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hast, ist Kleist abgestandenes Wasser, nicht wahr?<br />

N’est-ce pas, ich kann nämlich auch ein bisschen<br />

Französisch.»<br />

Über Georg Büchner «Der Dichter, von dem<br />

ich hier eine Abbildung zu entwerfen versuche,<br />

schrieb keine Verse, weil ihn das Verseschreiben<br />

verwundet oder irritiert haben würde. Dafür warf<br />

er sich mit aller verfügbaren Jünglingskraft in<br />

«Als sei ich kapriziös, will ich<br />

hier über einige Dichter sprechen.<br />

Sprechen? Warum nicht<br />

schwatzen, plappern, schwadronieren?»<br />

(Robert Walser)<br />

eine zufällig gerade damals wellen- oder wogenemporwerfende,<br />

bald danach aber in alle Sanftheiten<br />

ausmündende Revolution. Seither lieben ihn<br />

sämtliche Jünglinge; sie fi nden z. B. unvergesslich,<br />

dass er eines Nachts, (...) sozusagen eine Art<br />

Flucht ergriff, weil ihn das Gefühl beschlichen haben<br />

mochte, man traue ihm eine Denk- und Empfi<br />

ndungsweise zu, die sich nicht schicke. (...) Wenn<br />

ich fallenlasse, dass aus des Dichters Rocktasche<br />

ein noch unaufgeführtes Drama weissblitzend<br />

hervorschaute, und wenn ich ausserdem anmerke,<br />

dass er eine Jungburschenmütze auf dem denkbar<br />

genial veranlagten Kopf trug, worin es von<br />

Schaffens- und Zukunftsplänen nur so wimmelte,<br />

so wird man vielleicht fi nden, dass ich ihn bis dahin<br />

schon ganz treffend porträtiert habe. Dass ihn<br />

Locken von der unschuldigsten Sorte schmückten,<br />

versteht sich von selbst.»<br />

Shakespeares Hamlet «Hamlet ist gewiss die<br />

bedeutendste ‹moderne› Dichtung. Welche Folgerichtigkeit,<br />

welche grossen Verhältnisse, was<br />

für eine junge Ton<strong>art</strong>! (…) Weil Hamlet mit seiner<br />

geliebten Mutter uneinig war, sah er sich zum Abfertigenlassen<br />

möglichst köstlicher Weisheiten<br />

verbunden. Wie gerne jedoch würde er auf dieses<br />

zweifelhafte Vergnügen verzichtet haben. Seine<br />

Mutter verehrend, zwang ihn seine Ehre, sein<br />

Gewissen usw., gegen sie vorzugehen, und weil er<br />

das tun musste, entsprang seinen Lippen dieses<br />

an sich unsagbar traurige: ‹Reif sein ist alles.› Soll<br />

nun für uns ein Wort Grundsatz sein, das ein überaus<br />

bedrängter, unglücklicher Mensch in seiner<br />

Qual aussprach? Reif sein? (…) Sind wir denn nicht<br />

eigentlich erledigt, sobald wir reif wurden? Greise,<br />

Greisinnen sind reif, aber sie lieben es nicht, an<br />

den Reifezustand erinnert zu werden. Wie mancher<br />

Reife wünscht seine Gereiftheit gegen ein<br />

bisschen Unreife umzutauschen, denn mit der Unreife<br />

fängt ja das Leben an.»<br />

Schillers Wilhelm Tell «Was den Wilhelm Tell<br />

betrifft, so hat mich von jeher (…) die Frage beschäftigt,<br />

ob etwa der Herr Landvogt eine hübsche<br />

Frau gehabt habe. (…) Heute jedoch schreibe ich<br />

folgendes: ‹Was bedeutet des letzteren (Tell) überraschende<br />

Schiesskunst? Ist sie reell oder nicht?›<br />

(…) Ich bin z. B. überzeugt, dass (…) der Schweizer,<br />

der die Freiheit liebt, dem (…) Landvogt viel<br />

zu verdanken hat, indem letzterer erstern zu Taten<br />

usw. anspornte. Sollte man nicht beinahe mit der<br />

Idee einig gehen dürfen, der Landvogt und Tell seien<br />

eine einzige widerspruchsvolle Persönlichkeit?<br />

„Schiesse mir einmal einen Apfel vom Kopf deines<br />

Knaben!“ wurde befohlen (…) und sofort wird dem<br />

eigen<strong>art</strong>igen Wunsch entsprochen worden sein.<br />

(…) Mir scheint bedeutend zu sein, dass beide ein<br />

Unzertrennliches, Einheitliches bilden: um einen<br />

Tell hervorzubringen, bedurfte die Geschichte eines<br />

Landvogts. Einer ist ohne den andern undenkbar.<br />

Ungefähr das ist’s, auf das hin ich in diesen<br />

Zeilen wilhelmtellhaft hinziele.»<br />

Zu Gottfried Keller «Ein junger Kollege hielt<br />

sich vor einiger Zeit für berechtigt, mir zu sagen,<br />

ihm komme Keller wie ein Ausklang, herrlich verhallend<br />

vor, worauf ich ihm erwidern zu dürfen<br />

meinte, dass man dies an allem Vorzüglichen,<br />

wahrhaft Schönen, anscheinend Unübertreffl ichen<br />

für gegeben halten könne, man stehe vor Kellers<br />

Werken wi(e) vor einer grossen, von immergrünen<br />

Ringmauern graniten und wieder seidenweich und<br />

fein umschlossenen Stadt, die mit ihren Mannigfaltigkeiten<br />

und in ihrer Ruhe ein nur einmal vorkommendes<br />

Kulturbild darbiete, er sei etwas Einziges,<br />

und seine berufl ichen Nachfolger täten freilich<br />

gut, ganz andere Wege zu beschreiten, da es auf<br />

Kellerschen Wegen für keinen als nur für ihn selber<br />

Aussichten, wertvoll zu werden, gebe. ‹Welchem<br />

Dichter bescherte das Schicksal nochmals so viel<br />

Unglück und Schwierigkeiten und so viel Begabung,<br />

sich ihnen anzuschmiegen, wie ihm›, fügte<br />

ich bei (…).»<br />

An Hermann Hesse<br />

«Vorurteile, o, mein Gott,<br />

bilden einen Alltagstrott.<br />

Eines Tages sah ich dich lächeln,<br />

stehen auf dem Podium,<br />

während sich im Publikum<br />

hübsche Frauen heiter fächeln.<br />

Fünfzig Jahr’ alt wurdest du!<br />

Wandernd wird schon mancher Schuh<br />

sich dir abgetragen haben.<br />

Darf ich heute Dank dir sagen,<br />

dass du warst, und dass du bist;<br />

dein Charakter scheint aus List<br />

und aus Liebe zu bestehen,<br />

wir wie Blätter ja vergehen,<br />

Wind und Meer sind grosse Herr’n,<br />

hier gestehe ich dir gern,<br />

dass ich oft in weissem Kragen,<br />

wenn es z<strong>art</strong> begann zu tagen,<br />

heimwärtsging aus Lustgelagen.<br />

Über den mit ein’gen Gaben<br />

ausstaffi erten Hirtenknaben,<br />

der dich feiert, schriebst du mal<br />

einen Aufsatz; sei noch lange<br />

Fisch und Taube, Mansch und Schlange,<br />

und aus deinem Lebensgange,<br />

mittels geistigem Kanal,<br />

brech’ noch mancher Sonnenstrahl.<br />

Deine Lippen sind sehr schmal.<br />

Denke nicht, es wäre Rache,<br />

dass ich dir ins Antlitz lache,<br />

denn anlässlich deines Festes<br />

gab ich hoffentlich mein Bestes.»<br />

fokus<br />

Literatur: Robert Walser. Dichteten diese Dichter<br />

richtig? Eine poetische Literaturgeschichte. Herausgegeben<br />

von Bernhard Echte. Frankfurt am<br />

Main / Leipzig 2002.<br />

(Walser-Veranstaltungen siehe auch Seite 73)<br />

Kurzbiographie zu Robert Walser (1878-1956)<br />

■ Robert Walser wurde in Biel geboren und absolvierte<br />

nach der Schulzeit eine Banklehre. Die<br />

Romane «Geschwister Tanner» (1907), «Der Gehülfe»<br />

(1908) und «Jakob von Gunten» erzielten<br />

zwar Erfolg, dennoch kein solcher, der im literarischen<br />

Leben Berlins, wo er seit 1905 lebte, anhielt.<br />

Walser kehrte somit 1913 – mit dem Gefühl<br />

eines Gescheiterten – nach Biel zurück. Während<br />

der Zeit in Biel (bis 1921), in der viele Kurzprosatexte<br />

und andere Romane entstanden, kann «Der<br />

Spaziergang» (1917) als Hauptwerk hervorgehoben<br />

werden. Ab 1921 lebte Walser in Bern. Trotz<br />

der Tatsache, dass er in literarischen Zeitschriften<br />

und Feuilletons namhafter Tageszeitungen<br />

Präsenz markierte, gelang es ihm, nur noch gerade<br />

ein Werk zu publizieren, «Die Rose» von 1925.<br />

Daneben blieben zahlreiche Texte lediglich in<br />

einem Bündel verschiedenster Entwurfsschriften<br />

erhalten, die in mikrografi scher Schrift überliefert<br />

sind, so etwa der sog. «Räuber»-Roman von<br />

1925. Bernhard Echte und Werner Morlang entzifferten<br />

diese Texte in einem arbeitsaufwendigen<br />

Prozess und veröffentlichten sie in der sechsbändigen<br />

Ausgabe «Aus dem Bleistiftgebiet» (1985-<br />

2000).<br />

Zu Beginn des Jahres 1929 erlag Walser einer<br />

psychischen Erkrankung. Gegen seinen Willen<br />

wurde er in die Psychiatrie eingewiesen, die er<br />

bis zum Ende seiner Tage nicht mehr verlassen<br />

durfte. 1933 beendete er seine schriftstellerische<br />

Tätigkeit und verbrachte die weiteren 24 Jahre<br />

als Patient in der Heilanstalt Herisau. Am Weihnachtstag<br />

1956 starb Robert Walser auf einem<br />

einsamen Spaziergang im Schnee.<br />

Obwohl namhafte Autoren wie Hesse, Tucholsky,<br />

Kafka u. a. ihn hoch wertschätzten, blieb<br />

Walser sein Leben lang beim breiten Publikum<br />

verkannt. Heute gilt er jedoch als der wichtigste<br />

Deutschschweizer Autor der ersten Hälfte des<br />

20. Jahrhunderts.<br />

ensuite - kulturmagazin Nr. 49 | Januar 07 7

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