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Robert Klement<br />

SPURLOS<br />

DAS DÜSTERE TAL


Robert Klement<br />

SPURLOS<br />

DAS DÜSTERE TAL<br />

Obelisk Verlag


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet<br />

unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Neue Rechtschreibung<br />

© 2020 by Obelisk Verlag, Innsbruck – Wien<br />

Lektorat: Regina Zwerger<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Produktion: Druckerei Finidr s.r.o., Cesky Tesin, Tschechien<br />

ISBN 978-3-85197-948-0<br />

www.obelisk-verlag.at


INHALT<br />

Das Mädchen 7<br />

Die Suche nach Glück 20<br />

Eine große Liebe 41<br />

Verräterisches Tagebuch 56<br />

Panik 75<br />

Die Sache mit Noah 89<br />

Nachwort 102<br />

Der Autor 103


DAS MÄDCHEN<br />

„He, ihr dort!“<br />

Sie konnten nicht gleich feststellen, woher dieser Ruf<br />

gekommen war, und blickten sich suchend um.<br />

„Ja, euch beide mein ich.“<br />

Der alte Mann stand zwischen zwei Felstürmen oberhalb<br />

des Hanges. Sein langes Haar leuchtete schneeweiß.<br />

Einzelne Strähnen hingen ihm wirr ins Gesicht und<br />

wehten im Wind.<br />

„Ihr solltet nicht durch dieses Tal gehen!“ Seine Stimme<br />

klang seltsam gepresst. Er stieß die Worte hervor, es<br />

schien ihm große Anstrengung zu bereiten.<br />

„Wieso denn?“, rief Tim. Doch da war der Mann plötzlich<br />

hinter den Felsen verschwunden.<br />

Die beiden Wanderer hatten kurz zuvor beschlossen,<br />

eine Abkürzung zu nehmen, um schneller nach<br />

Fort William zu kommen. Tim hatte seine Wetter-App<br />

gecheckt, weil plötzlich dunkle Wolken aufgezogen<br />

waren.<br />

„Was will der Opa von uns?“, fragte Julian.<br />

Vielleicht war es ein Wildhüter oder der Besitzer des<br />

Grundstücks. Es gab in Schottland einige Farmer, die<br />

etwas dagegen hatten, dass immer mehr Wandergruppen<br />

7


über ihre Weideflächen trampelten. Es war jedoch weit<br />

und breit kein Hinweis zu sehen, der den Durchgang<br />

durch dieses Tal untersagt hätte.<br />

Nach etwa einer halben Stunde verdüsterte sich der<br />

Himmel völlig. Das Licht über der Heide hatte nun etwas<br />

Schauerliches und das welke Gras leuchtete goldbraun.<br />

Sie erreichten einen Fluss, aus dem Dunstschwaden<br />

stiegen und das Tal wie unter einer Decke verhüllten.<br />

Dort flatterte ein Moorhuhn auf. Plötzlich ertönte ein<br />

Brausen. Am Horizont zuckten Blitze zwischen dahinstürmenden<br />

schwarzen Wolken und es begann zu regnen.<br />

Tim und Julian hörten ein Grollen, das unheilvoll<br />

herankroch und sich zu einem rhythmischen Donnern<br />

ganz in ihrer Nähe auswuchs.<br />

Sturm und Regen wurden rasch stärker. Die beiden<br />

kamen nur quälend langsam voran. Oft sanken sie bis<br />

zu den Knöcheln in Morast und traten auf Steine, die<br />

schmatzend im Boden verschwanden.<br />

„Wir sollten umkehren!“, schrie Julian mühsam gegen<br />

das Heulen des Sturmes an, doch Tim drängte weiter<br />

vorwärts. „Das geht vorbei. Es wird nicht lange dauern.“<br />

Durch den peitschenden Regen waren sie im Nu völlig<br />

durchnässt. Die Blitze zuckten jetzt in immer schnellerer<br />

Folge über den Himmel. Sie kamen zu einer schmalen<br />

Straße. Vielleicht gelang es, ein Auto anzuhalten. Doch<br />

es ließ sich keines blicken.<br />

Im Schein eines ungewöhnlich hellen Blitzes erkannten<br />

sie ein einsames Haus. Beim Näherkommen hörten sie<br />

das heftige Bellen eines Hundes.<br />

8


Die Fensterläden waren geschlossen. Die drei Stufen,<br />

die zur Tür führten, waren so verrottet, dass man Angst<br />

haben musste, durchzubrechen. Wo einst die Klingel war,<br />

hingen Drähte aus der Mauer, daher trommelten sie mit<br />

den Fäusten gegen die Tür. Sofort hörten sie eine forsche<br />

helle Mädchenstimme:<br />

„Wer ist da?“<br />

„Wir sind zwei Schüler, wir haben uns verirrt.“<br />

„Ich bin allein und darf niemanden einlassen.“ Der<br />

Hund bellte, als wollte er die Tür aus den Angeln heben.<br />

