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vsao Journal Nr. 5 - Oktober 2023

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Fokus: Sprache<br />

Bild: © Karl-Ludwig Wetzig, zvg<br />

Sie sind Spezialist für skandinavische<br />

Sprachen und übersetzen vor allem<br />

aus dem Isländischen ins Deutsche.<br />

Was tun Sie mit Wörtern, die sich nicht<br />

übersetzen lassen?<br />

Manche Wörter erscheinen als unübersetzbar,<br />

weil mit ihnen Dinge bezeichnet<br />

werden, die in der Zielkultur nicht vorhanden<br />

sind. Solche Wörter kann ich umschreiben,<br />

erklären, ihre Wortbestandteile<br />

übersetzen und so ein neues deutsches<br />

Wort kreieren oder sie als Fremdwörter<br />

übernehmen, um die Fremdartigkeit hervorzuheben.<br />

Und manchmal integrieren<br />

wir solche Wörter in unsere eigene Sprache:<br />

Nehmen Sie nur Geysir, ein isländisches<br />

Wort, das heute überall auf der Welt<br />

für heisse Springquellen verwendet wird.<br />

Und vor zehn Jahren hätte ich noch überlegt,<br />

den isländischen Skyr vielleicht mit<br />

«Sauerquark» zu übersetzen; heute steht<br />

er bei uns im Supermarkt. Probleme mit<br />

vermeintlicher Unübersetzbarkeit sehe<br />

ich daher weniger auf der Wortebene, sondern<br />

mehr auf den übergeordneten und<br />

umfassenderen Ebenen von Satz, Text,<br />

Konnotationen und soziokulturellem<br />

Hintergrund.<br />

Haben Sie Beispiele für solche<br />

Herausforderungen?<br />

Zwei verschiedene Sprachen sind niemals<br />

völlig gleich strukturiert. Das Isländische<br />

ist nicht so auf Präzision und Eindeutigkeit<br />

der Bezüge versessen wie das Deutsche.<br />

Zwei Beispiele: Das Isländische kann<br />

Verwandtschaftsgrade begrifflich bis in<br />

den fünften Grad differenzieren. Im Alltag<br />

bezeichnet man Verwandte, die nicht Eltern<br />

oder Geschwister sind, allerdings<br />

meist lediglich als frændi beziehungsweise<br />

frænka. In der Übersetzung muss ich<br />

differenzieren, ob es sich dabei um Onkel<br />

oder Cousins respektive Tanten oder<br />

Cousinen handelt, obwohl der Ausgangstext<br />

da unbestimmt bleibt. Und wenn ein<br />

isländisches Personalpronomen im Singular<br />

und Plural dieselbe Form aufweist, darf<br />

durchaus offenbleiben, ob es für eine oder<br />

mehrere Personen steht. Nicht so in der<br />

Übersetzung. Eindeutigkeit herzustellen,<br />

wo die Ausgangssprache mehrere Deutungsmöglichkeiten<br />

zulässt, stellt für<br />

mich eine Einschränkung und letztlich<br />

Verarmung des literarischen Potenzials<br />

dar, gegen die ich mich sträube. Denn<br />

Mehrdeutigkeit ist doch eine der produktivsten<br />

Qualitäten von Literatur. Weiter<br />

sollte ich als Übersetzer nicht bloss die<br />

Zielsprache gut kennen, sondern auch die<br />

Kultur und Gesellschaft, in die sie eingebettet<br />

ist. Nehmen Sie nur die schlichte<br />

Aussage aus der Bibel: «Siehe, ich stehe<br />

vor der Tür und klopfe an.» Und dann malen<br />

Sie sich die Wirkung aus, wenn ein<br />

Missionar diesen Vers wörtlich in eine<br />

Sprache Afrikas übersetzt hätte, wo niemand<br />

anklopft ausser Einbrecher, die testen<br />

wollen, ob jemand im Haus ist … Wortwörtliche<br />

Übersetzungen können fatale<br />

Folgen haben.<br />

Wie gehen Sie bei einer Übersetzung<br />

konkret vor?<br />

Selbstverständlich lese ich den Ausgangstext<br />

zuerst einmal möglichst gründlich<br />

und analytisch durch. Wenn Handlung<br />

oder Personenkonstellationen besonders<br />

kompliziert sind, erstelle ich Stammbäume<br />

oder Soziogramme der handelnden<br />

Personen, um den Überblick zu behalten.<br />

