um den<br />
Umzug möglichst unbeschadet über<br />
die Bühne zu bringen:<br />
Gegenstände mit grossem finanziellen<br />
oder ideellen Wert, z. B. eine teure<br />
Vase oder das Geschenk eines Freundes,<br />
zügeln Sie am besten selbst. So vermeiden<br />
Sie böse Überraschungen. Wenn das<br />
nicht möglich ist, fotografieren Sie die<br />
Gegenstände und lassen Sie sie schätzen.<br />
Generell empfiehlt es sich, alle Möbel<br />
und wertvollen Gegenstände vor dem<br />
Umzug zu fotografieren. So können Sie<br />
beim Umzug entstandene Schäden<br />
belegen.<br />
Melden Sie sich bei der Zügelfirma,<br />
wenn Sie Mängel bereits während des<br />
Umzugs feststellen. Einen Arbeitsrapport<br />
oder eine Quittung sollten Sie nur mit<br />
den durch die Zügelfirma schriftlich<br />
anerkannten Mängeln unterschreiben.<br />
Anerkennt die Zügelfirma die Mängel<br />
nicht, so sollten Sie den ausstehenden<br />
Betrag nicht direkt begleichen.<br />
Alternativ können Sie vereinbaren,<br />
den Betrag des Schadens – sollte dieser<br />
direkt nach Arbeitsende anerkannt und<br />
bezifferbar sein – vom Gesamtbetrag in<br />
Abzug zu bringen und nur die Differenz<br />
zu zahlen. Auch hier ist ein Vermerk auf<br />
der Quittung notwendig.<br />
Wird vor Ort keine Einigung erzielt<br />
und schriftlich festgehalten, muss eine<br />
ordentliche Mängelrüge (schriftlich<br />
dokumentierte Schäden) erfolgen.<br />
Schäden müssen dem Umzugsunternehmen<br />
spätestens zwei bis drei Tage<br />
nach dem Umzug per Einschreiben<br />
gemeldet werden. Dies gilt unabhängig<br />
davon, ob Sie die Schäden bereits während<br />
des Umzugs oder erst danach<br />
entdeckt haben. Legen Sie Ihrem Schreiben<br />
Beweisfotos sowie eine Kostenschätzung<br />
bei.<br />
Offerte und Abrechnung: Bei einem<br />
Pauschalbetrag liegt es in der Verantwortung<br />
der Umzugsfirma, eine genaue<br />
Angebotsberechnung (ggf. mittels Besichtigungstermin)<br />
vorzunehmen. Ohne<br />
Besichtigungstermin sind Ihre Angaben<br />
ausschlaggebend und sollten der Wahrheit<br />
entsprechen, ansonsten sind allfällige<br />
Mehrkosten, die daraus resultieren,<br />
von Ihnen zu tragen.<br />
Wurde eine Offerte nach Aufwand<br />
(Stundensatz) erstellt, müssen Sie die<br />
effektiv geleisteten Stunden begleichen<br />
– vorausgesetzt, die vertraglichen<br />
Abmachungen (z. B. die Anzahl Mitarbeiter<br />
oder die Grösse des LKWs) wurden<br />
eingehalten und der Kostenvoranschlag<br />
wurde nicht erheblich überschritten.<br />
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Bilder: zvg<br />
52<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
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Wie schnell ist<br />
schnell genug?<br />
Auf die Plätze, fertig, los!<br />
Eine schnelle Reaktion ist nicht nur im Sport entscheidend.<br />
Jeden Tag erleben wir Situationen, in denen unser Körper<br />
sofort reagieren muss. Was es dazu braucht – und wie Sie Ihrer<br />
Reaktionszeit auf die Sprünge helfen.<br />
Antonia Bundi, PhD, dipl. Natw. ETH (Bewegungswissenschaften)<br />
Bild: Getty Images<br />
54<br />
5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
mediservice<br />
Der explosive Start beim 100-<br />
Meter- Lauf steht exemplarisch<br />
für eine extrem schnelle<br />
Reaktion. Kaum ertönt der<br />
Startschuss, schnellen die Athletinnen<br />
und Athleten mit kräftigem Abstossen<br />
aus den Startblocks. Bei Sprinterinnen<br />
und Sprintern werden Reaktionszeiten<br />
von 0,13 oder 0,14 Sekunden festgehalten.<br />
Alles unter 0,1 Sekunden wird als Fehlstart<br />