„Wir bleiben nur so lange, bis der Regen nachlässt.<br />

Lass uns bitte rein!“ Julian glaubte, man müsse sein<br />

Zähneklappern sogar durch die geschlossene Tür hören.<br />

„Ich kann euch nicht helfen. Tut mir leid. Ich …“ Der<br />

Rest ging im Tosen des Sturmes unter. Vielleicht half<br />

eine kleine Unwahrheit: „Mein Freund hat sich am Fuß<br />

verletzt, er kann nicht mehr weiter.“<br />

„Das ist ein mieser Trick. Geht bitte weg von da, ihr<br />

macht meinen Hund verrückt!“<br />

„Wie heißt du?“<br />

„Ist doch egal, wie ich heiße. Ihr kommt hier nicht rein.“<br />

Tim wusste instinktiv, dass er sie im Gespräch halten<br />

musste. Solange sie antwortete, bestand Hoffnung. „Wir<br />

sind hier auf Sprachferien. Ich bin Tim, mein Freund<br />

heißt Julian. Wir kommen aus Österreich.“<br />

Es würde vielleicht Vertrauen schaffen, wenn sie<br />

wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Keine Antwort.<br />

„Sie ist weg“, sagte Tim.<br />

„Scheiße, was machen wir jetzt?“, fragte Julian. Ein<br />

9


weiterer Blitz zeigte, dass weit und breit kein anderes<br />

Haus in der Nähe war.<br />

Plötzlich … das Geräusch eines zurückgeschobenen<br />

Riegels. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die<br />

schwere, mit Eisen beschlagene Tür ging auf. Das<br />

Mädchen hatte größte Mühe, den Hund am Halsband<br />

zurückzuhalten.<br />

„Ruhig, Winston, ruhig!“, kreischte es.<br />

Julian nahm zunächst nur ihre Umrisse wahr, da<br />

seine Brille angelaufen war. Die beiden bedankten und<br />

entschuldigten sich; nach jedem Schritt hinterließen sie<br />

Rinnsale, die sich rasch zu Pfützen ausweiteten. Das<br />

Mädchen führte sie in ein Zimmer. Im hohen Kamin<br />

prasselte ein Feuer.<br />

„Wir bringen die Pizza“, scherzte Julian.<br />

„Hab aber nichts bestellt“, antwortete das Mädchen und<br />

zwang sich ein Lächeln ab.<br />

Sie breitete ein Plastiktischtuch über das Sofa und<br />

schaltete den Computer aus. Dann ließ sie sich in einen<br />

wuchtigen braunen Ledersessel fallen. Sie musterte ihre<br />

beiden Gäste mit einer Mischung aus Ungläubigkeit,<br />

Belustigung und Wissbegierde. Fast so, wie man ein seltenes<br />

Tier betrachtet. Dann hauchte sie mit einem Lächeln:<br />

„Ich bin Aileen.“<br />

In Tims Ohren klang der Name wie eine einschmeichelnde<br />

Melodie. Sie hatte große Augen, die sich einem<br />

ins Herz bohrten. Das lange, rotblonde Haar umrahmte<br />

ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem<br />

Kinngrübchen, das ihr einen Hauch von Verwegenheit<br />

10


verlieh. Ihre Handgelenke wirkten zart und zerbrechlich.<br />

Sie trug ein silbernes Piercing über der linken Braue,<br />

ein schwarzes Sweatshirt und modisch verschlissene<br />

schwarze Jeans.<br />

„Ohne wetterfeste Kleider und mit Turnschuhen durch<br />

die Highlands. Einfach verrückt!“, sagte Aileen. „Noch<br />

nie was von Outdoor-Bekleidung gehört?“<br />

„Ein Regenschirm hätte es auch getan“, sagte Julian und<br />

lachte selber am meisten über diesen Scherz.<br />

„Tja, die Wanderung hat sich zufällig so ergeben“,<br />

meinte Tim. „Als es zu regnen begann, haben wir gehofft,<br />

dass uns ein Auto mitnimmt. Aber wir haben keines<br />

gesehen. Es kam bloß ein Motorrad.“<br />

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und machte<br />

einem Ausdruck von Verwunderung Platz, ein leichtes<br />

Zittern durchlief ihren Körper.<br />

„Ein Motorrad? Bist du sicher?“<br />

„Klar. Warum?“<br />

Sie starrte einen Moment mit weit aufgerissenen Augen<br />

ins Leere, schüttelte den Kopf und bewegte stumm die<br />

Lippen.<br />

Die beiden Freunde blickten sich um. Die Einrichtung<br />

war karg, doch der Raum strahlte Behaglichkeit aus. An<br />

einer Wand reihte sich Buch an Buch in hellen Regalen.<br />

An der anderen hingen Landschaftsbilder – von Aileen<br />

gemalt, wie sie später erfahren sollten. Die Situation war<br />

an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Sie saßen da wie zwei<br />

