mein/4 März 2020
mein/4 Stadtmagazin, Ausgabe März 2020
mein/4 Stadtmagazin, Ausgabe März 2020
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STADTTEILMAGAZIN ∕ PRENZLAUER BERG JULI/AUGUST/2017
www.meinviertel.berlin MÄRZ 2020 – MAI 2020
STADTMAGAZIN
4
Neue
Autoren:
- Bärbel Stolz
- Chin Meyer
- Wladimir
Kaminer
KEVIN KÜHNERT: JUNG-ENGAGIERT-PROVOKANT
H.-W. MEYER: „DAS GLÜCKSSCHWEIN-GEN“
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
die ersten schönen Sonnentage zeigen sich. Das Licht treibt die Menschen ins Freie,
die Stadt blüht auf. Wir sind schon in der dunkleren Winterzeit aufgeblüht und waren
ziemlich produktiv.
Der Schauspieler Hans-Werner Meyer, bekannt aus über 140 Produktionen, ließ
uns bei einem ausgiebigen Frühstück teilhaben an der Welt der Schauspielerei und
dem Alltag als „Berliner“. (Seite 4)
Wir trafen uns zu einem erfrischenden Interview mit Kevin Kühnert im Willy-Brandt-
Haus. (Seite 14)
Der waschechte Berliner Jazzsänger Atrin Madani erobert mit 22 Jahren schon die
feinsten Adressen der Berliner Jazz- und Entertainmentszene: Donau 115, Bar jeder
Vernunft, Maison de France oder der Jazzclub A-Trane – an all diesen Orten durfte
der junge Künstler bereits sein Publikum begeistern. Für uns stellt kein Geringerer
als Hans-Jürgen Schatz ihn vor. (Seite 22)
Ganz besonders stolz sind wir auf unsere drei neuen Kolumnen, die augenzwinkernd
ein wenig Würze in den Alltag bringen sollen. Wladimir Kaminer (Seite 30) erklärt
die problematische Restaurantfindung in unserer Stadt, Bärbel Stolz (Seite 38)
gibt „ungefragt Lebenshilfe“ und Finanzkabarettist Chin Meyer erklärt die Welt der
Hochfinanz. Viel Spaß! (Seite 12)
Hoch über den Dächern der Stadt treffen wir Alexander Koppe. Der mit einem
MICHELIN-Stern ausgezeichnete Berliner Koch erzählt von der Lust an der Last.
(Seite 49)
Das und vieles mehr erwartet euch in dieser Ausgabe. Wir wünschen euch viel Vergnügen
beim Lesen und würden uns freuen, von euch zu hören!
Einen schönen Frühling wünschen
Beate und Markus
1
Hans-Werner Meyer und das „Glücksschwein-Gen“ Seite 4
Kolumnen Seite 12/38/30 K. Kühnert: jung-engagiert-provokant
Mobil in Berlin – am Stau vorbei … Seite 40
Inhalt
Das„Glücksschwein-Gen“
Interview mit Hans-Werner Meyer 4
Warum Berlin kein Netz hat!
Kolumne von Chin Meyer 12
Kultur Seite 32
Jung engagiert provokant
Interview mit Kevin Kühnert 14
„You gotta know your shit!“
Der Jazzsänger Atrin Madani im
Gespräch mit Hans-Jürgen Schatz 22
„Kurz und knapp“
Interview mit Franziska Hauser 26
Das literarische Feuerwerk
Vorgestellt von Marita Vornbäumen 29
Sie heißt Phở
Kolumne von Wladimir Kaminer 30
Kultur im Kiez
Das Bayerische Viertel 32
Seite 14
Kulturtipps
vom Kulturfritzen 36
Bärbel‘s ungebetener Ratschlag
Kolumne von Bärbel Stolz 38
Mobil in Berlin
Unterwegs mit dem Lastenrad 40
Mobil mit dem Fahrrad
Drei Fragen an Sören Benn 47
Über die Lust an der Last
Interview mit Alexander Koppe 49
Die Entdeckung der Lammsamkeit
Küchenanekdoten 53
Dies & Das 54
#sagenein ! 58
„Skykitchen“ Seite 49
Buchvorstellung 62
Leserbriefe 63
© Fotos: Pavol Putnoki
Hans-
Werner
Meyer
und das„Glücksschwein-Gen“
Zu manchen Interviews kommt man in Berlin durch Zufälle. Ein Plakat am Renaissance-Theater
weckt mein Interesse: „Nein zum Geld!“, ein Theaterstück von Flavia Coste, geht wegen des großen
Erfolges in die Verlängerung. Das Gesicht des Hauptdarstellers kommt mir merkwürdig bekannt
vor. Es macht mich wahnsinnig, wenn ich etwas nicht einordnen kann. Ein Glück haben wir heute
Smartphones und Google …
Hauptdarsteller Hans-Werner Meyer kommt also aus Norderstedt
bei Hamburg. Die erste Gemeinsamkeit. Er besuchte
das Albert-Schweitzer-Gymnasium, ein musisches
Gymnasium. Die Glocken der Erinnerung beginnen zu
läuten: Auch mein Cousin besuchte damals diese Schule.
Gemeinsam mit Freunden gründete er eine A-cappella-
Gruppe. Aus Spaß an der Musik spielten sie in der Spitalerstraße
in der Hamburger Innenstadt. Auf diese Weise
haben sie sich ihr Taschengeld aufgebessert. Sie hatten
Glück, denn ein zufällig vorbeigekommener Plattenproduzent
bot ihnen einen Vertrag an. So kam es, dass vier
„Jetzt fühle ich mich etwas
unter Druck gesetzt.“
Abiturienten die Version von „Only You“ der Flying Pickets
coverten und damit erfolgreich die deutschen Charts
stürmten. Für mich war das eine aufregende Sache: Ich
war damals elf Jahre alt und verbrachte die Wochenenden
damit, die Hitparade mit meinem Kassettenrecorder mitzuschneiden.
Der Erfolg des Quartetts gipfelte in einem
Auftritt bei Dieter Thomas Heck in der ZDF-Hitparade
und dem Gewinn der Goldenen Eins. Damit verblassen
meine Erinnerungen und die Recherchen gehen weiter.
Ein Zitat springt mir dabei besonders ins Auge: „Mein
Bruder hat das Glücksschwein-Gen“, sagte in einem Interview
der Kabarettist Chin Meyer über seinen jüngeren
Bruder. Das macht neugierig …
Wir treffen Hans-Werner Meyer in einem Café in Prenzlauer
Berg. Pünktlich kommt er mit seinem Fahrrad um
die Ecke.
mein/4: Ich habe versucht mich auf dich vorzubereiten.
Je mehr ich gelesen habe, desto
schwieriger fiel mir die Entscheidung, worüber
wir reden könnten.
Meyer: Das tut mir leid.
mein/4: Es gibt irgendwie nichts, was du nicht
machst: Musik, Theater, Film, Serien, Hörbücher,
du bist Autor ...
Meyer: Mir geht es aber ähnlich. Wenn ich mich auf so
ein Interview vorbereite, frage ich mich auch: Was gibt es
Interessantes zu erzählen?
4
mein/4
mein/4: Bei dir sind es so viele Themen …
Meyer: Bei euch ja auch. Ich habe euer Magazin gelesen,
Gysi und Kaminer zum Beispiel. Ich fand’s total interessant
und habe es gerne gelesen. Jetzt fühle ich mich
etwas unter Druck gesetzt (lacht).
mein/4: Meine erste Erinnerung an dich war die
Überreichung der Goldenen Eins in der ZDF-
Hitparade. Später habe ich die Trophäe bei
meinem Cousin noch im Regal stehen sehen. Wo
ist deine?
Meyer: Ich habe keine. Wir bekamen nur eine überreicht
und die durfte der Leadsänger behalten.
mein/4: Es bekam nicht jeder eine? Hast du
keinen Protest eingelegt?
Meyer: Leider nein. Das ist immer noch die Ursache
tiefen Schmerzes (lacht). Nein, er darf sie gern haben.
Obwohl, es kann sein, dass sie inzwischen bei Hoppel
ist. Der macht bei uns das Archiv.
Idee der Klangrazzia: Ein Streichquartett spielt die ersten
Takte, da kommt Sigmund von Treiber und pfändet
die Instrumente. Das Quartett muss ohne Instrumente
weitermachen und von Treiber hört nicht auf zu nerven.
Das Ganze hat erstaunlich gut funktioniert.
mein/4: Habt ihr euch das zu fünft ausgedacht?
Meyer: Das Konzept haben mein Bruder und ich entwickelt.
Ich habe es dann geschrieben und im Austausch
mit ihm immer weiterentwickelt. Er aktualisiert seine
Comedyblöcke natürlich ohnehin nach Tagespolitik, aber
auch ich ärgere die Jungs damit, dass ich vor so ziemlich
jeder Vorstellung den Text verändere.
mein/4: Du hast zwei Söhne, elf und 13, wohnst
in Mitte. Wie läuft es an der Elternfront?
Meyer: Im Moment ist das eine Art Nahkampf. Ständig
muss die Hackordnung definiert werden, der Ältere ist
bereits mitten in der Pubertät. Er ist jetzt schon größer
als ich, macht Leistungssport, spielt intensiv Basketball
bei Alba und macht regelmäßig Muskeltraining.
mein/4: Ihr habt euch inzwischen wiedergefunden.
Aus „Echo-Echo“ wurde „Meier & die Geier“.
Gemeinsam mit deinem Bruder, dem Kabarettisten
Chin Meyer, habt dir das Programm
„Klangrazzia“ entwickelt. Im letzten Jahr wart
ihr im Renaissance-Theater, in diesem Jahr habe
ich noch keine Termine in Berlin gefunden?
Meyer: Es gibt in Berlin leider auch noch keine. Mein
Bruder hat über 150 Auftritte im Jahr, jeder von uns hat
seinen Beruf, die Koordination ist eine Katastrophe. Immerhin
haben wir bislang zwei Auftritte außerhalb von
Berlin. Ich bin aber guter Dinge, dass wir noch einen
Termin finden.
mein/4: Wie seid ihr auf die Idee „Klangrazzia“
gekommen?
Meyer: Das muss vor über 15 Jahren gewesen sein. Wir
wurden für die Dachauer Schlosskonzerte angefragt.
Bei den Verhandlungen fragte mich die Organisatorin
nebenbei, ob ich noch einen guten Kabarettisten kennen
würde. „Klar”, sagte ich, „meinen Bruder”. Der entwickelte
gerade seine Figur, den Steuereintreiber Sigmund
von Treiber. „Ach”, sagte sie, „und können Sie auch was
zusammen machen?” In solchen Situationen habe ich
immer eine große Klappe, also sagte ich ja. Zu Chin
sagte ich: „Ich habe einen Gig für dich, aber wir müssen
das irgendwie zusammen machen.” Und so entstand die
mein/4
5
Interview mit Hans-Werner Meyer
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Ihrem Kind zuliebe.
Konsequenz: Wenn er nicht mehr will,
dann will er nicht. Aber so ist die Pubertät.
Sie denken, sie können alles, sie
wollen alles alleine machen, und trotzdem
musst du da sein und notfalls einspringen.
Obwohl du weggestoßen wirst.
Eine anstrengende Zeit.
mein/4: Du hast sogar ein Buch
geschrieben: „Durchs wilde
Kindistan“
Meyer: Ja, da kam damals eine Literaturagentin
auf mich zu und fragte, ob ich
Lust hätte einen Ratgeber zu schreiben.
Ich dachte, wer bin ich denn, anderen
Leuten Ratschläge zu geben? Aber Väter,
die von Anfang an gleichberechtigt
Verantwortung übernehmen, waren noch
weniger normal als heute. Außerdem
hatte ich gerade etwas Zeit als Schauspieler
und es hat mich gereizt, mal was
zu schreiben. Aber nicht als Ratgeber,
sondern gewissermaßen als Erfahrungsbericht
aus der abenteuerlichen neuen
Welt, die man als Vater bereist. Aber
ich habe auch gemerkt, wie anstrengend
das ist. Hut ab vor den Leuten,
die davon leben (müssen)! Das ist echte
Knochenarbeit.
„Je länger ich drehe
desto mehr Respekt
habe ich vor den
Autoren, … “
mein/4: Du drehst im Moment
die 9. Staffel von „Letzte Spur
Berlin“. Reizt es dich, dafür mal
ein Drehbuch zu schreiben?
Meyer: Naja, auch das ist Knochenarbeit.
Je länger ich jetzt drehe und auch
die „Letzte Spur“ drehe, desto mehr Respekt
habe ich vor den Autoren, die sich
dafür die Geschichten ausdenken, die
nach sehr strengen dramaturgischen Regeln
erzählt werden müssen, vom Ende
her gedacht, mit Rückblenden, einer
klar definierten Anzahl von Wendungen
und einer Folge übergreifender persönlicher
Geschichten der Ermittler. Ich
bewundere das und beneide die Autoren
nicht.
mein/4: Du hast nach dem Abitur
deine Schauspielausbildung in
Hannover gemacht. Danach zog
es dich für drei Jahre nach München
ans Theater. 1994 bist du
dann nach Berlin gewechselt und
bekamst ein Engagement an der
Schaubühne …
Meyer: Genau, da war ich vier Jahre und
seitdem arbeite ich frei.
mein/4: Warum bist du in Berlin
geblieben?
Meyer: Ich fühle mich hier zu Hause.
Das ging mir von Anfang an so. Ich
habe mich in München nie zurechtgefunden,
obwohl es eine kleine Stadt ist.
In Schwabing habe ich mich grundsätzlich
verfahren. Die Straßen suggerieren,
sie seien gerade und rechtwinklig, wie
in Manhattan, aber sie verlaufen leicht
schräg. Da verliere ich total die Übersicht.
In Berlin habe ich mich sofort zurechtgefunden.
Komischerweise, obwohl
alles viel größer ist. Richtung Hamburg
hege ich auch noch heimatliche Gefühle.
Nun komme ich ja nicht mal aus Hamburg,
sondern aus Norderstedt. Da halten
sich meine heimatlichen Gefühle allerdings
in Grenzen.
mein/4: Bewegst du dich bei
deinem dicht gedrängten Terminkalender
überhaupt noch privat
durch Berlin?
Meyer: Ja, notgedrungen. Meistens leider
nicht flanierend, sondern hetzend,
auf dem Fahrrad und Dinge erledigend.
Auf dem Weg hierher habe ich gerade
gedacht, herrlich, das ist mal ein Termin,
wo man einfach im Café sitzen kann,
sich unterhält und entspannt. Ich fühle
mich manchmal wie ein Kissen, auf dem
ein sehr dicker Hintern sitzt, und bei
einem solchen Termin steht er auf, das
Kissen dehnt sich, füllt sich wieder mit
Luft und macht pfft ... Ich finde es schön
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6 mein/4
Interview mit Hans-Werner Meyer
Kämpfe müssen die Großen austragen, die Jüngeren
können viel entspannter durch ihre Kindheit gehen. Die
gucken sich alles an und ziehen ihre Schlüsse daraus.
mein/4: Was unternimmst du mit deiner Familie?
Geht ihr essen, ins Theater? Oder bleibt ihr
lieber in Ruhe zu Hause?
hier, ich mag auch die Gegend. Ein bisschen mehr Zeit
zu haben wäre schön, um rumzulaufen, zu entdecken.
„… auf der Straße entdeckt zu werden
und dann gleich einen Hit zu landen,
ist natürlich ein ziemlich unverschämtes
Glück“
mein/4: Dein Bruder hat einmal über dich
gesagt, du hättest das „Glücksschwein-Gen“ ...
Meyer: Als Schüler auf der Straße entdeckt zu werden
und dann gleich einen Hit zu landen, ist natürlich ein
ziemlich unverschämtes Glück. Da hat er nicht ganz
unrecht. Aber mein Bruder und ich, wir haben unterschiedliche
Wege beschritten. Ich wusste recht früh was
ich wollte, ich glaube, es hat ihn auch beeindruckt, dass
ich das einfach mache. Er ist halt ein paar Umwege gegangen.
Es sind natürlich wertvolle Erfahrungen, die er
dabei gesammelt hat, und so ein Umweg hat auch seine
Vorteile – vor allem für den jüngeren Bruder, weil er sie
miterleben kann, ohne sie selbst gehen zu müssen (lacht).
mein/4: Du bist der Jüngste von drei
Geschwistern. Spielt das auch eine Rolle?
Meyer: Ich glaube, als Jüngster hat man es sowieso leichter.
Ich beobachte das auch bei meinen Kindern. Die
Meyer: Ja, das ist lustig. Meine Frau, Jacqueline Macaulay,
ist ja auch Schauspielerin und arbeitet derzeit oft
außerhalb von Berlin. Gerade ist sie zum Beispiel wieder
auf Tournee. Unsere Terminkalender zu koordinieren ist
eine ziemliche Herausforderung, und der unserer Kinder
ist voller als der ihrer Eltern. Beide spielen leidenschaftlich
gern Basketball. In der Woche haben sie fast täglich
Training nach der Schule, und am Wochenende sind die
Spiele, oft auch mehr als eins. Wenn wir also Zeit mit
ihnen verbringen wollen, dann müssen wir sie vom Training
abholen und zu den Spielen gehen. Und das tun wir
auch. Aber wenn wir dann mal mit ihnen essen gehen
wollen, heißt es meistens: „Och nö, nicht schon wieder
weggehen.“ Nun haben wir aber auch keine Lust jeden
Tag zu kochen, ein Dilemma.
Wie gesagt, Nahkampf. Mir ist wichtig, dass wir wenigstens
ein- bis zweimal am Tag zusammen Zeit verbringen.
Das ist meistens das Frühstück und das Abendbrot.
Aber die alltäglichen Fliehkräfte sind enorm, und
wirklich Ruhe haben wir nur in der Datsche, die wir seit
ein paar Jahren haben. Da sind wir im Sommer und am
Wochenende – wenn gerade keine Spiele sind.
Infos
HANS-WERNER MEYER
Schauspieler & Künstler
aus Berlin
Der gebürtige Hamburger
beginnt seine Schauspielkarriere
am Residenztheater
in München und wechselt
später an die Berliner Schaubühne.
Sein Filmdebüt gibt Hans-
Werner Meyer 1994 als Englischlehrer
Jochen in
Joseph Vilsmaiers CHARLIE & LOUISE – DAS
DOPPELTE LOTTCHEN. Seitdem spielt er in über
120 Film- und Fernsehproduktionen.
Mit seinem ersten Hörbuch SPIDER gewinnt er 2007
den Hörbuchpreis Ohrkanus.
Mit der vierköpfigen A-Capella-Gruppe MEIER &
DIE GEIER tritt er regelmäßig auf, zuletzt mit dem
Programm „Klangrazzia“ von 2013.
www.hans-werner-meyer.de
mein/4
7
Interview mit Hans-Werner Meyer
mein/4: Du spielst auch noch Theater. Im Moment
läuft im Renaissance-Theater „Nein zum
Geld!“. Wie bekommst du Theater, Familie,
Dreharbeiten und Musik unter einen Hut?
Meyer: Ohne digitalen Kalender wäre ich verloren (lacht).
Theaterspielen kann ich übrigens derzeit leider nur alle
paar Jahre. Und mit dem Renaissance-Theater ist die Koordination
am einfachsten – übrigens eines der schönsten
Theater Berlins, zumindest von innen, und eines,
das häufig Uraufführungen von neuen Stücken spielt.
„Klug ist, wer sich andere
Standbeine aufbaut.“
mein/4: Die Schauspielerei ist ein hartes Geschäft.
Viele bekannte Schauspieler bekommen
irgendwann keine Rolle mehr und sind nicht
mehr gefragt. Hast du Angst davor, dass dir das
passiert?
Meyer: Das ist das Brutale an dem Beruf, das weiß jeder.
Man verdrängt das so gut es geht. Solange man jung ist,
funktioniert das auch ganz gut. Aber wenn man sich die
Biografie von Kollegen anguckt, dann weiß man: Der
Punkt kommt unweigerlich. So oder so. Mal härter, mal
weniger hart. Für Frauen ist es, wie so oft, eher härter:
Ab 40 wird das Rollenangebot extrem übersichtlich.
Redakteure wechseln, es kommt eine neue Generation,
die interessiert sich für andere Leute. Die Vorliebe für
bestimmte Typen wechselt wie die Mode, und so weiter.
Klug ist, wer sich andere Standbeine aufbaut.
mein/4: Wenn man sich deine Rollen in der
Vergangenheit anschaut, dann waren da sehr
unterschiedliche Charaktere dabei, sehr
unterschiedlich angelegte Rollen. War das
Absicht? Möchtest du vermeiden, auf eine
Rolle festgelegt zu werden?
Meyer: Das ist das Glücksschwein-Gen (lacht). Aber ich
bin mir dessen sehr bewusst. Zum Beispiel mache ich
die Fernsehserie „Letzte Spur Berlin“ schon sehr lange.
Dadurch, dass ich vorher schon so viel anderes gemacht
habe, habe ich nicht die Sorge, auf diese Rolle reduziert
zu werden. Zumal sich die Zeiten auch sehr geändert haben.
Eine Fernsehserie hat nichts Anrüchiges mehr, wie
es noch der Fall war, als ich angefangen habe. Aber ich
habe schon große Sehnsucht danach, auch wieder andere
8 mein/4
MATRATZEN | BETTEN | BETTSYSTEME
SEIT ÜBER 100 JAHREN QUALITÄT AUS SCHWABEN
Sachen zu machen. Darum spiele ich auch nach
wie vor Theater, wenn es geht. Oder mache Hörspiele
und Hörbücher. Oder eben Musik. Aber ehrlichgesagt
weniger aus karrieretaktischen Gründen.
Ich würde mich sonst einfach langweilen.
mein/4: Bedeutet Schauspielerei auch viel
Netzwerkarbeit? Oder erledigt das deine
Agentur?
Der Mensch ist unser Maß
Meyer: Dafür habe ich gar keine Zeit. Auch wenn
ich das wohl tun sollte. Meine Agentur ist glücklicherweise
gut vernetzt. Auf Empfängen und Veranstaltungen
herumzuhängen liegt mir eigentlich
überhaupt nicht. Allerdings muss ich das in meiner
Eigenschaft als Vorstand im BFFS ohnehin ...
mein/4: Du hast gemeinsam mit anderen
Schauspielern den Bundesverband
Schauspiel, kurz BFFS, gegründet ...
Meyer: Genau. Und für den BFFS bin ich notgedrungen
auf vielen solcher Veranstaltungen.