gewertet, da die Wissenschaft ausschliesst,<br />
dass ein Mensch schneller reagieren<br />
kann.<br />
Schnell und richtig reagieren<br />
Die Reaktionsfähigkeit ermöglicht uns,<br />
innerhalb einer bestimmten Zeit auf Reize<br />
zu reagieren. Rasch reagieren zu können,<br />
ist sowohl im Sport wie im Alltag aus verschiedenen<br />
Gründen wichtig. Ein schnelles<br />
Reaktionsvermögen beeinflusst in vielen<br />
Sportarten die Leistung massgeblich,<br />
so zum Beispiel in Ballsportarten. Bei einem<br />
Richtungswechsel sind schnelles<br />
Abbremsen und sofortiges Beschleunigen<br />
gefragt. Beim Volleyball oder Tennis muss<br />
ich mich an den richtigen Ort hinbewegen,<br />
um den Ball zu treffen. Beim Fahrradoder<br />
Skifahren wiederum muss ich mich,<br />
je nach Terrain, schnell für den richtigen<br />
Weg entscheiden. Aber nicht nur im Sport,<br />
sondern auch im Alltag ist eine gute Reaktion<br />
unverzichtbar. Sei es beim Kochen,<br />
beim Haushalten, bei der Gartenarbeit<br />
oder im Verkehr: Eine gute Reaktionsfähigkeit<br />
schützt uns vor Verletzungen, Stolpern,<br />
Stürzen und Unfällen.<br />
Was passiert im Körper, wenn wir<br />
reagieren?<br />
Bei der Reaktion spielen die Nerven eine<br />
zentrale Rolle. Vereinfacht gesagt, erreicht<br />
uns über Augen, Ohren, Haut, Nase oder<br />
Mund ein Signal. Nehmen wir nochmals<br />
das Beispiel des Startsignals beim Sprint.<br />
Dieses akustische Signal wird als Erregung<br />
über Nervenleitungen zum zentralen<br />
Nervensystem (Gehirn, Rückenmark) geleitet<br />
und verarbeitet. Daraus resultieren<br />
Anweisungen, die wieder über Nervenbahnen<br />
zu den entsprechenden Muskeln<br />
gelangen und dort mechanische Aktivität<br />
auslösen. Bei der Sprinterin oder dem<br />
Sprinter ist es das Abstossen von den<br />
Startblöcken.<br />
Reaktion und Kraft sind auch im<br />
Alltag wichtig<br />
Unsere Leistungsfähigkeit basiert immer<br />
sowohl auf den koordinativen wie auf den<br />
konditionellen Faktoren, also Kraft, Ausdauer<br />
und Schnelligkeit. Die Reaktionsfähigkeit<br />
zählen wir zu den koordinativen<br />
Fähigkeiten. Wer möglichst lang selbständig<br />
und fit bleiben möchte, investiert am<br />
besten in Kraft- und Gleichgewichtstraining.<br />
Für eine gute Reaktionsfähigkeit,<br />
welche uns vor Verletzungen und Stürzen<br />
schützt, brauchen wir eine gute Musku latur.<br />
Bereits ab dem 50. Lebensjahr nimmt<br />
die Muskelmasse ab, wenn wir nichts dagegen<br />
unternehmen. Aber Muskelkraft und<br />
Gleichgewicht lassen sich in jedem Alter<br />
gut trainieren. Mit zweimal einer halben<br />
Stunde Krafttraining pro Woche erreicht<br />
man eine sehr gute Fitnessgrundlage.<br />
Training der Reaktionsfähigkeit<br />
Eine ausreichende Muskelkraft ist also die<br />
zentrale Grundlage für eine gute Reaktionsfähigkeit.<br />
Wenn Sie aber nicht gerade<br />
für die nächsten Olympischen Spiele trainieren,<br />
darf das Training der Reaktionsschnelligkeit<br />
ruhig auf Alltagssituationen<br />
und den Freizeitsport ausgerichtet sein<br />
und dort integriert werden. Denn das Ziel<br />
ist, dass wir nicht nur schnell, sondern<br />
auch der Situation angepasst richtig reagieren.<br />
So kann es bereits ein gutes Training<br />
sein, über einen unebenen Waldboden<br />
oder durch ein trockenes Bachbett<br />
zu laufen. Tolle Übungsmöglichkeiten<br />
bieten zudem Fang- oder Ballspiele. Wann<br />
haben Sie zum Beispiel das letzte Mal<br />
Federball, Tischtennis oder Tischfussball<br />