Bei anspruchsvollen Texten wie etwa den<br />

Isländersagas führe ich eine Art Arbeitsjournal,<br />

in dem ich beispielsweise einzelne<br />

Übersetzungslösungen notiere und<br />

begründe für den Fall, dass die gleiche<br />

Vokabel später noch einmal auftauchen<br />

sollte. Seit es das Internet gibt, recherchiere<br />

ich Dinge immer gleich dann, wenn<br />

eine Schwierigkeit im Text auftaucht,<br />

denn ich möchte am liebsten gleich eine<br />

gültige Übersetzungslösung finden und<br />

nicht im Nachgang vor einem Wust ungeklärter<br />

Textstellen stehen. Den Vorgang<br />

des Übersetzens selbst können Sie sich bei<br />

mir als eine Kette zahlloser Re-Lektüren<br />

vorstellen: Jeder Arbeitstag beginnt damit,<br />

dass ich mir das am Vortag Übersetzte<br />

noch einmal genau ansehe, bevor ich das<br />

nächste Kapitel in Angriff nehme. Nach<br />

dem Feinschliff lektoriert der Verlag die<br />

Übersetzung und ich überlege an jeder<br />

einzelnen Stelle, ob ich den Änderungsvorschlag<br />

des Lektorats übernehme, meine<br />

ursprüngliche Übersetzung doch passender<br />

finde oder nach einer dritten Möglichkeit<br />

suche. Nach einer letzten Prüfung<br />

der Druckfahnen erteile ich dem scheinbar<br />

fertigen Text das Imprimatur. Ich sage<br />

«scheinbar fertig», weil ich zu der Ansicht<br />

gekommen bin, dass eine literarische<br />

Übersetzung niemals endgültig fertig ist.<br />

Wenn ich nach zehn oder zwanzig Jahren<br />

eine meiner Übersetzungen erneut ansehe,<br />

finde ich immer Stellen, die ich heute<br />

anders übersetzen würde als damals.<br />

Zur Person<br />

Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956<br />

in Düsseldorf, lehrte Skandinavistik<br />

an den Universitäten Göttingen und<br />

Reykjavík und übersetzt seit 20 Jahren<br />

Literatur aus nordischen Sprachen,<br />

darunter Werke von Autoren wie<br />

Jón Kalman Stefánsson, Gunnar<br />

Gun narsson und Hallgrímur Helgason<br />

sowie mittelalterliche Isländersagas.<br />

Daneben veröffentlicht er eigene<br />

Bücher. Für seine Übersetzung von<br />

«Dein Fortsein ist Finsternis» erhielt<br />

er <strong>2023</strong> den Christoph-Martin-<br />

Wieland- Übersetzerpreis.<br />

Inwiefern sind Sie in den übersetzten<br />

Werken spürbar?<br />

Der ideale Übersetzer ist in den Augen vieler<br />

der unsichtbare Übersetzer; eine gläserne<br />

Instanz, die den Lesenden das Original<br />

auf allen Ebenen möglichst ohne eigenes<br />

Zutun oder Weglassen nahebringt. Die<br />

vorhin erwähnten Beispiele zeigen, dass<br />

das eine Illusion ist. Es gibt keine Übersetzung<br />

ohne Eingriffe. Dennoch habe ich<br />

mich anfangs gewundert, als ein Kollege<br />

einmal behauptete, er würde selbstverständlich<br />

jedes von mir übersetzte Buch<br />

auch ohne Nennung meines Namens erkennen.<br />

Ja, es ist wohl so: Übersetzerinnen<br />

und Übersetzer entwickeln im Lauf<br />

der Zeit ihre eigene, wiedererkennbare<br />

Sprache – auch wenn sie ganz unterschiedliche<br />

Werke übersetzen.<br />

Wie stark tauschen Sie sich jeweils mit<br />

den Autorinnen und Autoren aus?<br />

Ich selbst nehme vor Beginn einer Übersetzung<br />

fast immer Verbindung zur Autorin<br />

oder zum Autor auf, besonders wenn es<br />

um komplexe, schwierigere Werke geht.<br />

Da finde ich es enorm hilfreich, wenn ich<br />

mich rückversichern kann, ob ich die eine<br />

oder andere Textstelle auch wirklich im<br />

Sinn der Textintention verstanden habe.<br />

Der Austausch kann sehr fruchtbar und<br />

<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 29

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