Das ist aber auch etwas völlig anderes. Für die
gemeinsamen Interessen des Berufsstandes einzutreten,
fällt mir wesentlich leichter. Mich selbst
zu verkaufen, finde ich eher unangenehm.
„Schauspieler ist ein ehrenvoller
und nützlicher Beruf, der unsere
Kultur bereichert.“
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mein/4: Ein Schauspieler, der nicht gerne
im Vordergrund steht?
Meyer: Ich fürchte, ich habe kein besonders fettes
Ego. Ein gewisser Narzissmus kann ja durchaus
förderlich sein in meinem Beruf und auch irgendwie
faszinierend. Aber nicht für mich. Meine eigene
Person interessiert mich einfach nicht genug,
um sie in den Vordergrund stellen zu wollen. Übrigens
auch keine andere einzelne Person. Mich
für eine Sache zu engagieren, finde ich viel interessanter
und befriedigender.
mein/4: War das eines deiner Hauptanliegen,
den BFFS mit zu gründen?
Meyer: Ich wollte Schauspieler werden, weil ich
große Ehrfurcht vor dem Vorgang der Verwandlung
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mein/4 9
roewa.berlin
Interview mit Hans-Werner Meyer
hatte. Es ist ein ehrenvoller und nützlicher Beruf, der
unsere Kultur bereichert. Und Kultur ist das, was uns
ausmacht. Aber dann habe ich festgestellt, dass die wenigsten
Schauspieler stolz darauf sind, Schauspieler zu
sein. Sie sind stolz, wenn sie „erfolgreich“ sind. Das hängt
mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung zusammen
und die wiederum hängt davon ab, wie Schauspieler sich
selbst wahrnehmen. In den USA und anderen Ländern
mit einer funktionierenden Schauspielergewerkschaft
dagegen gibt es diesen Stolz auf den Beruf selbst. Das
war meine Motivation. Das wollte ich ändern. Und das
hat sich auch schon ein Stück weit geändert.
mein/4: Ich stelle mir das sehr schwer vor, gemeinsam
in einer Gewerkschaft für die Interessen
aller zu kämpfen, aber trotzdem einem brutalen
Konkurrenzkampf untereinander ausgesetzt zu
sein. Die guten Rollen sind ja nicht so zahlreich?
Meyer: Das ist wahr. Eigentlich ist es ein Widerspruch
in sich. Und genau darauf sind wir Schauspieler immer
reduziert worden, auch in den Medien. Es ist natürlich
interessanter über den Zickenkrieg zwischen X und Y zu
berichten, als über drohende Altersarmut bei Schauspielern
und das Missverhältnis zwischen dem, was sie in die
Arbeitslosenkasse einzahlen und aus ihr herausbekommen.
„Es ist natürlich interessanter über
den Zickenkrieg … zu berichten,
als über drohende Altersarmut.“
Aber de facto haben wir gemeinsame Interessen. Neben
unseren gerade erwähnten strukturellen Problemen mit
dem sozialen Netz haben wir z. B. auch mit allen Kreativen
das gemeinsame Interesse, das Urheberrecht ins
digitale Zeitalter zu retten, das derzeit von den großen
Internetplattformen bedroht wird. Eine funktionierende
Schauspielergewerkschaft zu haben, ist eine wichtige gesellschaftliche
Funktion. Das hat auch der Bundespräsident
erkannt. Denn wie ich gerade erfahren habe, wird
der Kollege, der vor 13 Jahren die Idee hatte, den BFFS
zu gründen, Michael Brandner, im März dafür mit dem
Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Wir verlassen das Café nach über zwei Stunden. Eine Weile
stehen wir noch bei den Fahrrädern und plaudern über
Lastenbikes. Ein Blick auf die Uhr mahnt Hans-Werner
Meyer zum Aufbruch: „Ich habe jetzt Gesangsunterricht,
da darf ich nicht zu spät kommen.“ Er bricht auf, und ich
komme ins Grübeln. Vielleicht hat das Glücksschwein-
Gen doch mehr mit Fleiß und Zielstrebigkeit zu tun, als
man so meinen würde …
■
Chin & Hans-Werner Meyer
© Diana Bader
10 mein/4
MATRATZEN | BETTEN | BETTSYSTEME
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Meier & die Geier
Vier Musiker. Vier Stimmen. Vier Temperamente.
Mehr muss nicht sein.
Ein Lattenrost fürs Leben
Geschichte
Ein junger Mann mit einer Idee: Wir gründen eine
Band. Aber ohne Instrumente. Er fragt ein paar
Schulfreunde. Die sind dabei. Sie treffen sich,
proben und wollen auftreten. Aber Musik ohne
Instrumente ist Anfang der Achtzigerjahre nicht
erwünscht. Ohne Vocoder, Synthi und Schulterpolster
läuft gar nichts.
Ein Musikproduzent entdeckt sie
schließlich. Er produziert eine
Platte mit ihnen. Die Platte wird ein
Erfolg. Die Jungs treten in der Hitparade bei
Dieter Thomas Heck auf, gewinnen die Goldene
Eins und finden das alles sehr amüsant. Aber schon
bald müssen sie erkennen, dass zwischen Spaß
und Musikgeschäft ein Abgrund klafft.
Die Jungs entscheiden sich für den Spaß, werden
erwachsen, trennen sich und gehen ihre Wege.
Nach ein paar Jahren hat der nicht mehr ganz so
junge Mann eine neue Idee: Wir machen weiter.
Mit neuem Namen, neuer CD und altem Spaß.
Die Bandmitglieder
Hans-Werner Meyer
Tenor
Valentin Gregor
Bass
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Bariton
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Warum Berlin kein Netz hat
Eine Kolumne von Chin Meyer
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Berlin! Für viele der Inbegriff aller Sehnsüchte nach Großstadt, Abenteuer,
Kreativität oder einfach nur nach der Ruhe einer Stadt, die über
keinen richtigen Flughafen verfügt. Nicht alle allerdings sind Berlin
wohlgesonnen: „Wie kannst du da nur leben?“, fragte eine süddeutsche
Freundin neulich. „Bei den ganzen Drogen, der Kriminalität, den miesgelaunten
Menschen.“ „Ach,“ sagte ich, „abseits des Regierungsviertels
sieht es total anders aus. Es gibt sogar Gegenden, da ist es nahezu unmöglich
einen halbwegs kriminellen Drogenhändler aufzutreiben.“
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Einen etwas besonderen Kommentar
zu Berlin erhielt ich neulich in einem
Telefonat. Bevor ich jenes denkwürdige
Telefonat führte, hatte ich mir in einem
Anfall von „Ich-will-Geld-sparenund-daher-den-Stromanbieter-wechseln“
einen neuen Stromanbieter besorgt. Es
handelte sich um – man höre und staune
– Vattenfall. Aber nicht um irgendeinen
Vattenfall, sondern um den „Natur12
Strom“-Tarif, der nur aus nachhaltigem
Naturstrom besteht. Sicher, ich hätte
Verdacht schöpfen können. „Natur12
Strom“ – was soll das heißen? Dass es
nur den halben Tag lang Strom gibt?
Aber darauf kam ich nicht. Zuerst fühlte
ich mich wie Indiana Jones nach der Sicherstellung
der Bundeslade – ich hatte
die Welt vor dem Bösen bewahrt. Und
würde gleichzeitig Strom haben. Guten
Strom. Biostrom gewissermaßen – das
Tofusteak unter den Stromanbietern.
Und das sogar bezahlbar!
Regelrecht euphorisiert war ich, als
ich nach mehrstündiger Recherche,
12
Preisvergleichen und nebenher noch
eine Bonusreise fast buchen und dann
ablehnen … als ich also völlig erledigt
den Auftrag losklickte. Ich verbot mir,
die damit verbrachte Zeit in diesem
Stromwechsel zu berücksichtigen. Immerhin
lassen vier Lebenszeit-Stunden
bei einem Stundensatz von 50 Euro den
Preisvorteil von 183 Euro doch etwas
anders aussehen … Aber man darf nicht
kleinlich sein, wenn man „Indiana-Jones-Strom“
bestellt.
Freudig erregt war ich auch noch, als
ich Post von Vattenfall in den Händen
hielt, die mir sicherlich bestätigen würde,
dass ich jetzt mit meinem Strom die
Welt rettete. Das jedoch tat sie nicht.
Vattenfall informierte mich sehr kühl,
dass sich niemand gemeldet hätte, der
mir Strom liefere und dass ich jetzt von
ihnen mit „Basisstrom“ beliefert würde.
Basisstrom – geht’s noch? Statt des erhofften
Biostroms würde ich mit Kohle
und Atom die Welt zerstören. Zerstört
war auch ich, und zwar am Boden!
mein/4
MATRATZEN | BETTEN | BETTSYSTEME
SEIT ÜBER 100 JAHREN QUALITÄT AUS SCHWABEN
Ich rief bei Vattenfall an und schilderte meinen Fall:
„Ihr Stromwechsel hat nicht funktioniert? Sie wohnen
vermutlich in Berlin,“ sagte der Mitarbeiter mit dem
Hamburger Dialekt. „Jetzt hör‘ mal zu, du Kackbratze,“
dachte ich, „deinen blöden Fischkopp-Lokal-Patriotismus
kannst du mal ganz entspannt für dich
behalten.“ Was ist das für eine Herangehensweise?
Dieses platte Problembewusstsein steht auf einer
Ebene mit: „Ihr Leben ist aus den Fugen geraten?
Sie wohnen vermutlich in Berlin!“ „Ihr Drogenlieferant
wurde nicht zum Ministerpräsidenten gewählt?
Sie wohnen vermutlich in Berlin.“ „Sie können nicht
wegfliegen? Sie …“ (Sie wissen schon).
Es stellte sich heraus, dass Vattenfall in Berlin ein
„Softwareproblem“ hat. Meine Situation würde sich
von selbst regeln. Irgendwann … Ich musste daran
denken, dass „Softwareproblem“ ein neuer, völlig unantastbarer
Tatbestand ist. Hätte mir jemand in den
80er Jahren etwas von einem „Soft-Wear-Problem“
erzählt, wäre es naheliegend gewesen, ein Problem
bei dessen schlabbrigen Klamotten zu verorten. Aber
heute denkt man: „Tja, Softwareproblem, da kann
man nix machen. Das passiert halt.“ Ähnlich wie
Unwetter im Mittelalter werden Softwareprobleme
heute irgendeiner übergeordneten, fast göttlichen
Macht zugeordnet. Irgendein Chip ist wahrscheinlich
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Rubrik
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provokant
Kevin Kühnert im Interview
Kaum ein Politiker war in den letzten Wochen und Monaten in den Medien so
präsent wie Kevin Kühnert. Und kaum einer polarisierte durch seine Ideen wie er.
Für die einen sind seine Ideen die Antwort auf die sozialen Fragen der Zukunft, für
die anderen der Rückfall in den Kommunismus.
14
Kevin Kühnert im Interview
mein/4: Lieber Kevin Kühnert, du bist 30 Jahre
alt und seit 15 Jahren Mitglied der SPD. Wie
kommt man als 15-Jähriger darauf, sich in der
Politik zu engagieren?
Kevin Kühnert: Ich bin Jahrgang 1989, in den vergleichsweise
ruhigen Neunzigerjahren aufgewachsen und dann
an die Oberschule gekommen – eine Zeit, als um uns
herum politisch ganz viel Aufregendes passierte. Ein
Beispiel: In der ersten oder zweiten Woche am Gymnasium
in Lankwitz geschahen die Anschläge vom
11. September 2001. Ich glaube, für meine Generation
war sofort klar, dass ab diesem Tag etwas anders sein
würde. Das haben wir auch schon mit zwölf Jahren bemerkt.
Daraus resultierten viele Debatten um den Irakkrieg,
es gab viele Massendemos in Berlin, zu denen wir
auf die Straße gegangen sind. Es war eine hochpolitische
Zeit. Insofern war der Eintritt in eine Partei nicht der
Moment, in dem ich politisch geworden bin, sondern
das war eigentlich schon vorher. Die Überlegung war
eher: Reicht es, für sich alleine politisch zu sein oder
muss man sich nicht auch organisieren? Ich habe mich
für Letzteres entschieden.
mein/4: Wann war für dich klar, dass es die
SPD sein sollte? Dein Eintritt war 2005, das
letzte Jahr von Schröders Kanzlerschaft.
Kevin Kühnert: Was damals noch nicht klar war ...
mein/4: Bist du trotz oder wegen Schröders
Politik in die SPD eingetreten? Stichwort
Hartz-IV-Agenda.
Kevin Kühnert: Ich bin nicht mit 15 Jahren in die SPD
eingetreten, um die Agenda umzuwerfen. Das war auch
nicht das Thema, das mich damals groß beschäftigt hat.
Ich bin eher wegen der Situation vor Ort eingetreten.
Wir haben uns damals für mehr Jugendbeteiligung in
den Bezirken eingesetzt. Am Ende waren es Menschen
aus der SPD, die uns unterstützt haben und denen ich
Vertrauen zurückgeben wollte. Der letzte Auslöser war
ein Schülerpraktikum im örtlichen SPD-Büro. Von da an
stand es fest – die inhaltliche Nähe habe ich aber vorher
schon gespürt. Ich habe mich nicht mit einer Plusminusliste
hingesetzt und geschaut, was passen könnte; das
war ein Bauchgefühl, wenn auch ein deutliches.
mein/4: Du bist in Berlin geboren, du lebst in
dieser Stadt und verbringst auch privat deine
Zeit hier. Welche Veränderungen erlebst du?
Wie verändert sich der Umgang der Menschen
untereinander?
Kevin Kühnert: Das Besondere an Berlin im Vergleich
zu anderen Großstädten ist ja, dass wir anders aufgebaut
sind. In Berlin gibt es nicht das eine Zentrum, in
dem sich alles abspielt. Berlin hat Dutzende Zentren.
Für jede Neigung, für jedes Interesse gibt es ein eigenes
Zentrum. Die Stadt entwickelt sich in unterschiedlichen
Geschwindigkeiten. Ich zum Beispiel bin in den
Außenbezirken groß geworden, erst in Lankwitz, dann
in Lichtenrade. Da hat sich in den letzten Jahren nicht so
fürchterlich viel verändert. Natürlich entwickeln sich auch
diese Stadtteile weiter, aber das Tempo ist ein anderes
als in der Innenstadt. Inzwischen lebe ich in Schöneberg,
das liegt eher am Rande des Epizentrums. Aber wenn
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gucke und meine 30 Lebensjahre Revue
passieren lasse, sehe ich, dass da einmal
alles durchgewechselt worden ist – was
Wohnraumerneuerung angeht, was die
Geschäfte angeht, die ich dort vorfinde,
was den öffentlichen Raum angeht.
mein/4: Welche Probleme und
Chancen entstehen daraus?
Kevin Kühnert: Herausforderungen sehe
ich ganz konkret in der Bezirkspolitik.
In Tempelhof-Schöneberg bin ich selbst
kommunalpolitisch als Bezirksverordneter
aktiv. Da bekomme ich die Probleme
vor Ort natürlich aus nächster Nähe
mit. Eine Herausforderung ist z. B., dass
wir unendlich viele Kitaplätze schaffen
müssen, mitunter 100 pro Monat in den
letzten Jahren. Wir sind gesetzlich dazu
verpflichtet, Kitaplätze anzubieten und
zwar für jeden. Natürlich auch für jene,
die jetzt neu nach Berlin kommen. Das
verlangt nach unheimlich viel Organisation.
Es müssen Schulen neu gebaut
werden, neue Sportplätze müssen angelegt
werden, gleichzeitig wollen wir
Grünanlagen erhalten und verteidigen.
Wir kommen in einer wachsenden Stadt
an einen Punkt, an dem Widersprüche
entstehen. An dem Dinge, die eigentlich
schützenswert sind, im Widerspruch stehen
zu Dingen, die wir zwingend brauchen,
um einer immer größer werdenden
Masse an Berlinerinnen und Berlinern
gerecht werden zu können. Das sorgt
für Konflikte, vor allem für Verteilungskonflikte,
nicht nur in finanzieller Hinsicht,
sondern auch was den öffentlichen
Raum angeht. Die größte Ressource in
einer Stadt ist Raum, und das merken
wir mittlerweile.
mein/4: Die Verteilungskonflikte,
die du beschreibst, sorgen ja
auch für eine Spaltung der Stadt.
Wie bringt man die Menschen
zum Großteil wieder zusammen?
Wie findet man eine breite
Zustimmung?
Kevin Kühnert: Ich glaube, es geht
hauptsächlich um zwei Sachen. Zum
16
„Die größte Ressource in
einer Stadt ist Raum …“
einen brauchen wir eine aktive demokratische
Gesellschaft. Nicht nur zehn
Prozent müssen sich engagieren, sondern
eine breite Mehrheit. Menschen,
die ihr Lebensumfeld als Aufgabe begreifen
und diese auch mitgestalten.
Und das Lebensumfeld sind nicht die
Bezirke. Die haben teilweise 300.000
und mehr Einwohner; das ist viel größer
als der Radius, in dem sich der Einzelne
bewegt. Die Menschen reden eher von
ihrem Stadtteil oder sogar von ihrer Eisscholle,
auf der sie leben. Darum geht
es. Es braucht Strukturen darunter, eine
aktive Nachbarschaft, so was wie Quartiersmanagement
in Kiezen, die sonst
abzurutschen drohen. Aus meiner Sicht
ist es sehr wichtig, als Politik vor Ort ein
Signal zu setzen: Ihr könnt und müsst
ein stückweit selbst gestalten, aber ihr
bekommt auch Hilfe dabei, wenn ihr
sie braucht. Der zweite Punkt ist, dass
wir der andauernden Profit- und Verwertungslogik
entgegentreten müssen
– und das kann nur durch politischen
Willen passieren. Daran arbeiten wir vor
allem. Viele Entwicklungen dieser Stadt
zeigen, dass wir eine Entmischung in
der Innenstadt haben, also dass ärmere
Menschen dort rausgedrängt werden
und Gated Communities entstehen, in
denen man abgeschottet unter seinesgleichen
ist. So etwas entsteht, weil immer
weiter an der Preisschraube gedreht
wird. Die Mieten gehen hoch. Es gibt
ja auch immer jemanden, der es zahlen
kann. Es bewerben sich nur nicht mehr
200 Menschen auf eine Wohnung, sondern
20. Aber einer davon nimmt diese
Wohnung auch für die Mondmiete,
die für sie aufgerufen wird. Die anderen
Menschen werden an den Rand oder
noch weiter nach außen verdrängt. Dafür
muss es eine Politik geben, die ganz
klar sagt: Wenn wir so nicht im Raum
zusammenleben wollen, und wenn wir
miteinander auskommen wollen, dann
müssen wir die Kontrolle über den
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in den Sommer.
Ab jetzt geht es bei uns in die
neue Saison mit tollen neuen
Farben und Modellen.
Wohnungsmarkt und überhaupt das Gemeinwohl
behalten und teilweise sogar
erst einmal zurückgewinnen. Das bedeutet,
eigene Wohnungen zu bauen,
aber auch Mobilität und Gesundheit gehören
dazu. All das muss wieder stärker
in öffentlicher Hand sein, sonst können
wir es nicht gemeinsam gestalten. Wenn
reiche Menschen sich alles selbst kaufen
können – Mobilität, private Schulen,
Eigentumswohnungen in teuren Lofts
usw. –, dann mag das für sie schön sein,
aber es treibt die Stadt auseinander. Ich
habe es immer so wahrgenommen, dass
alle, die nach Berlin kommen – auch
die Reichen –, die Mischung der Stadt
schätzen. Ihnen gefällt die Vielfältigkeit.
Wenn wir jedoch nichts gegen den
gegenwärtigen Trend tun, geht uns diese
Mischung verloren.
mein/4: Die Parteienlandschaft in
Deutschland hat sich sehr verändert.
Von CDU/CSU und SPD
als große Volksparteien, mit der
FDP als Koalitionspartner bis in
die 70er Jahre der BRD, auf heute
sechs Parteien, die regelmäßig in
Landtage einziehen. Wie schwierig
wird es zukünftig sein, parteiübergreifend
Koalitionspartner zu
finden, ohne die eigene Identität
der Partei zu verlieren? Wie kann
die ge-meinsame Schnittmenge einer
Koalition sein, ohne das eigene
Profil zu verlieren und Wähler
zu enttäuschen?
Kevin Kühnert: Wir haben in Berlin das
Glück, dass wir jetzt seit fast 20 Jahren
mit einer sehr stabilen, wenn man so will,
linken Mehrheit arbeiten. Die einzelnen
Parteien wechseln sich da mal ab, aber
diejenigen, die man eher links verortet,
haben konstant 55 bis 60 Prozent Zustimmung.
Das gibt uns die Möglichkeit,
Rot-Rot-Grün in Berlin zu machen.
Das ist in vielen Fragen keine Koalition
des kleinsten gemeinsamen Nenners, das
wäre auch zu langsam für Berlin, sondern
man kann wirklich gestalten. Beispiele:
Mietendeckel, Gebührenfreiheit bei den
Kitas, kostenfreies Mittagessen an den
Grundschulen. Das wäre mit anderen so
nicht möglich gewesen. Ich erlebe aber
zum Beispiel auch, dass eine Partei wie
die CDU in Berlin anders tickt. Warum?
Weil sie auch nicht vorbei können an den
Realitäten dieser Stadt. Ich war kürzlich
zu Gast bei einer Veranstaltung der Berliner
CDU und der Moderator begrüßte
die Gäste mit den Worten: „Wir begrüßen
Sie heute das letzte Mal in diesen
Räumlichkeiten. Wir müssen hier raus
mit unserer Geschäftsstelle, weil die Gewerbemieten
durch die Decke gehen und
inzwischen ein Vielfaches der Miete verlangt
wird. Wir können das nicht mehr
zahlen.“ Das hat natürlich eine gewisse
Ironie, nachdem sie sich so lange gegen
den Mietendeckel gewehrt haben.
Sie erfahren jetzt auf eine traurige Art,
dass wir alle diesen Entwicklungen in
der Stadt ausgeliefert sind, wenn wir uns
politisch nicht wehren. Das wird vor niemandem
haltmachen. Irgendwann kippt
der Schalter im Kopf, und das Denken
passt sich den Realitäten an.
mein/4: Du bist jetzt zum stellvertretenden
Parteivorsitzenden
gewählt worden. Die SPD
ist in den letzten Jahren politisch
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Rubrik
gerutscht und hat ihre innere Zerrissenheit
auch nach außen dargestellt. Wie ist deine Vision?
