vsao Journal Nr. 5 - Oktober 2023
Sprache - Verstehen, verstummen, vermitteln Politik - Zulassungssteuerung – quo vadis? Adipositas - Neue Medikamente wecken Hoffnungen Offene Handverletzungen - Tipps und Tricks für den Notfall
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Fokus: Sprache<br />
Im Jordan der<br />
Sprachen<br />
Kleine Krallenaffen und Menschenkinder brabbeln.<br />
Doch schon bald lassen die kleinen Menschen<br />
die Affen weit hinter sich und beherrschen eine komplexe<br />
Sprache – wie das geht, erforscht Sabine Stoll.<br />
Thomas Gull, Redaktor UZH Magazin<br />
Beide tun es: Die kleinen Krallenaffen<br />
im brasilianischen Urwald<br />
und die Menschen – sie<br />
brabbeln. Wenn wir brabbeln,<br />
versuchen wir mitzureden. Gut, im Moment<br />
versteht uns noch niemand, und wir<br />
sehen Gesichter, die uns zwar begeistert,<br />
aber auch verständnislos anschauen. Daraus<br />
lernen wir zweierlei: Brabbeln ist<br />
noch nicht gut genug, um wirklich verstanden<br />
zu werden. Und: Ich kommuniziere,<br />
also bin ich. Denn wer brabbelt,<br />
wird wahrgenommen.<br />
Wahrgenommen zu werden, dürfte eine<br />
evolutionsbiologische Funktion des<br />
Brabbelns sein, weil Babys und junge Krallenaffen<br />
darauf angewiesen sind, nicht<br />
vergessen zu werden. Im Spracherwerb<br />
dient Brabbeln in erster Linie dazu, das<br />
Artikulieren zu üben und zu imitieren,<br />
was wir gehört haben. «Was das bedeutet,<br />
verstehen Babys aber erst etwa ab dem<br />
neunten Monat», sagt Sprachwissenschaftlerin<br />
Sabine Stoll, die erforscht, wie<br />
Kinder ihre erste Sprache lernen.<br />
Die Professorin für Vergleichende<br />
Sprachwissenschaft an der UZH untersucht<br />
im NFS «Evolving Language» zusammen<br />
mit dem Verhaltensbiologen Simon<br />
Townsend, wie die Umgebung den<br />
Spracherwerb von Menschen und Affenkindern<br />
beeinflusst. Dabei geht es um Fragen<br />
wie: Wie prägen Interaktionen mit der<br />
Umwelt die Sprachentwicklung? Oder:<br />
Wie lernen Säuglinge, Signale wie Mimik<br />
und Gestik zu interpretieren, und welche<br />
Rolle spielt der Kontext für das Lernen?<br />
Zu kommunizieren ist existenziell für<br />
uns Menschen und für viele der höher entwickelten<br />
Tiere. Deshalb haben auch sie<br />
einfachere Formen von Sprache entwickelt.<br />
Entsprechend haben wir und andere<br />
Tiere die angeborene Fähigkeit, Sprache<br />
zu lernen oder zumindest ein angeborenes<br />
Repertoire von Lauten gezielt einzusetzen.<br />
Das menschliche Gehirn muss allerdings<br />
ganz andere Mengen von Informationen<br />
verarbeiten können, um die drei<br />
grundlegenden Elemente der Sprache zu<br />
lernen – ihre Struktur, die Laute und den<br />
Inhalt.<br />
Der Mensch hat im Verlauf seiner Geschichte<br />
Tausende von Sprachen hervorgebracht,<br />
viele sind wieder verloren gegangen,<br />
doch heute gibt es immer noch<br />
rund 7000. Wir haben die kognitiven<br />
Fähigkeiten, sie uns anzueignen. Selbst<br />
solche, die ungeheuer komplex sind, wie<br />
etwa das Chintang in Nepal mit seinen<br />
4800 Verbformen oder das Archi im<br />
Kaukasus mit 1,5 Millionen. Sie alle können<br />
wir lernen, zumindest als Erstsprachen,<br />
das heisst, wenn wir in sie hineingeboren<br />
werden oder als Kinder in sie<br />
eintauchen – dank unserem Gehirn, das<br />
am Anfang noch unglaublich flexibel ist,<br />
und unserem formidablen Gedächtnis.<br />
Doch wie lernen wir die Sprache? Unser<br />
Spracherwerb orientiert sich entlang<br />
der vier grossen I: Immersion, Interpretation,<br />
Interaktion und Imitation. Ihr Zusammenspiel<br />
ermöglicht uns, selbst grammatisch<br />
sehr komplexe Sprachen zu lernen.<br />
Muster im Sprachbrei<br />
Die Immersion beginnt schon in der Wiege:<br />
«Wir werden in die Sprache eingetaucht<br />
wie die Täuflinge in den Jordan»,<br />
sagt Sabine Stoll. Als Babys und Kleinkinder<br />
sind wir umgeben von Sprache. «Ein<br />
Kind hört in den ersten drei bis vier Lebensjahren<br />
Millionen von Wörtern.» Das<br />
kognitive Kunststück besteht nun darin,<br />
aus diesem Strom von Lauten Bestandteile<br />
wie Wörter oder Sätze zu filtern und ihren<br />
Sinn zu verstehen, das heisst, zu interpretieren,<br />
was uns da entgegenschlägt<br />
und zuerst mal so klingt wie das, was uns<br />
zum Essen vorgesetzt wird: wie Brei.<br />
In diesem Sprachbrei gibt es Muster.<br />
Und wir können diese erkennen. Eine Fähigkeit,<br />
die uns angeboren ist. Sie ist das<br />
Fundament unseres stupenden Talents,<br />
Sprachen zu lernen. Kleinkinder analysieren<br />
ständig – unbewusst – den sprachlichen<br />
Input ihrer Umwelt und machen sich<br />
darauf einen Reim. «Indem es Millionen<br />
von Äusserungen verarbeitet, erfährt das<br />
Kind viel über die Regularität der Sprache»,<br />
sagt Sabine Stoll, «mit ihren Mustern<br />
wird es im ersten Lebensjahr schon unzählige<br />
Male konfrontiert.»<br />
Klar ist: Je grösser, je vielfältiger der<br />
Input ist, desto mehr Material hat das<br />
Kleinkind, mit dem es arbeiten kann.<br />
Wichtig ist aber auch die Qualität, betont<br />
Sabine Stoll. Damit meint sie, wie das Kind<br />
Sprache erlebt: «Es macht wenig Sinn, ein<br />
Kleinkind vor den Fernseher zu setzen<br />
und zu hoffen, so lerne es beispielsweise<br />
Hindi», sagt die Sprachwissenschaftlerin,<br />
«es braucht das Zwischenmenschliche,<br />
die Interaktion mit den Eltern oder Geschwistern.»<br />
Wenn wir Sprache(n) lernen,<br />
beziehen wir die Umgebung ein und interpretieren<br />
sie. Dazu gehören etwa Körpersprache<br />
und Mimik der Bezugspersonen.<br />
Diese Interaktion, womit wir bereits beim<br />
dritten grossen I wären, sorgt dafür, dass<br />
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5/23 <strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong>