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gRatis - Hessischer Rundfunk

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So war das damals<br />

06 | November/Dezember | 2011 7<br />

Landleben vor hundert Jahren – wie war das damals bei der Ernte, in der Spinnstube, beim Waschtag<br />

oder bei der Konfirmation? Für die Dokumentation des hr-fernsehens hat ganz Rennertehausen mitgemacht:<br />

Die Alten des Dorfes erzählten vom strengen Herrn Lehrer, die Jungen kratzten mit Federkielen<br />

auf Schiefertafeln.<br />

Es ist kein schönes<br />

Gedicht, aber es hat<br />

sich ins Gedächtnis<br />

von Louise Jacobi<br />

eingebrannt. Die inzwischen<br />

92-Jährige<br />

kann es noch heute<br />

aufsagen: „Lieber<br />

Gott, was mag’s bedeuten<br />

/ dass man<br />

hört die Glocken<br />

läuten. / Es bedeutet<br />

abermals / meines Lebens<br />

Ziel und Zahl. /<br />

So wie der Tag hat abgenommen,<br />

/ so wird<br />

auch einst mein Tod<br />

wohl kommen. /<br />

Deren Wege schicke<br />

mich / gerecht zu<br />

sterben seliglich. /<br />

Amen.“ Als Kind<br />

musste sie das Gebet<br />

jedes Mal vorm<br />

Betreten des Elternhauses<br />

aufsagen.<br />

„Gruselig“ findet<br />

die elfjährige Charleen<br />

Pilger die Zeilen.<br />

In der hr-Filmdokumentation<br />

„Landleben“ spielt sie<br />

die junge Louise Jacobi. In Tracht und<br />

barfuß steht sie in einer Szene in der<br />

Haustür: „Lieber Gott, was mag’s bedeuten<br />

...“ Achtzig Jahre trennen die beiden<br />

Rennertehäuserinnen – nur drei Generationen,<br />

aber zwischen den beiden Leben<br />

liegen Welten. hr-Filmemacherin Birgit<br />

Sommer hat aus den Erinnerungen von<br />

Louise Jacobi (92), Justine Krafthöfer<br />

(91) und Konrad Briel (99) rekonstruiert,<br />

wie es war, zwischen den beiden Weltkriegen<br />

in Nordhessen auf dem Land<br />

aufzuwachsen.<br />

Prägend für jede Jugend, auch vor<br />

mehr als 80 Jahren, ist die Schule. „Das<br />

war, als wenn man zur Arbeit geschickt<br />

wurde“, erinnert sich Louise Jacobi an<br />

ihre Einschulung. Eltern waren kaum<br />

anwesend, die mussten schließlich<br />

schaffen: auf dem Feld, im Haushalt, im<br />

Stall. Auch eine Schultüte hatten nur die<br />

wenigsten. Einen eigenen Ranzen aus<br />

Leder gab es erst, wenn man in die<br />

„Obere Klasse“ kam, der Raum, in dem<br />

die Klassen fünf bis acht unterrichtet<br />

wurden. Und der Lehrer? Streng sei er<br />

gewesen, verteilte auch mal Schläge,<br />

gerne mit dem Rohrstock.<br />

Wie vor hundert Jahren: Nur die Turnschuhe passen nicht so recht ins Bild Foto: Walter Sellmann<br />

Zum Glück ist diese Zeit vorbei, findet<br />

Jana Hesse. Auch Jana ist elf und hat im Freilichtmuseum<br />

Hessenpark in Neu-Anspach<br />

mit Charleen für<br />

einen Drehtag die<br />

historische Schulbank<br />

gedrückt.<br />

„Das war damals alles ziemlich streng,<br />

man durfte nicht rumspielen, musste den<br />

Eltern helfen und hatte nicht so viel Freizeit“,<br />

erzählt Jana. Nicht ganz so düster<br />

sehen Justine Krafthöfer und Louise<br />

Jacobi ihre Kindheit: „Wir haben schon<br />

viel gespielt“, erinnern sie sich. Aber helfen,<br />

ja, das sei selbstverständlich gewesen,<br />

nicht nur im Haushalt, beim Melken<br />

oder auf dem Acker, sondern auch beim<br />

„Herrn Lehrer“, wie die beiden Damen<br />

sagen. Heidelbeeren etwa mussten die<br />

Kinder für den Pauker sammeln. Der<br />

revanchierte sich, indem er abends durch<br />

die Straßen von Rennertehausen ging<br />

und alle frechen Kinder nach Hause<br />

schickte, die es wagten, noch auf der<br />

Gasse herumzutollen.<br />

„Davon habe ich noch einen weiteren“,<br />

sagt Louise Jacobi und zeigt ihren<br />

Griffel von damals. Was heute meist in<br />

Dorfmuseen liegt, diente vor achtzig<br />

„Das war, als wenn man zur<br />

Arbeit geschickt wurde“<br />

Jahren dazu, auf der Schiefertafel zu<br />

schreiben – Schulhefte gab es nicht.<br />

Nicht mit dem Griffel, sondern mit<br />

einem Federkiel<br />

mussten Jana und<br />

Charleen bei den<br />

Filmaufnahmen<br />

schreiben – Sütterlin: „Das war, wie neu<br />

Schreiben zu lernen“, sagt Jana. „Viele<br />

Buchstaben sehen sich sehr ähnlich“,<br />

ergänzt Charleen. Ob sie einen Brief in<br />

Sütterlin lesen könne? Sie weiß es nicht<br />

genau. „So ein bisschen“, sagt sie<br />

schließlich.<br />

Drei Generationen trennen Justine<br />

Krafthöfer und Louise Jacobi von Jana<br />

Hesse und Charleen Pilger. Wenn sie die<br />

Vergangenheit – ob am eigenen Leibe<br />

erlebt oder nachgespielt – betrachten,<br />

fällt ihr Fazit einhellig aus: „Die jungen<br />

Leute haben es leichter“, sagt Justine<br />

Krafthöfer. „Es ist schon besser, dass ich<br />

heute lebe“, so drückt es Jana aus. Dennoch:<br />

„Ich bin zufrieden“, sagt Louise<br />

Jacobi. Keinen Tag wolle sie missen von<br />

ihrer Jugend vor 80 Jahren in dem kleinen<br />

Dorf in Nordhessen. [Malte Glotz] n<br />

„Landleben“, hr-fernsehen, 13. Dez.,<br />

21 Uhr<br />

ViP-geFLÜSTeR<br />

Von Holger Weinert<br />

hr-fernsehen<br />

Holger Weinert moderiert im hr-fernsehen<br />

die „Hessenschau“, täglich, 19.30 Uhr.<br />

Tief und Tiefe<br />

Wer will sich ernsthaft wundern<br />

über Burn-outs, Nervenzusammenbrüche<br />

oder psychische Krisen?<br />

Sebastian Deisler, Sven Hannawald,<br />

Ralf Rangnick oder Miriam Meckel<br />

– sie haben sich geoutet, und allein<br />

das Wort verrät, wie falsch wir derlei<br />

Krisen auffassen. Als sei es etwas<br />

Peinliches und Unnormales. Dabei<br />

ist eigentlich das Gegenteil der Fall.<br />

In meinen ersten Jahren vor der<br />

Kamera hatte ich häufig das Gefühl,<br />

etwas Absurdes zu erleben. Du<br />

schaust ins schwarze Loch der<br />

Kamera, und jeden Verplapperer<br />

bekommt halb Hessen mit. Was,<br />

wenn ich jetzt huste (auch schon<br />

passiert), spucke oder mir schlecht<br />

wird? Dazu kommt heute das ständige<br />

Starren auf die Einschaltquoten<br />

(die erfreulich gut sind bei der<br />

„Hessenschau“). Gut, ich bin, was<br />

man ein alter Hase nennt. Aber Hannawald<br />

war ein sensationeller Skispringer,<br />

Rangnick ein erfahrener<br />

Trainer. Der Mensch hat einen verletzlichen<br />

Körper, aber eine ebenso<br />

empfindliche Psyche, was ignoriert<br />

wird bis zum Umfallen. Er findet sich<br />

verstärkt in elektronischen Absurditäten<br />

vor, die Schlachten in Medien<br />

und Büros sind heftiger geworden,<br />

durchtriebener, perfekter. Die Zahnräder<br />

drehen sich und halten nicht<br />

an, auch wenn gerade ein Mensch in<br />

der Maschine steckt.<br />

Mir ist einer lieber, der sagt: Ich<br />

kann im Moment die Erwartungen<br />

nicht erfüllen. Der merkt: Da muss<br />

ich erst mal Luft zum Atmen holen.<br />

Welches Leben verläuft im Ernst<br />

ohne Störfälle? Krankheiten, Enttäuschungen,<br />

Todesfälle. Es ist normal<br />

zu reagieren. Es ist unnormal, wie<br />

eine Maschine zu funktionieren –<br />

oder das Saufen anzufangen. Im Tief<br />

finden wir mit Glück zur Tiefe und<br />

zu uns selbst zurück.<br />

Foto: hr/A. Frommknecht

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