Wie möchtest du die SPD auf einen linken
Politikkurs bringen und das Profil der SPD
zurückgewinnen?
Kevin Kühnert: Ich würde sagen, die SPD rückt in letzter
Zeit wieder ein ganzes Stück nach links. Oder besser
gesagt: zu sich selbst. Wir haben uns Ende letzten Jahres
endlich von diesem ganzen Hartz-IV-Ballast verabschiedet.
Und das glücklicherweise nicht nur, wie vorher,
durch die Behauptung, wir hätten damit nichts mehr zu
tun. Nein, wir haben auch endlich ein neues Konzept
vorgelegt. Nicht nur, dass wir es nicht mehr „Hartz IV“
nennen, sondern wir möchten konkret verhindern, dass
Menschen arbeitslos werden oder den Anschluss verlieren.
Wir möchten es schaffen, dass auch über 50-Jährige
noch einmal umgeschult werden können und nicht in
„Wir wollen die Daseinsvorsorge
wieder stärker in die öffentliche
Hand zurückholen, …“
die Frühverrentung abgeschoben werden. Wir möchten
Kinder absichern, von denen immer noch zwei Millionen
in Deutschland unter der relativen Armutsgrenze leben.
Das ist ein sehr kompaktes Ding, das noch viel mehr beinhaltet
als das Genannte. Und es bedeutet einen ziemlichen
Bruch zu dem, wofür wir so gescholten worden ist.
Meine Vorstellung von einer Volkspartei SPD ist, dass
arbeitsteilig vorgegangen wird. Das gehört dazu. Es muss
natürlich einen eher konservativen und einen eher linken
Flügel geben. Es gibt Leute, die eher im sehr kosmopolitischen
Milieu unterwegs sind, und Menschen, die
ein bisschen stärker auf die Verteidigung der alten Welt
bestehen. So ist auch unsere Mitgliedschaft aufgebaut.
Aber es kann nur dann funktionieren, wenn immer klar
ist, wo das Zentrum dieser Partei ist. Was ist der Konsens
dieser Partei, hinter dem sich ohne Wenn und Aber
alle versammeln? Wir haben uns diesbezüglich gescheut,
Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, wenn wir uns
vor einem Parteitag nicht einig waren, ob es eine Vermögenssteuer
geben soll. Dann haben wir darüber nicht
abgestimmt, sondern haben eine Kommission eingerichtet
und die hat dann nicht getagt, und am Ende war kein
Problem gelöst. Resultat: Der eine läuft rum und sagt:
„Die SPD ist für eine Vermögenssteuer.“ Ein anderer sagt:
„Die SPD ist gegen eine Vermögenssteuer, das wendet
sich gegen die Leistungsträger in einer Gesellschaft.“
Klare Kommunikation sieht anders aus. Wer soll sich
denn an so einer Partei orientieren? Und genau diese
Sachen ziehen wir im Moment gerade. Übrigens bei der
Frage nach der Vermögenssteuer für Multimillionäre
und Milliardäre, indem wir sie mit einem klaren Ja beantwortet
haben.
mein/4: Was sind die Grundwerte, hinter die
sich alle stellen können? Gibt es die in der SPD?
Kevin Kühnert: Beispielsweise ganz klar die Gleichstellung
zwischen den Geschlechtern, zwischen eingewanderten
Menschen und sogenannten Bio-Deutschen.
Gleiche Rechte, gleiche Chancen für alle. Zum Beispiel
im Bildungssystem durch Abschaffung von Gebühren
aller möglichen Art. Das ist auch die Rückdrängung von
Marktlogiken in sensiblen Bereichen des Zusammenlebens.
Wir haben abgeschafft, dass Angehörige mit
normalem Einkommen für ihre zu pflegenden Eltern
Zuzahlung leisten müssen, was vorher viele Familien
vor riesige Herausforderungen und nicht selten auch
Zerwürfnisse gestellt hat. Überhaupt: Wir wollen die
Daseinsvorsorge wieder stärker in die öffentliche Hand
zurückholen, die in letzter Zeit durch den Druck, Gewinne
machen zu müssen, Stück für Stück zur Ware
verkommen ist. Es ist aber genauso der Wert der Arbeit.
Wir sind eine Partei, die aus der Bewegung der Arbeiter
und Arbeiterinnen kommt. Die Arbeitsgesellschaft ist
heute eine andere, aber es ist umso wichtiger, sie nicht
sich selbst zu überlassen. Wir haben heute neuere Formen
der Arbeit, die wir noch schwer erfassen können.
Es gibt Leute, die sind nicht richtig angestellt, aber
auch nicht richtig selbstständig. Die arbeiten hier und
da als Freelancer großen Unternehmen zu, und auch
unser Arbeitsrecht erfasst diese Leute nicht richtig. Für
die wollen wir verlässliche Absicherungen und für alle
Beschäftigten einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung
– auch berufsbegleitend.
18 mein/4
Kevin Kühnert im Interview
Wir sind außerdem eine internationalistische Partei, uns
interessieren ausdrücklich Dinge über den Tellerrand
hinaus. Wenn zum Beispiel Geflüchtete nach Deutschland
kommen, wissen wir, dass das auch mit uns zu tun
hat – nicht nur, weil diese Menschen gerade vor unserer
Tür stehen, sondern wir müssen uns auch die Gründe
anschauen, warum sie überhaupt flüchten mussten. Das
heißt, wir müssen uns für die Welt interessieren, für die
Konfliktlage im Ausland, und wir müssen einen Beitrag
zur Lösung leisten.
Ja wir wissen, dass der Klimawandel nicht bei uns allein
entstanden ist. Ja, wir werden ihn nicht alleine lösen
können. Aber andere finden weitaus schlechtere Bedingungen
vor, um sich dem Thema anzunehmen. Wir
werden unseren Beitrag leisten müssen, auch als Vorbild.
Das ist also eine ganze Masse an Themen, die die SPD
zusammenhält, deshalb würde ich auch immer noch sagen,
die SPD ist eine Volkspartei. Weil sie den ernsten
Anspruch hat, sich nicht nur an eine Klientel zu richten
oder sich nur um eine Fragestellung zu bemühen. Uns interessiert
alles, und wir erkennen die Zusammenhänge an.
mein/4: Die Mitgliedszahlen der SPD sinken
seit Jahren, die Stammwählerschaft nimmt
immer mehr ab. Ihr, der Verband der Jusos,
habt steigende Mitgliedszahlen. Wie begeistert
man junge Menschen wieder für Politik? Wie
läuft die Kommunikation? Nur noch über
Social Media?
Kevin Kühnert: Sowas wie eine Stammwählerschaft
verliert heute an Bedeutung. Das ist für Parteien, die
früher eine große Stammwählerschaft hatten, natürlich
erst einmal ärgerlich. Demokratisch ist es aber
total erfreulich. Das bedeutet nämlich, dass die Leute
bewusster wählen. Sie machen sich vor jeder Wahl im
besten Fall Gedanken: Was passt jetzt zu der Situation?
Wer hat gerade die besten Antworten? Und nicht nur:
Was ist meine Gewohnheit? Berlin macht hier vor, wie
so oft, wohin die Reise geht. Denn in Berlin haben wir
seit vielen Jahren eine politische Landschaft, in der es
vier relativ gleichstarke Parteien gibt. Hier kommt es
auf die Nuancen an, auf die aktuelle Stimmung, auf das
Personal, um zu entscheiden, wer am Ende vorne liegt.
Dadurch kann sich keine Partei darauf verlassen, dass
sie wie immer gewinnen wird. Das sehen wir auch bei
unseren Juso-Mitgliedern. Nur selten tritt jemand ein,
weil das in der Familie alle so gemacht haben. Unsere
Mitglieder wählen uns sehr bewusst als den Ort aus,
an dem sie aktiv werden wollen.
Im Internet spielen insbesondere die sozialen Medien
gerade in Wahlkämpfen eine riesige Rolle, sind aber kein
politischer Inhalt an sich. Das darf man nicht verwechseln.
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ist, wird man nicht gewählt. Das
hat auch die FDP mittlerweile merken
müssen. Schnittige Schwarz-Weiß-Fotos
im Unterhemd sind aufregend, locken
aber niemanden automatisch hinterm
Ofen vor.
Wir merken bei jungen Menschen, dass
wir eine Zweiteilung haben – wie an
vielen Stellen in der Gesellschaft: Die
eine Hälfte der jungen Menschen ist
hoch politisiert. Das nimmt seit Jahren
zu, die politisieren sich auch immer
weiter und werden jetzt auch aktiv.
Wir sehen das zum Beispiel bei Fridays
for Future oder den Demos gegen den
Art. 13 der EU-Urheberrechtsreform,
in dem es unter anderem um Uploadfilter
ging. Die andere Hälfte ist die, die
mehrheitlich ein wenig apathisch danebensteht
und nicht daran glaubt, dass
Dinge verändert werden können. Sie
glauben nicht an die Gestaltungskraft
der Politik, sei es, weil sie die Gestaltungskraft
woanders – zum Beispiel in
der Wirtschaft oder im Ausland – vermuten,
oder weil sie gar keinen Zugang
zur Politik finden. Das macht mir Sorge
und fordert unser demokratisches System
zu deutlich mehr Sorgfalt heraus.
Ich freue mich aber natürlich, dass
gleichzeitig so viele Menschen für das
Klima auf die Straße gehen, und ich hoffe,
sie haben einen langen Atem. Aber
es ist eben nicht die junge Generation,
sondern es ist nur ein Teil von ihr, wenn
auch ein erheblicher. Als Partei sehen
wir solche Bewegungen nicht als Alternative
zu uns, sondern als eine notwendige
Ergänzung. Und, machen wir uns
nichts vor, natürlich auch als Kritik an
unserer Politik. Manche von ihnen zweifeln
sogar an unserem demokratischen
System und der Notwendigkeit von Parteien,
weil ihnen vieles träge erscheint.
Die möchten sich zu recht nicht mit irgendwelchen
Floskeln abspeisen lassen.
Diese Menschen wollen Reaktionen sehen.
Sie wollen sehen, dass die Politik
handlungsfähig ist und die Kontrolle
demokratisch ausübt. Wir müssen also
unter Beweis stellen, dass unsere Gesellschaft
die wesentlichen Dinge unseres
20
Zusammenlebens immer noch selbst
gestalten kann und zwar demokratisch.
mein/4: Stichwort Kommunikation
auf den Social-Media-Kanälen.
Ein großer Teil der Kommunikation
findet im Internet statt.
Wir erleben teilweise eine Verrohung
der Sprache bis hin in den
strafrechtlich relevanten Bereich.
Beispielhaft dafür ist das Künast-
Urteil, aber auch du hast schon
Morddrohungen erhalten. Wie
gehst du damit um? Geht es auch
ohne Internet?
Kevin Kühnert: Es geht natürlich ohne.
Aber es geht nicht gut. Die Konsequenz
aus Hass im Netz sollte nicht sein, dass
wir uns alle aus dem Netz zurückziehen.
Das Netz ist Realität. Es ist auch
keine zweite Realität neben dem Real
Life, sondern es ist Teil unseres Lebens.
Da wird eingekauft, da wird gedatet, da
wird kommuniziert, da wird das Familien-
und Beziehungsleben organisiert.
„Den Hass gibt es …
im Internet auch,
aber er muss dort
isoliert werden, …“
Das kann ich nicht einfach ausschalten.
Ich werde mich damit arrangieren
müssen, dass es immer schon Hass und
Verachtung in einer Gesellschaft gab.
Den Hass gibt es dementsprechend im
Internet auch, aber er muss dort isoliert
werden. Ich glaube, wir haben alle
ein Gespür dafür, wann eine Grenze
überschritten ist. Ab einem gewissen
Grad von Aussagen geht es einfach nicht
mehr darum, zu sagen: „Du, du, du, das
war jetzt aber nicht schön.“ Sondern da
geht es darum, anzuerkennen, dass es
Leute gibt, die nicht interessiert sind
an einer offenen demokratischen Debatte.
Ich habe dann beispielsweise die
Möglichkeit, sie zu blockieren, was ich
bei Beleidigungen oder faschistischen
Aussagen auch konsequent mache. Ich
mein/4
Kevin Kühnert im Interview
möchte solchen Leuten auch gar nicht meine Reichweite
schenken. Das hat etwas mit Mediensensibilität zu tun.
Ansonsten geht es auch darum, vorzuleben, wie eine
vernünftige Debattenkultur aussehen kann. Wenn wir
als Politiker und Politikerinnen, die wir im Netz unterwegs
sind, immer nur senden, aber gar nichts empfangen,
nicht in den Austausch treten, dann entsteht natürlich
schnell der Eindruck: Ich kann schreiben, was ich will,
der liest es ja sowieso nicht. Doch die meisten lesen
das schon, man sollte es die Leute nur merken lassen.
Ich mische mich in meinen Kommentarspalten in Diskussionen
ein, ich signalisiere der Community: Na klar
lese ich das. Erstens aus Respekt, denn ihr macht euch
Gedanken, ihr schreibt eure Frage. Und natürlich versuche
ich, diese zu beantworten. Zweitens möchte ich
Sensibilität schaffen. Ich merke nämlich, dass meine
Followerinnen und Follower auch viel aufmerksamer reagieren
bei einem Shitstorm. Sie schreiten oft bei einer
Beleidigung ein, bevor ich das tun kann. Weil sie genau
wissen, dass ich es auch selbst lese. Ich soll sehen, dass
es hier Solidarität gibt, dass es nicht die Mehrheitsmeinung
ist. Vormachen sorgt meistens auch für Nachmacher.
Das ist ganz erfreulich zu sehen.
Sondern indem ich mich auseinandersetze mit anderen
demokratischen Weltsichten, die es zuhauf gibt und die
manchmal zu leise sind, weil sie nicht mit Schimpfwörtern
daherkommen. Wir alle müssen gucken, worauf
wir reagieren. Ist es sinnvoll, Hasskommentare, die uns
erschreckt haben, noch weiter zu verbreiten, indem wir
sie kommentieren? Ich muss das nicht multiplizieren. Da
fehlt es uns in der Gesellschaft, auch nach 20 Jahren mit
dem Internet als Massenphänomen, manchmal an Medienkompetenz,
um klug damit umzugehen.
mein/4: Hat dein Tag mehr als 24 Stunden?
Wenn du sagst, du diskutierst in deinen
Kommentaren selbst?
Kevin Kühnert: Ich kann natürlich nicht alles beantworten.
Aber ich kann versuchen, den Kern der Kritik oder
der Fragen zu erkennen und zu beantworten. Ich suche
mir dann drei bis vier repräsentative Punkte raus, die ich
stellvertretend beantworte. Ich empfinde das nicht als
Extraarbeit oder -zeit. Für mich ist es Teil meines Alltags.
Es gibt nicht die politische Arbeit, die aus Akten
lesen und Konzepte entwickeln besteht, während so ein
bisschen Social-Media-Chi-Chi nebenbei gemacht wird.
Es gehört beides zusammen. Wenn ich Politik mache
und nicht darüber rede, dann kann ich es auch sein lassen.
Demokratie besteht daraus, Ideen weiterzutragen
und eine Haltung zu transportieren, gegen Kritik zu
argumentieren und sich auch selbst dabei zu hinterfragen.
Es ist ja auch für mich ein Argumentationstraining,
wenn ich in den Austausch mit anderen Leuten trete und
mich zwinge, meine Filterblase zu verlassen, die ich im
Alltag auch habe. Natürlich bin ich bei den Jusos und
in der SPD mit Leuten zusammen, die die Welt eher so
sehen wie ich. Deshalb haben wir uns ja in einer Partei
zusammengeschlossen. Aber ich muss in dieser Blase
nicht verharren, sondern kann sie immer wieder gezielt
verlassen, mich anderen Perspektiven aussetzen. Allerdings
nicht, indem ich mir Hasskommentare durchlese.
Die sind nicht Teil der demokratischen Debattenkultur.
mein/4: Wo ist Kevin Kühnert in fünf Jahren?
Lokalpolitik? Bundespolitik?
Kevin Kühnert: Keine Ahnung. Ganz ehrlich: Ich mache
grundsätzlich keine Jahrespläne. Ich habe das noch
nie gemacht. Meine Erfahrung ist, wenn man seine Sache
ordentlich macht, dann passieren Dinge ein Stück
weit von alleine. Ich möchte auch nicht in einen Modus
kommen, wo ich vor Ehrgeiz zerfressen auf irgendetwas
hinarbeite. Dann gerät nämlich auch der eigentliche
Kern der politischen Arbeit aus dem Blick und wird ausgetauscht
gegen persönliche Karriereziele. Ich bin nicht
naiv, ich weiß schon, dass man politische Verantwortung,
Macht, oder wie auch immer man das nennen mag, anstreben
sollte, wenn man etwas verändern will. Nur aus
Schöngeistigkeit ändert sich meistens nichts. Aber man
kann nichts erzwingen. Es ist kein Bewerbungsverfahren,
in dem nach objektiven Kriterien entschieden wird. Da
spielen so unberechenbare Faktoren wie Wählerinnen
und Wähler mit. Die gesellschaftliche Entwicklung haben
wir alle nur bedingt in der Hand. Was ich garantieren
kann, ist, dass ich politisch aktiv bleiben werde in
irgendeiner Art und Weise. Und dass der Ort, von dem
das herkommt, vielleicht auch noch ganz lange Tempelhof-Schöneberg
sein wird, weil das der Bezirk ist, um
den sich eigentlich mein ganzes Leben dreht.
mein/4: Kevin Kühnert, vielen Dank für
das Gespräch.
mein/4
21
„You gotta know your shit!“
Der Jazzsänger Atrin Madani im Gespräch mit Hans-Jürgen Schatz
Atrin Madani ist ein Weltreisender in Sachen Jazz, in seinem Schöneberger Kiez fest verwurzelt. 1998
geboren, ist er ein Berliner ohne Ost- oder West- davor, hat er die Teilung der Stadt nicht erlebt, die
Mauer nie gesehen. Berlin wurde Hauptstadt und Regierungssitz, für ihn ist es vor allem die deutsche
Hauptstadt des Jazz. Und da gibt es keine Grenzen, keine Mauern. Jazz ist eine universelle Sprache.
In Berlin trifft man verdammt talentierte junge Menschen.
Einer von ihnen ist der Jazzsänger Atrin Madani.
Als ich ihn 2016 zum ersten Mal hörte, war er gerade 18
geworden. Er sang Konzerte an ausgesuchten Orten, begleitet
von verschiedenen Formationen, einmal sogar nur
von einem Bassisten. Ein faszinierender Abend. Bereits
damals hatte er eine unverwechselbare Stimme, eine starke
Bühnenpräsenz und besaß eine hohe Professionalität.
2017 machte er sein Abitur und ebnete sich damit den
Weg zum Hochschulstudium. 2018, inzwischen hatte er
sich innerhalb weniger Tage drei Studienplätze in Deutschland
ersungen und sich für Dresden entschieden, wurde
ihm die Ehre zuteil, ins Vokalensemble des Bundesjazzorchesters
aufgenommen zu werden. Diese Mitgliedschaft
endet regulär nach zwei Jahren, in denen man an etlichen
Arbeitsphasen und Auftritten rund um die Welt teilnimmt.
Im Herbst 2019 wechselte er von der Elbe an die Spree
und setzte nun sein Studium am Jazz-Institut Berlin (JIB)
fort. Wie vertragen sich Studium und zahlreiche Auftritte?
„Meine Professoren sind nicht immer glücklich mit
mir, wenn ich z. B. mal nicht Klavier üben konnte. Klar,
die Auftritte nehmen Zeit weg. Mancher musste schon
Prüfungen verschieben, Studienzeit dranhängen. Aber
das wahre Studium findet eben auf der Bühne statt. Man
kann noch so viel üben, man muss das Geübte auch auf
der Bühne anwenden können.“
Atrin Madani ist ein waschechter Berliner. Wo liegen seine
familiären Wurzeln? „Meine Eltern stammen aus dem Iran.
Papa ist vor fast vierzig Jahren nach Deutschland gekommen,
kurz vor der Revolution. Meine Mutter viel später.“
Unter Kindern ist es kein Problem, wenn man anders
aussieht. Wie ist das heute? „In manchen Teilen Deutschlands
wird man nicht als Deutscher gesehen. In Berlin
ist es völlig normal, dass du als südländischer Typ super
deutsch sprichst. In meiner Kindheit hatte ich gar keine
Probleme, hatte Freunde, die kamen von überall. Das ist
Berlin! Aber es gibt Teile dieser Welt, wo du es als ‚person
of color‘ nicht so einfach hast.“
Seit ein paar Wochen erobert Atrin einige der feinsten
Adressen der Berliner Jazz- und Entertainmentszene: Donau
115, Bar jeder Vernunft, Maison de France, Jazzclub
A-TRANE. Weitere Auftritte in der Bar jeder Vernunft
und im Jazzclub Schlot werden folgen – siehe Kasten. Am
7. März spielt Atrin Madani mit seiner Band in der WABE
an der Danziger Straße. Dort hatte der Jazz schon vor
1989 ein Zuhause und der neue Chef der WABE, Marc
Lippuner, arbeitet erfolgreich daran, dass es wieder so wird.
Ist das Repertoire begrenzt, wenn man so jung ist? „Ja,
ganz sicher. Inhaltlich und von der Umsetzung her. Es
gibt Songs wie ‚Lush Life‘, die sind sehr poetisch, tiefgründig
und technisch sehr anspruchsvoll. Das muss man
sprachlich und tonal erstmal in den Hals kriegen, um es
authentisch rüberzubringen. Aber wenn einem ein Song
zu fordernd erscheint, soll man ehrlich zu sich selber sein
und den lieber erst in ein paar Jahren singen.“
Woher kommt die für einen so jungen Mann ungewöhnlich
starke Vorliebe für die Songs aus der Zeit der Weimarer
Republik, geschrieben von Werner Richard Heymann,
Walter Jurmann oder Friedrich Hollaender? „Ich
habe damals den Film über die ‚Comedian Harmonists‘
gesehen. Ich liebte diesen Sound und Lieder wie ‚Irgendwo
auf der Welt‘. Dann bekam ich die CD ‚Übers Meer‘
22 mein/4
Am U-Bahnhof Nollendorfplatz
Fotos: Pavol Putnoki
mit Max Raabe und Christoph Israel in die Finger. Und
bald habe ich Max dann live im Admiralspalast erlebt.
Seitdem habe ich großen Spaß daran, diese Sachen auf
meine Art zu singen.“
Aber es ist nicht nur der Spaß an der schönen Musik und
den oft witzigen Texten, der ihn für dieses Genre begeistert:
„Was hatten wir für eine Hochkultur in Deutschland!
Es macht mich traurig, wenn ich daran denke, was wir in
dieser Stadt, in Deutschland einmal hatten. Es darf nicht
wieder passieren, dass so etwas von hier gehen muss. Diese
großartigen Künstler, die Texte
voller Humor, diese Selbstironie,
die witzigen Melodien.“
Über Selbstironie verfügt Atrin
Madani auch auf der Bühne
reichlich. Manchmal zeigt er echte
Entertainerqualitäten. War er
in der Schule sowas wie der Klassenclown?
„Ja, so ziemlich. Ich
war schon mit fünf der Alleinunterhalter.
Ich glaube für einige
Lehrer war ich kein angenehmer
Schüler. Ich sage an dieser
Stelle noch einmal: Tut mir leid!
Selbstironie finde ich sehr wichtig.
Man sollte sich nicht immer
allzu ernst nehmen. Das Leben
ist schon ernst genug!“
Und wie sieht es mit Vorbildern
aus? „Oh, ich habe zu viele,
um sie alle aufzuzählen. Man
kann von jedem etwas lernen.
Bei einem Workshop sagte der
Schlagzeuger Jerry Granelli zu
mir: ‚Wenn du wissen willst, wie
ein Song perfekt gesungen wird,
dann hör‘ dir Sinatra an.‘ Man darf ihn oder andere natürlich
nicht kopieren, nur das Handwerk übernehmen,
nicht Ticks oder Eigenheiten. Ich darf einen Song nicht
wie Sinatra singen, sondern muss ihn singen wie Atrin
Madani.“
Woher kommen Atrins enorme englische Sprachkenntnisse,
die vorbildliche Aussprache? Wie bei Sinatra versteht
man jede Silbe, jeder Ausdruck macht Sinn, die Pointen
sitzen, das Storytelling ist beeindruckend, jeder Verse
macht neugierig auf den Song. Der Wortschatz ist umfangreich.
Ein Live-Radiointerview
anlässlich eines Konzerts in Toronto
absolvierte er perfekt. Auf
Facebook konnte man es sehen.
„Das fing zu Hause an. Bei uns
lief immer Musik, im Radio, auf
Schallplatte. Dann hatte ich
fünfmal die Woche Englisch-
Leistungskurs. Ich musste gut
Englisch lernen. Meine Mutter
lebte inzwischen in Kanada.
Und wenn man Songtexte verstehen
und singen möchte, muss
man Redewendungen, Sprichworte
usw. kennen. Manchmal
muss ich auch Ausdrücke nachlesen,
um Cole Porters Wortspiele
zu verstehen. Wenn ich sie
nicht verstehe, wie soll ich dem
Publikum damit Spaß machen?
Und am JIB sprechen wir mehr
Englisch als Deutsch. Wir sind
Luftsprünge am
Winterfeldtplatz für
den Fotografen
eine internationale Hochschule,
meine Professorin ist Amerikanerin.
‚You gotta know your shit‘,
sagt man in den USA.“
mein/4
23
In der Bar jeder Vernunft mit Erik Leuthäuser
und Peter Fessler
In der Bar jeder Vernunft mit Erik Leuthäuser
© Barbara Braun/Bar jeder Vernunft © Barbara Braun/Bar jeder Vernunft
Im Jazzclub A-TRANE debütierte
Atrin Madani im Februar
Mit Schumann, Mahler und Bach fing alles an.
Im Alter von zehn Jahren trat Atrin in den Staatsund
Domchor Berlin ein. Er sang mit dem DSO
und den Berliner Philharmonikern unter Ingo
Metzmacher und Simon Rattle: „Mit Simon Rattle
beim Schlussapplaus auf dem Podium zu sein,
war ein großes Erlebnis für uns.“
Als der Stimmbruch kam, dachte Atrin daran,
Schauspieler zu werden. Aber das kam ihm zu
trocken vor. Es fehlte die Musik. Also Musical? In
London besuchte er die Profis, sprach ausführlich
mit dem Music-Supervisor von „Miss Saigon“ und
„Les Misérables“. Aber das dabei wichtige Thema
Tanz interessierte ihn wenig: „Mir ist die Stimme
wichtiger, da sehe ich meine Stärke. En suite zu
spielen liegt mir nicht. Acht Shows die Woche!
Ich finde Musical toll und schaue mir das gerne
Scharfe Sicht. Sicheres Fahren.
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Newcomer trifft Legende: Atrin Madani mit der
Liedermacherin Bettina Wegner und WABE-Hausherr
Marc Lippuner
an. Die meistens Songs, die ich singe, kommen
ja aus Musicals von Gershwin oder Jerome Kern.
Aber mein Herz schlägt für den Jazz.“ ■
Nächste Termine
07.03. Kulturzentrum WABE
(Prenzlauer Berg):
ATRIN MADANI & Band
16.03. Bar jeder Vernunft:
Gast bei Erik Leuthäuser & Gäste
Wünschen
27.04. Kunstfabrik Schlot –
Jazzclub Berlin:
Atrin‘s Swingin‘ Affair
24.05. Bar jeder Vernunft:
Gast bei Erik Leuthäuser & Gäste
Wünschen
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„Kurz und knapp“ –
Franziska Hauser
„Kurz und knapp“ ist eine Interviewserie
des Berliner Fotografen Jens Wazel,
basierend auf seinen Videoporträts auf
www.jenswazelphotography.com
Eine Unterhaltung mit Franziska Hauser
Fotos: Jens Wazel
Kurz und knapp … wer bist du?
Ich bin Schriftstellerin und Fotografin. 75 bin ich in Pankow
groß geworden, und seitdem vier U-Bahn-Stationen
weitergekommen. Jetzt wohne ich in Prenzlauer Berg.
Wie geht es dir mit den vielen Zugezogenen
im Kiez?
Mit den Prenzlauer Berger Schwaben komme ich eigentlich
gut klar. Sie machen das, wozu die Urberliner zu faul
und zu abgeklärt sind und zu wenig Geld haben: Die
Schwaben und Badener engagieren sich in den Schulen
und für ihre Wohngegend. Sie sollten sich auf keinen
Fall der Berliner Unfreundlichkeit anpassen und sich
nicht abschrecken lassen. Berlin kann seine Schwaben
gut gebrauchen.
Aber gibt es nicht auch Konflikte?
Es stimmt schon, dass Berliner schwer rumzukriegen
sind, nett zu sein. Wenn man es aber geschafft hat, dann
hat man sie für immer gewonnen. Für die alltägliche Lebensfreude
mag ich aber auch sehr gerne eine oberflächliche
schwäbische Freundlichkeit, die leichter zu haben
ist. Was mich hier ärgert sind die reichen Leute, die sich
total abgrenzen von der sehr klein gewordenen ursprünglichen
Bevölkerung des Bezirks. Leute, die komplett
andere Relationen haben. Da gibt‘s einen immer tiefer
werdenden Graben zwischen oben und unten und ein
großes Unverständnis.
Wann hast du mit dem Schreiben angefangen?
Mein Vater hat mich, als ich elf Jahre alt war, gefragt, was
ich später werden will. Er hat eine Kamera aufgestellt,
und ich habe aus vollem Herzen gesagt: „Ich will Schriftstellerin
werden.“ Mit 34 habe ich aber erst angefangen.
Vielleicht lag es an meiner Legasthenie, dass ich immer
dachte, ich darf die Worte nicht benutzen, weil ich sie
nicht richtig schreiben konnte. Dann hat mein Ex-Mann
gesagt, die Rechtschreibung sei nicht so wichtig, und ich
habe angefangen.
Und dann?
Ich schreibe jetzt am vierten Roman. Es ist immer schwer
zu sagen, wovon er handelt, weil es meistens ist wie ein
Forschungsauftrag. Ich will irgendwas rausfinden und
tue das, indem ich eine Geschichte darüber schreibe.
Sind es wahre Geschichten?
Der zweite Roman ist biografisch. Er handelt nicht von
mir, sondern von meiner Mutter und der ganzen Familie.
Es hat sieben Jahre gedauert daran zu schreiben,
26 mein/4
„Kurz und knapp“ – Franziska Hauser
und als er fertig war, habe ich mich sehr danach gesehnt,
mir wieder was ausdenken zu dürfen. Das habe
ich jetzt gemacht.
Wann und wo schreibst du?
Bisher ging es nur 20 Minuten, während die Kartoffeln
kochten oder in der U-Bahn auf dem Weg von einem
Job zum nächsten, in der Garderobe, während eins der
Kinder beim Tanzkurs war. Immer wenn Zeit war. Auch
wenn keine Zeit war, zwischendurch. Ich bin schon stolz
auf diesen zweiten Roman und auf die Buchpreis-Nominierung.
Aber viel stolzer bin ich eigentlich darauf, dass
ich es geschafft habe, nebenbei zwei Kinder großzuziehen
und zu ernähren und Geld zu verdienen in Jobs, die
zwar schlecht bezahlt sind, dafür aber einen Sinn haben,
den ich mit Stolz vertreten kann. Das ist für mich die
eigentliche Leistung daran.
Klar gab es auch ständig Verzweiflungsanfälle, in denen
ich mich bei der ganzen Welt beschwert habe, dass es
so auf keinen Fall weitergehen kann. Die Arbeit nie ablegen
zu können, belastet ja immer die Familie und die
Liebe. Inzwischen sind die Kinder so groß, dass ich regelmäßiger
schreiben kann.
Franziska Hausers
„Die Glasschwestern“
erscheint am 28. Februar im
Eichborn Verlag.
und alt, und es ist viel Geschichte drin. Allerdings habe
ich mich mit dieser Familiengeschichte auch selbst traumatisiert.
In „Die Gewitterschwimmerin“ kommt eigentlich
alles Schreckliche vor, was Menschen einander so
antun können. Das habe ich ja alles irgendwie durchlebt.
Ich dachte, ich wäre es los, wenn das Buch fertig ist.
Aber bisher liegt es mir immer noch wie ein Felsen auf
den Schultern und hat mich total empfindlich gemacht.
Ich könnte bei jedem Stolperstein auf dem Bürgersteig
losheulen. Davon gibt es ja in Prenzlauer Berg wirklich
eine Menge. Andererseits bin ich ja auch froh von diesem
spürbaren Geschichtenreichtum umgeben zu sein.
Du bist ein Ost-Kind, hast du auch ein
Ost-Thema?
Wenn ich ein bisschen älter wäre, hätte ich auch diese
maroden DDR-Schwarz-Weiß-Fotos machen können
von leeren Straßen, in denen ein Trabi steht, ein paar
Straßenkatzen auf kaputten Fenstersimsen sitzen und
Omas in Dederon-Kitteln Einkaufsnetze schleppen. Man
konnte ja sehr schöne Fotos machen in der DDR. Die
waren auch damals schon schön. Und nach der Wende
waren eben überall nur noch Autos und Werbeplakate,
und alles wurde so laut und
bunt und grell und einfach fotografisch
für mich nicht mehr interessant.
Was macht dann die Fotografin?
Was man nicht mehr fotografieren
kann, kann man immer noch beschreiben.
Ich hole alles schreibend zurück.
Dabei habe ich gelernt, dem Leser nicht
vor die Füße zu werfen, was ich selbst
interessant finde. Das funktioniert nicht.
Ich muss ihm zutrauen, es selbst rauszufinden.
Und das finden dann natürlich oft die Leute raus,
die aus dem Osten kommen, weil sie vielleicht dieselbe
Sehnsucht haben. Mit dem Fotografieren ist es genauso.
Der Betrachter muss selbst denken dürfen.
Der zweite Roman „Die Gewitterschwimmerin“
(Eichborn) war 2018 für den Deutschen Buchpreis
nominiert, und der erste Roman „Sommerdreieck“
(Rowohlt) hat den Debütantenpreis der
lit.COLOGNE 2015 gewonnen.
Viele deiner Texte spielen in der Vergangenheit …
Woraus soll man sonst schöpfen? Vielleicht sind meine
Texte auch wie meine Fotos. Da ist immer viel kaputt
Was kommt als Nächstes?
Mein Uropa hat immer gesagt, das Leben fängt erst an,
wenn der Hund tot ist und die Kinder aus dem Haus
sind. Ich merke schon, dass ich jetzt langsam mal versuchen
muss, eine andere Rolle zu finden und nicht mehr
immer diese Herbergsmutter bleiben kann mit einer
großen Wohnung, wo ständig Essen auf dem Herd steht
und Kinder und Freunde da sind. Das ist einfach mein
Lieblingszustand, aber der ergibt sich immer seltener.
Schließlich habe ich jetzt schon eine kleine Enkeltochter.
mein/4
27
„Kurz und knapp“ – Franziska Hauser
Verdienst du deinen Lebensunterhalt mit dem
Schreiben?
Im Moment ist es mein Lebenskonzept, immer so wenig
Geld zu haben, dass ich mir keine Flugreisen leisten
kann. Geld zu haben stresst mich total. Auch
wenn es ein Depot wäre. Ich brauche
dieses Gefühl verletzbar zu
sein. Das geht natürlich nur
in diesem hängemattenartigen
Sicherheitsgefühl,
das ich hier habe und
mit der Möglichkeit,
neben den Jobs noch
genug Zeit zu haben.
Im Moment unterrichte
ich Deutsch
als Fremdsprache
und mache jeden Monat
Interviews für DAS
MAGAZIN.
Wohin verreist du
gerne?
Das Prinzip Urlaub
habe ich irgendwie
nie richtig verstanden.
Viele Leute müssen
ja offenbar ständig
irgendwo hin, weil
irgendwer gesagt hat,
dass es da toll ist und
weil sie einfach dieses Bedürfnis
haben. Ich verreise
zwar auch total gerne, aber nur,
wenn ich einen Grund habe, wenn
es irgendeinen Sinn gibt, wenn ich da
was rausfinden will oder jemanden besuche oder eine
Lesung habe.
Und wenn du mal draußen bist?
Wenn ich auf dem Land bin und merke, dass ich von
der Stille schon gar nichts mehr weiß und von der Langsamkeit,
mit der dort die Dinge passieren, die einem
nur auffallen können, wenn man genau hinsieht,
dann komme ich mir ganz degeneriert
vor. Ich könnte mich
diesem stillen Dasein wahrscheinlich
nur schwer ergeben,
zumal es mir jeden
Tag schwerer fällt, mit der
Klimakrisen-Depression
klarzukommen.
In welcher Gegend
fühlst du dich zu
Hause?
Brandenburg, Uckermark,
Mecklenburg, eigentlich alles
um Berlin herum ist meine
Lieblingslandschaft. Das sind
ja auch die ganzen Erinnerungen
und die Geschichte
und die Menschen und
das Gefühl zu Hause zu
sein. In der Normandie
kann ich nur staunen,
oder an der Nordküste
Irlands. Das finde ich irre
toll, aber die Verbundenheit
fehlt mir da. Ich bin irgendwie
gerne verbunden.
Vielen Dank!
Das Video zum Interview gibt es hier:
www.jenswazelphotography.com/Series/Stories-D/
Franziska-Hauser
■
Bist du dann eher ein Stadtmensch?
Ich wurde von dieser Stadt erzogen, habe gelernt mich
nicht ausbeuten zu lassen, mir zu nehmen was ich brauche
und mich trotzdem anzupassen. Ich bin einerseits
eine Berliner Straßenkatze und andererseits auch eine
verwöhnte Wohlstandstochter. In beidem sehr individualistisch.
Ich könnte behaupten, dass ich mit allem
irgendwie klarkomme, aber sobald ich nicht jederzeit
sagen darf was ich denke, komme ich nicht mehr klar.
Das ist meine „Berliner Erziehung“. Ich halte mich nicht
gerne an vorgegebene Richtlinien.
Jens Wazel ist Fotograf und
Tanzlehrer. Im Osten aufgewachsen,
wohnt er nun – nach
25 Jahren in den USA – wieder
in Prenzlauer Berg.
Er hat eine Serie mit Videoporträts
erstellt und arbeitet
derzeit an einem Film über die
Geschichte des „Conscious
Dance“.
www.jenswazelphotography.com
28 mein/4
Das literarische
Feuerwerk
im Frühjahr 2020 in Berlin
Sechstes Literaturfestival „Literatur: BERLIN“
Parallel zur Leipziger Buchmesse ist das Festival 2014 aus zwei unterschiedlichen Veranstaltungsformaten
entstanden, dem Open-Air-Fest LiteraturORT Prenzlauer Berg rund um den Kollwitzplatz
und der Berliner Buchnacht in der Kulturbrauerei, initiiert von Gudrun Buhro, Palais Kulturbrauerei,
und Sabeth Vilmar, Kunst-Buch Kollwitzplatz.
Text von Marita Vornbäumen
Das Team von Literatur: BERLIN hat seitdem einen
aktuellen Querschnitt der deutschsprachigen und internationalen
Gegenwartsliteratur an unterschiedlichen Literaturorten
in Prenzlauer Berg und in Mitte vorgestellt.
Buchpremieren, Lesungen, Gespräche, Film-und Musikbeiträge
zeugen hier immer wieder von der Vielfalt
des literarischen Lebens – live gehört, gesehen und erlebt,
gemeinsam mit hochkarätigen Autoren, namhaften
Verlagen und versierten Moderatoren.
Ein besonderes Anliegen der Programmmacher ist es,
jungen AutorInnen und ihren Texten eine öffentliche
Plattform zu bieten, um sich einem breiten Publikum
präsentieren zu können.
Auch 2020 wird der bewährte Literaturpreis Prenzlauer
Berg verliehen, mit dem seit nunmehr 20 Jahren
Nachwuchsautoren ausgezeichnet und gefördert werden.
Die sechste Festivalausgabe von Literatur: BERLIN
findet 2020 vom 16. bis 29. März mit KünstlerInnen
und AutorInnen aus dem In-und Ausland statt, die gemeinsam
mit ihren Verlagen ihre aktuellen Neuerscheinungen
vorstellen.
30 Jahre nach der deutschen Einheit liegt ein thematischer
Schwerpunkt auf der Bedeutung des Jahres 1990
für Berlin – das erste Jahr in Einheit mit all seinen
Weichenstellungen und Umbrüchen der Lebensverhältnisse.
Hierzu stellt der Verleger von Spector Books,
Jan Wenzel, das umfangreiche Werk „Das Jahr 1990
freilegen“ vor.
Als Gäste sind die Zeitzeugen und Autoren Marion
Brasch, Annette Gröscher und der Fotograf Andreas
Rost zugegen.
Der zweite Schwerpunkt konzentriert sich auf die Bedeutung
des Lesens und Schreibens, vorgestellt von
Doris Dörrie anhand ihres Buches „Leben, schreiben,
atmen. Eine Einladung zum Schreiben“.
Einen Blick auf die Bereiche Kunst, Fotografie und
Film bieten die Romane über herausragende ProtagonistInnen
wie Jeanne Moreau oder Gala Éluard Dalí.
Mit dem Berliner Verlag Hatje Cantz und seinem bärenstarken
Buch „Eisbären“ werden schließlich historische
Fotografien posierender Menschen mit Eisbären
vorgestellt.
Der detaillierte Veranstaltungsüberblick des Festivals
findet sich auf der Website www.literatur.berlin
mein/4
29
Sie heißt Phở
Eine Kolumne von Wladimir Kaminer
Die asiatische Küche hat unseren Bezirk längst erobert, sie taugt perfekt für Jung und Alt, nur dorthin kann
ich mit meiner Mutter und ihren Enkelkindern zusammen essen gehen. Die Essgewohnheiten und Geschmäcker
der Generationen unterscheiden sich nämlich inzwischen gewaltig. Für meine Mutter spielt
die Festigkeit des Essens eine herausragende Rolle. Die Zahnärztin, die das Gebiss meiner Mutter
im vorigen Jahrhundert anfertigte, hatte schon damals den gesetzlichen Rentenalterseintritt
überschritten und schon längst keine Sprechzeiten mehr. Die Zähne haben im Laufe
der Zeit etwas an Schärfe und Bissigkeit verloren. Eine neue Ärztin zu suchen,
dazu fehlt meiner Mutter das Vertrauen in die moderne Medizin.
Die Enkelkinder verstehen die Sorgen der Oma nicht, sie stopfen das Essen
schnell in sich hinein, sie sind in der Regel mit dem Essen fertig noch bevor
die Oma die Speisekarte zu Ende gelesen hat und wollen das Dessert.
Angesichts dieser Schwierigkeiten suchen wir für ein gemeinsames Essen
eine Küche mit dem Schwerpunkt „Suppe“, damit jeder auf seine Kosten
kommt. Die Suppe muss groß, heiß und sättigend sein, möglichst viele
Zutaten und Kräuter beinhalten, damit jedes Familienmitglied darin
etwas für sich finden kann.
Wir haben das nepalesische Street-Food-Restaurant direkt im Erdgeschoss
unseres Hauses, wo man beim Rausgehen drei Mal
einen goldenen Buddha im Uhrzeigesinn drehen muss, für
Glück, Reichtum und eine bessere Verdauung, wie mir der
nepalesische Kellner vertrauensvoll erzählte. Der Laden
hatte erst vor Kurzem aufgemacht und galt selbst für
meine Kids, die sonst für jede neue Gastronomie
offen sind, als „zu exotisch“. Bei dem Nepalesen
werden nämlich dem Gast auf einem großen
hölzernen Tablett allerlei Gaben der Natur
serviert, wie sie vor der Erfindung
der Mikrowelle aussahen: rohe Erbsen,
Nüsse, Körner, verfeinert mit irgendwelchen
Tierhaaren und zu Staub
zermahlene Reiskörner auf sehr
dünnen, zusammengepressten
Blättchen, die mal dunkelrot
und mal hellblau angemalt
sind. Ich habe
schon mal beim Verzehr
der nepalesischen
Köstlichkeiten
aus
Versehen in
30 mein/4
Seite 4
Rubrik
Wladimir Kaminer
Privat ein Russe, beruflich ein deutscher
Schriftsteller, ist er die meiste
Zeit unterwegs
mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.
www.wladimirkaminer.de
die Serviette gebissen, weil ich dachte,
sie gehöre zur Vorspeise dazu. Einige
Male haben wir diese Küche probiert,
nicht aus Hunger, sondern aus Solidarität
mit der jungen nepalesischen Republik.
Wir sind zu dem Schluss gekommen,
der Nepalese braucht einfach noch etwas
Zeit, bis er sich an die europäischen
Geschmäcker angepasst hat. Weiter die
Straße runter haben wir einen guten
Koreaner und ein thailändisches Restaurant,
sie sind für die Mama jedoch
beide zu scharf. Unsere perfekte Küche
für alle kommt aus Vietnam, ihr Name
hat nur drei Buchstaben, sie heißt Pho.
Diese Suppe kann Alt und Jung gut
an einem Tisch zusammenhalten, zumindest
eine Zeit lang, vorausgesetzt
sie wird richtig zubereitet. Wir haben
in unserer Umgebung ein Dutzend
Wladimir
Kaminer
Lesungen im April
Liebeserklärungen
18.04. Wandlitz
24.04. Bernau bei Berlin
25.04. Freiberg
29.04. Berlin
vietnamesische Restaurants, es gibt den
anspruchsvollen „Onkel Ho“ und den
albernen Hippster „Dong Huang“, den
Touristenladen „Grüne Banane“ und den
intelligenten „Hanoi Village“, sie alle stehen
in einem internen Wettbewerb, wer
die bessere Pho macht.
Der wahre Pho-Meister ist bei uns sehr
gut versteckt. Doch wir befinden uns in
einer privilegierten Situation, vietnamesische
Freunde meines Sohnes haben es
ihm verraten, sie kennen ihn von ihren
Eltern, und der Sohn hat es mir weitererzählt.
Die beste Pho-Suppe wird
nämlich nicht in dem schicken teuren
„Village“ zubereitet und nicht in dem ach
so authentischen „Onkel“, wo die Gäste
auf dem Boden im Halbliegen ihre Suppe
auslöffeln, sondern in einem kleinen
unscheinbaren Imbiss an der Ecke. Er
hat nur zwei Tische mit Bänken draußen
vor der Tür. An der Hausfassade kleben
Farbfotos von Salaten und Entengerichten,
die Suppe ist nicht dabei.
Um die Zaubersuppe zu bekommen,
muss man reingehen in die kleine Küche
und zu dem freundlichen jungen Kellner
ohne Vorderzähne laut und deutlich
„Pho“ sagen. Man muss allerdings die
drei Buchstaben richtig aussprechen, nur
dann bekommt man die Suppe. Ich habe
es ein paar Mal vergeblich versucht und
staunte jedes Mal, wie unterschiedlich
man die gleichen drei Buchstaben aussprechen
kann. Doch mein Sohn kann
das. Er bestellt die Suppe für alle. Beim
Phoauslöffeln beginnt die Oma ihr Lieblingsgespräch:
„Und, hast du schon einen
Freund bzw. eine Freundin?“, fragt sie
ihre Enkelkinder. Sie schweigen. ■
mein/4 31
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Mit den Kulturfritzen
Kultur im Kiez entdecken
Folge 6: Das Bayerische Viertel
Es gilt als eines der gediegensten Berliner Wohnviertel: Touristische Hotspots, originelle Cafés oder
infrastrukturell durchorganisierte Shoppingmöglichkeiten sucht man im Bayerischen Viertel in der Tat
vergebens. Dafür finden Kulturinteressierte hier eine spannende Mischung aus funkelndem Glamour
und stillem Gedenken. Eine Entdeckungsreise zwischen KaDeWe und Bundesplatz.
Text und Fotos von Marc Lippuner
Eine katastermäßig festgelegte Begrenzung gibt es für
das Bayerische Viertel nicht. Bemüht man Onlinestadtpläne,
zieht es sich vom Tauentzien bis zur Ringbahn
zwischen Bundesplatz und Innsbrucker Platz, östlich
durch die Martin-Luther-Straße und westlich durch die
Bundesallee begrenzt. Somit gehört der westliche Teil
zu Wilmersdorf, alles östlich der Bamberger Straße zu
Schöneberg. Die unscheinbare Geisbergstraße bildete
früher die nördliche Grenze Schönebergs; das KaDeWe,
1907 eröffnet, stand also bis zur Gebietsreform 1938 in
Charlottenburg. Bayerische Straßennamen existieren
auch jenseits der oben genannten Markierungen. Darüber
hinaus entdeckt man in Alt-Schöneberg, rund um
den Barbarossa-Platz, durchaus architektonische Verwandtschaften.
Außerdem tragen zahlreiche Straßen, vor
allem südlich der Grunewaldstraße, österreichische und
südtirolerische Namen, verweisen nach Salzburg, Innsbruck,
Bozen oder Meran. Nun gehörten diese Städte
einst zum Königreich Bayern, aber das war schon einhundert
Jahre Geschichte, bevor hier überhaupt gebaut
wurde. Und dann sind wiederum einige Straßen unweit
der Martin-Luther-Straße nach Wirkungsstätten des
Reformators benannt: die Wartburg, Speyer, Eisleben,
Worms oder Eisenach. Wo also die Grenze ziehen?
Ein guter Ausgangspunkt zur Erkundung des Bayerischen
Viertels ist in jedem Fall der U-Bahnhof Bayerischer
Platz. Im Zwischengeschoss dokumentiert eine Dauerausstellung
mit großformatigen Fotografien und historischen
Postkartenmotiven sowie applizierten Informationstexten
die Geschichte jenes Wohngebiets, das von
Postkartenmotive im U-Bahnhof Bayerischer Platz
Goldener Hirsch im Rudolph-Wilde-Park
32 mein/4
Gedenktafeln im Bayerischen Viertel
Georg Haberland, dem Direktor der Berlinischen Boden-
Gesellschaft, auf bis dahin landwirtschaftlich genutztem
Gelände in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts für ein
großbürgerliches Publikum geplant und entwickelt wurde.
Die Architektur orientierte sich an der verspielt-eleganten
„Alt-Nürnberger Bauweise“ und viele Straßen erhielten
bayerische Namen. Beides versprach Gediegenheit und
Sicherheit – und beides half, eine finanzkräftige Bevölkerung
in die damals noch selbstständige Stadt Schöneberg
zu locken. Ein attraktives Quartier mit prachtvollen
Schmuckplätzen, originellen Straßenverläufen und großzügigen
Vorgärten entstand. Während der Bauzeit veranlasste
Schönebergs erster Oberbürgermeister Rudolph Wilde
die Errichtung des heute nach ihm benannten Stadtparks,
der das Viertel zusammen mit dem Volkspark Wilmersdorf
im Süden als grünes Band durchschlängelt. Zeitgleich
entstand auf seine Veranlassung innerhalb von nur zwei
Jahren die erste kommunale U-Bahnlinie Deutschlands,
die heutige U4, die 1910 ihren Betrieb aufnahm. Bis auf
die beiden Endstationen liegen die drei übrigen Bahnhöfe
im Bayerischen Viertel. Die Umsteigemöglichkeiten
am Nollendorfplatz und mehrere Straßenbahnlinien, die
den heutigen Innsbrucker Platz tangierten (der dortige S-
Bahnhof entstand erst 1933) werden die Attraktivität der
ruhigen Wohngegend maßgeblich erhöht haben.
Vertiefende Informationen zur Geschichte des Viertels
und den Menschen, die dort lebten, erhält man
an den Multimediastationen, die in dem nach dem
Gründungsvater Haberland benannten, großzügig verglasten
Café installiert sind, das seit fünf Jahren das
neugestaltete südliche Eingangsgebäude des Bahnhofs
krönt. Hier liegt auch eine Straßenkarte zur kostenfreien
Mitnahme aus, in der die Adressen zahlreicher Prominenter,
die im Bayerischen Viertel gelebt und gearbeitet
haben, markiert worden sind. Viele Wohnhäuser zieren
Gedenktafeln. So erfährt man, wo Bertolt Brecht den
Text der Dreigroschenoper schrieb, dass der Filmregisseur
Billy Wilder im selben Haus lebte wie der Musiker
Ferruccio Busoni, wo Ödön von Horvath 1931 logierte,
wann die Kabarettistin Claire Waldoff, die Journalistin
Inge Deutschkron, der chilenische Pianist Claudio Arrau,
die Kleist-Preis-Trägerin Anna Seghers oder der Politiker
Rudolf Breitscheid im Kiez lebten, dass der Journalist
Egon Erwin Kisch am Tag der nationalsozialistischen
Machtübernahme ausgezogen sein soll oder dass Erich
Kästner nur aus seinem Fenster hat schauen müssen,
um zu beschreiben, wie Emil und die Detektive sich mit
dem Dieb, der sich Grundeis nennt, eine Verfolgungsjagd
im Taxi liefern. Neben vielen nicht genannten waren
auch der Nobelpreisträger Albert Einstein und der
dichtende Arzt Gottfried Benn Anwohner des Kiezes.
Die beiden kauften ihre Bücher in der Buchhandlung,
die nicht immer schon am heutigen Standort, aber nun
doch bereits seit 100 Jahren am Bayerischen Platz existiert.
Gegründet wurde sie von Benedict Lachmann,
einem jüdischen Anarchisten und Schriftsteller, der 1937
mein/4
33
Kultur im Kiez
Kirche zum Heilsbronnen
hinter einer von Stih & Schnock
beschilderten Laterne
Denkmal von Gerson Fehrenbach
Denk-Stein-Mauer der
Löcknitz-Grundschule
Ausstellung im Rathaus Schöneberg
sein Geschäft verkaufen musste und vier
Jahre später nach Łódź deportiert wurde,
wo er kurze Zeit später starb. Die heutige
Besitzerin, Christiane Fritsch-Weith,
die die Geschichte des Buchladens in
dem Dokumentationsband Klein, aber
voller Köstlichkeiten (Transit 2015, 17,80
€) aufgearbeitet hat, organisiert seit der
Geschäftsübernahme vor 45 Jahren mit
großem Erfolg Lesungen und Vorträge.
Ist der Andrang zu groß, weicht man in
die nahegelegene Kirche zum Heilsbronnen
aus, die bis zu 350 Personen
Platz bietet. Hier wurde der Gemeindesaal
kürzlich zum sogenannten HÖR-
Saal umgestaltet, der als neuer Veranstaltungsort
im Kiez etabliert werden soll.
Konzerte, Theateraufführungen, Lesungen
und Vorträge sollen künftig das kulturelle
Programm bestimmen. Mit ihrem
68 Meter hohen Turm ist die 1912 eingeweihte
evangelische Kirche das zweithöchste
Gebäude des Viertels und das
einzige hier noch existierende historische
Gotteshaus. In den 1950er-Jahren wurden
die Ruinen zweier Synagogen abgetragen:
Das von Alexander Beer 1930
errichtete Gebäude in der Prinzregentenstraße,
das 2.300 Gläubigen Platz
bot, blieb der einzige Neubau einer Gemeindesynagoge
im Berlin der Weimarer
Republik. Es wurde während der Novemberpogrome
1938 niedergebrannt.
Diesem Schicksal entging die wesentlich
kleinere, von Max Fraenkel entworfene
und bereits 1910 eingeweihte Synagoge
in der Münchener Straße, da sie zu
nah an Wohnhäusern stand. Sie wurde,
wie ein Großteil des Bayerischen Viertels,
in der verheerenden Bombennacht
vom 22. auf den 23. November 1943
zerstört. Ein 1963 von Gerson Fehrenbach
gestaltetes Denkmal erinnert an
das Gotteshaus, auf dessen Grundstück
heute die Löcknitz-Grundschule steht.
Seit 1995 recherchieren die Schülerinnen
und Schüler der jeweils sechsten Klassen
Biografien ehemaliger jüdischer Nachbarinnen
und Nachbarn, von denen einst
16.000 im Bayerischen Viertel gelebt haben.
Mehr als 6.000 von ihnen wurden
1943 in Konzentrationslager deportiert,
viele gingen ins Exil oder wählten den
Freitod. Die Kinder beschriften in Gedenken
an sie Ziegelsteine mit Namen,
Geburtsdaten und Sterbeort, die einer
Denk-Stein-Mauer hinzugefügt werden
– ein jährlich wachsendes Denkmal
gegen das Vergessen.
Im Bayerischen Viertel findet man auch
zahlreiche von Gunter Demnigs Stolpersteinen,
die an das Schicksal von im Nationalsozialismus
verfolgten, vertriebenen
und ermordeten Menschen erinnern. Ein
weiteres dezentrales Mahnmal kann
man an 80 Straßenlaternen rund um den
Bayerischen Platz entdecken. Hier sind
in etwa drei Metern Höhe doppelseitig
gestaltete Schilder befestigt, auf deren
Textseite nationalsozialistische, antijüdische
Verordnungen und Gesetze den
schleichenden Prozess aufzeigen, der
schlussendlich zum Holocaust führte.
Die Rückseite der 1993 von Renata Stih
und Frieder Schock konzipierten Schilder
zieren assoziative Piktogramme, Bilder
und Symbole. Seit 2005 ergänzt die Ausstellungsinstallation
Wir waren Nachbarn
– Biografien jüdischer Zeitzeugen
die bereits genannten Projekte der Aufarbeitung
jüdischer Geschichte im Bezirk
Schönberg-Tempelhof: 172 biografische
Alben geben derzeit, gestützt auf
Interviews, Dokumente, Briefe und Fotos,
Auskunft über sehr unterschiedliche
Lebenswege bekannter und unbekannter
jüdischer Persönlichkeiten. Zu sehen
ist die Installation, die fortwährend weiterentwickelt
wird, in der großen Ausstellungshalle
des Schöneberger Rathauses,
das mit seinem markanten 70
Meter hohen Turm das höchste Gebäude
im Bayerischen Viertel darstellt. 1914
von dem Architektenduo Peter Jürgensen
und Jürgen Bachmann erbaut, war
es bis zur Gründung Groß-Berlins das
Rathaus der kreisfreien Stadt Schöneberg.
Von 1949 bis 1991 hatte der regierende
Bürgermeister Westberlins hier seinen
Amtssitz, in der Zeit der Berliner Teilung
war es auch Tagungsort des Berliner Abgeordnetenhauses.
Hier bekannte John
F. Kennedy am 26. Juni 1963: „Ich bin
ein Berliner!“, hier begannen am 2. Juni
1967 die Demonstrationen gegen den
Schahbesuch, hier läutet bereits seit dem
34 mein/4
Kultur im Kiez
Rathaus Schöneberg
Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz
René Koch in seinem Lippenstiftmuseum
24. Oktober 1950 täglich um 12 Uhr die von 17 Millionen
US-Bürgerinnen und -Bürgern durch Spenden finanzierte
Freiheitsglocke. Immer sonntags um 11:59 Uhr
ist die Glocke zusammen mit dem Freiheitsgelöbnis im
Deutschlandfunk Kultur zu hören. Die Ausstrahlung geht
auf eine Tradition des Senders RIAS (Rundfunk im amerikanischen
Sektor) zurück, der aus dem nur 800 Meter
entfernten Funkhaus am heutigen Hans-Rosenthal-Platz
sendete. Das Gebäude mit der charakteristischen Kurve
wurde Ende der 1930er-Jahre von Walter Borchard als
Bürohaus der Bayerischen (!) Stickstoffwerke AG errichtet.
Zwischen 1948 und 1993 beherbergte es den RIAS,
der nicht nur das sonntägliche Senden des freiheitlichen
Glockengeläuts, sondern auch die Räumlichkeiten dem
jetzigen Deutschlandfunk Kultur überließ.
Wer nach so viel Geschichte noch Lust auf Geschichten
hat, könnte ins Kino oder ins Museum gehen, denn
beides gibt es auch im Bayerischen Viertel: Im südwestlichsten
Eck befindet sich seit mindestens 100 Jahren ein
Lichtspielhaus: Ob das Bundesplatz-Kino 1919 oder
doch schon 1913 eröffnet wurde, ist ungewiss; gewiss
ist, dass in dem 87 Plätze fassenden Saal Filme fernab
des Mainstreams gezeigt werden. Neben aktuellen Arthouse-Streifen
ergänzen filmhistorische Retrospektiven
das Programm. So werden hin und wieder Raritäten des
Nachkriegskinos aus Ost- und Westdeutschland noch
einmal auf die große Leinwand zurückgeholt. Da wird
sicher auch schon der eine oder andere mit Hildegard
Knef dabei gewesen sein. Vielleicht war die Schauspielerin,
die als „Die Sünderin“ 1951 Filmgeschichte schrieb,
in jungen Jahren sogar Besucherin dieses Kinos? Sie absolvierte
jedenfalls nur einige Gehminuten entfernt die
Mittelschule. Nicht viel weiter muss man laufen, um Hildegard
Knef auch heute noch nahe zu kommen. In der
Helmstedter Straße 16 hat der Starvisagist René Koch,
ein langjähriger Freund der 2002 verstorbenen Diva, vor
einigen Jahren sein Lippenstiftmuseum eröffnet, in
dessen Kussmundkartensammlung sich auch ein Lippenabdruck
der Knef befindet. Darüber hinaus gibt es eine
Anzeige, in der sie in den 1950er-Jahren Werbung für den
„Volkslippenstift“ macht. Ein lachsfarbenes Exemplar aus
ihrem Besitz soll der Grundstock für Kochs umfangreiche
Sammlung gewesen sein, die unter anderem auch
eine Handvoll Lippenstifte aus dem Nachlass Evita Perons
beinhaltet. Ein Besuch des Museums ist nur nach
Voranmeldung möglich, der Hausherr führt dafür aber
auch selbst durch die Räumlichkeiten und gibt zahlreiche
Anekdoten aus seinem ungewöhnlichen Leben und
dem Showbusiness zum Besten.
Und so lässt sich im Bayerischen Viertel, das die hier
wohnende Schriftstellerin Monika Maron Leuten aus
Mitte oder Prenzlauer Berg gegenüber gern als „ziemlich
piefig“ beschreibt, in bester Gediegenheit doch allerlei
Kultur entdecken. Von unterhaltsamen Geschichten bis
zu mahnender Geschichte – der Besuch eines Kiezes, in
den man sich eigentlich nur verirrt, wenn man jemanden
besucht, hält manchmal mehr Überraschungen bereit,
als man anfangs glauben mag. Vielleicht sogar für jene,
die schon jahrelang hier leben.
Marc Lippuner
Marc Lippuner hat Germanistik,
Geschichte
sowie Kultur- und Medienmanagement
studiert.
Nach Jahren als
Theatermacher leitet
er seit 2017 die WABE
im Herzen des Prenzlauer
Bergs. Nebenbei
frönt er mit den von ihm
gegründeten „Kulturfritzen“,
einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten,
seiner Berlinliebe. Im Elsengold-Verlag
erschien im vergangenen Jahr sein Spaziergangsführer
durch den Großbezirk Pankow. Derselbe Verlag gibt
auch seine Wandkalender zur Berliner und zur deutschen
Geschichte heraus. Seit Januar 2020 hat Marc Lippuner
mit „Die Kulturfritzen – eine Stunde Berlin-Kultur“ bei
ALEX Berlin (UKW 91null) eine monatliche Radiosendung.
Für unser Magazin begibt er sich regelmäßig auf kulturelle
Entdeckungsreisen durch die Berliner Kieze, darüber
hinaus empfiehlt er eine Handvoll Kulturevents, die man
im kommenden Quartal seiner Meinung nach auf keinen
Fall verpassen sollte.
mein/4
35
Kulturtipps vom Kulturfritzen
100. Geburtstag eines expressionistischen Meisterwerks
Am 26. Februar vor 100 Jahren feierte Robert Wienes
in Weißensee gedrehter Stummfilm „Das Cabinet des
Dr. Caligari“ im Marmorhaus am Kurfürstendamm
seine Uraufführung. Der expressionistische Film mit
Werner Krauß, Conrad Veidt und Lil Dagover in den
Hauptrollen gilt aufgrund seiner grotesk verzerrten,
gemalten Kulissen und seiner kontrastreichen Beleuchtung
als Meilenstein der Filmgeschichte. Anlässlich
des Jubiläums widmet die Deutsche Kinemathek dem
expressionistischen Meisterwerk eine Ausstellung. Die
Sonderschau beleuchtet die Produktionsgeschichte dieses
frühen Psychothrillers und zeigt Rekonstruktionen
der spektakulären Sets. Neben der restaurierten Originalversion
des Stummfilms ermöglicht der VR-Film
„Der Traum des Cesare“ in den dreidimensionalen Raum
des Caligari-Films einzutauchen und sich virtuell auf
den Sets zu bewegen.
www.deutsche-kinemathek.de
© Fotoarchiv Deutsche Kinemathek
Szene aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“
Schaustellertum trifft Neo-Vaudeville
Seit 15 Jahren gibt das Chamäleon Theater dem neuen
zeitgenössischen Zirkus ein Zuhause. Mit der aktuellen
@ Andy Phillipson
Produktion „Le Coup“ erinnert die australische Compagnie
um Regisseurin Chelsea McGuffin augenzwinkernd
an alte Jahrmarkttraditionen, als das fahrende
Volk sich die Gunst des Publikums und damit seinen
Verdienst hart erspielen musste. Und so steigen Akrobatinnen
und Akrobaten mit ihren Talenten, darunter
Jonglage, Trapez, Hand-auf-Hand-Akrobatik oder Hair-
Hanging, wahrhaftig in den Ring, um den größten Applaus
zu kassieren.
Mit atemberaubenden Kunststücken, viel Humor und
einer fabelhaften Liveband ist „Le Coup“ ein Abend,
der niemanden ruhig sitzen lassen wird. Die Fight-Night
steht bis 16. August auf dem Programm.
www.chamaeleonberlin.com
Szene aus „Le Coup“
Furios farbige Bildwelten
Der in Berlin lebende Maler Bernhard Martin (*1966)
zieht seine Motive aus dem unerschöpflichen Fundus
des Internets, um sie in farbgewaltige Gemälde,
Zeichnungen und Collagen zu verwandeln. Seine Leidenschaft
gilt der ungeschönten Sicht auf das Obszön-
Verführerische, er zeigt Abgründe, Gier, Eitelkeiten
36 mein/4
oder leere Worte, die für Aufregung sorgen: ein explosives
Gemisch des menschlichen Daseins, das Bernhard
Martin mit eigenen Fantasien und intimen Sehnsüchten
aufmischt. Vom 13. März bis 7. Juni zeigt das Haus am
Waldsee mit „Image Ballett“ Werke des Künstlers aus
den letzten zwanzig Jahren, darunter einen eigens für
diese Soloshow entstandenen Gemäldezyklus.
www.hausamwaldsee.de
© VG Bild-Kunst
Bernhard Martin: Elysian Fields (2017)
57. Berliner Theatertreffen
Jedes Jahr werden im Frühjahr zehn „bemerkenswerte“
Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum zum
Berliner Theatertreffen eingeladen, das 2020 eine Quote
Florentina Holzingers „TANZ“
© Eva Würdinger
eingeführt hat, um die Sichtbarkeit von inszenierenden
Frauen zu stärken. Mit sechs Regisseurinnen wurde das
Ziel von 50 Prozent sogar übererfüllt. Die Auswahl der
Arbeiten ist abwechslungsreich: Klassiker, Stückentwicklungen
sowie Erst- und Uraufführungen wird es vom
1. bis 17. Mai zu sehen geben, darunter vier (Co-)Berliner
Inszenierungen. Die interessanteste Produktion
dürfte der von den Sophiensælen koproduzierte Performance-Abend
„TANZ. Eine sylphidische Träumerei in
Stunts“ sein. Einziger, nahezu stetiger Wermutstropfen:
Wie so oft haben es nur bekannte Großstadttheater und
arrivierte Koproduktionshäuser der freien Szene in die
Auswahl geschafft.
www.berlinerfestspiele.de
Berlinbuch-Tipp: Ein extravagantes Leben
René Koch führte einen Tante-Emma-Laden, bevor
er zur Kosmetikschule ging. Er war die erste Drag
Queen Berlins und der beste Freund Hildegard Knefs.
Er schminkte große Stars wie Joan Collins, Shirley Bassey
oder Eartha Kitt und stellt Lippenstifte prominenter
Damen aus aller Welt in einem eigenen Privatmuseum
aus. Darüber hinaus engagiert er sich in sozialen Belangen:
So hilft er Brandopfern, ihre Narben kosmetisch
zu überdecken, und unterstützt aktiv die Deutsche
Aidshilfe. Über sein aufregendes Leben hat René Koch,
der in diesem Jahr 75 Jahre alt wird, ein Buch geschrieben.
Auf 250 reich bebilderten Seiten erzählt der in
der prüden Adenauer-Ära großgewordene Starvisagist
aus erfüllten Jahren „zwischen Tuntenbällen und High
Society“ und zeichnet ein überaus lebendiges Bild vom
wilden Westberlin der sechziger und siebziger Jahre.
„Abgeschminkt. Mein Leben, meine Sünden, meine
Zeit“ erschien 2016 im B&S Siebenhaar Verlag.
Am 8. März ist René Koch in der Radiosendung „Kulturfritzen
– eine Stunde Berlin-Kultur“ zu Gast, die
von 18 bis 19 Uhr auf ALEX Berlin (UKW 91null)
ausgestrahlt wird.
www.rene-koch-berlin.de
www.siebenhaar-verlag.de
www.alex-berlin.de
@ Marc Lippuner
mein/4
37
Bärbel‘s
ungebetener Ratschlag
Heute: Prokrastinieren
Eine Kolumne von Bärbel Stolz
Ich habe mit meiner Schwester in Ravensburg telefoniert.
Obwohl wir wirklich nur ganz kurz was besprechen
wollten, hat das Telefonat zwei Stunden gedauert.
Ich habe ihr vorgejammert, dass ich meine To-do-Liste
nicht ansatzweise abgearbeitet habe und einfach nicht
vorankomme. Und nicht mal wirklich sagen kann, was
ich stattdessen gemacht habe. Das hätte ich dann wenigstens
auf meine Done-Liste schreiben können. Allerdings
habe ich die noch nicht angelegt. Steht noch
auf meiner To-do-Liste.
Und du?
Hast du schon was geputzt, aufgeräumt, erledigt, organisiert?
Hast du eine To-do-Liste, bei der du gewissenhaft
Punkt für Punkt abarbeitest, oder folgst du einer
eingespielten Routine? Ich mache mir viele Listen. Auf
Zettel, in Hefte, im Kalender, im iPhone, als Sprachnachricht
… Eine Liste zu haben gibt mir das Gefühl,
meine Aufgaben im Griff zu haben. Trotzdem oder
vielleicht auch darum arbeite ich sie oft nicht ab. Ich
prokrastiniere. Prokrastinieren ist ein Wort, das ich als
Klugscheißerin eigentlich immer gerne mochte, das Pro
hat einfach etwas Positives, finde ich. Es kommt aus
dem Lateinischen und ist eine Zusammensetzung aus
pro = für und crastinum = morgen, bedeutet aufschieben
und meint das unnötige Verschieben von wichtigen
Aufgaben auf einen späteren Zeitpunkt. Im Internet
ist nachzulesen, dass ausdrücklich nicht das legitime
Aufschieben aufgrund äußerer Umstände gemeint sei,
sondern Bequemlichkeit oder der fehlende Überblick.
Das gibt mir zu denken. Denn ich neige zum Prokrastinieren
und habe mir immer eingeredet, dass es von
größter Wichtigkeit sei, mir dafür Zeit zu nehmen, um
die Kreativität in Gang zu setzen. Bei mir läuft das
meistens so, dass ich mich vor den Laptop setze, um
zu arbeiten. Und mir ist absolut bewusst, woran genau
ich arbeiten möchte bzw. sollte.
Und dann öffne ich ein neues, leeres Dokument, das
ich mit Texten füllen will. Mit schlauen, lustigen, anregenden
Texten, Texten voll Weisheit und Witz. Und
mein Hirn ist so leer wie das Blatt. Oder so voll, dass
ich nicht durchkomme durch alle Gedanken.
Dann denke ich: eine Runde Solitär und dann lege ich
los. Denkste, Puppe. Denn diese Spiele sind ja regelrechte
Prokrastinationsfallen. Wenn die Patience nicht
aufgeht, beginnt man sofort die nächste. Nur noch eine.
Wieder nicht. Jetzt die allerletzte. Und auf einmal sind
30 Minuten vergangen. Oder ich setze mich ans Klavier.
Jetzt ist keiner da außer mir – ich kann Memories
singen und mich stümperhaft dabei begleiten! Oh nein,
schon Mittag?
Kann man als Schwäbin unbeschwert prokrastinieren?
Das heißt in Süddeutschland doch: einfach faulenzen,
und das führt dazu, dass es „ohmeglich“ aussieht. Das
Bärbel Stolz
ist Schauspielerin und Autorin
Mit ihrer Figur „Die Prenzlschwäbin”
hat sie schwäbische,
deutsche und großstädtische
Eigenheiten aufs Korn genommen
und mit ihren YouTube-
Videos und Live-Auftritten
Menschen im ganzen Land begeistert.
Jetzt ist sie mit ihrem
neuen Programm „Toller Arsch“
auf Tour.
www.prenzlschwaebin.de
38 mein/4
Bärbel‘s ungebetener Ratschlag
heißt, dass ich die Wahrheit sage, wenn es überraschend
an der Tür klingelt und ich die Freundin mit den güldenen
Worten hereinbitte: „Entschuldige bitte, bei mir
sieht´s unmöglich aus!“
Oder ich nehme mir fest vor, gleich nachdem ich meine
Tochter in der Kita abgegeben habe, zum Einkaufen
loszusausen. Und bleibe dann mit einer anderen Mutter
kleben, weil wir uns über den neuesten Trend in Prenzlauer
Berg unterhalten. Alles vertane Zeit?
Es ist ja so, dass du während des ziemlich stumpfsinnigen
Solitärspiels Zeit hast, deine Gedanken auf Reisen
zu schicken. Du führst im Geist Gespräche, erledigst
Dinge – und hast dabei durchaus Geistesblitze. Was
dann zu tiefsinnigen Texten führen kann. Kann.
Wenn du dich einfach mal vom Moment aufhalten lässt,
bemerkst du ganz neue Dinge: Beispielsweise wie nett
diese Frau ist und was für interessante Ansichten sie
hat. Vielleicht baust du dabei alte Vorurteile ab. Vielleicht
lächelst du den ganzen Tag, obwohl du 30 Minuten
später losgefahren bist, vergessen hast, die Butter
zu kaufen und wieder den Paketboten verpasst hast.
Dadurch musst du aber bei einer Nachbarin klingeln,
die du noch nicht kanntest und erklärst dich spontan
bereit, ihre Blumen am Wochenende zu gießen.
Ich nenne das ab sofort nicht mehr prokrastinieren. Und
das solltest du auch nicht mehr tun. Nenne es bewusste
Entschleunigung. Oder Mindfulness. Meine Schwester
hat mir am Ende des Telefonats einen Satz geschenkt,
der mir direkt wieder gute Laune gemacht hat – deshalb
schenke ich den an euch weiter: „Frage dich am
Ende des Tages einfach mal nicht: ‚Was hast du heute
gemacht?‘, sondern: ‚Was hast du heute gedacht?‘“ ■
Bärbel Stolz
Buch
ICH BIN DANN MAL EX
Storys einer Heldin von heute
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-13: 978-3442178100
Comedy-Programm
„TOLLER ARSCH”
Samstag, 28.03.2020
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© Fotos: Pavol Putnoki
Mobil
Unterwegs mit dem Lastenrad
Berlin wächst und wächst. Nicht nur die Zahl der Einwohner steigt stetig, auch der Autoverkehr
nimmt zu. Die Kapazität der Straßen stößt an Grenzen. Zu gewissen Stoßzeiten muss man mehr
als zwei Stunden einplanen, um die Stadt einmal zu durchqueren. Verlorene Zeit. Auch für uns,
wenn wir unser Magazin ausliefern.
meinviertel-Bericht
Wenn eine neue mein/4-Ausgabe Berlin erreicht, ist
es für uns erst einmal ein freudiges Ereignis. Auf 17
Paletten verteilen sich 50.000 Exemplare und wollen
so schnell wie möglich ausgeliefert werden.
Wir versorgen mehr als 300 große Verteilstellen in der
ganzen Stadt. Dazu kommen rund 1.000 kleine Stellen
in den verschiedenen Bezirken. Doch diese müssen
erst einmal alle erreicht werden.
Die Verteilung entwickelt sich zum Problem. Zwei
Punkte sind hier entscheidend: Die Fahrzeit auf völlig
überfüllten Straßen und die Parkplatzsuche. Während
die großen Verteilstellen über ausreichend Parkplätze
vor der Tür verfügen, suchen wir in den kleinen Seitenstraßen
der Kieze meistens vergeblich. Was bleibt?
Wir parken in zweiter Reihe, gefährden damit Fußgänger,
zwingen Radfahrer zum Ausscheren auf die
40 mein/4
Seite 4
Mobil in Berlin
Gegenspur, sorgen für Staus usw.
Ehrlichgesagt sind wir also Teil des
Problems. Hierfür galt es nun eine
Lösung zu finden.
Das Thema Lastenrad wurde
immer konkreter, und
wir formulierten für uns
eine Wunschliste:
• mindestens 200 Kilogramm
Traglast
• Ladevolumen für mindestens
600 Magazine
• elektrische Unterstützung
• Mittelmotor
• mindestens 50 Kilometer
Reichweite bei voller
Ausnutzung der Ladekapazität
Soweit unser Lastenheft.
in Berlin
Warum diese
Anforderungen?
In Berlin beliefern wir alle zwölf
Bezirke, in jedem Bezirk durchschnittlich
100 kleine Verteilstellen
mit jeweils etwa zwölf Exemplaren.
Darunter auch Stellen, die nur
mit drei Leseexemplaren beliefert
werden. Die maximale Distanz ist
rund 20 Kilometer pro Richtung.
Schnell wird klar: Ein Lastenrad
alleine kann das nicht leisten.
Ein ABO – zur
Unterstützung
STAD TEILMAGAZIN ∕ PRENZLAUER BERG JULI/AUGUST/2017
STADTMAGAZIN mein/4 SEPTEMBER – NOVEMBER 2019
mein 4
www.meinviertel.berlin SEPTEMBER – NOVEMBER 2019
STADTMAGAZIN
#sage-
nein
Start unserer
Aktion für ein
besseres
Miteinander
UNSER CAFÉ
von Freunden für alle
Ampler Bikes
Leichte E-Bikes für die Stadt
W. KAMINER: „WARUM DEUTSCHLAND?“
WIE WOLLEN WIR ZUSAMMEN LEBEN?
DAS WAR DER SOMMER IN BERLIN
PAULSEN, DER FALSCHSPIELER
www.meinviertel.berlin/aktue le-ausgabe
Wir lieben diese Stadt – trotz ihrer Hektik
und obwohl vielleicht einiges schiefläuft.
Umso wichtiger ist es für uns, über Sachen
zu berichten, die gut laufen, und über Menschen,
die sich engagieren.
Dafür brauchen wir auch euch!
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Schon ab 24,90 € pro Jahr ist das möglich.
Wir danken euch im Voraus.
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Öffnungszeiten
Di – Fr 11–19 und Sa 11–17
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Mobil in Berlin
Infobox
Zweispurige Lastenräder
Lastenräder mit drei Rädern haben den Vorteil, sehr stabil zu stehen
und zu fahren. Auch große Lasten bringen sie nicht zum Kippen.
Das Beladen ist sehr komfortabel: Große, breite Transportboxen bieten
genug Platz für zwei Kindersitze nebeneinander, je nach Zubehör passen
auch mehr Kinder hinein.
Daher sind sie gerade bei Familien sehr beliebt.
mein/4 bei YouTube
auf mein/4 TV.
Wir favorisieren zwei unterschiedliche Konzepte: Das
einspurige Lastenrad und das zweispurige Lastenrad.
Denn mehr als 100–120 Kilo Zuladung pro Rad ist
kaum möglich.
Hintergrund der zwei Konzepte
Das Einsatzgebiet ist unterschiedlich. Weil das einspurige
Rad bei uns die größeren Entfernungen mit
höherer Geschwindigkeit zurücklegen soll und durch
seine schmale Bauweise eher in der Lage ist, kleinere
Lücken zu nutzen, ist es unser Favorit für die Distanz.
Dagegen deckt das zweispurige Lastenbike die
kürzeren Entfernungen ab. Hier sind teilweise alle
50 Meter Stopps vonnöten. Auch bei voller Beladung
soll es kippsicher sein, und wir brauchen schnellen
wie auch bequemen Zugriff auf die Ladung. Vor dem
Kauf ist hier guter Rat teuer. Doch wer berät? Und
wo kauft man Räder, die unsere Bedürfnisse erfüllen?
Nun herrscht in Berlin an guten Fahrradläden kein
Mangel, beim Thema Lastenräder wird das Angebot
schon etwas dünner.
Die erste Station führt uns nach Pankow in die Florastraße.
Hier hat Dan Ehle seit 2013 Jahren sein Geschäft
„Pankerad“ mit einem Schwerpunkt auf Lastenrädern.
Das Potenzial von Fahrrädern als Transportmittel
erkannte er früh: Schon in den Neunzigerjahren
konstruierte er selbst Räder dieser Art, lange bevor
das Thema Fahrradtransport in den Köpfen hip
wurde. Später machte er seine Leidenschaft zum
Geschäftsmodell.
Was als kurzer Informationsbesuch geplant war, endet
nach zwei Stunden Führung und Erklärung der
Vor- und Nachteile einzelner Konzepte. Die kurzen
Probefahrten durch Pankow ließen die Gewissheit
42 mein/4
Mobil in Berlin
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Ein Angebot von: Little John Bikes GmbH, Heidestraße 3, 01127 Dresden | Alle Finanzierungen erfolgen über unseren Partner: Darlehensgeber: Targobank AG & Co. KGaA in Düsseldorf, Kasernenstraße 10, 40213
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Einspurige Lastenräder
Lastenräder mit zwei Laufrädern haben ähnliche Fahreigenschaften wie herkömmliche Fahrräder und sind meist
ebenso schmal. Mit ihnen kommt man zügig voran, kann auch Engstellen passieren und Kurven wie gewohnt
bewältigen. Die Nachteile sind ein unsicherer Stand, bei hoher Beladung und niedrigeren Geschwindigkeiten
eine geringere Fahrstabilität sowie schmalere, meist nur lenkerbreite Ladeflächen.
Das kann bedeuten, dass in die Transportbox nur ein Kindersitz passt. Einspurige Lastenräder gibt es in unterschiedlichen
Formen: Der Tieflader, oft auch „Long John“ genannt, besitzt eine tiefliegende Ladefläche zwischen
Lenksäule und Vorderrad. Der tiefe Schwerpunkt erlaubt hohe Zuladungen bis etwa 100 Kilogramm. Die
Länge macht es aber weniger wendig.
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aufkeimen, einen unserer Favoriten gefunden zu haben.
Ein „Long John“ von Riese & Müller sollte es sein,
genauer ein „Packster 60“.
Dieses Rad bietet uns die richtige Mischung aus Ladefläche,
Zuladung und Handlichkeit. Die Flexibilität
überzeugt uns. Auch die Möglichkeit den Aufbau frei
zu bestimmen, genau abgestimmt auf unsere Bedürfnisse,
die Maße unserer Magazine etc. – die Auswahl
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Fahrspaß ist beeindruckend, schon nach kurzer Eingewöhnung
fährt es sich wie ein normales Fahrrad. Wir
beladen das Rad testweise mit 100 Kilo Magazinen.
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mein/4
45
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Es zeigt sich völlig unbeeindruckt von dieser Last.
Fast läuft es noch stabiler als im nicht beladenen Zustand.
Mithilfe des Boschantriebs beschleunigen wir
problemlos auf 25 km/h, aber auch 30 km/h und mehr
sind mühelos drin. Beeindruckend.
Wir wissen: Das wollen wir! Kaufen dürfen wir leider
noch nicht: „Testet es bitte erst einmal ausgiebig,
denn so eine Entscheidung will gut überlegt sein und
muss richtig passen.“ Sehr sympathisch. So verlassen
wir Pankow mit unserem Favoriten und parken ihn
probehalber auf unserem Innenhof.
Wenn man über zweispurige Lastenräder spricht,
kommt man an der holländischen Firma Babboe nicht
vorbei. Kaum eine Firma bietet mehr Aufbauten, egal
ob für Kitas, Hundebesitzer oder die Familie. Ein
großer Partner von Babboe ist hier in Berlin „Little
John Bikes“. Wir trafen in der Filiale am Gesundbrunnen-Center
auf Paul. Nachdem wir auch ihm unseren
Lastenkatalog vorgestellt haben, kämpfen wir uns
durch die reichhaltige Ausstellung. Rauchende Köpfe
sind garantiert. Unser Favorit ist das „Babboe Curve
Mountain-E“.
Auch hier werden wir zu einer ausgiebigen Testfahrt
eingeladen. Ein Angebot, das wir gerne annehmen.
Der erste Fahreindruck überrascht und ist ganz anders
als wir erwartet haben. Kurvenfahrten sind bauartbedingt
völlig anders und wollen geübt werden. Es
dauert etwas, bis unser Verständnis wächst und der
Fahrspaß einsetzt.
Ob unsere Überlegungen und Planungen nachher praxistauglich
sein werden? Wir werden testen und berichten.
Eines aber ist sicher: Wenn du dieses Magazin in
der Hand hältst, wird es dich mit hoher Wahrscheinlichkeit
per Fahrrad erreicht haben.
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dem Fahrrad
Drei Fragen … an Sören Benn
Wir trafen den Bezirksbürgermeister von Pankow, Sören Benn (Die Linke), in seinem Bezirk.
Mein/4: Warum nutzen Sie das Fahrrad?
Das Fahrrad ist immer verfügbar, die Parkplatzsuche
ist entbehrlich, es besteht keine Staugefahr. Bis ca. acht
Kilometer komme ich damit fast überall schneller hin
als mit anderen Verkehrsmitteln. Man ist unabhängig,
Rad fahren macht wach und hält fit.
Mein/4: Die Infrastruktur für Fahrradfahrer/-
innen ist oft in einem beängstigenden
Zustand. Was tut der Bezirk Pankow, um das
Fahrradfahren attraktiver zu machen? Welche
Konzepte sollen umgesetzt werden?
Mehrmals jährlich tagt in regelmäßigen Abständen der
bezirkliche Fahr-Rat, in dem die Verwaltung zusammen
mit verschiedenen Fahrradverbänden (ADFC, Netzwerk
Fahrradfreundliches Pankow, Changing Cities e. V.)
über Probleme, Konflikte, Strategien und Netzkonzepte
für den Radverkehr im Bezirk Pankow berät. Darüber
hinaus wird durch das Berliner Mobilitätsgesetz für den
Bezirk und die Senatsverwaltungen eine Handlungserfordernis
bestimmt. So sollen beispielsweise im Zuge
des Hauptverkehrs-Straßennetzes sichere Radverkehrsanlagen
geschaffen werden, die dem aktuellen Stand
der Technik entsprechen. Im Nebenstraßennetz ist ein
Vorrangnetz mit prioritärer Ausrichtung auf den Radverkehr
umzusetzen. Darüber hinaus werden auch Maßnahmen
für den ruhenden Radverkehr mit vorgesehen,
die ein sicheres Abstellen des Fahrrades insbesondere
an Nachfrageschwerpunkten ermöglicht. Nicht alles ist
sofort möglich. Insbesondere komplexe Flächen- und
Interessenkonkurrenzen erschweren oftmals eine zeitnahe
Realisierung oder machen diese gar kurz- bis mittelfristig
unmöglich. Das Bezirksamt Pankow arbeitet
in Abstimmung mit den Fahrradinitiativen an einem
stimmigen Radverkehrs-Gesamtkonzept für den Bezirk
Pankow, das schrittweise umgesetzt werden soll.
Hierzu hat das Bezirksamt Pankow eine Radverkehrsstrategie
entwickelt, die aus den folgenden drei Bausteinen
besteht:
Baustein Nr. 1: Radverkehrsanlagen
Baustein Nr. 1 beinhaltet zum einen den Neubau oder
die Umgestaltung von Radverkehrsanlagen an Hauptverkehrsstraßen
(Radwege oder (geschützte) Radfahrstreifen)).
Zum anderen beinhaltet er die Verbesserung
der Befahrbarkeit von Nebenstraßen im Radroutennetz
(z. B. Asphaltierung von Straßen mit Großsteinpflaster).
Das Straßen- und Grünflächenamt hat diesbezüglich
sämtliche Lücken im Radverkehrsnetz identifiziert und
erarbeitet derzeit zusammen mit den Fahrradverbänden
eine Prioritätenliste zur Abarbeitung der Lücken
im Netz.
Baustein Nr. 2: Fahrradstraßen
Baustein Nr. 2 beinhaltet die Ausweisung von Fahrradstraßen
im Straßennebennetz, die Teil des übergeordneten
Radroutennetzes sind. Das Bezirksamt Pankow
hat diesbezüglich, in Zusammenarbeit mit Changing
Cities e. V., entsprechende Straßen(-züge) ausgewählt,
die von hoher Bedeutung für den Radverkehr sind.