begossene Pudel.<br />

Wie gerne hätte sich Julian gerade diesem Mädchen mit<br />

11


seiner fein zurechtgemachten Strähnchenfrisur gezeigt.<br />

„Ich mache gerade Tee. Wollt ihr auch …?“, fragte<br />

Aileen.<br />

Die beiden waren sich einig, dass heißer Tee im<br />

Moment genau das Richtige wäre.<br />

Sie hörten, wie Aileen in der Küche Tassen auf ein<br />

Tablett stellte und mit den Löffeln klapperte. Winston<br />

näherte sich Tim und hechelte.<br />

„Ein Dobermann-Mischling“, sagte Julian mit Kennerblick.<br />

„Die sind nicht so wild, wie sie aussehen.“<br />

Das konnte Tim nicht beruhigen. Das Tier mit dem<br />

schwarz-braunen Kurzhaarfell wirkte kraftvoll und war<br />

beachtlich groß. Aileen kehrte mit dem Tee zurück und<br />

nahm wieder Platz.<br />

„Zieht euch aus!“, sagte sie unvermittelt. Als sie das<br />

Entsetzen in den Gesichtern ihrer Gäste sah, fügte sie<br />

rasch hinzu: „Das nasse Zeug macht euch noch krank.“<br />

„Nein, nein, nicht notwendig“, stammelte Tim und<br />

errötete zart.<br />

„Das trocknet auch so“, sagte Julian.<br />

„Ihr braucht euch nicht zu genieren. Ihr seid nicht die<br />

Ersten, die es in diesem Tal böse erwischt hat.“<br />

Um Julians Socken hatte sich eine kleine Pfütze auf<br />

dem Parkettboden gebildet. Es sah ja wirklich so aus, als<br />

wären sie nicht durch dieses Tal gewandert, sondern in<br />

ihren Kleidern zu diesem Haus hergeschwommen.<br />

„Ich bringe euch Decken. Zieht euch aus! Ihr holt euch<br />

noch eine Verkühlung.“<br />

Die Decken waren flauschig und dufteten nach Laven-<br />

12


del. Aileen zog sich diskret in die Küche zurück und<br />

kehrte mit einer Plastikleine zurück. Wenig später hingen<br />

die Kleider nahe dem Kamin.<br />

„Milch? Auch Zucker?“, fragte sie.<br />

Aileen war eines von diesen Mädchen, die mit Charme<br />

und Anmut Menschen anzogen, ohne sich darum bemühen<br />

zu müssen. Ganz ungeschminkt zog sie die Blicke<br />

auf sich. Tim und Julian kannten Mädchen, die sich für<br />

Selfies dicke Schichten Make-up ins Gesicht spachtelten.<br />

Aileen ging in Fort William zur Schule. Ihre Mutter<br />

arbeitete dort im Krankenhaus, ihr Vater war Beamter,<br />

sie hatte keine Geschwister. Das Haus war eine ehemalige<br />

Bed-&-Breakfast-Unterkunft. Aileens Eltern nahmen<br />

schon seit Jahren keine Gäste mehr auf, da immer weniger<br />

Touristen durch das Tal von Glen Coe wanderten.<br />

Dann erzählte Aileen von unheimlichen Begebenheiten<br />

in den Scottish Highlands. Hier würden häufig selbst<br />

erfahrene Tourengänger in den nebeligen und wetterunbeständigen<br />

Bergen verschwinden. Fast überall<br />

im Hochland wiesen „MISSING“-Plakate auf spurlos<br />

Verschwundene hin. Wanderer wurden aufgefordert,<br />

wachsam zu sein und Hinweise an die Polizei weiterzugeben.<br />

Die Fremdenverkehrsämter des Landes warnten<br />

ausdrücklich vor dem unbeständigen Wetter in den<br />

Highlands.<br />

„Manchmal kommen Angehörige bei uns vorbei“, sagte<br />

Aileen. „Sie zeigen Bilder der Vermissten. Sie sagen, dass<br />

die Gegend sehr einsam ist und es doch möglich sei, dass<br />

der Gesuchte hier vorbeigekommen ist.“<br />

13


Mitunter fand man unter Erde, Moos und Heidekraut<br />

Kleiderfetzen. Überwuchert, beinahe schon wieder vom<br />

Erdboden verschluckt. Kein Ausweis, kein Name gab<br />

Hinweis auf eine Person. Nirgends fanden sich Knochen.<br />

In seltenen Fällen stieß man auf Spuren der Vermissten.<br />

Wanderer entdeckten menschliche Überreste – aufgewühlt<br />

von streunenden Hunden, Füchsen oder Wildkatzen.<br />

Die schottische Wildkatze mit ihren markanten<br />

gelb-grünen Augen und dem buschigen Schwanz galt<br />

als harmlos. Gefährlich waren jedoch die zahlreichen<br />

Hundemeuten. Die Highlands waren ein beliebtes Jagdrevier.<br />

Immer wieder gingen dort Hunde verschiedener<br />

