Fokus: Sprache Island ist bekannt für seine Geysire. Seit dem 19. Jahrhundert wird das isländische Wort Geysir auch in anderen Sprachen für heisse Springquellen verwendet. «Es gibt keine Übersetzung ohne Eingriffe» Wörter, Strukturen, soziokulturelle Hintergründe: Sprachen unterscheiden sich auf mehreren Ebenen. Literarische Übersetzungen bedürfen deshalb immer auch der Interpretation. Der preisgekrönte Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig über Geysire, isländische Verwandte und Krimis aus dem Norden. Regula Grünwald, Chefredaktorin <strong>vsao</strong> <strong>Journal</strong> Bild: Adobe Stock 28 5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>
Fokus: Sprache Bild: © Karl-Ludwig Wetzig, zvg Sie sind Spezialist für skandinavische Sprachen und übersetzen vor allem aus dem Isländischen ins Deutsche. Was tun Sie mit Wörtern, die sich nicht übersetzen lassen? Manche Wörter erscheinen als unübersetzbar, weil mit ihnen Dinge bezeichnet werden, die in der Zielkultur nicht vorhanden sind. Solche Wörter kann ich umschreiben, erklären, ihre Wortbestandteile übersetzen und so ein neues deutsches Wort kreieren oder sie als Fremdwörter übernehmen, um die Fremdartigkeit hervorzuheben. Und manchmal integrieren wir solche Wörter in unsere eigene Sprache: Nehmen Sie nur Geysir, ein isländisches Wort, das heute überall auf der Welt für heisse Springquellen verwendet wird. Und vor zehn Jahren hätte ich noch überlegt, den isländischen Skyr vielleicht mit «Sauerquark» zu übersetzen; heute steht er bei uns im Supermarkt. Probleme mit vermeintlicher Unübersetzbarkeit sehe ich daher weniger auf der Wortebene, sondern mehr auf den übergeordneten und umfassenderen Ebenen von Satz, Text, Konnotationen und soziokulturellem Hintergrund. Haben Sie Beispiele für solche Herausforderungen? Zwei verschiedene Sprachen sind niemals völlig gleich strukturiert. Das Isländische ist nicht so auf Präzision und Eindeutigkeit der Bezüge versessen wie das Deutsche. Zwei Beispiele: Das Isländische kann Verwandtschaftsgrade begrifflich bis in den fünften Grad differenzieren. Im Alltag bezeichnet man Verwandte, die nicht Eltern oder Geschwister sind, allerdings meist lediglich als frændi beziehungsweise frænka. In der Übersetzung muss ich differenzieren, ob es sich dabei um Onkel oder Cousins respektive Tanten oder Cousinen handelt, obwohl der Ausgangstext da unbestimmt bleibt. Und wenn ein isländisches Personalpronomen im Singular und Plural dieselbe Form aufweist, darf durchaus offenbleiben, ob es für eine oder mehrere Personen steht. Nicht so in der Übersetzung. Eindeutigkeit herzustellen, wo die Ausgangssprache mehrere Deutungsmöglichkeiten zulässt, stellt für mich eine Einschränkung und letztlich Verarmung des literarischen Potenzials dar, gegen die ich mich sträube. Denn Mehrdeutigkeit ist doch eine der produktivsten Qualitäten von Literatur. Weiter sollte ich als Übersetzer nicht bloss die Zielsprache gut kennen, sondern auch die Kultur und Gesellschaft, in die sie eingebettet ist. Nehmen Sie nur die schlichte Aussage aus der Bibel: «Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.» Und dann malen Sie sich die Wirkung aus, wenn ein Missionar diesen Vers wörtlich in eine Sprache Afrikas übersetzt hätte, wo niemand anklopft ausser Einbrecher, die testen wollen, ob jemand im Haus ist … Wortwörtliche Übersetzungen können fatale Folgen haben. Wie gehen Sie bei einer Übersetzung konkret vor? Selbstverständlich lese ich den Ausgangstext zuerst einmal möglichst gründlich und analytisch durch. Wenn Handlung oder Personenkonstellationen besonders kompliziert sind, erstelle ich Stammbäume oder Soziogramme der handelnden Personen, um den Überblick zu behalten. Bei anspruchsvollen Texten wie etwa den Isländersagas führe ich eine Art Arbeitsjournal, in dem ich beispielsweise einzelne Übersetzungslösungen notiere und begründe für den Fall, dass die gleiche Vokabel später noch einmal auftauchen sollte. Seit es das Internet gibt, recherchiere ich Dinge immer gleich dann, wenn eine Schwierigkeit im Text auftaucht, denn ich möchte am liebsten gleich eine gültige Übersetzungslösung finden und nicht im Nachgang vor einem Wust ungeklärter Textstellen stehen. Den Vorgang des Übersetzens selbst können Sie sich bei mir als eine Kette zahlloser Re-Lektüren vorstellen: Jeder Arbeitstag beginnt damit, dass ich mir das am Vortag Übersetzte noch einmal genau ansehe, bevor ich das nächste Kapitel in Angriff nehme. Nach dem Feinschliff lektoriert der Verlag die Übersetzung und ich überlege an jeder einzelnen Stelle, ob ich den Änderungsvorschlag des Lektorats übernehme, meine ursprüngliche Übersetzung doch passender finde oder nach einer dritten Möglichkeit suche. Nach einer letzten Prüfung der Druckfahnen erteile ich dem scheinbar fertigen Text das Imprimatur. Ich sage «scheinbar fertig», weil ich zu der Ansicht gekommen bin, dass eine literarische Übersetzung niemals endgültig fertig ist. Wenn ich nach zehn oder zwanzig Jahren eine meiner Übersetzungen erneut ansehe, finde ich immer Stellen, die ich heute anders übersetzen würde als damals. Zur Person Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956 in Düsseldorf, lehrte Skandinavistik an den Universitäten Göttingen und Reykjavík und übersetzt seit 20 Jahren Literatur aus nordischen Sprachen, darunter Werke von Autoren wie Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gun narsson und Hallgrímur Helgason sowie mittelalterliche Isländersagas. Daneben veröffentlicht er eigene Bücher. Für seine Übersetzung von «Dein Fortsein ist Finsternis» erhielt er <strong>2023</strong> den Christoph-Martin- Wieland- Übersetzerpreis. Inwiefern sind Sie in den übersetzten Werken spürbar? Der ideale Übersetzer ist in den Augen vieler der unsichtbare Übersetzer; eine gläserne Instanz, die den Lesenden das Original auf allen Ebenen möglichst ohne eigenes Zutun oder Weglassen nahebringt. Die vorhin erwähnten Beispiele zeigen, dass das eine Illusion ist. Es gibt keine Übersetzung ohne Eingriffe. Dennoch habe ich mich anfangs gewundert, als ein Kollege einmal behauptete, er würde selbstverständlich jedes von mir übersetzte Buch auch ohne Nennung meines Namens erkennen. Ja, es ist wohl so: Übersetzerinnen und Übersetzer entwickeln im Lauf der Zeit ihre eigene, wiedererkennbare Sprache – auch wenn sie ganz unterschiedliche Werke übersetzen. Wie stark tauschen Sie sich jeweils mit den Autorinnen und Autoren aus? Ich selbst nehme vor Beginn einer Übersetzung fast immer Verbindung zur Autorin oder zum Autor auf, besonders wenn es um komplexe, schwierigere Werke geht. Da finde ich es enorm hilfreich, wenn ich mich rückversichern kann, ob ich die eine oder andere Textstelle auch wirklich im Sinn der Textintention verstanden habe. Der Austausch kann sehr fruchtbar und <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 29