Baustein Nr. 3: Fahrrad-Abstellanlagen
Baustein Nr. 3 beinhaltet die Erweiterung von Fahrrad-Abstellanlagen
(Bügel). Hierbei werden auch spezielle
Abstellanlagen für Lastenräder berücksichtigt.
mein/4
47
Drei Fragen an Sören Benn
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Die Zuständigkeit des Straßen- und
Grünflächenamtes beschränkt sich
dabei auf das öffentliche Straßenland.
Die Bereiche der S- und U-Bahnhöfe
werden durch die landeseigene infra-
Velo GmbH untersucht. Im Jahr 2020
plant das Straßen- und Grünflächenamt
die Aufstellung von ca. 450–500
neuen Fahrradbügeln.
Mein/4: Pankow wächst, damit
auch der Individualverkehr.
Welche Vision verfolgen Sie,
um Mobilität in Pankow
„lebenswerter“ zu gestalten?
Umweltverbund fördern & ausbauen:
Es gilt eine bessere Erreichbarkeit,
Gesundheitsförderung und soziale
Gerechtigkeit zu erzielen, durch
Umbau des Verkehrssystems, weg
von der autogerechten Stadt hin zum
Umweltverbund. Gleichzeitig soll die
Funktionsfähigkeit der überlasteten
Straßeninfrastruktur und des öffentlichen
Personennahverkehrs sichergestellt
werden.
Dazu ist zu sagen, dass das vorhandene
Straßenverkehrsnetz bereits im Bestand
in den Verkehrsspitzen teilweise
deutlich überlastet ist. Der Ausbau
des vorhandenen Straßennetzes für den
Kfz-Verkehr ist weder möglich noch verkehrspolitisch
sinnvoll. Die Zeit einer
ausschließlichen Bevorzugung und Förderung
sowie der verkehrsplanerischen
Fokussierung auf die Belange eines
leistungsfähigen, motorisierten Individualverkehrs
ist angesichts herrschender
Flächenknappheit und -konkurrenz,
der Feinstaub- und Stickoxid-Problematik
sowie des vom Bezirk Pankow
48
beschlossenen Klimanotstandes vorbei.
Ziel sind autoarme Wohnquartiere
mit einem vielfältigen Angebot der
Verkehrsmittel des Umweltverbundes.
Offen für neue Verkehrssysteme: Alternative
Verkehrsmittel müssen dem
Nutzer eine möglichst hohe Flexibilität
gewähren, bezahlbar sein, einen
gewissen Komfort bieten, nach Möglichkeit
witterungsunabhängig sein
und eine Zeitersparnis in der Reisezeit
bewirken, damit diese eine ernsthafte
Konkurrenz zum eigenen Kfz darstellen.
Von der Anbieterseite müssen sich
die Verkehrsmittel wirtschaftlich tragen.
Seitens der Stadtentwicklung ist
eine schnelle Realisierbarkeit von großer
Bedeutung. Da diese Punkte insbesondere
im straßen- und schienengebundenen
ÖPNV kaum vollständig erfüllt
werden, sind auch der Einsatz anderer,
neuartiger, bisher noch nicht etablierter
Verkehrsmittel objektiv zu prüfen. Dies
setzt die Offenheit und Experimentierfreudigkeit
aller planenden und genehmigenden
Behörden voraus.
Lebensqualität in den Stadtquartieren
fördern: Insgesamt soll mehr Mobilität
mit weniger Verkehr und durch
eine Stadt der kurzen Wege erreicht
werden, basierend auf kompakten und
gemischt genutzten Stadtquartieren
und der Förderung von Nahmobilität
(Fuß- & Radverkehr). Zusammen mit
der einhergehenden Reduktion von Verkehrsemissionen
(Luft, Lärm) führt dies
zu lebenswerten Stadträumen in lebendigen
Stadtquartieren. Dies ist sowohl
in den bestehenden als auch insbesondere
den in Planung befindlichen neuen
Wohnquartieren Ziel des Bezirkes
Pankow.
■
mein/4
© Fotos: Pavol Putnoki
Über die
Lust an
der Last
Alexander Koppe vom Restaurant Skykitchen
Seit Jahrzehnten herrscht in der Spitzengastronomie das Diktat der „Feinkostbibel“ MICHELIN. Nur
23 Restaurants in Berlin tragen momentan diese Auszeichnung: Sie haben es mit ihren Küchenchefs
geschafft, den Kocholymp zu betreten.
Alexander Koppe ist einer dieser wenigen. Seit 2013
führt er mit seiner Crew das Restaurant Skykitchen
auf einen der Spitzenplätze der Berliner Gastronomie.
Wir treffen Alexander Koppe in seinem Restaurant im
Vienna House Andel’s, hoch oben über den Dächern
Berlins. Schon allein der Ausblick ist atemberaubend.
Wir haben Glück: Die Luft über Berlin ist klar, der
Blick schweift weit über die Stadt. Fast kommt ein wenig
Neid auf – was für ein Arbeitsplatz!
Alexander Koppe kommt zu uns an den Tisch; wir bemerken
ihn gar nicht, sind immer noch gefesselt davon,
unsere Stadt von oben zu entdecken.
Koppe: Beeindruckt?
mein/4: Und wie! Du hast Glück mit deinem
Arbeitsplatz.
Koppe: Ja, darüber bin ich auch sehr glücklich. Leider
bekommen wir davon in der Küche nichts mit. Der Ausblick
ist allein den Gästen vorbehalten (lacht).
mein/4: Was bedeutet Sternegastronomie?
Koppe: In der Sternegastronomie geht es darum, immer
das beste Produkt auf diesem Planeten auf den Teller zu
bekommen. Es definiert sich alles über Qualität. Diese
Qualität muss so raffiniert wie präzise in völlig neue
Aromen-Zusammenhänge überführt werden. Das ist
der Anspruch.
mein/4
49
mein/4: Vier bis sechs Mal im Jahr kommen
die Tester des MICHELIN Guide, sie kommen
anonym. Wie gehst du um mit diesem Druck?
Wie schafft man es, jeden Tag Höchstleistung
zu vollbringen?
Koppe: Nur mit einem guten Team. Ohne dein Team
bist du verloren.
mein/4: Du bist 2011 vom Adlon hierhergekommen,
deine erste Rolle als Küchenchef.
War das Ziel klar? Sollte es von Anfang an
der Stern sein?
Koppe: Ja, das war von Anfang an das Ziel. Zu Beginn
war es schwierig, und es hat eine Weile gedauert, bis
das Team stand. Im dritten Jahr hat es dann endlich
geklappt. Als neues Restaurant wirst du ja auch nicht
sofort getestet. Es dauert ein bisschen, auf sich aufmerksam
zu machen.
mein/4: Das Restaurant Skykitchen ist erst
deine sechste Station als Koch. Woher holst du
dir deine Inspiration? Besuchst du auch mal
deine Kollegen?
Koppe: Das würde ich so gerne, leider bleibt dafür überhaupt
keine Zeit. Die Arbeitstage sind hier schon über
14 Stunden lang und mehr. Der freie Tag gehört dann
meiner Tochter. Und ein bisschen die Seele baumeln
lassen, durchatmen. Aber natürlich lasse ich mich gerne
inspirieren, auch durch neue Mitglieder in meinem
Team. Meistens haben die ja auch schon in anderen
Sterneküchen gearbeitet. Es ist spannend für mich zu
sehen, welche Ideen und Einflüsse sie mitbringen.
mein/4: Den Druck, der auf dir lastet, den
stelle ich mir brutal vor. Ständig kreativ sein,
neue Ideen entwickeln, deine Gäste jedes Mal
aufs Neue beeindrucken. Es gibt Kollegen
von dir, die für ihre Zukunft auf den Stern
verzichtet haben. Auch weil ihnen der Druck
zu hoch wurde.
Koppe: Ja, das ist Stress pur. Ich bin jetzt 38, und ich
merke, das hat Kraft gekostet. Vor allem leidet darunter
auch das Privatleben, die Familie. Das letzte Mal habe
ich in der Lehre Silvester gefeiert. Weihnachten haben
wir auch geöffnet. Ich kann mir momentan auch nicht
vorstellen, mit 50 Jahren immer noch am Herd zu stehen.
Letztlich ist es egal, ob Tester oder normaler Gast.
Alle fordern, dass die nächste Karte, das nächste Menü,
noch besser, noch ausgefallener wird und noch besser
aufeinander abgestimmt ist als die vorherige Karte. Das
betrifft eben auch die Begleitung, sprich die Weine. Ich
bin froh, dass ich hier Menschen habe, die mir den Rücken
freihalten. Ich glaube, sonst wäre es auch gar nicht
möglich, jeden Tag 150 Prozent zu geben.
„Ordentlich ,bums‘
muss es haben ...“
mein/4: Wie ist die Fluktuation bei dir in der
Küche?
Koppe: Bei dem Druck ist sie gewaltig: In den letzten
drei Jahren sind rund zwölf Köche gekommen und gegangen.
Es gibt doch einige, die nach drei Monaten merken,
dass sie das nicht können, dass dieser Druck nichts für
sie ist. Man muss aber auch sagen, ein Wechsel alle ein
bis zwei Jahre ist normal. Die Guten wollen weiter und
noch andere Richtungen kennenlernen.
mein/4: Wie viele Gäste bewirtet ihr an einem
Abend?
Koppe: Eigentlich haben wir 50 Sitzplätze, die schaffen
wir aber im normalen Betrieb nicht angemessen zu
bewirten. Mehr als 35 Reservierungen geben wir nicht
raus. Das sind dann normalerweise acht Gänge pro Gast,
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plus zwei Grüße aus der Küche, also rund
350 Teller, die mit unserem Anspruch
serviert werden wollen. Mehr geht nicht.
Und der Erfolg gibt uns recht: Auf einen
Tisch muss man momentan rund zwei
Monate warten.
mein/4: Beschreibe mir deine Art
zu kochen. Was ist wichtig?
Koppe: (lacht) Ordentlich „bums“ muss
es haben ... Was ich damit meine: Wenn
ich ein Erbsenpüree mache, dann muss
der Gast das Gefühl haben, er stehe in
einem Erbsenstrauch. Abwechslung ist
auch wichtig. Und die französische Küche
als Grundlage des klassischen Kochens.
Ansonsten kann die Reise kulinarisch
über Asien durch die ganze Welt
gehen.
mein/4: Was kochst du dir privat?
Koppe: Schnell, einfach, ehrlich. Buletten,
Senfeier, so etwas in die Richtung.
So, wie Oma früher gekocht hat.
mein/4: Stichwort regionale Küche.
Ist das ein Thema bei euch?
Koppe: Ja und nein. Als Gesamtkonzept
ist es bei uns nicht möglich. Viele Sachen
gibt es einfach nicht in der Region oder
auch nicht in der Häufigkeit beziehungsweise
in der Qualität, die wir benötigen.
Ein bisschen versuchen wir regional zu
sein, das ist mir auch wichtig als gebürtiger
Berliner. Aber meistens beschränkt
sich das auf ein, zwei Gänge des Menüs.
mein/4: Bist du auch ein Entertainer?
Oder anders gefragt: Erwarten
die Gäste, dass du sie am Tisch
besuchst?
Koppe: Nein, ich schaue mal durch die
Tür. Oder wenn Gäste fragen, dann komme
ich auch gerne an den Tisch. Aber
Entertainer (lacht)? Nein, deshalb bin
ich ja Koch geworden.
mein/4: Lieber Alex, vielen Dank für
deine Zeit.
Skykitchen
Auszeichnungen:
• MICHELIN Guide 2018/2019 –
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Küchenanekdoten
Die Entdeckung der
entspannten Lammsamkeit
„So, und nun in den Backofen und vergessen!“
Diesen Satz sagte Berlins Ehrenmeisterkoch seinen interessierten Kochschülerinnen und
-schülern, nachdem er ihnen verraten hatte, wie Schmoren geht.
Eine Kolumne von Andreas Langholz
In der Berufsschule würde man es vielleicht so erklärt
bekommen: Beim Schmoren oder Braisieren
wird das Gargut zunächst angebraten und dann in
simmernder Flüssigkeit weitergegart. Die beim Anbraten
entstehenden Röstaromen sind wesentlich
für den Geschmack des Gerichts. Zum Schmoren
eignen sich auch (Genießer würden sagen: „sogar besonders
gut“) langfaseriges und bindegewebsreiches
Fleisch, das beim Braten allein zäh bleiben würde.
Aber auch Gemüse und Pilze kann man schmoren.
Ich schmore stets frei nach Raneburger: Backofen zu
und vergessen. Und das möchte ich am Beispiel einer
Lammschulter verdeutlichen, weil ich euch dann
gleich noch ein Geheimnis von Franz verraten kann.
Zunächst erwerbe ich in dem türkischen Supermarkt
meines Vertrauens eine Lammschulter, ein Paar
Schalotten, Möhrchen, eine Knolle Sellerie, eine
Stange Lauch, acht Zehen frischen Knoblauch und
einen Strauß Petersilie – wenn möglich die krause
Sorte, die passt besser zu meiner Frisur …
Salz und Pfeffer sollten daheim noch vorhanden sein,
ebenso zwei bis drei Flaschen Rotwein (ihr wisst ja:
Den, den man zum Essen trinkt, nimmt man auch
zum Kochen, wusste schon Paul Bocuse).
Natürlich wasche ich Gemüse nur. Lediglich die
Sellerieknolle schäle ich großzügig und hebe nur die
Mitte auf. Das klein geschnibbelte Gemüse verteile
ich in meiner emaillierten Ofenform. Die Schulter
salze und pfeffere ich amtlich und brate sie in meiner
28er-De-Buyer-Eisenpfanne an. Mit der Wende
der Schulter gebe ich die Schalotten dazu – das
Aroma fehlt noch – und röste sie mit an. Jetzt sind
schon 15 Minuten vergangen, der Mittagsschlaf
steht unmittelbar bevor. Schalotten in die Ofenform,
die Schulter obendrauf, Pfanne ablöschen und die
flüssigen Röstaromen in die Form, Rotwein dazu
bis das Gemüse bedeckt ist, die Knoblauchknollen
quer halbieren und mit den Anschnittseiten auf die
Keule legen. Rein in den Ofen, der auf 100 Grad
vorgeheizt ist. Mittagsschlaf. Nach zwei Stunden
kurz aufwachen, Ofen auf 140 Grad stellen und
wieder hinlegen.
Ich versuche ca. zwei Stunden bevor gegessen werden
soll, wieder wach zu werden. Drehe den Ofen
auf 180 Grad, schenke mir ein Gläschen vom Roten
ein und überlege, ob ich zum Lamm Zitronenreis
mit Kurkuma, Tagliatelle, angestampfte Kartoffeln
oder einfach nur französisches Landbrot vom Bäckermann
in der Pariser Straße reiche.
Nichts vergessen? Doch: Bei 180 Grad den Weinpegel
im Ofen und außerhalb des Ofens kontrollieren
und – wahrscheinlich – etwas nachgießen.
Noch was: Die Selleriemitte würfeln, Kantenlänge
0,82 cm, und in einer kleinen Eisenpfanne bei geringer
Hitze braten. Dann das Decken des Tisches
delegieren und stets den Weinpegel im Blick haben.
Die letzten 15 Minuten erhöhe ich die Temperatur
auf aromaverdichtende 220 Grad.
Endspurt: Die Form kommt aus dem Ofen. Den
Knoblauch nehme ich herunter, die Schulter landet
auf meinem Tranchierbrett aus Eschenholz. Den
Rest aus der Ofenform passiere ich durch ein Sieb
in eine Sauteuse. Nun kommt’s: die Knoblauchhälften
in die Sauce ausdrücken. Damit wird die Sauce
gebunden. Jetzt geht es nur noch um gerechte Verteilung,
auch des Weines. Und beim Anstoßen als
Toast ein: „Danke Franz!“
P. S.: Übrigens, Franz kocht zu unserem Sommerfest
am 6. 6. – Beginn 17:00 Uhr. Wenn auch kein
Lamm … Kommt nach dem Mittagsschlaf vorbei
und genießt!
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53
Dies & Das
Lesungen mit Hans-Jürgen Schatz
Achtung, Suchtpotenzial! Unsere Empfehlungen für die Liebhaber des geschriebenen und
gesprochenen Wortes. Diese Termine solltet ihr nicht verpassen.
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„Meine Sorgen möcht ich haben“
Kurt Tucholskys Gedichte, Romane und die Feuilletons für die
Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ und andere Zeitschriften
wirken wie von gestern, ohne dabei von gestern zu sein. Seine
Texte sind fast durchgängig tagesaktuell und dabei doch
überwiegend zeitlos und dauerhaft gültig.
Karten: 18,–/13,– € – Kasse: 030–312 42 02
29.03.2020, 11 Uhr – Berlin/Gutshaus Steglitz
(Wrangelschlößchen)
„Sprich leise, wenn du Liebe sagst“
Aus den Briefen von Kurt Weill und Lotte Lenya 1924–1950.
Ihre Beziehung war äußerst turbulent: 1924 lernten sie sich
kennen, 1926 folgte die Heirat, 1933 dann die Scheidung. 1937
heirateten sie zum zweiten Mal. Beide liebten Seitensprünge –
und doch schrieb Weill an Lenya: „Ich glaube, wir sind das einzige
Ehepaar ohne Probleme.“
Karten: 10,– € – Reservierung: bis 26. März 2020 – Telefon 0176-
23 29 27 63 oder E-Mail: info@kulturmanagement-berlin.de
07.04.2020, 20 Uhr – Berlin/Renaissance-Theater
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„Die Knospen springen im Galopp“
„Die 13 Monate“ und Frühlingshaftes von Kästner, Tucholsky,
Kaléko und Morgenstern
In Erich Kästners Gedichten kommt der Frühling nicht zu kurz,
seien es die jährlichen Kapriolen des Wetters oder die der Liebe.
Frühling und Liebe, das gehörte in Literatur und Musik schon
immer zusammen – auch bei Kurt Tucholsky oder Mascha Kaléko,
die der Liebe in allen Facetten ein Lied gesungen haben.
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10.04.2020, 18 Uhr –
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Zweig, Eduard Mörike,
Heinrich von Kleist, Anton
Tschechow, Hans
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„Messias“ greift Hans-Jürgen Schatz in seiner Lesung die vorösterliche
Stimmung auf. Ihr könnt euch auch auf Oscar Wildes
„Märchen vom „Selbstsüchtigen Riesen“ freuen, auf Heinrich
Kleists wunderbares Gedicht „Der Engel am Grabe des Herrn“
sowie auf Texte von Eduard Mörike, Anton Tschechow oder
Hans Christian Andersen, der das „Osterfest in Griechenland“
auf ganz großartige Weise beschrieben hat.
Karten: 18,–/13,– € – Kasse: 030–312 42 02
24.04.2020, 20 Uhr – Berlin/Renaissance-Theater
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„Robert Redford ruft bald an“ u. a.
Mit „Robert Redford ruft bald an“ widmet Hans-Jürgen Schatz
dem über Jahrzehnte erfolgreichen Theater-, Fernseh- und
Buchautor Horst Pillau erstmals ein ganzes Leseprogramm aus
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Dies & Das
Liebeserklärung an Berlin
Fotoband Berlin/Prenzlauer Berg
Was ist Berlin? Was ist der Prenzlauer Berg? Fragen, die uns
immer wieder beschäftigen. Es ist nicht möglich, darauf eine
eindeutige Antwort zu geben. So viele Blickwinkel, so viele
persönliche Empfindungen, Erfahrungen und Sichtweisen
spielen eine Rolle.
Aus dem Potpourri an Antworten entstand die Idee, diese
verschiedenen Blickwinkel auf den Kiez in einem Fotoband
zusammenzufassen. Wir suchten Menschen, die uns an ihrer
Perspektive teilhaben ließen – und wir fanden sie: Drei Fotografinnen
und Fotografen lassen euch durch ihre Objektive auf
ihre Erlebnisse blicken und zeigen euch so, was der Prenzlauer
Berg für sie bedeutet. Der Autor Marc Lippuner ergänzt diese
„Blickwinkel“ mit seinem Text.
Besonders stolz sind wir darauf, dass es sich bei diesem Fotoband
um ein reines Prenzlauer-Berg-Produkt handelt. Denn der Kiez ist
Lebens- und Arbeitsmittelpunkt der Fotografen und des Autors.
Aber nicht nur sie sind eng mit dem Kiez verbunden, auch die Druckerei
hat hier ihren Sitz und die Läden, in denen ihr den Fotoband
erwerben könnt, sind nur in Prenzlauer Berg zu finden. Ein Kiez-Produkt
durch und durch. Und weil wir diesem Kiez etwas zurückgeben
wollen, geht ein Euro pro verkauftem Exemplar an den Kulturverein
„Freunde des Mauerparks.“
Vera Rüttimann (Fotografin) kommt aus der Schweiz und wohnt seit
1990 im Kiez. Sie dokumentiert mit ihren Fotos den „historischen“
Prenzlauer Berg.
Lutz Müller Bohlen (Fotograf) lebt seit 2002 im Kiez und ist fasziniert
vom Thema Mensch. Das drückt sich auch in seinen Fotos aus, in
denen Gesichter ganze Lebensgeschichten erzählen.
Pavol Putnoki (Fotograf) lernte diesen faszinierenden Kiez aus
der U-Bahn kennen und lieben. Seine Fotos dokumentieren
Geschwindigkeit und Ruhe in einem einzigartigen Kontrast.
Marc Lippuner (Autor) lebte lange selbst vor Ort. Auch heute
hält er sich fast täglich im Kiez auf – als Leiter der WABE, als
Theaterintendant, Regisseur, Radiomoderator oder als Autor
des Kalenders „Berliner Geschichte“.
Info:
Der Fotoband „4 Blickwinkel“ ist ab dem 15.3.2020 in Prenzlauer
Berg erhältlich. Die Liste der Verkaufsstellen gibt es auf
unserer Homepage. Solltet ihr nicht selbst vorbeischauen können,
könnt ihr den Fotoband auch direkt bei uns bestellen.
Verkaufspreis: 16,– €, inklusive
einer Spende von 1,– € für
den Kulturverein „Freunde des
Mauerparks“.
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mein/4
55
1
Dies & Das
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Liebe zur Musik
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Öffnungszeiten
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Telefon: 030 49 78 03 21
10407 Berlin-Prenzlauer Berg Öffnungszeiten:
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Ein kleiner Tipp für alle, die unsere
Liebe zur Musik teilen und verstehen:
Musik ist eine Sprache mit
eigenem Alphabet.
Wir haben diese feine Musikschule
im Herzen unserer Stadt entdeckt
und möchten sie euch gerne empfehlen. Schaut doch mal vorbei unter:
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Licht aus, Kopfkino an!