Rassen verloren, die sich in den Schluchten zusammenrotteten<br />

und Wanderer anfielen.<br />

Julian schlug die Decke enger um sich, als könnte<br />

er sich damit vor dem soeben Gehörten schützen. Der<br />

Regen prasselte wie ein Trommelwirbel aufs Dach.<br />

„Bei mir seid ihr in Sicherheit“, beruhigte Aileen. „Ein<br />

Glück, dass ihr mich gefunden habt.“<br />

Hier saß ein Engel. Vielleicht sogar ihre Lebensretterin?<br />

Tim hatte schon oft von vermissten Jugendlichen<br />

aus Wien gehört. „Ich habe mich schon immer gefragt,<br />

wie Menschen einfach verschwinden können“, sagte er.<br />

„Sie verschwinden, ohne auch nur die geringste Spur zu<br />

hinterlassen.“<br />

„Sie sind verschwunden“, sagte Aileen. „Aber sie sind<br />

immer da, die ganze Zeit.“<br />

Das verstanden die beiden Freunde nicht. Bevor sie<br />

fragen konnten, lieferte Aileen einen Erklärungsversuch.<br />

14


Manche Menschen im Hochland glaubten, die Ursache<br />

für diese bedauernswerten Schicksale zu kennen: „Viele<br />

Highlander meiden dieses Tal, sie sagen, es sei verflucht.“<br />

Als Aileen vom Mord an ihren Vorfahren erzählte,<br />

stockte sie manchmal, als versuchte sie, etwas zu<br />

beschreiben, für das es keine Worte gab. Im Glen Coe<br />

tötete der Clan der Campbells einst Angehörige der<br />

MacDonalds, darunter Kinder, Frauen und alte Männer.<br />

Im Morgengrauen eines klirrend kalten Februartages<br />

fielen sie über die Talbewohner her und zündeten ihre<br />

Häuser an. Fast 400 flohen im Schneesturm ins nahe<br />

Lost Valley, wo sie erfroren. Einige MacDonalds, darunter<br />

Aileens Verwandte, hatten nur deshalb überlebt, weil sie<br />

rechtzeitig gewarnt worden waren.<br />

Das Massaker lastete noch heute auf dem Tal wie<br />

ein böser Fluch. Seither hieß es auch „Tal der Tränen“.<br />

Manchen erschien der Taleingang sogar als „Tor zur<br />

Hölle“. Die Geister der MacDonalds würden mit den<br />

später spurlos Verschwundenen noch heute ruhelos im<br />

Tal umgehen, hieß es.<br />

Einen Moment lang hockte Aileen da, reglos, mit<br />

zusammengepressten Lippen. Dann sagte sie, dass sie<br />

den Namen ihrer Vorfahren mit großem Stolz trage und<br />

die Campbells für immer hassen würde.<br />

Der folgende Donnerschlag ließ die Gläser in der Vitrine<br />

klirren und steigerte die unheimliche Atmosphäre.<br />

Tim wollte das Gespräch in harmlosere Bahnen<br />

lenken. An einer Pinnwand hatte er mehrere Fotos mit<br />

Basketballspielern entdeckt. Natürlich war ihm auch der<br />

15


Basketballkorb vor dem Haus nicht entgangen. In seinem<br />

Wiener Verein war er Spielmacher und Topscorer.<br />

„Du spielst …?“, fragte er und zeigte auf den Ball in<br />

der Ecke.<br />

„Ich nicht, mein Freund.“<br />

Julian war längst aufgefallen, dass auf den Fingerknöcheln<br />

ihrer rechten Hand NOAH eintätowiert war. Neben<br />

dem Ball stand ein Paar Basketballschuhe, die unmöglich<br />

Aileen gehören konnten, denn sie waren so groß, dass<br />

eine Katzenfamilie darin Platz gefunden hätte.<br />

Wenn Aileen von Noah erzählte, erschien dieses besondere<br />

Leuchten in ihren Augen.<br />

„Ich habe leider nicht so viel Talent wie er“, schmunzelte<br />

sie. „Aber wenn mein Freund hier ist, spielen wir<br />

ein Match. Meine Eltern und ich gegen Noah. Manchmal<br />

lässt er uns gewinnen.“<br />

Tim war mit 1,86 Meter hoch aufgeschossen für seine<br />

15 Jahre. Der wuchtige Center konnte seine Teamkameraden<br />

mit klugen Pässen in Szene setzen, die Würfe seiner<br />

Gegner blocken und blitzschnell auf Angriff umschalten.<br />

Der Trainer lobte seine gute Übersicht und sein hohes<br />

Spielverständnis. Selten verfehlte einer seiner Distanzwürfe<br />

den Korb.<br />

Der Sturm tobte nun mit dämonischer Wut. Aileen<br />

strich sich mit einer geschmeidigen Geste eine Haarsträhne<br />

aus dem Gesicht. Dann erzählte sie, dass in den<br />

unübersichtlichen Schluchten des Glen Coe zwei aus dem<br />

Gefängnis entsprungene Schwerverbrecher viele Monate<br />

unentdeckt geblieben waren. Sie hatten sich von Beeren,<br />

16


Pilzen und Quellwasser ernährt. Erst vor wenigen Tagen<br />

waren sie der Polizei in der Nähe von „Devil’s Staircase“<br />

ins Netz gegangen.<br />

Besonders eindringlich sprach sie über die Geheimnisse<br />

des Coe, diesen grün schäumenden Fluss, der sich<br />

durch das Tal schlängelte und in eine Felsspalte des<br />

Hidden Valley stürzte. Wie ein unterirdischer Wasserfall.<br />

Es ging vielleicht 10 oder 15 Meter tief hinab, ein tosendes,<br />

dunkles Loch, aus dem Nebelschwaden stiegen.<br />

Die Höhlen im Glen Coe waren Tore zu einer geheimnisvollen<br />

Unterwelt mit Gängen, die zu gewaltigen unterirdischen<br />

Anlagen führten. Mit Zeichen an den Wänden,<br />

die aus der Zeit der Kelten stammten. Niemand wusste<br />

sie zu deuten.<br />

Es bereitete Aileen allem Anschein nach Vergnügen,<br />

ihren Gästen Gruseliges zu erzählen und sie zu verunsichern.<br />

Sicher glaubte dieses Mädchen nicht wirklich<br />

an Geister. Aber war an diesen Geschichten vielleicht<br />

doch etwas dran? Mussten sie diesem Mädchen dankbar<br />

sein, dass es sie vor den abgrundtiefen Schrecken dieses<br />

Landstrichs gewarnt hatte?<br />

Julian wollte hier nicht bleiben. Nein, nicht dass er an<br />

Geister glaubte, das nun wirklich nicht. In ihm begann<br />

ein Gedanke zu bohren: Wie kommen wir möglichst<br />

unbeschadet wieder raus aus diesem merkwürdigen Tal,<br />

durch das die Düsternis kroch wie eine giftige Schlange?<br />

Sofort musste er an die fast beschwörende Warnung des<br />

alten Mannes zwischen den Felstürmen denken. Hoffentlich<br />

waren die Kleider bald trocken. Nur rasch fort von<br />

17


hier! Ihm gruselte bei dem Gedanken, dort draußen als<br />

Schattenwesen oder Phantom zu enden.<br />

Wahrscheinlich gehörte Aileen zu jenen friedlichverschrobenen,<br />

schwarz gekleideten Jugendlichen, die<br />

dunklen Gedanken nachhingen und sich zum Düster-<br />

Morbiden hingezogen fühlten. Dazu passte auch das<br />

gruselige Poster der finnischen Metal Band „Nightwish“<br />

neben dem Kamin.<br />

„Ich muss euch unbedingt die Geschichte eines spurlos<br />

Verschwundenen erzählen“, sagte Aileen. „Der Mann<br />

hieß Alan MacFarlane und war ein bekannter Filmregisseur<br />

aus den USA. Er bereitete seinen nächsten Film<br />

vor, war in Schottland auf der Suche nach Locations. Er<br />

wollte geeignete Drehorte besichtigen. Davon gibt es hier<br />

mehr als genug.“<br />

Das zuckende Licht eines Blitzes drang durch die Spalten<br />

der Fensterläden. „Eine unglaubliche Geschichte“,<br />

sagte Aileen mit halb geschlossenen Augen und blinzelte<br />

wie eine zufriedene Katze. Sie hatte das Schicksal des<br />

Regisseurs zu einer Erzählung verarbeitet. Aileen ging<br />

in ihr Zimmer und kam mit einem Stoß Manuskripte<br />

zurück. Sie suchte, blätterte, dann räusperte sie sich wie<br />

jemand, der jetzt etwas Bedeutendes sagen will:<br />

„Alles hat sich genau so zugetragen“, betonte sie, als<br />

ob sie daran gewöhnt wäre, dass ihr Ungläubigkeit und<br />

Zweifel entgegenschlugen.<br />

Draußen stimmte der Sturm ein schauriges Geheul an.<br />

Tim und Julian hingen an ihren Lippen, nippten hin und<br />

wieder am Tee und gaben sich dem sanften Wohlklang<br />

18


ihrer Stimme hin. Manchmal schien es, als hörte sich<br />

Aileen völlig hingerissen selbst beim Reden zu, dann<br />

wiegte sie den Kopf, blickte nach oben, setzte geheimnisvolle<br />

Pausen und betrachtete ihre Hände.<br />

Winston legte den Kopf auf die Vorderläufe. Er<br />

brummte, schloss die Augen und schlief ein.<br />

19


DIE SUCHE NACH GLÜCK<br />

Alan MacFarlane saß im Flugzeug, das ihn nach Schottland<br />

bringen sollte, die Heimat seiner Vorfahren. Im<br />

Bordprogramm standen zehn Filme zur Auswahl, doch er<br />

wusste, dass sie ihn bloß langweilen würden. Ein langer<br />

Flug durch die Nacht begann.<br />

MacFarlane wollte keine Movie-Klamotte sehen, in<br />

seinem Kopf lief ein Film, der dort schon Hunderte Male<br />

gelaufen war. Untermalt vom monotonen Rauschen der<br />

Triebwerke, tauchten faszinierende Bilder auf von edlen<br />

Rittern, schönen Frauen, Mönchen, Hexen und urwüchsigen<br />

Highland-Kämpfern. Sein nächster Film sollte seine<br />

bisherigen Erfolge noch bei Weitem übertreffen.<br />

Als sich am Horizont die ersten Lichtstreifen zeigten,<br />

wurde das Frühstück serviert. Die Boeing der American<br />

Airlines düste auf einer Reiseflughöhe von 12 000 Metern<br />

dahin. Der Himmel war von Osten her in ein überwältigend<br />

schönes Morgenrot getaucht. Mitunter glitzerte<br />

durch silbrige Schleier blaugrün der Atlantik.<br />

Plötzlich geriet Flug AA 278 in gefährliche Schräglage,<br />

Kaffeebecher kippten um, die Passagiere wurden in<br />

die Gurte gepresst und klammerten sich aneinander.<br />

20


Fehlerhafte Messdaten, verursacht durch einen einzigen<br />

defekten Sensor, hatten die Flugcomputer verwirrt und<br />

den Passagierjet vom stabilen Geradeausflug abgebracht.<br />

Im Cockpit brach Hektik aus. Die verzweifelten Befehle<br />

des Kapitäns wurden von den Bordrechnern ignoriert.<br />

Dann spielten die Bildschirme verrückt, Notsignale<br />

schrillten.<br />

„Let us pray!“, sagte eine Frau zu ihrem Mann, als die<br />

Maschine rüttelte und ächzte. Ein Bub drückte seinen<br />

Teddybären an sich. MacFarlane hörte das Wimmern,<br />

Weinen, das Würgen. Dann drehte die Boeing scharf<br />

nach links ab – wie ein Papierflieger, der von einem plötzlichen<br />

Luftzug erfasst wird. Entsetzen, Panik, Schreie.<br />

Der Jumbo taumelte 14 Sekunden lang, eine gefühlte<br />

Ewigkeit, dem Abgrund entgegen und rollte mehrmals<br />

um seine Längsachse. Im Cockpit begann ein Kampf auf<br />

Leben und Tod: Piloten gegen Computer. Schließlich<br />

gelang es dem Kapitän, die Stromzufuhr zu den fehlerhaften<br />

Rechnern zu kappen, das Hightech-Flugzeug von<br />

Hand abzufangen und mit geschickten Steuerimpulsen<br />

zu stabilisieren.<br />

Die Boeing 787, auch Dreamliner genannt, befand sich<br />

wieder auf Kurs. Wohl jeder der 232 Passagiere wusste in<br />

diesem Augenblick, dass ihn dieser Albtraum für immer<br />

verändern würde.<br />

In Edinburgh machte sich MacFarlane sofort auf Entdeckungstour<br />

Richtung Norden. Er hatte nicht viel Zeit,<br />

aber einen genauen Plan. Er wollte spektakuläre Orte mit<br />

21


Atmosphäre finden. Wie ein Rumpelstilzchen genoss er<br />

es, unerkannt zu sein. Nirgends lauerte ihm ein Fotograf<br />

auf, niemand bedrängte ihn um Autogramme oder<br />

Selfies.<br />

Der ungewohnte Linksverkehr machte ihm anfangs<br />

erheblich zu schaffen, beim ersten Kreisverkehr wäre es<br />

beinahe zu einem Crash gekommen. Da er in seinem<br />

Leben stets aufs Tempo drückte, überschritt er gleich<br />

auf den ersten 20 Meilen die zulässige Höchstgeschwindigkeit.<br />

Prompt wurde er von einer Streife angehalten.<br />

Ungläubig musterte der Polizist den Verkehrssünder<br />

und dessen amerikanischen Führerschein.<br />

„Sind Sie etwa Alan MacFarlane, der Filmregisseur?“<br />

„So ist es.“<br />

„Sir, dann wünsche ich Ihnen gute Fahrt“, sagte der<br />

bullige Mann mit dunklem Schnauzbart. „Genießen Sie<br />

den Urlaub in unserem schönen Schottland. Und schauen<br />

Sie bitte auf den Tacho. Ach, noch etwas, meine Frau liebt<br />

Ihre Filme, sie würde sich …“<br />

Weiter musste er nicht sprechen, denn schon hatte<br />

MacFarlane eine Autogrammkarte mit seinem Konterfei<br />

gezückt. Der Polizist reichte ihm den Stift, mit dem er<br />

soeben die Strafverfügung hatte ausstellen wollen. Er<br />

bedankte sich, nahm Haltung an und salutierte. MacFarlane<br />

brauste davon.<br />

Er strahlte Coolness aus wie kaum ein anderer der<br />

Traumfabrik Hollywood: lässige Bräune im Gesicht,<br />

Wuschelhaare, Dreitagebart. Die klaren, grünen Augen<br />

stets hinter einer modischen Sonnenbrille verborgen.<br />

22


Als Zeichen des Erfolgs trug er ein beständiges Grinsen<br />

zur Schau.<br />

Viele hielten ihn für ein Genie und lobten seine virtuose<br />

Technik. Er war Perfektionist und quälte die Schauspieler,<br />

ließ Szene-Einstellungen oft schier endlos wiederholen,<br />

bis auch das kleinste Detail stimmte. Schon Jahre zuvor<br />

hatte er sich mit der Geschichte und Geografie Schottlands<br />

beschäftigt. Seine Location-Scouts hatten ihm<br />

mehrere Vorschläge für interessante Plätze unterbreitet,<br />

doch er wollte an Ort und Stelle die Drehbedingungen<br />

prüfen und Probeaufnahmen machen. Das würde<br />

Zeit und vor allem Geld sparen, denn jeder Drehtag<br />

verschlang ein Vermögen.<br />

In Perth besichtigte er eine alte Brücke für ein Duell,<br />

das für den Unterlegenen im Fluss enden sollte. Waghalsige<br />

Stunts waren ein Markenzeichen seiner Filme. In<br />

Aberdeen hatten ihn seine Scouts auf einen mittelalterlichen<br />

Marktplatz aufmerksam gemacht. Er sollte<br />

Schauplatz einer Hexenverbrennung sein. Drei Tage lang<br />

würden hier am Set rund 300 Mitarbeiter der Filmcrew<br />

arbeiten – für letztlich zehn Minuten Spielfilmzeit. Allein<br />

für das Schminken und Einkleiden der Schauspieler und<br />

Komparsen wurden 25 Mitarbeiter benötigt. Securities<br />

würden dafür sorgen, dass alles ungestört ablief. Ein<br />

Großteil des Films wurde dann in den Hollywood-Studios<br />

gedreht. Schon in vier Monaten sollte der Filmtross<br />

anrücken.<br />

MacFarlane drehte mit einer kleinen Handkamera und<br />

schoss Fotos, um das Flair festzuhalten. Er prüfte den<br />

23


Lichteinfall auf den Fassaden, legte die Kamera-Fahrten<br />

und -Positionen fest und sprach Regieanweisungen auf<br />

sein Diktiergerät. In „Deacons Tavern“ trank er vor der<br />

Weiterfahrt noch schnell einen Espresso. Plötzlich musste<br />

er an den Kaffee auf den Jeans seiner Sitznachbarin hoch<br />

über dem Atlantik denken, und er schob den Gedanken<br />

rasch beiseite, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.<br />

Als er von Aberdeen nach Westen aufbrach, spürte er<br />

ein belebendes Prickeln, denn er näherte sich den wildromantischen<br />

Highlands. Hier hatte sein Urgroßvater vor<br />

mehr als hundert Jahren gelebt. Die weiten Hochebenen<br />

würden eine großartige Kulisse in seinem neuen Film<br />

abgeben. MacFarlane sah finstere Moore, Weiden, auf<br />

denen die langmähnigen schottischen Bergrinder und<br />

Schafe grasten. Verkrüppelte Bäume wirkten so verwunschen<br />

wie in den vergilbten Märchenbüchern seiner<br />

Kindheit.<br />

Leider hatte sich das Wetter verschlechtert. Oft konnte<br />

man die Schönheit der Landschaft nur erahnen.<br />

„Sie kennen Schottland nicht wirklich, wenn Sie es<br />

nicht bei Regen und Sturm erlebt haben“, sagte die Dame<br />

an der Hotel-Rezeption am Abend des ersten Tages.<br />

In Inverness entdeckte er am nächsten Morgen eine<br />

Gasse, die mittelalterliches Flair verströmte. Für den Dreh<br />

musste man bloß zwei Verkehrsschilder abmontieren.<br />

Er sah bereits seinen Helden durch diese Häuserzeile<br />

reiten. Auf der Straße nach Dingwall hatten Bauarbeiter<br />

das Grab zweier Frauen entdeckt, die im Mittelalter als<br />

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Hexen hingerichtet worden waren. Ihre Kleider waren mit<br />

