vsao Journal Nr. 5 - Oktober 2023
Sprache - Verstehen, verstummen, vermitteln Politik - Zulassungssteuerung – quo vadis? Adipositas - Neue Medikamente wecken Hoffnungen Offene Handverletzungen - Tipps und Tricks für den Notfall
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Politik<br />
Dankbarkeit und<br />
standespolitischer Einsatz<br />
– ein Widerspruch?<br />
Seit etwa einem Jahr darf ich regelmässig für die<br />
«Schweizerische Ärztezeitung» eine Kolumne zum<br />
Thema Wellbeing und Work-Life-Balance verfassen.<br />
Im Januar habe ich meine Vorstellung von Dankbarkeit<br />
und meine täglichen Rituale vorgestellt. 1<br />
Kurz zusammengefasst zeigt die Glücksforschung, dass<br />
Dankbarkeit ein zentrales Element für Glück ist und damit auch<br />
einen wichtigen Einfluss auf Gesundheit und Heilung haben kann.<br />
Auch deshalb baue ich Dankbarkeitsrituale in meinen Alltag<br />
ein und empfehle sie meinen Patientinnen und Patienten in<br />
der Mind-Body-Medicine-Sprechstunde. Regelmässig<br />
mache ich mir die Dinge bewusst, die ich im<br />
Leben habe. Ich anerkenne, dass es zahlreichen<br />
Menschen schlechter geht als mir.<br />
Das hilft mir, die Realität so zu erkennen,<br />
wie sie ist, und verschafft mir<br />
Klarheit, um zu entscheiden, was ich<br />
noch erreichen kann und verbessern<br />
möchte.<br />
Letzthin wurde ich von einem<br />
ärztlichen Kollegen auf den Kolumnenartikel<br />
angesprochen. Dabei kam<br />
ein angeblicher Widerspruch zur<br />
Sprache, den ich hier gerne diskutiere.<br />
Er hat mir die Frage gestellt, inwiefern<br />
der Inhalt meiner Kolumne zum<br />
Thema Dankbarkeit mit meinem <strong>vsao</strong>-Präsidium<br />
und dem standespolitischen Einsatz<br />
für bessere Arbeitsbedingungen und Weiterbildung<br />
vereinbar ist. Sinngemäss verlangte er von mir,<br />
der <strong>vsao</strong> solle mit dem Erreichten zufrieden sein, anstatt so<br />
viel Energie in den Kampf für die Einhaltung des Arbeitsgesetzes,<br />
die Weiterbildung und die Arbeitsbedingungen zu investieren.<br />
Zu seiner Zeit habe er da auch durchmüssen, und heute sei<br />
es schon lange nicht mehr so schlimm wie früher. Naja – uns<br />
bestens bekannte Argumente wurden mal anders verpackt …<br />
Dieses Thema greife ich hier wieder auf, weil im Gespräch ein<br />
weitverbreiteter Irrtum zum Vorschein kam. Dankbarkeit für das,<br />
was wir haben, darf auf keinen Fall mit Gleichgültigkeit und<br />
Resignation verwechselt werden. Dankbar zu sein, hilft mir, die<br />
Perspektive zu wechseln: Das Glas ist halb voll, nicht mehr halb<br />
leer. Zwar ändert sich meine innere Einstellung, trotzdem bleiben<br />
die Ungerechtigkeiten bestehen: Eine Mehrheit der Spitalärztinnen<br />
und -ärzte kann das Arbeitsgesetz nicht einhalten, die vereinbarten<br />
Weiterbildungen finden nicht statt oder können aus<br />
Auf den<br />
Punkt<br />
gebracht<br />
Zeitgründen nicht besucht werden, immer mehr junge Ärztinnen<br />
und Ärzte steigen aus dem Beruf aus.<br />
Selbstverständlich anerkenne ich, dass sich die Arbeitsbedingungen<br />
in den Spitälern in den über 20 Jahren seit meinem<br />
Staatsexamen verbessert haben, Assistenz- und Oberärztinnen<br />
und -ärzte dem Arbeitsgesetz unterstellt wurden und auch das<br />
Anrecht auf Weiter- bzw. Fortbildung festgehalten wurde. Ich sehe<br />
in unserer Mitgliederumfrage aber auch, dass die gesetzlichen<br />
Vorgaben mehrheitlich nicht eingehalten werden und dass die<br />
Arbeitsbelastung und burn-out-typische Symptome mit jeder<br />
unserer Umfragen zunehmen. Zudem ist heute – zu<br />
Recht – die Vereinbarkeit von Privatleben und<br />
Beruf wichtiger als früher, als Ärztinnen<br />
und Ärzte sozusagen mit ihrer Arbeit im<br />
Spital verheiratet waren. Irgendetwas<br />
läuft doch falsch, wenn heute der<br />
ärztliche Beruf häufiger an den Nagel<br />
gehängt wird als früher. Daran<br />
ändert sich nichts, auch wenn ich<br />
voller Dankbarkeit das halb volle<br />
Glas betrachte!<br />
Es ist unsere Aufgabe, dafür<br />
zu sorgen, dass sich die Arbeitsbedingungen<br />
so verbessern, dass der<br />
ärztliche Beruf gerne ausgeübt wird<br />
und genug Energie und Kraft bleiben,<br />
um Arbeits- und Privatleben zu vereinbaren.<br />
Tue ich dies dankbar und motiviert,<br />
habe ich mehr Energie, um dafür zu kämpfen,<br />
dass das Glas auch noch ganz gefüllt wird ...<br />
Bild: zvg<br />
1<br />
https://saez.ch/article/doi/saez.<strong>2023</strong>.21414<br />
Angelo Barrile,<br />
Präsident <strong>vsao</strong><br />
<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 5/23 11