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Leseprobe: DIEDA oder Das fremde Kind

Leseprobe zu Renate Welsh: DIEDA oder Das fremde Kind

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»Meinst du, wir können uns ins Haus schleichen?», fragte<br />

Dieda zurück.<br />

Er kniff hart in ihren Oberarm. »Bist du wahnsinnig? Da<br />

krachen doch die Balken herunter!«<br />

Die Hitze war bis zu ihnen zu spüren. Der Wasserstrahl<br />

aus den Schläuchen der Feuerwehr konnte nichts ausrichten,<br />

links und rechts davon schossen Flammen in die<br />

Höhe. Mit lautem Klirren und einem hohen Ton, der<br />

in den Ohren schmerzte, zerbarsten gleichzeitig mehrere<br />

Fensterscheiben, brennende Papierfetzen wehten aus<br />

dem Haus; wo sie landeten, stieg eine Stichflamme im<br />

Gras auf. Ein Zettel fiel Dieda direkt vor die Füße, sie<br />

stampfte das Feuer aus, hob das angesengte Papier auf.<br />

»Volksverhetzung und Defätismus« stand da, darunter »ist<br />

der Vollzug unverzüglich«, und in der letzten Zeile war<br />

noch »Heil« zu lesen.<br />

»Der Hitler ist verbrannt«, sagte Dieda.<br />

Harald fuhr erschrocken auf, legte ihr die Hand auf den<br />

Mund.<br />

»Hört uns sowieso niemand«, sagte sie.<br />

Der Alte liebte Hitler. Wenn er den Namen hörte <strong>oder</strong><br />

sagte, glänzten seine Augen und er stand noch aufrech ter<br />

als sonst. <strong>Das</strong> war Grund genug für sie, Hitler zu has sen.<br />

Sie strich das Papier glatt, faltete es und steckte es in die<br />

Schulmappe.<br />

»Wir sollten heimgehen«, meinte Harald.<br />

»Hält dich doch keiner zurück!«<br />

Sie kroch unter dem Lastwagen vor. Ihr Kopf schlug gegen<br />

ein Metallstück, einen Moment lang war sie, vom<br />

Schmerz abgelenkt, unaufmerksam, da wurde sie an der<br />

Schulter gepackt und herausgezogen.<br />

»Bist du wahnsinnig?«<br />

Sie wagte nicht aufzublicken. Der Mann schüttelte sie,<br />

sein Griff war hart. Würde man sie jetzt als Spionin einsperren?<br />

Jeder im Dorf wusste, dass das ehemalige Hotel<br />

von der Partei besetzt worden war, keiner wusste wirk lich,<br />

was da vorging, jedenfalls sprachen die, die es wuss ten,<br />

nicht darüber. Dieda suchte nach dem Trotz, auf den sie<br />

sich sonst immer verlassen konnte, fand nur Angst.<br />

»Hau ab, und zwar schnell«, sagte der Mann leise.<br />

Die Stimme kannte sie doch. Mit gesenktem Kopf versuchte<br />

sie, sein Gesicht zu sehen.<br />

»Hau ab, hörst du nicht?«<br />

<strong>Das</strong> war der alte Hofer. Der Mann, der ihr die Schier geschnitzt<br />

hatte. Der oft auf der Ofenbank saß, wenn sie<br />

Milch holte.<br />

Er drehte sich weg, blieb breitbeinig stehen. Sie kroch<br />

wieder unter den Laster, stieß sich beim Aufrichten noch<br />

einmal den Kopf an, rannte los, hörte Harald ne ben sich<br />

keuchen. Sie hetzten bis zur Brücke, dort rutschten sie den<br />

Hang hinunter, bremsten im letzten Augenblick und ließen<br />

sich endlich auf die Podeste hin ter den Brückenpfeilern<br />

fallen. Beide atmeten schwer, beide starrten auf die<br />

Strudel rings um die Pfeiler. »Du bist total verrückt«, sagte<br />

Harald schließlich. »Ich hab geglaubt, die stecken dich ins<br />

Gefängnis.«<br />

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