15 Nägeln am Boden fixiert worden, damit sie ihr Grab<br />

nicht mehr verlassen konnten. Sie waren nicht verbrannt,<br />

sondern zur Enthauptung „begnadigt“ worden.<br />

Die Einkäufer der großen Filmverleihfirmen zeigten<br />

Interesse an seinem Projekt. Alle bisher in Schottland<br />

gedrehten Filme hatten sich als Publikumsmagnete<br />

erwiesen.<br />

Alles lief wie am Schnürchen, und für den Erfolg fehlte<br />

bloß noch ein glücklicher Windstoß.<br />

Glück, das musste für MacFarlane etwas Messbares<br />

sein: Erfolg an der Kinokasse, Besucherzahlen, großer<br />

Umsatz bei geringen Produktionskosten, Auszeichnungen,<br />

Kritikerlob. Er drehte Filme, weil ihm ihr Erfolg<br />

wie nichts sonst das Gefühl gab, geliebt und geschätzt<br />

zu werden. Die Filme verzehrten einen Großteil seiner<br />

Leidenschaft, für die Liebe blieb da nicht viel mehr übrig<br />

als flüchtige Affären und unverbindliche Spielerei.<br />

Um einen internationalen Mega-Hit zu landen, musste<br />

man den Zuschauer emotional ergreifen. Große Gefühle<br />

waren gefragt. Gefühle, die jeder kannte. Und so sollte<br />

im neuen Streifen die Liebe im Mittelpunkt stehen. Eine<br />

Liebe, die alle Widerstände überwindet und über den Tod<br />

hinaus hält.<br />

Den Hintergrund bildete der Hexenwahn, dem allein<br />

in Schottland rund 4000 Menschen zum Opfer gefallen<br />

waren. Verfilmt werden sollte die wahre Geschichte des<br />

Grafen von Moncrieff, der seine Geliebte vor dem Scheiterhaufen<br />

rettete. Man hatte die Frau der Hexerei verdäch-<br />

25


tigt, weil sie Heilerin war. Nach der kühnen Flucht aus<br />

dem Kerker fand ihr Befreier den Tod.<br />

Liebe, Verzweiflung, Hass, Eifersucht, Verzicht – die<br />

Kunst der großen Gefühle beherrschte MacFarlane wie<br />

kein anderer. Er glaubte an die Kraft seiner Geschichte.<br />

„Filme sind eine höchst emotionale Sache“, predigte er<br />

den Studenten einer Filmhochschule. „Bei den erfolgreichsten<br />

Filmen aller Zeiten hat das Publikum geweint<br />

oder gelacht oder wurde vor Angst geschüttelt.“<br />

Während der Fahrt nach Ullapool wurde seine Geduld<br />

auf eine harte Probe gestellt. Er stand immer wieder in<br />

einer Schafherde und wartete, dass die Tiere Notiz von<br />

ihm nahmen. „Bei uns in Schottland gehen die Uhren<br />

langsamer als bei euch in Amerika“, sagte ihm der Wirt<br />

eines Pubs.<br />

Eine angeborene Ruhelosigkeit arbeitete in ihm, der<br />

Drang, sich etwas beweisen zu müssen, und die Angst,<br />

dass der Erfolg irgendwann ausbleiben könnte. Er war<br />

eben ein Besessener, immer im Grenzbereich, immer auf<br />

der Überholspur. Menschen, die ihn kannten, beschrieben<br />

ihn als freundlich, smart, selbstbewusst. Partygäste<br />

scharten sich um ihn, weil er ein amüsanter Unterhalter<br />

war. Viele hoben vor allem seinen großen Ehrgeiz hervor.<br />

Ja, er sei geradezu zerfressen davon. Diesen Hunger,<br />

nach oben zu kommen, den trug er in sich, seit er denken<br />

konnte. In jungen Jahren hatte er sich mit dem Dreh von<br />

dämlichen Werbespots über Wasser gehalten und einzig<br />

und allein von Hollywood geträumt.<br />

Er kannte auch den Spott der Kritiker, die Rückschläge<br />

26


und Misserfolge. Nach dem mäßigen Publikumserfolg<br />

seines letzten Streifens hoffte er nun auf den großen<br />

Coup. „Schlechte Kritiken kann er einfach nicht verkraften“,<br />

meinte ein Kollege aus der Branche. Niederlagen,<br />

Pleiten, Aufgeben – das alles war für ihn undenkbar.<br />

Schließlich war der MacFarlane-Clan für seine kämpferische<br />

Natur bekannt. Die Männer hatten in bedeutenden<br />

Schlachten gegen die englische Queen Mary gekämpft.<br />

Durch seine Raubüberfälle und Viehdiebstähle war<br />

dieser Highland-Clan bei seinen Nachbarn jedoch sehr<br />

unbeliebt gewesen.<br />

Am dritten Tag blickte er hoch im Norden von John<br />

o’ Groats hinüber zu den Orkney-Inseln. Vom Meer her<br />

wehte eine leichte, würzige Brise. MacFarlane schnupperte<br />

Salzluft und fühlte den Wind. Das Brandungsgetöse<br />

vermischte sich mit dem Vogelgekreisch zu einem ohrenbetäubenden<br />

Lärm. Der Fels schien unter dem Anprall<br />

der gewaltigen Brecher zu zittern. Hier und da ergoss<br />

sich die See in Gesteinslöcher und floss brodelnd wieder<br />

heraus. Er beobachtete Sturmtaucher und Basstölpel, die<br />

aus großer Höhe wie lebendige Pfeile ins Meer schossen<br />

und mit ihrer Beute wieder auftauchten.<br />

Es war ein Ort, an dem Minuten und Stunden ihre<br />

Bedeutung verloren. Die Welt mit all ihrem Getöse und<br />

Geplapper war weit weg. Er fühlte sich leicht und frei.<br />

Kein Gedanke daran, was sein wird und was gewesen<br />

war. MacFarlane dachte: Vielleicht ist es Glück.<br />

Am Himmel kreuzten sich die weißen Spuren zweier<br />

Flugzeuge. Plötzlich fühlte er sich aus der Idylle gerissen<br />

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ROBERT KLEMENT<br />

Geboren am 10.1.1949 in St. Pölten. Neben seiner beruflichen<br />

Tätigkeit als Hauptschullehrer begann er, Reportagen für Zeitungen<br />

und Magazine („Profil“) zu schreiben.<br />

Seit 1986 veröffentlichte er 26 Bücher. Seine an Tatsachen<br />

anknüpfenden Romane beruhen auf genauen Recherchen.<br />

Gleich in seinem ersten Buch („Durch den Fluss“) prangert er<br />

Menschenrechtsverletzungen in der damaligen CSSR an. Nach<br />

einer Flugblattaktion für den Charter-Gründer und späteren<br />

Staatspräsidenten Vaclav Havel wird er 1989 in Prag inhaftiert.<br />

In Brasilien mischt er sich unter Straßenkinder, die von Todesschwadronen<br />

bedroht werden. Nach dem schweren Erdbeben<br />

in Armenien versucht er, die Schicksale der Opfer und Helfer<br />

aufzuzeichnen. Im Himalaya recherchiert er die verschlungenen<br />

Wege der Pelztier-Mafia, die den Schneeleoparden jagt.<br />

Seine Studienreisen führen ihn von Alaska bis Neuseeland, von<br />

Kuba bis zu den Philippinen.

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