gespielt? Oder eine winterliche Schneeballschlacht<br />
veranstaltet?<br />
Alkohol beeinträchtigt die<br />
Reaktionszeit<br />
Nicht vergessen dürfen wir, dass Alkoholkonsum<br />
neben Aufmerksamkeit, Konzentration,<br />
Kritik- und Urteilsfähigkeit auch<br />
das Reaktionsvermögen beeinträchtigt. Je<br />
nach Menge des konsumierten Alkohols<br />
können diese Leistungen leicht bis sehr<br />
stark eingeschränkt sein. Die Reaktionszeit<br />
ist beispielsweise bei einem Blutalkoholwert<br />
von 0,8 Promille gegenüber dem<br />
nüchternen Zustand um 30 bis 50 Prozent<br />
verlängert.<br />
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<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 55
mediservice<br />
Erdbeben:<br />
die unterschätzte<br />
Gefahr<br />
Erdbeben sind in der Schweizer erstaunlich häufig –<br />
und sie haben ein enormes Schadenpotenzial. Da die meisten Beben<br />
nur leicht spürbar sind, wird das Risiko jedoch meist unterschätzt.<br />
Ebenso die möglichen Auswirkungen. Der Versicherungsschutz ist oftmals<br />
unzureichend. Ein Test mit dem Erdbebenradar verrät, wie hoch<br />
das Risiko in der eigenen Region tatsächlich ist.<br />
Katrin Schnettler Ruetz, Senior Content Strategist, Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG<br />
Dass es sich bei einem Erd beben<br />
um ein realistisches Risiko<br />
handelt, zeigen nicht zuletzt<br />
die jüngsten Ereig nisse in der<br />
Türkei, Marokko und Syrien. Auch in der<br />
Schweiz sind Erdbeben erstaunlich häufig:<br />
Der Schweizerische Erdbebendienst<br />
(SED) regi striert durchschnittlich 1000 bis<br />
1500 Beben pro Jahr in der Schweiz und im<br />
nahen Ausland. Nur wenige sind so stark,<br />
dass sie für Menschen spürbar sind – im<br />
Schnitt 10 bis 20 Beben jährlich. Das Erdbeben<br />
am 22. März <strong>2023</strong> bei Porrentruy im<br />
Kanton Jura war eines davon: Es erreichte<br />
die Stärke 4,3 auf der Richterskala und war<br />
damit in der Region deutlich zu spüren.<br />
Erdbeben: Im Wallis ist die Gefahr<br />
am höchsten<br />
Laut dem SED gehört die Schweiz zu den<br />
Ländern mit einer mittleren Erdbebengefährdung:<br />
Im Wallis ist die Gefahr am<br />
höchsten, gefolgt von Basel, Graubünden,<br />
dem St. Galler Rheintal, der Zentralschweiz<br />
und der übrigen Schweiz. «Regionen ganz<br />
Bild: Adobe Stock<br />
56<br />
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mediservice<br />
ohne Erdbebengefährdung gibt es in der<br />
Schweiz nicht», heisst es auf der Website<br />
des SED.<br />
Bild: zvg<br />
Grösste Auswirkungen in Städten<br />
Die Erdbebengefährdung beschreibt, wie<br />
gross die Wahrscheinlichkeit für ein Beben<br />
ist. Das Erdbebenrisiko hingegen zeigt zusätzlich<br />
die möglichen Auswirkungen auf<br />
Personen und Gebäude und die entsprechenden<br />
finanziellen Risiken auf. Hier stehen<br />
die Städte Basel, Genf, Zürich, Luzern<br />
und Bern an der Spitze, so der SED. Denn<br />
in diesen grossen Städten befinden sich<br />
zahlreiche Personen auf relativ engem<br />
Raum, die von einem Erdbeben betroffen<br />
wären. Zudem gibt es dort viele Gebäude,<br />
die zum Teil auf einem weichen Untergrund<br />
stehen – was Erdbebenwellen verstärken<br />
würde.<br />
1946 katastrophales Beben in Sierre<br />
Auch wenn die meisten Beben schwach<br />
sind, ist etwa alle 8 bis 15 Jahre mit einem<br />
Beben mit einer Magnitude von etwa 5 zu<br />
rechnen; dann kann es durchaus zu grösseren<br />
Schäden kommen. Das letzte Erdbeben<br />
dieser Stärke ereignete sich 1991 bei<br />