M u s i c A c a d e m y
Die Hackbrettkünstlerin Barbara Schirmer und der Schriftsteller
Mirko Beetschen lassen den mit dem Literaturpreis des Kantons Bern
2019 ausgezeichneten Schauerroman „Bel Veder” am 7. Mai in der
WABE lebendig werden.
Die mit Musik, seltsamen Klängen
und Geräuschen untermalte Lesung
wird zum eindringlichen, filmischen
Klangerlebnis, Gänsehaut
inbegriffen.
07.05.2020, 20:00 Uhr
WABE, Danziger Straße 101
10405 Berlin
Kunst & Kulturverein
Ateliers, Ausstellungen, Lesungen,
Konzerte und mehr …
Saarbrücker Straße 24
U-Bhf. Senefelder Platz
www.werketage.de
Informationen und Tickets:
www.wabe-berlin.de
Comedy-Programm
Gefühlvolle
Melodien aus
dem Kaukasus
Mit seinem Auftritt bei
„The Voice of Germany”
im September 2019 hat
Seyran Ismayilkhanov
Publikum und Juroren
begeistert. Jetzt kommt er mit seiner Show „Spirit of Caucasus“ nach
Berlin! Euch erwarten eine gefühlvolle Stimme, eine fantastische Liveband,
feurige Tänzer und wundervolle Melodien aus dem Kaukasus.
„TOLLER ARSCH”
von und mit Barbara Stolz
Samstag, 28.03.2020
Berlin – Die Wühlmäuse
Beginn: 20 Uhr
06.03.2020, 20:00 Uhr
Russisches Haus der Wissenschaft und Kultur,
Friedrichstraße 176–179
www. Spirit-of-Caucasus.com
56
mein/4
Dies & Das
Familienfotografin Jannette Kneisel
Ehre, wem Ehre gebührt. In unserer letzten
Ausgabe ist uns leider ein Fehler passiert:
In dem Artikel über starke Frauen haben wir
die Fotonachweise verwechselt. Leider ist
uns das erst nach Druckbeginn aufgefallen.
Liebe Jannette, wir bitten dich um
Entschuldigung, und seitdem wir dich
persönlich kennen, schmerzt es uns umso
mehr. Wir möchten es deshalb nicht verpassen, euch die Fotografin des
schönen Fotos (S. 45/meinviertel 03/19) persönlich vorzustellen:
Jannette Kneisel ist seit über zehn Jahren als Fotografin im Steinmetzhof
in Weißensee ansässig. Spezialisiert hat sie sich auf die Fotografie
von Babys, Kindern und Eltern. Und solltet ihr Bedarf an einer guten,
erfahrenen Fotografin haben, hier ist unsere Empfehlung:
wwww.jannettekneisel.de
Wir kommen zu Ihnen.
Musikunterricht in Ihrem Zuhause.
Familienfreundlich, entspannt, unkompliziert,
zeitsparend – die perfekte Alternative
zum herkömmlichen Musikunterricht im
stressigen Alltag.
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Das Bäckerhandwerk ist am Ende?
Nein, ist es nicht – es braucht neue Konzepte! Oliver Kellermann und
sein Partner demonstrieren das seit über drei Jahren in Prenzlauer Berg.
Hier gibt es sie, die gläserne Backstube. Mit
allen Sinnen genießen lautet hier das Motto.
Kein Wunder, dass dieses Konzept nach einer
Wiederholung ruft: Am 13. April 2020 eröffnet
„Unser Café“ ein neues Geschäft in Berlin
Schöneberg. Wir sind sicher, dass die zweite
Filiale ein ebenso großer Erfolg wird wie in
Prenzlauer Berg.
Unser Cafe, Dänenstr. 14, 10439 Berlin
und ab 13.04 auch in der Leberstr. 2, 10829
www.unser-cafe-berlin.de
Von Verzweiflung und Freude
„Hast Du keine Eisenpfannen mehr?“
„Leider nicht, ein Berater hat mir erklärt, dass es
kaufmännisch unklug ist, Produkte zu verkaufen,
die nicht kaputtgehen.“ Das traurige Gesicht hättest
Du sehen sollen…
„Komm mal mit“, sagte ich und führte den Kunden
nach hinten. Und da waren sie. In epischer Breite.
Das strahlende Gesicht hättest Du mal sehen sollen…
Wir räumen halt manchmal um. Momentan ist folgende
Frage nicht erlaubt: „Haben Sie auch Töpfe“?
Die stehen nämlich jetzt vorne.
Wörther Str. 39, Berlin-Prenzl. Berg
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Geld und mehr
Gewohnt bissig-unterhaltsam und höchst aktuell
nimmt Chin Meyer, Deutschlands bekanntester
Finanzkabarettist, private und politische Verheißungen
und Glücksversprechen ins Visier. Denn
Chin Meyer ist sicher: wir wünschen uns alle eine
ausgeprägte Komfortzone und ein „Leben im Plus“.
Doch was passiert eigentlich, wenn wir dem Unerklärlichen wie einem
Hybrid aus Hippie und Kapitalist (Mark Zuckerberg) oder aus Staatschef
und Idiot (suchen Sie sich jemanden aus) oder gar den Algorithmen die
Macht über uns überlassen? In einem vehementen Plädoyer für Pluralismus
kämpft Chin Meyer scharfzüngig und gut gelaunt für unsere Demokratie.
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alles daran, Ihre ganz besonderen
Urlaubswünsche zu erfüllen. Denn dadurch
zeichnet sich unser Service aus: Alles was
- was könnte es Schöneres geben?
wir tun, kommt von Herzen.
Wir wollen einfach nur das Beste für Ihren
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Wie wollen wir zusammenleben?
Oder warum ein Signal wichtig ist!
#sagenein !
Auch wenn das Urteil eines Berliner Gerichts,
Beschimpfungen wie „Drecks Fo ...“, „Stück
Scheisse“ oder „Geisteskranke“ stellten keine
Diffamierung der Person dar, teilweise rückgängig
gemacht wurde – es ist leider immer noch
notwendig, gegen Hass und Intoleranz Stellung
zu beziehen.
Leider müssen wir die Aktion und Fotoreihe #sagenein
aus verschiedenen Gründen hier enden lassen.
Aber nicht ohne euch, den vielen Mitmachern, tausend
Dank zu sagen und aufzurufen: Macht bitte weiter!
Selbstverständlich werden wir uns im meinviertel Stadtmagazin
weiter für Toleranz und Respekt einsetzen und
engagierten Menschen hier eine Plattform bieten. Die
tragischen Ereignisse, wie der antisemitische Anschlag
in Halle, der Mord an Walter Lübcke und die Morde in
Hanau zeigen: Es ist noch nicht vorbei. Da reicht die
Korrektur eines Gerichtsurteils nicht.
Nach wie vor gilt:
Zuschauen und nicht widersprechen
gleicht einer Zustimmung.
Schreite ein, richte dich auf,
hab‘ keine Angst und #sagenein!
58
Seite 4
#sagenein zu: Intoleranz, Polemik, Vorurteilen,
Ausgrenzung, Respektlosigkeit, Fremdenhass,
Unterdrückung, Beleidigung …
Ein ABO – zur
Unterstützung
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WIE WOLLEN WIR ZUSAMMEN LEBEN?
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Wir lieben diese Stadt – trotz ihrer Hektik
und obwohl vielleicht einiges schiefläuft.
Umso wichtiger ist es für uns, über Sachen
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mein/4
Kurzgeschichte
Der liebe Frosch
Es war einmal ein Frosch und der hieß Miron. Frosch Miron saß ganz traurig in seinem
Brunnen. Traurig war er, weil er so alleine war. Niemand kam ihn besuchen. Dabei hätte
er ganz gerne einen Freund und Spielkameraden gehabt.
Jeden Tag schwamm er in seinem Brunnen und jeder Tag war gleich. Gleich langweilig
und gleich traurig. Viele Tage vergingen und Miron wurde immer trauriger und einsamer.
Er weinte viel.
Auch heute saß er in seinem Brunnen und schaute mit traurigen Augen zu Boden. Doch
plötzlich wurde er hellwach. Da, ein Rascheln im Gebüsch, ein Ast, der laut knackte,
ein Lachen ... Miron hob seinen Kopf, machte seinen Hals ganz ganz lang und lauschte
neugierig in Richtung der Geräusche.
Hallo, wer da? rief er. Da platschte eine goldene Kugel in den Brunnen.
Eine Prinzessin schaute zu ihm herunter und fing an zu weinen.
Mutig rief Miron, dass er die Kugel gefunden habe. „Ich kann dir Kugel die geben, wenn
du mich mitnimmst.“ „Klar“, sagte die Prinzessin.
Endlich, nach einigen Anstrengungen war es geschafft. Die Prinzessin hatte ihre Kugel
wieder und war froh.
Kurzgeschichte
von Miron
10 Jahre
„Oh, bin ich froh“, sagte die Prinzessin, „und vielen vielen Dank. Du bist so lieb.“
Miron war sichtlich verlegen. So viel Nähe und spontane Freude kannte er nicht.
„Ich bin eine Prinzessin und wie heißt du?“ „Mi Mi Miron ...“, stammelte er.
„Ich mag Frösche und will auch schwimmen lernen.“ „Gut“, sagte Miron, „das
kann ich die beibringen.“
Und so gingen die beiden nach Hause. Es war spät geworden.
Er war auch müde, aber schlafen konnte er noch lange nicht. Immer wieder
schaute er der Prinzessin zu. Dann gab es plötzlich einen Knall und er war
kein Frosch mehr, sondern ein hübscher Jüngling.
Bald darauf wurde Hochzeit gefeiert.
25 25
6 6 3 3 8 8
3 3 7 78 8 9 9
2 8 2 86 9 65 9 54 7 4 7
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5 59 96 61
1
8 5 8 52 9 2 9
1 3 1 34 2 47 2 79 8 9 8
5 5 8 89 9 1 1
9 9 5 5 2 2
26 26
8 8 6 7 61 7 1 4 4
2 1 2 14 47 3 7 3
4 9 4 95 2 53 2 36 1 6 1
3 3 8 8
2 29 9 1 17
7
1 6 12 6 28 3 84
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4 5 4 59 92 7 2 7
7 7 1 1
Die Auflösung gibt es auf S. 64.
27 27
4 6 4 67 3 75 3 58 2 8 2
28
28
3 32 5 2 5
Das MACHmit! Museum ist ein Ort für Kinder und ihre Erwachsenen.
An den Werktischen vertiefen künstlerische und handwerkliche Aktionen
das Ausstellungsthema.
• Interaktive Ausstellungen
• Kletterregal
• Museumsdruckerei
• Kindergeburtstage
• Bücherwunderkammer
• Die UN-Kinderrechte immer im Blick
SCHNEIT´S
BEI DIR?
AUF DEM
HOLZWEG
NOCH BIS
31.05.2020
WeiSSt du, Wie
der HaSe läuft?
14.03.2020 –
03.05.2020
Hasenschule, Frühlingsbräuche
und eierlegende Tiere
Vom 14. März bis 3. Mai 2020 fragen wir
»Weißt du, wie der Hase läuft?«
Besuche unsere Hasenschule und
das fleißige Ameisenvolk.
Erfahre, wie das Küken aus dem Ei
schlüpft und Hühner gerne leben.
Entschlüssele den Geheimcode auf
den Supermarkteiern.
Erfahre, wieso der Hase die bunten
Eier bringt.
Welche Farbe hat dein Frühling und
wie begrüßt du ihn?
Lasst uns ins Holz gehen!
Aufgepasst: nur noch bis Ende Mai habt ihr die
Möglichkeit »Auf dem Holzweg« zu wandern!
Geige, Frühstücksbrettchen und Bleistifte –
überall ist Holz.
• Wo steht dein Lieblingsbaum?
• Hast du auch Wurzeln?
• Zähle Jahresringe am Holzstapel und
schnuppere Kiefernnadeln.
• Entdecke das Gold der Bäume in
der Waldapotheke und besuche die
Waldbademeisterin.
• Erfühle unterschiedliche Holzarten und triff
eine Mondholz-Tischlerin.
• Informier dich über Klimawandel,
Schülerdemos und Waldwildnis.
Komm und bau selber eine Holzbude und höre
Waldvögel singen.
Die Ausstellung »Auf dem Holzweg« endet am
31. Mai. Nach einer kurzen Umbauphase startet
dann am 18. Juni eine neue Jahresausstellung.
Öffnungszeiten für Familien
Dienstag bis Sonntag 10 – 18 Uhr
Führungen für Gruppen aus Kita, Grundschule und Hort
Dienstag bis Freitag, ab 8:45 Uhr
(nach tel. Voranmeldung: 030–74778 200, Mo–Fr, 9–16 Uhr)
MACHmit! Museum für Kinder
Senefelderstr. 5
10437 Berlin
030–74778 200
info@machmitmuseum.de
www.machmitmuseum.de
mein/4
61
mein/4
Buchvorstellung
Katharina Rhein und
Tom Uhlig (HG.)
Extrem unbrauchbar
Über Gleichsetzungen
von links und rechts
Rechtspopulistische Strömungen
finden auf ihrem
Feldzug gegen die Demokratie
ein mächtiges begriffliches
Mittel vor, welches
ihnen die bürgerliche Mitte
vorbereitet hat: die Extremismustheorie. Gewonnen
aus einer spezifischen Lesart totalitarismuskritischer
Arbeiten, etwa von Hannah Arendt, hat sich im Sprechen
über die Gesellschaft ein Hufeisenmodell durchgesetzt:
Eine Mitte der Gesellschaft werde von ihren
Rändern bedroht. Islamismus, Rechtsextremismus
und Linksextremismus arbeiten daran, die Demokratie
zu zerstören. Doch besonders die Gleichsetzung
von Rechtsextremismus und Linksextremismus
führt oft dazu, ersteres auf Kosten von letzterem zu
verharmlosen.
Zudem ist die Konstruktion einer gesellschaftlichen
Mitte selbst problematisch. Was gehört zu dieser Mitte,
was nicht? Gerade die aktuellen Erscheinungsformen
rechter Ideologien zielen darauf ab, gerade
noch anschlussfähig zum gesellschaftlichen Diskurs
zu bleiben und ihn durch kalkulierte Grenzverletzungen
nach rechts zu verschieben. Doch wenn selbst
der positive Bezug auf das Grundgesetz teilweise als
linksradikal diskutiert wird, desavouiert sich dieses
Hufeisenmodell endgültig.
(Edition Bildungsstätte Anne Frank)
Jan Plamper
Das neue Wir
Warum Migration
dazugehört: Eine
andere Geschichte
der Deutschen
Migration ist das Normalste
der Welt, Nation kein
Schimpfwort. Der Historiker
Jan Plamper erzählt
die deutsche Geschichte seit 1945 radikal anders:
Aus- und Einwanderung gehören zur DNA unserer
Republik. Das tut vor allem eines in der aufgeheizten
Migrationsdebatte – es enthysterisiert. In einem
ganz eigenen, mitreißenden Sound lässt Jan Plamper
die Erfahrungen der Menschen, die nach Deutschland
kamen, zu einem Teil unserer gemeinsamen Geschichte
werden.
Sie alle gehören dazu: die schlesischen Vertriebenen,
die „Gastarbeiter“ aus Italien und der Türkei, die
DDR-„Vertragsarbeiter“ aus Mosambik und Vietnam,
die Aussiedler aus der Sowjetunion und all jene, die
aus guten Gründen Asyl erhalten. Hier kommen die
Menschen selbst zu Wort, die Dazugekommenen und
jene, die schon länger da sind. Zusammen sind sie,
sind wir das neue Wir.
Am Ende entfaltet Jan Plamper eine konkrete Vision
davon, wie wir Deutschland neu denken, zu einem
neuen Wir-Gefühl kommen können. Denn es
wird klar: Die Geschichte der Einwanderung nach
Deutschland ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte.
Wider die Aufgeregtheit macht die historische Perspektive
Mut – für die Gegenwart und für die Zukunft.
Jens Balzer
Das entfesselte
Jahrzehnt
Sound und Geist
der 70er
Jens Balzer, einer der profiliertesten
deutschen Kulturjournalisten,
zeichnet ein
farbiges Panorama der Siebziger,
von der Mondlandung
und Woodstock über die Ölkrise und den Deutschen
Herbst bis hin zum Nihilismus des Punk. Ein Jahrzehnt,
in dem sich so ziemlich alles ändert:
Die Hippies erproben unerhörte Lebensweisen, die
antiautoritäre Erziehung und die Emanzipationsbewegung
ordnen die Familien- und Geschlechterverhältnisse
neu, weltumspannender Idealismus trifft auf
apokalyptische Weltuntergangsängste, und spätestens
als Hacker den ersten „Personal Computer“ bauen,
wird deutlich: Genau hier beginnt unsere Gegenwart.
Jens Balzer zeigt überraschende Verbindungen,
erzählt anschaulich und spannend und versetzt uns
ganz in diese aufregende Zeit.
62 mein/4
mein/4
Leserbriefe
Bitte sendet uns
eure Leserbriefe an:
leserbriefe@meinviertel.berlin
oder per Post:
Mein/4
Schönhauser Allee 52
10437 Berlin
Bitte schickt uns eure Meinungen und Wünsche
STADTTEILMAGAZIN ∕ PRENZLAUER BERG JULI/AUGUST/2017
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www.meinviertel.berlin DEZEMBER 2019 – FEBRUAR 2020
STADTMAGAZIN mein/4 DEZEMBER 2019 – FEBRUAR 2020
STADTMAGAZIN
HANS-JÜRGEN SCHATZ: AUF KÄSTNERS SPUREN
GREGOR GYSI: ÜBER FEHLER UND CHANCEN
DIE BERLINER MAUER IM LAUFE DER ZEIT
UNTERNEHMERINNEN: STARKE FRAUEN
WENN DIE WELT EINTRÜBT
Interview Gregor Gysi
Liebe Redaktion,
Buch-Tips:
„Berlin
zwischen zwei
Buchdeckeln“
S. 57
www.meinviertel.berlin/aktue le-ausgabe
man mag ja über Gregor Gysi denken was man will,
aber reden kann er. Ich kenne keinen anderen Politiker,
der parteiübergreifend so viel Sympathie und
Ansehen genießt wie er. Nun darf man nicht vergessen,
dass er auch eher dem konservativen Flügel der
Linken angehört.
Liebe Grüße aus Kreuzberg, Werner K.
Hallo, wir lesen euer Magazin jetzt schon seit fast
zwei Jahren. Aber warum gebt ihr den Kommunisten
diese Plattform? Sind sie nicht schon genug gescheitert?
Hat uns nicht der Vorgänger dieser Partei
schon genug Leid und Repressalien zugefügt? So
lange von den Linken keine ganz klare Abgrenzung
zu ihrer eigenen Vergangenheit stattfindet, ist diese
Partei unwählbar.
Klaus und Veronika aus Lichtenberg
Auf Kästners Spuren mit H.-J. Schatz
Was für ein schöner Spaziergang, ich habe es sehr
genossen, meinen alten Kiez wieder zu entdecken.
Sie hatten aber auch wirklich Glück, wer Sie da geführt
hat.
Möge Ihnen das Glück hold sein.
Es grüßt Sie Magda B.
Liebe Redaktion, was für eine Reise in die Vergangenheit.
Was wäre wohl aus unserer schönen Stadt
geworden, wo würde die Kunst- und Kulturszene
heute stehen, hätte es diese furchtbare Zeit von
’33–’45 nicht gegeben? Nicht nur das Leid, die Zerstörung,
die Teilung – all das musste Berlin ertragen.
Hoffen wir, dass die Goldenen Zwanziger Jahre sich
wiederholen. Dass Berlin wieder der Anziehungspunkt
für Kulturschaffende aus aller Welt wird.
Starke Frauen
Es grüßt Sie herzlich Ihr Volker S
Ein Thema, das mir tief aus der Seele spricht. Bewundernswert.
Seit vielen Jahren schon trage ich
mich mit dem Gedanken der Selbstständigkeit. Leider
sind bei mir die Ängste zu groß. Zu viel Angst
habe ich davor, jeden Tag aufs Neue für alles selbstverantwortlich
zu sein; nicht nur für das Essen auf
dem Tisch, sondern dass es auch gekauft werden
kann. Ich freue mich, dass andere Frauen mehr Mut
haben als ich und durch Erfolg belohnt werden.
Sandra B. Friedrichshain
.
Liebes mein/4-Team,
Schade, dass sich Gregor Gysi immer mehr aus der
Tagespolitik zurückzieht. Er ist einer der wenigen
Politiker, denen ich abnehme, die Politik als Berufung
und nicht als Beruf zu verstehen. Er ist das,
was ich einen „Typ“ nennen. Möge er uns noch eine
Zeit erhalten bleiben.
Karin S. aus Steglitz
mein/4 auf Facebook
www.facebook.com/mein4tel
Du möchtest diese Ausgabe
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www.meinviertel.berlin/aktuelle-ausgabe
mein/4
63
mein/4
Vorschau
Flacherdler
Chemtrails
Mondlandung
Reptiloide
9/11
Vorgestellt: „Der goldene Aluhut“ gUG
Wir besuchen die gemeinnützige Organisation aus Berlin,
die der täglichen Flut von Kuriositäten und Verschwörungsideologien
mit Humor und Aufklärung
entgegen tritt. Um auf das Problem der Verschwörungstheorien
und Fake News aufmerksam zu machen.
IMPRESSUM
Chefredaktion Markus Beeth
Herausgeberin / Geschäftsführerin
Beate Beeth, mein/4 UG
Schönhauser Allee 52, 10437 Berlin
Redaktionelle Mitarbeit
Beate Beeth, Markus Beeth, Lutz Müller-Bohlen,
Carola Dorner, Carola Ehrlich-Cypra, Franziska
Hauser, Ruth Herzberg, Stefanie Kayser, Marc
Lippuner, Vera Rüttimann, Henry Steinhau, Marita
Vornbäumen, Andreas Langholz, Wladimir Kaminer,
Chin Meyer, Bärbel Stolz
Verlag & Redaktion | mein/4
mein/4 UG
Schönhauser Allee 52, 10437 Berlin
redaktion@meinviertel.berlin
Tel.: 030 818 914 60
www.meinviertel.berlin
www.facebook.com/mein4tel
www.youtube.com/mein/4 TV
www.instagram.com/mein4tel
Mediadaten
www.meinviertel.berlin/mediadaten
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in Europa, anders oder besser als Berlin? Wir
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D-34121 Kassel
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Stand: Februar 2020