Vaz im Graubünden. Mit einem katastrophalen<br />
Erdbeben ist in der Schweiz und<br />
dem grenznahen Ausland im Schnitt alle<br />
50 bis 150 Jahre zu rechnen. 1946 kam es in<br />
Sierre (Wallis) zu einem solchen Beben, es<br />
hatte eine Magnitude von 5,8. In der Folge<br />
starben damals vier Personen, und mehr<br />
als 3500 Gebäude wurden beschädigt. Die<br />
Schadensumme betrug über 26 Millionen<br />
Schweizer Franken, wie eine Informationsbroschüre<br />
des SED aufzeigt.<br />
Genauere Berechnungen dank<br />
neuem Modell<br />
Seit <strong>2023</strong> gibt es ein Erdbebenrisikomodell<br />
der Schweiz. Damit lassen sich die Folgen<br />
von Erdbeben genauer berechnen. Gemäss<br />
diesem Modell hätte das Beben von Sierre<br />
heute noch viel weitreichendere Folgen: Es<br />
wären annähernd 50 Todesopfer zu erwarten,<br />
Tausende könnten obdachlos werden<br />
und es wäre mit direkten Gebäudeschäden<br />
im einstelligen Milliardenbereich zu rechnen.<br />
Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll:<br />
Erdbeben sind die Naturgefahr mit dem<br />
grössten Schadenpotenzial. Doch das Risiko<br />
wird in der Schweiz unterschätzt.<br />
Versicherungsschutz ist<br />
unzureichend<br />
Falls es wieder zu einem Erdbeben mit<br />
Gebäudeschäden käme, ist der Versicherungsschutz<br />
in der Schweiz leider unzureichend<br />
und zudem noch von Kanton zu<br />
Kanton verschieden. In der Regel kommen<br />
die Gebäudeversicherungen nicht<br />
oder nur für einen geringen Teil möglicher<br />
Erdbebenschäden auf. Auch der schweizerische<br />
Pool der kantonalen Gebäudeversicherer<br />
für Erdbebendeckungen, dem<br />
die Mehrheit der Kantone angehört, hält<br />
für Schadenereignisse lediglich zwei Milliarden<br />
Schweizer Franken bereit – doch<br />
der versicherte Gebäudewert beträgt ca.<br />
3000 Milliarden Schweizer Franken.<br />
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Mit dem Naturgefahren-Radar lässt sich<br />
herausfinden, wie hoch das Risiko für ein<br />
Erdbeben oder eine andere Naturgewalt<br />
wie Hochwasser oder Sturm ist. Dazu wird<br />
einfach die gewünschte Adresse eingegeben<br />
und bestätigt – danach erscheint direkt<br />
die Auswertung.<br />
Besser geschützt mit Zusatzversicherung<br />
Gebäudeeigentümer, die einen besseren<br />
Schutz vor dem Risiko Erdbeben wünschen,<br />
können eine entsprechende Zusatzversicherung<br />
abschliessen. Im Kanton<br />
Zürich sind Hauseigentümer automatisch<br />
gegen Erdbeben versichert. Doch auch<br />
hier ist die Entschädigung für die Gesamtheit<br />
der entstandenen Gebäudeschäden<br />
auf eine Milliarde Franken limitiert. Diese<br />
Summe würde bei einem katastrophalen<br />
Erdbeben mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
nicht ausreichen. Deshalb lohnt sich auch<br />
im Kanton Zürich eine Zusatzversicherung<br />
im Rahmen der privaten Gebäudeversicherung.<br />
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Internetseiten des SED Karten zum<br />
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Impressum<br />
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<strong>Nr</strong>. 5 • 42. Jahrgang • <strong>Oktober</strong> <strong>2023</strong><br />
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Für <strong>vsao</strong>-Mitglieder im Jahresbeitrag<br />
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Ausgabe <strong>Nr</strong>. 6/<strong>2023</strong> erscheint im<br />
Dezember <strong>2023</strong>. Thema: Rettung<br />
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